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Sozialdemokratie und Kolonialpolitik vor 1914 | APuZ 11/1968 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 11/1968 Die Deutsche Zentrumspartei 1918-1933 Grundprobleme ihrer Entwicklung Sozialdemokratie und Kolonialpolitik vor 1914

Sozialdemokratie und Kolonialpolitik vor 1914

Günther Müller

Kolonialpolitik — eine in der SPD wenig beachtete Frage

Die deutsche Sozialdemokratie war entstanden aus einem Protest gegen die kapitalistische Ausbeutung. Das Scheitern der Revolution von 1848 und in der Folge die Konzentration der Energien des Bürgertums auf den wirtschaftlichen Bereich brachte für die deutsche Arbeiterschaft eine steigende Belastung mit sich. Aus den Arbeiterbildungsvereinen heraus entstand eine sozialdemokratische Bewegung, die von den beiden Polen Ferdinand Lassalle und Karl Marx ihre entscheidenden Impulse bekam.

In ihrer ganzen Agitation wie in ihrer parlamentarischen Tätigkeit konzentrierte sich die nach 1875 vereinigte Sozialdemokratie auf die Sozialpolitik. Wer die Protokolle der sozialdemokratischen Parteitage studiert, die sozialistische Presse untersucht und sich vor allem die Reden der führenden Sozialdemokraten vornimmt, kann immer wieder feststellen, daß alle Probleme unter dem sozialpolitischen Gesichtspunkt betrachtet werden. Die Frage: Wie kann man den Lebensstandard und die Lage der arbeitenden Klasse heben? war das A und O sozialistischer Politik. Dazu kam eine utopische Eschatologie, die gebannt auf die große Revolution warten ließ, die es aber nicht versäumte, die „Organisation" als das eigentlich beherrschende Element mit deutscher Gründlichkeit auszubauen. Außen-und Kulturpolitik, Wirtschafts-und Rechtsfragen wurden immer unter den Aspekten der Sozialpolitik gesehen.

So nimmt es nicht wunder, daß die Frage der Kolonialpolitik bei den Sozialdemokraten kaum Beachtung fand. Karl Marx interessierte sie nur als eine Nebenerscheinung der kapitalistischen Ausbeutung. Die deutsche Sozialdemokratie war ganz mit innenpolitischen Fragen beschäftigt. Im Reichstag kam es zu einer ersten Kolonialdebatte am 26. Juni 1884, bei der aber kein Sozialdemokrat das Wort ergriff. Am 20. Januar 1885 sprach dann als erster Sozialdemokrat Hasenclever zu kolonial-politischen Fragen. Er wandte sich gegen die herrschende Kolonialbegeisterung und sah das Problem vor allem unter dem Gesichtspunkt, was für den deutschen Arbeiter dabei zu gewinnen oder zu verlieren sei. Er glaubte, daß durch die Kolonialpolitik von den schwierigen

Problemen im Inneren Deutschlands abgelenkt werden sollte. Erst müßten die Massen in Deutschland „konsumptionsfähiger" werden, ehe man Gelder für die Kolonien ausgebe. D e sozialdemokratische Fraktion werde gegen alle Etatpositionen, die mit der Kolonialfrage Zusammenhängen, stimmen. Auch August Bebel nahm an den Kolonialfragen Anteil. Er wurde zusammen mit Dietz in den Ausschuß für die Subvention von Dampferlinien berufen, der zum Teil mit der Kolonialfrage zu tun hatte.

Am deutlichsten zeigte die Debatte vom 4. März 1885 im Reichstag die „Besessenheit"

der Sozialdemokraten von der Sozialpolitik.

In einer großen Rede über die Sozialreform flocht Wilhelm Liebknecht bei der dritten Lesung des Etats seine Ansichten über die Kolonialpolitik ein, die er ebenfalls nur als ein Teilstück der Sozialreform sah. Liebknecht wandte sich gegen die Auffassung, daß Deutschland übervölkert sei. Die deutsche Industrie brauche auch nicht neue Absatzmärkte. Sie solle zuerst einmal die deutschen Massen kaufkräftiger machen, dann könne sie noch vieles im Inland absetzen. Die Kolonialpolitik sei seiner Meinung nach ein Export der sozialen Frage. Er sprach sich nicht grundsätzlich gegen das Kolonisationswesen aus und betonte — Beispiele aus der Geschichte erwähnend —, daß „die menschliche Kultur vom Kolonisationswesen überhaupt nicht zu trennen sei." Auch der Abgeordnete Kayser erklärte, daß er von Anfang an kein grundsätzlicher Gegner der Kolonialpolitik war, daß aber „damals wer weiß was in Aussicht gestellt worden sei" Die Mittel müßten aber jetzt verweigert werden, weil die Kolonialpolitik, die von privaten Interessen getragen sei, nicht aus Steuermitteln finanziert werden dürfe.

Die Überlastung der wenigen sozialdemokratischen Abgeordneten im Parlament führte dazu, daß sie sich kaum noch besonders mit der Kolonialpolitik auseinandersetzten. Am 14. Dezember 1888 gab der Abgeordnete Singer für die sozialdemokratische Fraktion eine Erklärung ab, in der er festlegte, daß man grundsätzlich gegen die derzeitige Kolonialpolitik eingestellt sei. Am 26. Januar 1889 sprach August Bebel im Reichstag vor allem gegen die Kolonialpolitik in Ostafrika. Die Kolonialpolitik sei die Ausbeutung einer fremden Bevölkerung in der höchsten Potenz, und man solle nicht den Schutz vor dem Sklavenhandel als Vorwand für diese Politik nehmen.

