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Der „neue Mensch” in Osteuropa | APuZ 12/1968 | bpb.de

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APuZ 12/1968 Der sowjetische Nationsbegriff Zur gegenwärtigen Diskussion Der „neue Mensch” in Osteuropa

Der „neue Mensch” in Osteuropa

Vilmos von Zsolnay

I. Allgemeines

Seit 50 Jahren ist man in der „sowjetsozialistisehen" Gesellschaft bemüht, einen „neuen Menschentyp", den Typ des sozialistischen bzw. kommunistischen Menschen, heranzubilden. Diese Untersuchung soll zeigen, wie weit dieses Ziel der Kommunisten verwirklicht werden konnte.

Offen anerkannte Zielsetzungen der durch die Oktoberrevolution 1917 an die Macht gekommenen bolschewistischen Partei waren die vollständige Zerstörung der gesamten früheren Staats-, Wirtschafts-und Gesellschaftsordnung, des alten Bewußtseins des Menschen, die Liquidierung der feindlichen Klassen sowie die Errichtung eines „qualitativ neuen" Regimes und einer neuen sozialen Ordnung mit einem neuen Menschentyp. Man wollte alles zerstören, um nachher das Neue aufbauen zu können. Das neue Regime ging davon aus, daß Denkweise, Bewußtsein, politische und ideologische Einstellung des einzelnen durch seine soziale Herkunft und sein materielles Milieu bestimmt und nicht oder nur sehr schwer zu verändern seien. Deshalb rief es zur Liquidierung der zur Revolution feindlich eingestellten Klassen und Gesellschaftsschichten auf. Es hieß, wenn die materielle Basis den überbau bestimme, könnten in der sozialistischen Gesellschaftsordnung nur sozialistische Uberbauelemente, im Bewußtsein des Menschen nur eine materialistische Weltanschauung geduldet werden.

Der auf den Trümmern der alten Ordnung heranzubildende Menschentyp soll von Menschen verkörpert werden, die vom Kollektiv-geist durchdrungen sind. Der neue Menschen-typ sieht sein Ziel im Aufblühen der neuen Ordnung, arbeitet fleißig und erzieht seine Kinder im sozialistisch-kommunistischen Geiste. Ihn kennzeichnen strikte Ablehnung des Individualismus und völlige Bejahung des Kollektivismus, Nächstenliebe zu allen Regimeanhängern und Haß gegen alle Feinde des Regimes sowie Solidarität mit allen, die sich zum Ziele setzten, die neue Ordnung zu errichten. Eine weitere Eigenschaft dieses neuen Menschentyps ist der entschiedene Kampf gegen alle, die diese Ordnung ablehnen, ob sie sich im In-oder Ausland befinden. Der neue Mensch lebt nicht für sich, sondern für die Gesellschaft. Er arbeitet nicht für seine persönliche Bereicherung oder für sein persönliches Glück, sondern für das Wohl der Gesellschaft. Er denkt in internationalen Klassenkategorien und nimmt bei jeder Stellungnahme einen Klassenstandpunkt ein. Alles, was in der Welt geschieht, beobachtet er durch das Prisma der klassengebundenen Lehren des Marxismus-Leninismus.

Der neue Mensch muß lieben oder hassen — einen Mittelweg gibt es für ihn nicht. Mit aller Liebe hat er sich für den Aufbau des Sozialismus und Kommunismus im eigenen Lande und im Ausland einzusetzen. Er muß bemüht sein, die sozialistisch-kommunistische Entwicklung in der ganzen Welt zu fördern. Der den „neuen Menschentyp" verkörpernde „Sowjetmensch" ist seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Osteuropa zu einem Begriff geworden: er stellt dort den gegenwärtig höchsten Menschentyp dar. Ein wichtiger Charakterzug ist seine Parteilichkeit. Er muß der Arbeiterklasse, dem Führer von Staat und Gesellschaft, sowie besonders deren Vortrupp, der Kommunistischen Partei, völlig ergeben sein. Gerade der Anspruch auf die Anerkennung der Überlegenheit des Sowjetmenschen ist es, der in letzter Zeit auch Anlaß zu Differenzen zwischen Moskau und Peking im Zusammenhang mit der Heranbildung des neuen Menschen gegeben hat. Moskau protestiert dagegen, daß auch Peking für sich beansprucht, einen neuen Menschen, den „chinesischen Menschen", heranzubilden, der dem Sowjetmenschen überlegen sei.

In der Chruschtschow-Ära forcierten Partei und Regierung fieberhaft den beschleunigten Aufbau des Vollkommunismus. Dieser Drang nach dem raschen Aufbau einer qualitativ neuen Gesellschaftsordnung spiegelte sich im wichtigsten Dokument der elfjährigen Chruschtschow-Periode, im Programm der KPdSU von 1961, wider. In diesem Programm wird behauptet, daß mit dem Abschluß des Aufbaues der materiell-technischen Basis des Kommunismus die Sowjetunion die kommunistische Gesellschaft „im wesentlichen" geschaffen haben würde, womit man Basis und Kommunismus „im wesentlichen" gleichsetzte. In diesem Sinne schließt das Parteiprogramm mit folgendem Satz: „Die Partei verkündet feierlich: die heutige Generation der Sowjetmenschen wird im Kommunismus leben!" Als Kriterien der Mitglieder der künftigen kommunistischen Gesellschaft, der „Menschen neuen Typs", werden im Programm angeführt: „Hohes kommunistisches Bewußtsein, Arbeitsfreude, Disziplin und Ergebenheit den Interessen der Gesellschaft gegenüber."

Als wichtigster Charakterzug des neuen Menschen wird der Kollektivismus bzw.der Kollektivgeist angeführt. Die Kraft des Sowjetmenschen besteht laut Parteitheorie gerade im Kollektivismus. Er sei die Erscheinungsform der einheitlichen Überzeugung, Sitten und Handlungen des Sowjetmenschen in der Produktion, im Privatleben und in der gesellschaftlichen Tätigkeit, er sei eines der moralischen Prinzipien des Sittenkodexes der Erbauer des Kommunismus. Als Kriterien des sozialistischen Kollektivs werden aufgezählt: Einheitlichkeit der Zielsetzung, der Bestrebungen und der moralisch-politischen Anschauungen der Mitglieder, hohe Organisation und selbstlose Disziplin, aktive Tätigkeit bei der Verwirklichung der Parteipolitik, Kameradschaftlichkeit und gegenseitige Hilfe bei der Arbeit und im Privatleben, Humanismus. Dem Kollektivgeist bzw.dem sozialistischen Kollektiv muß die kommunistische Moral zugrunde liegen, welche sich von den Gesamtinteressen der Gesellschaft ableitet. Deshalb hat sie eine klassenkämpferische Natur: „Unsere Moral ist den Interessen des Klassenkampfes des Proletariates untergeordnet. Unsere Moral wird von den Interessen des Klassenkampfes bestimmt" (Lenin). Ein anderes Kriterium der Moral ist ihre aktive Natur. Das Bestreben, am kommunistischen Aufbau aktiv teilzunehmen, gilt als moralisches Element und Bestandteil der kommunistischen Moral.

Der Kollektivismus verlangt, daß der Mensch in diesem Kollektiv aufgeht, sich ihm vollständig unterordnet. Allerdings sind sich die kommunistischen Philosophen nicht einig darüber, wie das sozialistisch-kommunistische Kollektiv zu organisieren ist, wie sich das Verhältnis zwischen Individuum und Kollektiv bzw.den einzelnen Mitgliedern des Kollektivs gestalten soll. Soviel stehe aber heute schon fest, daß es nicht genüge, wenn die Mitglieder des Kollektivs an der Arbeitsstelle und im Privatleben immer zusammen wären, wenn sie gemeinsam ins Kino oder Theater gingen, wenn sie ihre Freizeit gemeinsam verbringen würden. Das sozialistische Kollektiv entstehe erst dann, wenn sich jedes Mitglied für den kommunistischen Aufbau mit voller Energie einsetzten und die ungeschriebenen Normen der kommunistischen Moral, des kommunistischen Zusammenlebens einhalten würde: „Wir sagen: Alles ist moralisch, was zum Kampf für den Sieg des Kommunismus beiträgt. Dieses Kriterium der kommunistischen Moral muß man aber konkret verstehen . . . Das allgemeine Kriterium der Moral unter den heutigen Bedingungen der Sowjetunion wird folgendermaßen ergänzt: Hast du alles unternommen, was du konntest, um dem Kommunismus näherzukommen?'"

In der sowjetischen wie auch in der volks-demokratischen Fachliteratur wird besonders unterstrichen, daß der neue Mensch nicht spontan, von sich heraus und ohne äußere Mitwirkung entstehe, sondern planmäßig herangebildet werden müsse. In diesem Zusammenhang werden auch die früheren falschen Vorstellungen vermerkt. Am deutlichsten wies Vasil Bilak, der Erste Sekretär des ZK der KP der Slowakei, in einer Rede auf der Konferenz des Schriftstellerverbandes (Frühjahr 1967) auf dieses Problem hin: „. . . Die Periode ist vorbei, in der wir zahlreiche Dinge im Leben, in der Wirtschaft, in unserer Kultur, in der Politik idealisierten, in der wir daran glaubten, daß es genüge, die Lehre vom Sozialismus und der kommunistischen Gesellschaftsordnung zu zitieren, und daß dann die Menschen schon so leben und arbeiten werden, wie es vorgeschrieben ist ..." Auch die sowjetische Fachliteratur warnt vor allzu optimistischen Vorstellungen: „Der neue Mensch, der vom Kollektivgeist durchdrungen ist, entwickelt sich nicht automatisch, sondern in einem ständigen erbitterten Kampf gegen die Überreste der Vergangenheit", unter denen der Individualismus einen vorrangigen Platz einnimmt. Der Mensch müsse speziell dazu erzogen werden, sich der Gesellschaft und den Interessen der Gemeinschaft freiwillig unterzuordnen. Der Erbauer des Kommunismus muß also zur Hingabe für die großen Ideale des Kommunismus, zum kommunistischen Verhältnis zur Arbeit, zur selbstlosen politischen und gesellschaftlichen Aktivität besonders erzogen werden. Einer der wichtigsten Charakterzüge des Kollektivismus, der „geistige Uniformismus", kann ebenfalls ohne Erziehung nicht entstehen. Das „uniformierte Denken und Fühlen" scheint einer der wichtigsten Charakterzüge der neuen sozialen Ordnung und des neuen Menschen zu sein. Deshalb werden diejenigen Elemente, die sich dem Kollektiv nicht anpassen können und wollen, gerügt.