In den folgenden Jahren waren es meist August Bebel und Georg von Vollmar, die zu den Kolonialfragen Stellung nahmen. Bebel wandte sich besonders gegen Dr. Carl Peters und seine Grausamkeiten in Ostafrika. Die von ihm aufgeworfenen Fragen fanden im Reichstag starke Beachtung und führten zu Disziplinarmaßnahmen gegen Dr. Peters und zu einer Reihe von Prozessen. Branntweinhandel und Sklavenhaltung bildeten die Hauptangriffspunkte der SPD-Sprecher. Bei der Debatte im März 1895 forderte von Vollmar mehr Kulturarbeit in den Kolonien, und Bebel regte eine Studienreise von Reichstagsabgeordneten an, um sich von den tatsächlichen Verhältnissen in den Kolonien ein rechtes Bild zu machen. Am 6. Dezember 1897 beschäftigte sich Bruno Schoenlank mit dem Chinaproblem. In einer zweiten Rede forderte er später, daß nach Kiautschau nur Freiwillige als Truppen verlegt werden sollen, aber keine Wehrpflichtigen. Am 12. Februar 1899 stimmten die Sozialdemokraten — zusammen mit den Freisinnigen — gegen den Kauf der Karolinen, Marianen und Palauinseln für 16, 75 Millionen Reichsmark.

1904 kam es durch den Aufstand in Deutsch-Südwestafrika zu einer gewissen Vorwegnahme der Problematik von 1914, als die Reichsregierung Kriegskredite zur Bekämpfung des Aufstandes verlangte. Bei der Abstimmung am 19. Januar enthielt sich die SPD der Stimme.

1906 gab es schließlich im Reichstag besonders scharfe Auseinandersetzungen über die Kolonialpolitik. Die Regierung sah sich gezwungen, am 10. September 1906 den Direktor der Darmstädter Bank, Bernhard Dernburg, zum Direktor der Kolonialabteilung im Auswärtigen Amt zu machen. Bei den Debatten im Reichstag im November und Dezember war auch das Zentrum mit Angriffen beteiligt, die sich vor allem gegen Fehler der Verwaltung und gegen Korruptionsfälle richteten. Am 1. Dezember hielt Bebel eine programmatische Rede zur Kolonialpolitik, in der er unter anderem ausführte: „Meine Herren, daß Kolonialpolitik getrieben wird, ist an und für sich kein Verbrechen. Kolonialpolitik zu treiben, kann unter Umständen eine Kulturtat sein; es kommt nur darauf an, wie die Kolonialpolitik getrieben wird. Es ist ein großer Unterschied, wie Kolonialpolitik sein soll und wie sie ist. Kommen die Vertreter kultivierter und zivilisierter Völkerschaften, wie es z. B. die europäischen Nationen und die nordamerikanischen sind, zu fremden Völkern als Befreier und Bildner, als Helfer in der Not, um ihnen die Errungenschaften der Kultur und der Zivilisation zu überbringen, um sie zu Kulturmenschen zu erziehen, geschieht das in dieser edlen Absicht und in der richtigen Weise, dann sind wir Sozialdemokraten die ersten, die eine solche Kolonisation als große Kulturmission zu unterstützen bereit sind. Wenn sie also zu den fremden Völkerschaften als Freunde kommen, als Wohltäter, als Erzieher der Menschheit, um ihnen zu helfen, die Schätze ihres Landes, die andere sind als die unsrigen, heben zu helfen, um dadurch den Eingeborenen und der ganzen Kulturmenschheit zu nützen, dann sind wir damit einverstanden." Auch Ledebour griff in die Debatte ein. Er schlug vor, durch Verweigerung der Mittel die Regierung zum Friedensschluß in Südwest-afrika zu zwingen. Zum Konflikt kam es, als Reichskanzler von Bülow erklärte, man könne es sich nicht vom Reichstag vorschreiben lassen, wieviel Truppen die Regierung für kriegerische Operationen brauche. Als der Antrag der Regierung mit 177 gegen 168 Stimmen abgelehnt worden war, wurde der Reichstag aufgelöst.

Bei den als sogenannte „Hottentottenwahlen" in die Geschichte eingegangenen Neuwahlen im Januar 1907 erhielt die Sozialdemokratie nur noch 43 anstelle von 81 Mandaten. Dieses Ergebnis führte zu einer intensiven Debatte um das Problem der Kolonialpolitik, bei der schließlich zwei Gruppierungen innerhalb der Sozialdemokratie in Erscheinung traten. In einer Analyse der Reichstagswahl beschäftigte sich Pravus (= Helphand) mit diesem Problem. Er vertrat den streng orthodoxen Standpunkt; für ihn diente die Kolonialpolitik nur dazu, den Reichtum, den das Volk geschaffen hat und den es zur Deckung seines eigenen Bedarfs braucht, zu entziehen, zu vergeuden und das eigene und fremde Volk auszubeuten

Parvus schreibt in seinem Buch „Die Kolonialpolitik und der Zusammenbruch": „Das sind Zusammenhänge und Wechselbeziehungen, dienicht erst von deutschen Assessoren geschaffen wurden, sondern aus den Gesetzen der Kapitalakkumulation und der kapitalistischen Mehrwertsbildung sich ergeben. Darum zeigt die Kolonialgeschichte, solange sie unter der Herrschaft des Kapitals steht, und das ist noch immer und überall der Fall, eine breite Spur von Blut und Tränen hinter sich." Für ihn dient die Kolonialpolitik lediglich dazu, „den Banken und Industriekartellen die Kassen der Staatssteuern zu erschließen. Sie erfüllt insofern die gleiche Aufgabe wie die Kriegs-rüstungen"

Auch nach den Wahlen, die unter dem Zeichen des Kampfes gegen die Kolonialpolitik von der SPD verloren worden waren, wurde die Linie der Opposition gegen die kolonialfreundliche Reichstagsmehrheit beibehalten. Am 6. März 1907 gingen Bebel und Ledebour in scharfen Formulierungen gegen die Reichsregierung vor. Vor allem warnten sie, die Schutztruppe zu einer wirklichen Kolonialarmee auszubauen. Darüber hinaus würden die Ausgaben für die Kolonien nur die Verschwendung schwer aufzubringender Steuergroschen bedeuten.

„Orthodoxe" gegen „Revisionisten" auf dem internationalen Sozialistenkongreß 1907

Zu einer großen Auseinandersetzung über die Kolonialpolitik kam es auf dem internationalen Sozialisten-Kongreß in Stuttgart, der vom 18. — 24. August 1907 tagte. Eine eigene Kommission unter dem Vorsitz des Holländers van Kol sollte eine Resolution zur Kolonial-frage entwerfen. In dieser Kommission waren von der SPD Wilhelm Bock (Gotha), Dr. Eduard David (Mainz), Georg Ledebour und Emanuel Wurm (beide Berlin) vertreten. Dr. David, der zu den Revisionisten gehörte, wollte eine Wende in der Einstellung zur Kolonialpolitik herbeiführen und ergriff als erster das Wort. Er betonte, daß es nicht genüge, Resolutionen zu wiederholen, sondern daß „es darauf ankomme, praktische Direktiven zu geben und zu erklären, daß die Sozialdemokratie die Art, wie die bürgerliche Welt heute kolonisiere, verurteile, daß sie aber ihren ganzen Einfluß aufbieten müsse, um sowohl die koloniale Bevölkerung wie wie kolonialen Natur-schätze gegen kapitalistische Ausbeutung zu schützen. Das sei dasselbe, was die Sozialdemokratie in den Kulturländern dem Kapitalismus gegenüber durch Schaffung der Arbeiterschutzgesetze tue" Er berief sich dabei auf das bereits oben angeführte Zitat aus der Reichstagsrede von August Bebel.

Ledebour, der zum linken Flügel der Partei gehörte, widersprach sofort mit aller Entschiedenheit. Für ihn war die damalige Kolonialpolitik das unvermeidbare Resultat des Kapitalismus. Er forderte, die Ausbeutung in den Kolonien müsse grundsätzlich bekämpft werden. In der gleichen Richtung argumentierte Wurm, der sich für die Verwerfung jeder Kolonialpolitik aussprach und vor einer Opportunitätspolitik gegenüber den Herrschenden warnte. Die Meinung der nichtdeutschen Delegierten war geteilt. Der Belgier Terwagne, der Franzose Rouanet und der Österreicher Pernerstorfer glaubten, daß eine Kolonialpolitik unter einer sozialistischen Regierung zivilisatorisch wirken könne. Gollerstepper (USA), Pepin (Belgien) und Karski (Polen) neigten dagegen mehr Ledebour zu. Bei der Ausarbeitung der Resolution konnte sich David nicht durchsetzen. Sein Vorschlag: „In der Erwägung, daß der Sozialismus die Produktivkräfte des ganzen Erdkreises in den Dienst der Menschheit stellen und die Völker aller Farben und Zungen zur höchsten Kultur emporführen will, sieht der Kongreß in der kolonialen Idee als solcher einen integrierenden Bestandteil des universalen Kulturzieles der sozialistischen Bewegung", wurde abgelehnt Er war aber einverstanden mit der Formulierung van Kols: „Der Kongreß stellt fest, daß der Nutzen der Kolonialpolitik allgemein, besonders aber für die Arbeiterklasse stark übertrieben wird. Er verwirft aber nicht prinzipiell und für alle Zeiten jede Kolonialpolitik, die unter sozialistischem Regime zivilisierend wird wirken können" Die Revisionisten, die hinter dieser Formulierung standen, setzten sich im Ausschuß durch. Ledebour protestierte heftig und betonte, daß er vor dem Plenum Stellung nehmen werde.

Am 21. August beschäftigte sich der Gesamtkongreß mit der Kolonialpolitik. Neben der Mehrheitsresolution wurde eine von den Delegierten Ledebour, Wurm (Deutschland), de la Porte, Bracke (Frankreich) und Karski (Polen) unterzeichnete Gegenresolution vorgelegt. Als Berichterstatter führte van Kol aus, daß sich in der Kommission sozusagen zwei Tendenzen gegenübergestanden hätten, eine negative und eine positive. Van Kol stellte sich auf die Seite der Revisionisten und betonte, daß man nicht mehr an die Katastrophentheorie glaube und daß es nicht genüge, lediglich gegen den Kapitalismus zu protestieren, sondern daß man auch dagegen handeln müsse. Die Resolution der Minderheit stehe im Gegensatz zu den Tatsachen und der Wahrheit. Man dürfe sich nicht in den Schmollwinkel stellen. Die deutsche Sozialdemokratie habe es versäumt, ein Kolonialprogramm aufzustellen. Sie sei geistig in der Kolonialfrage nicht aut der Höhe gewesen. Es wäre Aufgabe des Kongresses, Millionen unglücklicher Eingeborener die Hoffnung auf eine bessere Zukunft durch die Sozialdemokratie zu geben.