Die Erziehung des neuen Menschen hängt mit seiner ständigen Kontrolle seitens des Kollektivs zusammen. Das neue Kontroll-und Erziehungssystem erfaßt den Menschen sowohl am Arbeitsplatz als auch in seiner Freizeit. Es besteht im wesentlichen aus drei Hauptgliedern : 1. Aus Organen, die sich mit der Kontrolle und Erziehung innerhalb der Wohnstätten beschäftigen und hauptsächlich auf das Familienleben ausgerichtet sind. 2. Aus Organisationen, die den Menschen hauptsächlich am Arbeitsplatz erfassen und ihn durch die Arbeit erziehen wollen, nebenbei aber auch das Privatleben und die Kindererziehung mit Aufmerksamkeit verfolgen. Hier geht man von der These aus, die Freizeit sei Vorbereitung zur Arbeit. 3. Aus Organisationen, die sich vor allem für die Freizeitgestaltung des Individuums zur Verfügung stellen.

Außerdem gibt es noch mehrere wichtige gesellschaftliche Organisationen, wie z. B. das Kameradschaftsgericht, das sowohl in den Betrieben als auch in den Wohnbezirken tätig w i rd.

Alle Kontrollgruppen bilden eine Einheit. Ihre Tätigkeit wird von der Partei geleitet und kontrolliert, da diese die Hauptverantwortung für die kommunistische Erziehung des Menschen trägt. Der Zweck dieser großen Anstrengungen ist, die ganze sozialistisch-kommunistische Gesellschaftsordnung einem von der Partei vorgeschriebenen Schema zu unterwerfen, das heißt einen „neuen" Menschen heranzubilden, der sich den gemeinschaftlichen Interessen aus freiem Willen unterordnet und sein Leben nach dem von der Partei aufgestellten Plan gestaltet.

II. Die Kontrolle in den Wohnbezirken

Partei-und philosophische Literatur beanstanden häufig, daß im Leben der heutigen sowjetischen Generation noch immer eine Doppelspurigkeit zu beobachten sei: am Arbeitsplatz gebe man sich als überzeugter Kommunist, der von den Überresten der Vergangenheit längst befreit sei, im Familien-und Privatleben huldige man aber den alten sozialismus-feindlichen Sitten und Ideen („Spaltung der Persönlichkeit"). Dies sei nur deshalb möglich, weil Kontrolle und Erziehung der Werktätigen sich lange Zeit allein auf den Arbeitsplatz beschränkt und konzentriert hätten. Dabei hätte man nicht bemerkt, daß mancher „vorbildliche" Arbeiter zu Hause zum Kleinbürger würde. Aktivisten, die in der Öffentlichkeit den Kollektivismus und den Kollektivgeist propagierten, würden sich zu Hause zu Individualisten verwandeln, die mit den Nachbarn ständig Streit hätten. Es käme oft vor, daß „überzeugte" Kommunisten ihre Kinder heimlich taufen ließen. In den zenttrrallasiatischen Republiken würden fortschhrriittttliche Werktätige und Funktionäre sogar noch Überresten des Feudalismus (!) huldigen. Sie würden die Frauen geringschätzzeein und erniedrigen. Im Sinne der Losung: „Das Privatleben ist keine Privatangelegenheit", die allerdings in der Parteiliteratur noch nicht überall anerkannt ist, werden verschieeddeenn-e Organe eingesetzt, um hier eine ÄAnnddeerruunng herbeizuführen. Für die Erziehung der Mieteer werden hauptsächlich gesellschaftliche Organe (sogenannte „selbständige Organe") eeiinnggeesseettzzt. Neben ihnen spielen jedoch auch die Organe der Staatsverwaltung (Hausverwaltung) umnd die Hauswarte eine wichtige Rolle. Als koordinierende und leitende Kraft und zugleich auch als Kontrollinstanz tritt die territoriale ParteioOrrggaanniissaattiioon (bei der Hausverwaltung) auf. a)

Die Hausverwaltungen Die Hausverwaltungen sind staatliche Organe, die für eine Anzahl von Häusern bzw. für einen Hausblock vom örtlichen Sowjet errichtet, geleitet und kontrolliert werden. In den Großstädten entfällt auf etwa 10 000 Einwohner eine Hausverwaltung. Die Leitung und Kontrolle durch die Sowjets erfolgt meistens durch eigene ständige Kommissionen, das heißt auf gesellschaftlicher Basis. Die Haus-verwaltungen werden zu wichtigen Organen für die Kontrolle des Privatlebens, weil sie 1. die Tätigkeit der Hausräte, Haus-und Hausblockkomitees, Straßenkomitees, ferner die Kinderautonomie in den einzelnen Häusern koordinieren sowie die materiellen und organisatorischen Voraussetzungen für ihre Tätigkeit garantieren; 2. Bindeglied zwischen den erwähnten gesellschaftlichen Organen des Hauses und der staatlichen Verwaltung sind; 3. als Basis für die Tätigkeit der „territorialen Grundorganisation" der Partei dienen; 4. in ihre Arbeit ein breites gesellschaftliches Aktiv einschalten (Kommissionen). Die Aktivisten sind meistens nichterwerbstätige Hausfrauen und Rentner.