Der Führer der deutschen Revisionisten, Eduard Bernstein, verteidigte die Mehrheitsresolution. Er trat für eine positive sozialistische Kolonialpolitik ein: „Wir müssen von der utopischen Idee abkommen, die dahin geht, die Kolonien kurzweg zu verlassen. Die letzte Konsequenz dieser Anschauung wäre, daß man die Vereinigten Staaten den Indianern zurück-gäbe." Eine gewisse Vormundschaft der Kulturvölker gegenüber Nichtkulturvölkern sei eine Notwendigkeit. Auch unsere Wirtschaft sei auf die Kolonialprodukte angewiesen. Man müsse sich auf den Boden der realen Tatsachen stellen. Die Ausführungen Bernsteins wurden mit Beifall und Zischen ausgenommen. Als scharfer Gegner Bernsteins kam als nächster Ledebour zu Wort. Er wandte sich gegen den Vorwurf van Kols, daß die SPD nichts für die Kolonien getan hätte, und betonte die kritische Tätigkeit der Fraktion im Reichstag. In seinen weiteren Ausführungen bestritt Ledebour den Nutzen der Kolonien lür den Arbeiter und zog dann •besonders gegen Bernstein zu Felde, der sich im Burenkrieg auf die Seite der englischen Jingos gestellt hätte. Die Dummheit der Revisionisten werde von den Reaktionären sehr begrüßt. Unter großem Beifall beschloß Ledebour seine Ausführungen damit, daß er jede Bevormundung anderer Nationen ablehne.

Eduard David versuchte, den Ausschußvorschlag zu retten. Er lehnte eine Abschaffung der Kolonien ab. Wenn man sie den Eingeborenen zurückgeben würde, dann herrsche dort nicht. Humanität, sondern Barbarei. Zur Frage der Kulturmission berief er sich auf Bebel und seine Reichstagsrede vom 1. Dezember 1906. David glaubte, daß die Kolonien durch den Kapitalismus hindurch müßten, da man nicht von der Wildheit in den Sozialismus springen könne. Das positive Ideal sei nur durch schrittweise Reformen zu erreichen. Auch David, der durch Zwischenrufe Ledebours unterbrochen worden war, erhielt lebhaften Beifall.

Das Interesse an der Kolonialfrage war so groß, daß die Debatte auch am nächsten Verhandlungstag, dem 22. August, fortgesetzt werden mußte. Der Pole Karski sprach sich für die Minderheitsresolution aus und wandte sich gegen das „Protzen" mit der Kultur des Abendlandes. Es gäbe noch andere alte Kulturen als die des europäischen Kapitalismus. Der Engländer MacDonald (später Ministerpräsident) war für die Mehrheitsresolution, um praktische Arbeit leisten zu können, während Bracke (Frankreich) die Mehrheitsresolution ablehnte, weil sie die kapitalistische Kolonialpolitik nicht unbedingt verurteile.

In dieser Phase der Auseinandersetzung ergriff nun der „Cheftheoretiker" der deutschen Sozialdemokratie, Karl Kautsky, unter stürmischem Beifall das Wort. Er zeigte sich überrascht über das plötzliche Auftreten einer „sozialistischen Kolonialpolitik". Für ihn könne es keine sozialistische Kolonialpolitik geben, da Kolonialpolitik die Eroberung und gewaltsame Festhaltung eines überseeischen Landes bedeute. Kolonialpolitik müsse einer Zivilisationspolitik schädlich sein. Er wandte sich gegen Bernstein und sagte: „Bernstein wollte uns einreden, daß diese Politik der Eroberung eine Naturnotwehdigkeit sei. Ich war sehr erstaunt, daß er hier die Theorie verfochten hat von den zwei Gruppen von Völkern, von denen die eine zum Herrschen, die andere zum Beherrschtwerden bestimmt sei. . . . Das ist noch stets die Argumentation jeder Aristokratie gewesen, das war auch die Argumentation des amerikanischen Sklavenhalters im amerikanischen Süden, der sagte, die Kultur beruhe auf der Zwangsarbeit des Sklaven, und das Land würde in die Barbarei zurückfallen, wenn die Sklaverei beseitigt wäre. Diese Argumentation dürfen wir uns nicht aneignen." Zum Abschluß seiner immer wieder von Beifall unterbrochenen Rede plädierte er für die Annahme der Minderheitsresolution. Nachdem Simons (USA) für und Rouanet (Frankreich) gegen die Minderheitsresolution gesprochen hatten, erhielt van Kol das Schlußwort. Er äußerte die Überzeugung, daß die Hilfe der Sozialdemokratie nicht nur den Arbeitern Europas zugute kommen dürfe. Die These Kautskys, daß Kolonialpolitik Erobe rung darstelle, wies er als unwissenschaftlich zurück. Er wolle als Holländer nur darauf auf-

nerksam machen, daß die holländischen Sozialisten sich das Vertrauen von Millionen Javanern erworben hätten, während man von der deutschen Sozialdemokratie in Afrika überhaupt nichts wisse, weil sie bisher ihre Pflicht nicht erfüllt hätte. Natürlich könne man nicht wehrlos zu den Eingeborenen kommen, man müsse mit den Waffen in der Hand dorthin gehen, auch wenn Kautsky das Imperialismus nenne. Die Zeit der Phrasen sollte endlich vorbei sein. Er hoffe, daß die Majoritätsresolution mit großer Mehrheit angenommen werde.

Abstimmung zugunsten der Minderheitsresolution

Am Nachmittag ließ der Tagungspräsident Singer abstimmen. Zuerst wurde der Abänderungsantrag der Minorität zur Abstimmung gestellt. Unter stürmischem Beifall wurde die Minderheitsresolution mit 127 zu 108 Stimmen angenommen. Dagegen waren die Deutschen, Österreicher, Böhmen, Belgier, Dänen, Holländer, Schweden, Südafrikaner, zwölf Franzosen, 14 Engländer und vier Italiener, während die österreichischen Italiener, die Ruthenen, Australier, Argentinier, Bulgaren, Spanier, Nordamerikaner, Finnen, Japaner, Ungarn, Polen, Russen, Rumänen, Serben, Norweger, zehn Franzosen, sechs Engländer und elf Italiener dafür stimmten. Die Schweizer enthielten sich der Stimme.