Auch Hauswarte traten bis vor kurzem sogar als Kontrolleure der Mieter auf. Sie sind auch heute noch Vertrauensleute. Deshalb wurden viele während bzw. nach der revolutionären Bewegung in Polen und Ungarn 1956 ihres Postens enthoben. In Ungarn — aber auch in den übrigen Ländern des Ostblocks — müssen die Hauswarte ein Leumundszeugnis vorweisen. Solche Zeugnisse waren früher nur für Funktionäre vorgesehen, die einen führenden Posten bekleiden oder politische Verantwortung tragen (Verordnung des Innenministers vom 28. 12. 1957, Nr. 5/1957). Diese Zeugnisse gelten auch als Bestätigung der politischen Zuverlässigkeit. b) Hausräte, Haus-und Hausblockkomitees, Straßenkomitees Die Hausräte, Haus-und Hausblockkomitees und die Straßenkomitees sind „selbsttätige gesellschaftliche Organe", die mit der Hausverwaltung zusammenarbeiten müssen. In bezug auf die Organisation, Struktur und besonders die Benennung herrscht in der UdSSR ziemliche Unklarheit. Als gemeinsame Wesenszüge lassen sich folgende anführen: 1. Sie dienen alle direkt oder indirekt der sozialistisch-kommunistischen Erziehung der Mieter. Zu diesem Zwecke haben sie die Mieter in ihrem Privatleben zu beobachten und die Hausbewohner zu gesellschaftlichen Arbeiten heranzuziehen. 2. Sie sind theoretisch unabhängige gesellschaftliche Organe; in Wirklichkeit werden sie aber von Staat und Partei geleitet und kontrolliert (Hausverwaltung, territoriale Grund-organisation der Partei). 3. Offiziell gelten sie auch als Organe der „Mieterautonomie“, wobei der Ausdruck „Autonomie" nicht im juristischen Sinne verstanden werden darf. Der Terminus „Autonomie" kehrte erst nach einer mehr als vierzigjährigen Unterbrechung in die sowjetische Rechtswissenschaft zurück. Die „sozialistische Autonomie" hat also mit einer territorialen Autonomie nichts gemeinsam, weil es in einem sozialistischen Staat keine Trennung zwischen zentralen und lokalen Angelegenheiten geben kann (demokratischer Zentralismus). In diesem Sinne bildet auch die Mieterautonomie wie die übrigen Formen der „gesellschaftlichen Autonomie" lediglich eine formelle Institution. Mieterautonomie, „Arbeiterautonomie" und „Autonomie der Bauern" werden als Formen der unmittelbaren Demokratie „zu den wichtigsten institutioneilen Formen der sozialistischen Demokratie" gezählt.

Die Mitglieder der Räte und Komitees werden auf den Mieterversammlungen mit offener Stimmabgabe für ein oder zwei Jahre gewählt. Sie errichten für die „operative Arbeit" besondere Sektionen, z. B. für die politische Arbeit unter den Mietern, für die Arbeit mit der Jugend und den Kindern, für den Schutz der öffentlichen Ordnung. In diesen Sektionen sind nicht nur Mitglieder der Räte und Komitees vertreten, sondern auch andere Personen aus den Reihen der Mieter. Die Hausräte und Komitees verfügen über besondere Agitationsgruppen, die mit den entsprechenden Partei-Agitationsstellen eng zusammenarbeiten, die Hausbewohner ideologisch schulen und sie über die Probleme der Partei-und Regierungspolitik aufklären.

Sowohl die Räte und die Komitees als auch deren Sektionen arbeiten nach einem von der Plenarsitzung des Rates genehmigten Plan. Der Rat bzw. das Komitee veröffentlicht in den Häusern Wandzeitungen, in denen die gesellschaftliche Haltung der einzelnen Mieter geB lobt bzw. getadelt wird. Für überzeugte Kommunisten organisieren sie spezielle Diskussionsabende. In Kuibyschew — und wohl auch in anderen größeren Städten — werden die Hausräte und Hauskomitees von den entsprechenden Sowjets der „Mikrobezirke" geleitet und kontrolliert. Hierdurch erhält die Institution der Hausräte und der Hauskomitees eine hierarchische Struktur. Die städtischen Bezirke sind in mehrere Mikrobezirke unterteilt. Für die Leitung und Kontrolle der Räte und Komitees sind in den Bezirkssowjets (bei den Exekutivkomitees) spezielle Sektionen geschaffen worden, die zugleich die Unterkommissionen der ideologischen Kommission des Bezirkskomitees der Partei darstellen. Die rein gesellschaftlichen Organe unterstehen also völlig der Leitung von Staat und Partei. Auch bei der Bekämpfung der Verletzung der Regeln des sozialistisch-kommunistischen Zusammenlebens und der öffentlichen Ordnung kann die Hilfe der Polizei und des örtlichen Sowjets in Anspruch genommen werden.