Bei der Gesamtabstimmung entschieden sich alle Delegierten, mit Ausnahme der Holländer, die sich der Stimme enthielten, für die Resolution in der Fassung der Minderheit. Zu einem bemerkenswerten Zwischenfall kam es noch, als David für die deutsche Delegation zunächst mit Nein stimmte. Nach einer scharfen Kontroverse in der deutschen Delegation ergab sich nach einer Abstimmung innerhalb der deutschen Vertreter eine große Mehrheit für Ja. Der linke Flügel hatte damit einen klaren Sieg errungen.

Die Resolution lautete in der endgültigen Fassung: „Der Kongreß ist der Ansicht, daß die kapitalistische Kolonialpolitik ihrem innersten Wesen nach zur Knechtung, Zwangsarbeit oder Ausrottung der eingeborenen Bevölkerung der Kolonialgebiete führen muß. Die zivilisatorische Mission, auf die sich die kapitalistische Gesellschaft beruft, dient ihr nur als Deckmantel für die Eroberungs-und Ausbeutungsgelüste. Erst die sozialistische Gesellschaft wird allen Völkern die Möglichkeit bieten, sich zur vollen Kultur zu entfalten. Die kapitalistische Kolonialpolitik, statt die Kollektivkräfte zu steigern, zerstört durch Versklavung und Verelendung der Eingeborenen wie durch mörderische, verwüstende Kriege den natürlichen Reichtum der Länder, in die sie ihre Methoden verpflanzt. Sie verlangsamt oder verhindert dadurch selbst die Entwicklung des Handels und des Absatzes der Industrieprodukte der zivilisierten Staaten. Der Kongreß veurteilt die barbarischen Methoden kapitalistischer Kolonisation und verlangt im Interesse der Entfaltung der Produktivkräfte eine Politik, die die friedliche kulturelle Entwicklung gewährleistet und die Bodenschätze der Erde in den Dienst der Höherentwicklung der gesamten Menschheit stellt.

Er bestätigte von neuem die Resolutionen von Paris (1900) und Amsterdam (1904) über die Kolonialfrage und verwirft nochmals die jetzige Kolonisationsmethode, die, ihrem Wesen nach kapitalistisch, keinen anderen Zweck hat, als fremde Völker zu erobern und fremde Völker zu unterwerfen, um sie schonungslos zum Nutzen einer verschwindenden Minderheit auszubeuten, während gleichzeitig im eigenen Lande die Lasten der Proletarier steigen.

Als Feind jeder Ausbeutung des Menschen durch den Menschen und als Verteidiger aller Unterdrückung ohne Unterschied der Rasse, verurteilt der Kongreß diese Politik des Rau-bes und der Eroberung, die nur die schamlose Anwendung des Rechts des Stärkeren ist und das Recht der besiegten Völker mit Füßen tritt.

Die Kolonialpolitik vermehrt die Gefahr kriegerischer Verwicklung zwischen den kolonisierenden Staaten und steigert ihre Belastung durch Heer und Flotte.

Finanziell betrachtet sollen die Ausgaben für die Kolonien, ebenso solche, die der Imperialismus verschuldet, als auch solche, die im Interesse der ökonomischen Entwicklung der Kolonien gemacht werden, von denen getragen werden, die allein von der Ausplünderung fremder Länder Nutzen ziehen und deren Reichtümer aus ihnen stammen.

Der Kongreß erklärt schließlich, daß die sozialistischen Abgeordneten die Pflicht haben, in allen Parlamenten unversöhnlich diese Methode der schonungslosen Ausbeutung und Knechtschaft zu bekämpfen, die in allen bestehenden Kolonien herrscht.

Zu diesem Zwecke haben sie für Reformen einzutreten, um das Los der Eingeborenen zu ver-bessern, haben sie jede Verletzung der Rechte der Eingeborenen, ihre Ausbeutung und ihre Versklavung zu verhindern und haben sie mit allen zu Gebote stehenden Mitteln an ihrer Erziehung zur Unabhängigkeit zu arbeiten."

Differenzen — „nur ein Streit um Worte"?

Für die deutschen Delegierten war die Diskussion damit nicht abgeschlossen. Wenige Wochen später trafen sich die Kontrahenten auf dem Parteitag zu Essen wieder.

Der Berichterstatter über den internationalen Kongreß auf dem Parteitag, Paul Singer, versuchte Ol auf die stürmischen Wogen zu gießen. Es entsprach ganz dem Stil der Sozialdemokraten der damaligen Zeit, interne Auseinandersetzungen einfach zu übergehen und sich nach außen hin einig zu zeigen. Auch Paul Singer versuchte in seinem Bericht, die Auseinandersetzung um die Kolonialpolitik als einen Streit um Worte darzustellen, obwohl die Parteipresse in den vergangenen drei Wochen den Fragen der Kolonialpolitik die Spalten geöffnet hatte. Singer betonte, daß die schließlich angenommene Resolution von Stuttgart der auf dem Mainzer Parteitag 1900 beschlossenen Kolonialresolution entspreche. „Es liege kein Grund vor, nach dieser Richtung irgendwelche Differenz in der Partei zu konstruieren. Die Ausführung, die in Stuttgart den Standpunkt vertrat, daß man grundsätzlich die Berechtigung einer Eroberungs-, Bevormun-dungs-und Ausbeutungspolitik gegenüber in der Kultur niedriger stehenden Völkern berechtigt finden müsse, diese Ausführung ist zum Glück so vereinzelt von deutscher Seite gemacht worden, daß ich es nicht für wichtig genug halte, darauf näher einzugehen." Wenn Singer glaubte, durch diese Ausführungen einer Diskussion um die Kolonialfrage ausweichen zu können, so sah er sich getäuscht.