Neben den Hausräten und Hauskomitees gibt es in der UdSSR auch sogenannte „gemeinschaftliche Flauskommissionen", die unter der direkten Leitung und Kontrolle der Gewerkschaftskomitees und der örtlichen Sowjets arbeiten und in erster Linie für die Erhaltung der Häuser auf kollektiver Basis sorgen müssen. Da die Erziehung zur Arbeit eines der Grundprinzipien bei der Heranbildung des neuen Menschen ist, wobei in erster Linie die Forcierung der freiwilligen gemeinnützigen Arbeit gemeint ist, müssen auch diese Organe als Instanzen zur Erziehung der Mieter angesehen werden. Im Sinne des vom RSFSR-Minister für Kommunalwirtschaft und vom ZK-Präsidium des Gewerkschaftsbundes der Werktätigen der örtlichen Industrie und Kommunalwirtschaft im Oktober 1959 bestätigten Statutes arbeiten die Gewerkschaftsorgane mit Aktivisten-Kommissionen, deren Pläne von ihnen bestätigt werden müssen (Art. 7). Ihre Hauptaufgabe besteht darin, die Mieter zu „gemeinschaftlicher Hausreparatur" zu mobilisieren und die Instandhaltung der einzelnen Wohnungen zu kontrollieren.

Außer den genannten gibt es noch zahlreiche Organe, die sich nur indirekt und nebenbei mit der Kontrolle und Erziehung der Bevölkerung in den Wohnstätten befassen. Primär sind sie in der Agitation und Propaganda tätig. Vor allem muß auf die Organe der Parteipropaganda hingewiesen werden. Die Partei-komitees der einzelnen Ortschaften richten an jedem Ort „Agitationspunkte" ein, in denen etwa 18 bis 20 Agitatoren tätig sind. Außer den Parteiagitatoren gibt es noch Jugend-agitatoren des Komsomols. Die Agitatoren und Agitationsstellen sind unter der Leitung der ideologischen Kommissionen der örtlichen Parteikomitees tätig. Neben den „Agitationspunkten" gibt es auch noch zahlreiche sogenannte Kabinette für politische Aufklärung (1960 allein in der Ukraine 2045). Obwohl diese Kabinette vor allem der Weiterbildung und Informierung der schon amtierenden Partei-propagandisten dienen, haben sie auch für die sozialistische Erziehung der Bevölkerung eine wichtige Bedeutung.

Besondere Aufmerksamkeit verdienen die bereits erwähnten territorialen Grundorganisationen der Partei, welche vor allem für die Organisation des politischen Lebens innerhalb der Wohnhäuser zuständig sind. Sie planen und organisieren zum Teil Besuche bei den Mietern, die Vorträge auf den Höfen oder in den größeren Wohnungen und versorgen gegebenenfalls die politischen Agitationsstellen mit Vorträgen. Sie wurden entweder in kleineren Dörfern oder bei den Hausverwaltungen errichtet. Ihre Existenz wurde im Parteistatut von 1961 (Art. 53) zum ersten Male verankert. Mitglieder in diesen Grundorganisationen sind Hausfrauen, Pensionäre sowie Kommunisten, die in der Hausverwaltung oder in einer solchen Arbeitsstelle erwerbstätig sind, in der es keine eigene Grundorganisation gibt. Die territorialen Grundorganisationen müssen dahin wirken, daß jeder Kommunist die Prinzipien des Sittenkodexes der Erbauer des Kommunismus in seinem Privatleben einhält. Sie haben Propaganda-und Agitationstätigkeit auszuüben und die Arbeit der Hausverwaltung zu vervollkommnen, sie sorgen auch für die Erhaltung des Wohnfonds und für die Hausreparaturen. Die ideologisch und politisch wichtigste Aufgabe ist die Leitung der gesellschaftlichen Organe des Wohnhauses. Außerdem leiten und kontrollieren sie direkt die Kindererziehung.

III. Die Kontrolle und Erziehung in den Betrieben

Die Arbeit wird im allgemeinen als der wichtigste Erziehungsfaktor angesehen. Aus diesem Grunde spielen die Betriebe bzw. die betrieblichen Arbeitskollektive auch eine wichtige Rolle bei der Erziehung des „neuen Menschen". Wie es im Beschluß des 13. Plenums des ZK der KP Usbekistans vom Juni 1964 heißt, „dürfen Arbeit und Privatleben nicht voneinander getrennt werden; beide sind untrennbare Bestandteile des kommunistischen Lebenswandels. Die Arbeit, die sozialistische Produktion und das Arbeitskollektiv sind die beste Schule der Erziehung, die Basis der Umstellung des Familienlebens auf kommunistischer Grundlage". Die erzieherische Wirkung der Arbeit muß vor allem im innerbetrieblichen Arbeiterkollektiv in Erscheinung treten; deshalb ist man auch bemüht, es in allen Betrieben gut zu organisieren. Man versucht, die Kollektive zu disziplinierten Organisationen zu machen und bei den Mitgliedern das Gefühl der Verantwortung für das Kollektiv zu wecken. Dem Kollektiv gewährt man deshalb auch verschiedene Rechte. Besondere (meist gewerkschaftliche) Kommissionen entscheiden beispielsweise darüber, ob die Werktätigen ihre Arbeitstelle wechseln dürfen (unter Berücksichtigung des öffentlichen Interesses) bzw. ob neue Werktätige ausgenommen werden können. Da jedoch in der Praxis alle Werktätigen Gewerkschaftsmitglieder sind, entspricht das Werktätigenkollektiv einer Grundorganisation der Gewerkschaften und die gewerkschaftliche Kommission einer Kommission des gesamten Kollektivs. Der gewerkschaftliche Rahmen garantiert, daß diese Kollektive nicht von unten — vom Kollektiv —, sondern von oben — von den entsprechenden Gewerkschaftsorganen — geleitet und kontrolliert werden. Im allgemeinen ist das Zusammenfallen von Arbeiterkollektiv und gewerkschaftlicher Grundorganisation für die freie bzw.freiwillige Heranbildung des Kollektivs schädlich. Die einzelnen Kollektive in den Betrieben sind voneinander isoliert; als gewerkschaftliche Organisationen werden sie aber in die das ganze Land und die gesamte Gesellschaft erfassende Gewerkschaftsorganisation eingefügt. Nach dem Grundsatz des demokratischen Zentralismus (Wählbarkeit von unten nach oben auf Grund einer Vornominierung, unbedingte Verbindlichkeit der Anordnungen der höheren Organe) werden sie den von der Partei geleiteten Gewerkschaftsorganen restlos ausgeliefert. Die Unterordnung unter die Gewerkschaft bzw. das Ausgehen in der Gewerkschaft macht die Arbeiterkollektive illusorisch. Umsonst verfügt das Arbeiterkollektiv über eigene Organe (Frauenräte, Lektorengruppen, Agitatorengruppen, „Konsultanten" für die politische Aufklärung usw.), wenn diese zugleich in engster Verbindung mit den Gewerkschaften stehen (in der Tschechoslowakei wird ein Teil von ihnen in die Wohnbezirke versetzt).

Das wichtigste Organ des Betriebskollektivs ist die Generalversammlung, die unregelmäßig von den Gewerkschaftsorganisationen einberufen wird. Hier werden einerseits die wichtigsten Produktionsprobleme erörtert, andererseits aber auch die Probleme der Parteipolitik und des Alltagslebens sowie die Haltung der einzelnen Kollektivmitglieder am Arbeitsplatz und im Privatleben behandelt. Derjenige, der die Regeln des sozialistischen Zusammenlebens verletzt, muß sich vor der Generalversammlung verantworten. Von großer Wichtigkeit ist die Diskussion über die Probleme des Kampfes gegen die Überreste der Vergangenheit. Die als „Nichtstuer", „Schmarotzer" und „Spekulanten" Beschuldigten müssen sich vor der Generalversammlung rechtfertigen. Beim ersten Mal erhalten sie eine Verwarnung, bei der Wiederholung kann das Kollektiv einen Antrag auf Deportation stellen. Auch die Eltern, die die Erziehung ihrer Kinder vernachlässigt haben, werden von der Generalversammlung zur Rechenschaft gezogen. Sogar die Gerichtsurteile gegen Arbeitskollegen werden häufig in solchen Versammlungen bekanntgegeben, damit das Kollektiv Stellung nehmen und die Verurteilten auch von sich aus moralisch verurteilen kann. Selbst die Gerichtsverhandlungen gegen Rowdys oder wegen strafbarer Handlungen von Minderjährigen werden oft entweder am Arbeitsplatz der Minderjährigen oder der Eltern abgehalten.

Eine ähnliche Entwicklung läßt sich auch auf dem Lande beobachten, wo die gesamte Dorfbevölkerung die Rolle der Betriebsversammlungen übernimmt. Meistens wird die Dorfbevölkerung am „Tag der Viehzüchter", am „Tag der landwirtschaftlichen Mechaniker", am „Tag der Brigadeleiter" usw. oder an den allgemeinen sowjetischen Festtagen zusammengerufen. Die Dorfversammlungen befassen sich auch mit erzieherischen Problemen und behandeln die Verletzung der Regeln des sozialistischen Zusammenlebens am Arbeitsplatz und im Privatleben. Es ist sehr schwierig, die Kompetenzen zwischen der Generalversammlung im Betrieb und der Dorfversammlung abzugrenzen. Der Unterschied liegt hauptsächlich darin, daß die erstere den Gewerkschaftsorganen unterstellt ist (Einberufung, Zusammenstellung der Tagesordnung, Weiterleitung der Anträge, Ausführung der Beschlüsse usw.), während bei der Dorfversammlung die Dorfsowjets diese Rolle übernehmen.