Der streitlustige Ledebour trat sofort in die Arena des Parteitages und bezeichnete es als einen Irrtum, wenn man glaube, daß es sich nur um einen Streit um Worte handele. Tatsächlich ging es hier um eine prinzipielle Auseinandersetzung. Ledebour sagte, man wolle durch den Begriff „sozialistische Kolonialpolitik" eine gewisse Verschleierungstaktik betreiben, da er verschiedenartig ausgelegt werde. Er — und wohl auch Bebel — verstehe darunter Kulturverbreitung unter fremden Völkern. Was aber auf dem Stuttgarter Kongreß zum erstenmal „sozialistische Kolonialpolitik" genannt worden sei und was Bernstein, David und van Kol befürwortet hätten, das sei die Anwendung staatlicher Zwangsmittel gegenüber fremden Staaten und Völkern. Van Kol sei sogar soweit gegangen zu sagen, daß man eventuell mit den Waffen in der Hand zu den Eingeborenen kommen müsse. Die Propagierung solcher Grundsätze könnten die Sozialisten unter keinen Umständen dulden, denn sie bedeuteten für die eigenen Grundsätze einen Schlag ins Gesicht.

Nachdem der Wilhelmshavener Delegierte Wagner die Kolonialpolitik strikt abgelehnt hatte, ergriff August Bebel selbst das Wort. Auch er versuchte — ähnlich wie Singer — die Auseinandersetzung als nicht prinzipiell darzustellen. Er sagte, wenn er an der Stuttgarter Debatte über Kolonialpolitik hätte teilnehmen können, würde er einfach die Mainzer Resolution vorgeschlagen haben. Die Frage, ob es eine sozialistische Kolonialpolitik gebe, hätte er gar nicht in die Erörterung gezogen, da sie reine Zukunftsmusik sei. Es zeigte sich die Planlosigkeit dieser damals im Prinzip planwirtschaftlichen Partei, daß Bebel unter der Heiterkeit der Delegierten feststellen konnte, die SPD hätte nicht gewußt, was sie mit den Kolonien anfangen sollte, wenn sie an die Herrschaft gelangt wäre. Seine Ausführungen im Reichstag erklärte er damit, daß er nur zeigen wollte, wie Kolonialpolitik gemacht werden sollte; die bürgerliche Gesellschaft hätte dies aber ohnehin nicht als Richtschnur annehmen können. Für die Sozialdemokraten gelte für die Kolonialpolitik das Parteiprogramm, in dem es heiße: „Die sozialdemokratische Partei Deutschlands kämpft nicht für neue Klassenprivilegien und Vorrechte, sondern für Abschaffung der Klassenherrschaft und gleiche Rechte und Pflichten aller ohne Unterschied des Geschlechts und der Abstammung. Von diesen Anschauungen ausgehend, bekämpft sie heute schon nicht bloß die Ausbeutung und Unterdrückung der Lohn-arbeiter, sondern jede Art der Ausbeutung und Unterdrückung, richte sie sich gegen eine Klasse, eine Partei, ein Geschlecht oder eine Rasse." Im Parlament versuche die Partei, in der Kolonialpolitik den Eingeborenen zu helfen, ebenso wie sie für die Verbesserung der Lage-der Arbeiterklasse in der bürgerlichen Gesellschaft eintrete. Er endete mit dem Satz, daß alles, was darüber hinausgehe, unnötiges Kopfzer-brechen sei, das sich Theoretiker und Nicht-theoretiker gemacht hätten.

Auch am nächsten Tag wurde die Debatte um die Kolonialpolitik fortgesetzt. Wieder ergriff Ledebour als erster das Wort. Er begrüßte es, daß Bebel sich hinter die Stuttgarter Resolution gestellt habe, und bedauerte es, daß sich David dazu nicht äußere. David habe nämlich im Gegensatz zu Bebel ein Zukunftsprogramm gefordert und sei darin vor allem von dem Österreicher Pernerstorfer unterstützt worden. Besonders bedauerlich sei auch, daß die Revisionisten Bebel für sich als Kronzeugen angeführt hätten.

Nun meldet sich auch David zu Wort. Er betonte, daß er sich zu Recht auf Bebel berufen hätte, da seine Stellungnahme in allen Agitationsmitteln der Partei verwendet werde. Als Unterstellung Ledebours wies er den Vorwurf zurück, daß er eine Konzession in Richtung an die heutige Raubpolitik hätte machen wollen. Er sei aber der Meinung, daß es wünschenswert und erforderlich sei, auf alle zurückgebliebenen Völker kulturell erzieherisch zu wirken.

Delegierte Laufenberg betonte, Düsseldorfer daß der Streit in Stuttgart keine Lappalie gewesen sei, da die Mehrheit der deutschen Delegierten die Haltung der deutschen Partei im letzten Wahlkampf desavouieren wollte. Wenn im ersten Satz der Resolution van Kols gesagt werde, daß der Wert der kapitalistischen Kolonialpolitik beträchtlich übertrieben werde, dann sei in versteckter Weise ausgesprochen, daß die gegenwärtige kapitalistische Kolonialpolitik für die Arbeiterklasse nützlich wäre. Leider habe Bebel nach dem Kongreß nicht klar genug Stellung genommen.

Wurm aus Berlin, der schon in Stuttgart den Majoritätsbeschluß bekämpfte, unterstrich, daß Ledebours Ausführungen den Tatsachen entsprächen. Er wandte sich vor allem gegen den Delegierten Fischer, der am 5. September auf einer Versammlung in Berlin Ledebours Verhalten angegriffen habe, und betonte, daß sein negativer Standpunkt zu einer Aufgabe der Kolonien führen würde. Damit sei Fischer offensichtlich zu einem Befürworter der Kolonien geworden. Wurm erinnerte an den Verlauf des Stuttgarter Kongresses, bei dem Laufenburg nur durch die Drohung, er würde einen Skandal verursachen, die Ermöglichung einer zweiten deutschen Delegationssitzung erreichen konnte, wo dann wenigstens ein Satz der Resolution neu formuliert worden sei. Wurm betonte anschließend, daß er mit aller Entschiedenheit dagegen auftreten mußte, daß eine Konzession an die bürgerliche Kolonialpolitik in die Resolution hineingebracht worden wäre. Kautsky, der als nächster das Wort ergriff, war erstaunt, daß er seinen Standpunkt nicht zu verteidigen brauchte, da im Gegensatz zu Stuttgart niemand vorgab, eine andere Anschauung zu haben. In Stuttgart hätte die Mehrheitsresolution ein Hintertürchen bilden sollen, um möglichst viele Konzessionen an die bürgerliche Kolonialpolitik einschmuggeln zu können. Dagegen hätte er auftreten müssen. Wenn David jetzt erkläre, er stehe auf dem Standpunkt der Mainzer Resolution, so sei ihm das unverständlich. In Stuttgart habe er etwas anderes vertreten. Wenn man ihm — Kautsky — Disziplinbruch vorwerfe, dann könne er nur sagen, für die Verteidigung der Grundsätze des sozialdemokratischen Programms breche er gern die Disziplin. Er hoffe, daß der Parteitag die Minderheitsresolution von Stuttgart mit erdrückender Mehrheit annehmen werde.

Auch Karl Liebknecht unterstützte Ledebour und Wurm. Er betonte vor allem, daß der Ausdruck „Sozialistische Kolonialpolitik" sprachlich unmöglich sei, da das Wort Kolonie den Begriff Bevormundung und Abhängigkeit einschließe. Er sei froh darüber, daß die Minderheitsresolution angenommen worden sei.

Die beiden Berliner Delegierten Arthur Stadt-hagen („Die Behauptung, daß die Kolonialpolitik den Arbeitern Vorteile bringt, ist eine Unwahrheit, wie sie größer nicht sein kann") und Hans Block machten sich den Standpunkt Ledebours zu eigen, wobei Block vor allem das kritiklose Verhalten sozialdemokratischer Partei-blätter rügte.

Nun ergriff David noch einmal das Wort. Er wandte sich gegen den Vorwurf von Kautsky, daß er die Nützlichkeit und Notwendigkeit der Kolonialpolitik bejaht hätte. David meinte, wenn es heiße, die Nützlichkeit werde übertrieben, dann sei noch lange nichts über die Notwendigkeit ausgesagt. Auch den Begriff Bevormundung will er nur im Sinne von Erziehung verstanden wissen. David betonte noch einmal, daß seine Ansicht mit dem übereinstimme, was bisher in der Fraktion und sonst vertreten worden sei.

August Bebel versuchte nun ein zweites Mal, die Wogen zu glätten. Er betonte, daß nach seiner Meinung beide Teile daran Schuld hätten, daß es zu dieser auch für den internatioB nalen Kongreß unangenehmen Debatte gekommen wäre. Mit Ausnahme Bernsteins habe aber die ungeheure Mehrheit, auch David, den bisherigen Standpunkt der Partei in der Kolonialfrage vertreten. Da aber im Augenblick weder in Deutschland noch sonstwo zu erwarten sei, daß der Sozialismus so erstarke, daß er selbständig Kolonialpolitik treiben könne, sei es Zukunftsmusik, darüber zu streiten.

Nachdem Fischer und Block sich über die Berichte in sozialdemokratischen Zeitungen in die Haare geraten waren, griff Kautsky noch einmal David an. Er warf ihm vor, daß er sinngemäß dafür eingetreten sei, daß in den Kolonien der Kapitalismus entwickelt werden müßte. Außerdem hätte er van Kol unterstützt, der der Meinung war, daß die Kolonien die Überbevölkerung aufnehmen sollten und außerdem das geeignete Absatzgebiet für die Industrie darstellten. Dies sei aber der reine „Dernburg". Wenn David sich jetzt allerdings auf denselben Standpunkt wie er stelle, habe er nichts dagegen.

Damit war die Debatte beendet. In einer persönlichen Bemerkung wies David die letzten Ausführungen Kautskys als Unterstellungen zurück. Die Abschaffung der Kolonien sei heute undenkbar, weil das einfach der Raub-und Mordpolitik gegenüber den Eingeborenen freie Hand lassen hieße.

Der Berichterstatter Paul Singer bedauerte in seinem Schlußwort den häßlichen Streit. Er glaubte, feststellen zu können, daß sich die Sozialdemokraten „kraft ihrer programmatischen Grundsätze und kraft ihres Klassenstandpunktes" gegen eine Eroberungs-und Raubpolitik der Gesellschaft erklären. Die übergroße Majorität der Partei stehe, wie die Debatte gezeigt habe, auf dem Boden der Mainzer Resolution, die in Stuttgart bestätigt worden sei. Er beantragte, den Beschluß des Stuttgarter internationalen Kongresses zu billigen. In der Abstimmung erhielt der Stuttgarter Beschluß einmütig die Bestätigung. Nach zweitägigen harten Auseinandersetzungen gab der Parteitag nach außen hin ein einheitliches Bild ab.