Von der Fachliteratur und der Presse wird oft auf einen Fehlschlag der offiziellen Politik hingewiesen, daß nämlich die Werktätigen nicht bereit sind, sich um das Privatleben ihrer Arbeitskollegen zu kümmern. Der armenische Minister für öffentliche Ordnung, S. Arumanjan, schrieb in diesem Zusammenhang, sogar viele Parteileute machten sich die schädliche „Philosophie" zu eigen: „Mein Haus ist meine Burg". Auch sie würden sich weigern, Spekulanten, Rowdys und solche, die die (nirgends festgelegten) Regeln des sozialistisch-kommunistischen Zusammenlebens übertreten, öffentlich anzugreifen oder zu kritisieren. Ein Polizeimajor in Sowjetestland schrieb folgendes: „Die Generalversammlungen der Betriebe, die zur Verurteilung der moralisch labilen Mitarbeiter oder Diebe am sozialistischen Eigentum einberufen wurden, um eine staatliche Anklage gesellschaftlich zu unterstützen, nehmen den Angeklagten oder den Verurteilten geradezu in Schutz. Die Staatsanwälte sind nämlich bemüht, vor ihrer Anklageerhebung eine solche Versammlung einberufen zu lassen, um die Klage durch die öffentliche Verurteilung durch die Arbeitskameraden zu untermauern. Die Arbeitskollegen entsenden jedoch zu den Gerichtsverhandlungen anstelle eines gesellschaftlichen Klägers einen gesellschaftlichen Verteidiger. Nach einer Verurteilung wollen die Werktätigen ihre Kollegen zur Betreuung und Umerziehung auf Bürgschaft übernehmen, um ihnen so Straflosigkeit zu sichern."

Dem Schein nach stärkt sich also das Kollektiv, festigt sich der Kollektivgeist, aber . auf eine von oben verurteilte Weise, nämlich in Form einer „falsch" aufgefaßten Kollegialität, oder auf Grund der individuellen oder bestenfalls Gruppeninteressen.

Neben der Generalversammlung gibt es noch eine Anzahl gesellschaftlicher Organe, die sich mit dem Privatleben und mit der Haltung der Werktätigen am Arbeitsplatz beschäftigen (Kameradschaftsgerichte, Gewerkschaftsorgane, Frauenräte usw.). Die Frauenräte laden z. B. Eheleute, die in Streit leben, ein und versuchen, sie zu versöhnen. Sie kontrollieren auch die Kindererziehung. In den turkmenischen Kolchosen befassen sich die Frauenräte sogar mit der ideologischen Erziehung der Frauen und bemühen sich vornehmlich, die Überreste der Vergangenheit zu bekämpfen. Sie führen mit Eheleuten, die die Kindererziehung vernachlässigen, individuelle Gespräche und organisieren Massenveranstaltungen.

Folgende gesellschaftliche Organisationen sind an den Arbeitsplätzen zu finden: Partei und Gewerkschaften, kommunistische Jugendorganisation, Friedensrat, Frauenrat, paramilitärische Organisation (DOSAAF), Vereinigung der Erfinder und Neuerer usw. In größeren Betrieben gibt es auch spezielle Kulturbrigaden. Während Partei-, Jugend-und Gewerkschaftsorgane ständig arbeitende Stellen sind, die meist auch etatmäßige Funktionäre beschäftigen, treten die übrigen Organe nur selten zusammen (zum Beispiel dann, wenn es sich um eine größere gesellschaftliche Veranstaltung handelt: Friedensversammlung, Feierlichkeit anläßlich des Monats für die Freundschaft mit der nationalen Befreiungsbewegung usw.).

In der UdSSR ist man bemüht, die Förderung des kollektiven Geistes in den Betrieben und die Erziehung des neuen Menschen in den Werktätigenkollektiven auf eine neue Grundlage zu stellen. Es wird eine kurz-und eine langfristige Planung zur Förderung des sozialistisch-kommunistischen Kollektivs in den Betrieben verlangt. Dieser Plan soll für die Änderungen in der sozialen Struktur und für die geistige, politische und menschliche Entwicklung der Mitglieder des Kollektivs sowohl die besonderen Bindungen des Betriebes als auch die gesamtgesellschaftlichen Entwicklungstendenzen berücksichtigen. In den Produktionsplänen sollen die sozialen Veränderungen und die des geistigen, politischen und kulturellen Lebens der Belegschaft beachtet werden. Die Förderung des kollektiven Geistes stelle einen unentbehrlichen integralen Teil des Produktionsplanes dar, heißt es in der sowjetischen Fachliteratur.