Zunehmender Einfluß der Revisionisten bis 1914

Die Debatten auf dem internationalen Kongreß in Stuttgart und auf dem Parteitag in Essen haben gezeigt, daß die Sozialdemokratische Partei in den Fragen der Kolonialpolitik nur nach außen hin ein klares Bild gab. Die Auseinandersetzungen waren nicht ein Streit um Worte, sondern tatsächlich das Ringen zweier verschiedenartiger Auffassungen. Es war typisch für die Lage der Partei, daß sich das „Zentrum" mit August Bebel an der Spitze um die Kolonialpolitik keine Sorgen machte. Für sie war es Zukunftsmusik. Die Sozialdemokratie mußte allerdings 1918 das koloniale Erbe nicht antraten, da durch den Ausgang des Krieges Deutschland von der Last der Kolonien befreit war.

Die Auseinandersetzungen um die Kolonialpolitik waren nur ein Teil der Differenzen zwischen den orthodoxen Marxisten und den so-genannten Revisionisten. In den von Joseph Bloch herausgegebenen „Sozialistischen Monatsheften" hatten Schippel, Calwer, Heine, David, Leuthner, Noske, Maurenbrecher, Hildebrand und Bernstein ihr Forum, während Kautsky, Liebknecht, Hilferding, Parvus, Radek und Rosa Luxemburg in der „Neuen Zeit" ihren orthodoxen Standpunkt vertraten.

Auf dem Parteitag in Dresden 1903 war es zwischen Kautsky und Bernstein zu einem ersten Gefecht in der Frage der Revision der sozialdemokratischen Haltung zur Kolonialpolitik gekommen. Der Essener Parteitag 1907 wurde zu einem wesentlichen Teil von den Kolonial-debatten beherrscht. Die Partei selbst war allerdings nicht reif für diese Diskussion. Als auf dem Essener Parteitag zum parlamentarischen Bericht der Karlsruher Abgeordnete Anton Weißmann den Vorschlag machte, die sozialdemokratische Reichstagsfraktion solle sich einen Beirat für koloniale Fragen schaffen, da auf dem Gebiet der Kolonialpolitik nicht alles klar sei, erntete er nur Gelächter.

Die Revisionisten konnten sich gegen den linken Flügel, der vom „Zentrum" der Partei gedeckt wurde, nicht durchsetzen. Sie billigten daher schon aus optischen Gründen die Stuttgarter Resolution.

Bis zum Ausbruch des Weltkrieges wurde aber auch ihr Einfluß größer. Nachdem früher von der Reichstagsfraktion der SPD Gelder für die Kolonien immer abgelehnt worden waren, stimmte sie 1912 für Bahnbauten in den Kolonien und bewilligte 1914 500 000 Reichsmark zur Erforschung von Petroleumlagern auf Neuguinea.

Vor allem der Gewerkschaftsflügel der Partei zeigte sich für die Kolonien aufgeschlossen, da nach seiner Meinung durch das ungeheure Anwachsen der Zahl der Arbeiter neue Absatz-23 gebiete in den Kolonien zur Erhaltung der Industriekonjunktur nötig seien.

Zusammenfassend kann gesagt werden, daß auf dem internationalen Kongreß in Stuttgart die Revisionisten, vor allem auch im Ausland, eine verhältnismäßig starke Stellung hatten. Die Vertreter der Länder mit starkem Kolonial-besitz (MacDonald/Großbritannien, van Kol/Holland, Terwagne/Belgien) traten für die Mitarbeit der sozialistischen Parteien an der Kolonialpolitik in einem fortschrittlichen Sinne ein.

Die deutsche Sozialdemokratie war 1907 nicht bereit, diesen Weg zu gehen. Es gab keinen prominenten deutschen Sozialdemokraten, der auf eigene Erfahrung in den Kolonien zurückgreifen konnte. Der klassenkämpferische Grundcharakter der deutschen Sozialdemokratie entschied lediglich danach, ob für den deutschen Arbeiter durch die Kolonialpolitik ein Nutzen erreicht werden konnte. Als dies verneint wurde, war die Entscheidung praktisch gefallen.

So orthodox die Sozialdemokratie in den Formulierungen ihres Programms war, so utopi-stisch war sie in ihren Handlungen. Die ganze Frage wurde in die ferne Zukunft verschoben. Wenn man einmal an der Macht sei, werde man sich schon damit beschäftigen. Der Ausgang des Ersten Weltkrieges befreite die Sozialdemokratie davon, diesen Wechsel einlösen zu müssen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Gustav Noske, Kolonialpolitik und Sozialdemokratie, Stuttgart 1914, S. 35.

  2. Noske, a. a. O., S. 39.

  3. Protokoll über die Verhandlungen des SPD-Parteitages Essen 1907, Berlin 1907, S. 132.

  4. Parvus, Die Kolonialpolitik und der Zusammenbruch, Leipzig 1907, S. 17.

  5. Parvus, a. a. O., S. 65

  6. Parvus, a. a. O., S. 119.

  7. Internationaler Sozialistenkongreß Stuttgart 1907, Protokoll, Berlin 1907, S. 110.

  8. Int. Kongreß, a. a. O., S. 111.

  9. Int. Kongreß, a. a. O., S. 112.

  10. Int. Kongreß, a. a. O., S. 28.

  11. Int. Kongreß, a. a. O., S. 35.

  12. Int. Kongreß, a. a. O., S. 39/40.

  13. Protokoll Parteitag, a. a. O., S. 267.

  14. Protokoll Parteitag, a. a. O., S. 272.

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Günther Müller, Dr. phil., Mitglied des Bundestages, geb. 27. September 1934 in Passau, 1956 Landesvorsitzender der sozialdemokratischen Studenten in Bayern, 1957 Bezirks-vorsitzender der Jungsozialisten in Südbayern, 1963 Wahl zum Bundesvorsitzenden der Jungsozialisten; zahlreiche Veröffentlichungen zu historischen und politischen Fragen.