Der erste vollständige Plan für die „soziale Entwicklung" des betrieblichen Kollektivs wurde in der Leningrader Produktionsvereinigung Svetlana am Vorabend des XXIII. Parteikongresses (1966) aufgestellt. Nach dem Muster der Svetlana begannen zahlreiche Betriebe der UdSSR ähnliche Pläne auszuarbei26 ten. Der Plan garantiere die Möglichkeit der Erkenntnis der realen Perspektiven in den sozialen, politischen, intellektuellen und kulturellen Veränderungen im Betrieb. Er sieht die Perspektiven für die Entwicklung der Mitglieder des Kollektivs vor. In einem Großbetrieb im Mittelural-Gebiet (Betrieb für Kupferverarbeitung, SUMZ) setzt sich der Plan für die soziale Entwicklung aus drei Abschnitten zusammen: 1. Änderungen des Arbeitsinhaltes und der sozialen Struktur des betrieblichen Kollektivs, 2. Maßnahmen zur Erhöhung des kulturellen und technischen Niveaus der Werktätigen, 3. Maßnahmen zur Vervollkommnung der sozialen Lage und der Wohnverhältnisse sowie zur Vervollkommnung des Systems der kommunistischen Erziehung.

Die einzelnen Abschnitte bestehen aus mehreren Teilen. Der dritte Abschnitt ist wie folgt gegliedert: a) Die Erziehung zur sozialistischen Arbeitsdisziplin und die Festigung dieser Disziplin, die Erziehung zur sozialen Ordnung und die Festigung dieser Ordnung, b) die Förderung der sozialen und politischen Aktivität der Werktätigen, c) der sozialistische Arbeitswettbewerb, d) die gesellschaftliche Organisation im Betrieb, e) die Vervollkommnung der sozialen Wohnungsverhältnisse der Werktätigen und t) die Vervollkommnung der kulturellen Arbeit unter den Werktätigen.

Bei der Zusammenstellung des Planes ging man davon aus, daß die allseitige Entwicklung des kommunistischen Menschen u. a. folgende Hauptelemente enthält:

1. Die Stärkung der Disziplin und die Erweiterung des Bewußtseins.

2. Die gesellschaftliche und politische Aktivität während und außerhalb der Arbeit. Einige Betriebe berücksichtigen bereits bei der Planung der geistigen und sozialen Entwicklung der Betriebsbelegschaft auch die Entwicklungstendenzen im Kollektiv der kommunistischen Arbeit, die Erhöhung der Zahl der kommunistischen „Stoßarbeiter" und die Entwicklung der „Wissenschaftlichen Organisation der Arbeit" (NOT).

Von Bedeutung ist die Tatsache, daß die Pläne für die soziale geistige Entwicklung der Betriebsbelegschaft nicht nur für den ganzen Betrieb, sondern auch für die einzelnen Werkstätten, Abteilungen und Brigaden aufgestellt werden müssen.

Man muß aber die Frage stellen, ob ein solcher Plan realisierbar ist, da die betrieblichen Kollektive infolge der Fluktuation der Arbeitskräfte keinen gleichbleibenden Charakter haben können. Seit etwa fünf bis sechs Jahren wird daher der Arbeitsplatzwechsel praktisch von der Zustimmung einer betrieblichen Gewerkschaftskommission abhängig gemacht, um das Kollektiv durch das Kollektiv zu stärken.

IV. Leitung und Kontrolle der Kindererziehung

Die Heranbildung der kommunistischen Menschen von Jugend an ist eine zentral geleitete planmäßige Prozedur. Partei, Staat und Gesellschaft haben Anspruch auf die Kindererziehung. Anläßlich des ersten allrussischen Pädagogenkongresses (1960) erklärte Chruschtschow, daß die Kindererziehung „nicht allein persönliche Angelegenheit der Eltern, sondern auch jene der Partei ist". Partei und gesellschaftliche Organisationen dürfen in der Kindererziehung keine neutrale Stellung einnehmen. Gesellschaftliche und staatliche Organisationen müssen dafür sorgen, daß die Parteibeschlüsse bzw. die Bestimmungen des Parteiprogrammes in der Kindererziehung unbedingt zur Geltung kommen. Auf dem VI. re-publikanischen Pädagogenkongreß Turkmenistans äußerte sich der Erste Sekretär des ZK der turkmenischen KP im gleichen Sinne: „Wir halten diese (nämlich die Kindererziehung) für eines der wichtigsten Arbeitsgebiete der Partei". Die „Hilfe" der Gesellschaft bei der Kindererziehung, die auch ihre Kontrolle einschließt, sei ein Merkmal des kommunistischen Lebenswandels.

Das Parteiprogramm der KPdSU schreibt als eine der wichtigsten Aufgaben des Staates „die gesellschaftliche Erziehung der Kinder im Vorschulalter und im schulpflichtigen Alter" vor. „Das kommunistische System der Volksbildung basiert auf der gesellschaftlichen Erziehung der Kinder. Der erzieherische Einfluß der Familie auf die Kinder muß immer organischer mit der gesellschaftlichen Erziehung verbunden werden . . . Bei der gesellschaftlichen Erziehung der jungen Generation wächst die Bedeutung der Schule, die berufen ist, den Kindern die Liebe zur Arbeit und zum Lernen anzuerziehen und die junge Generation im Geiste des kommunistischen Bewußtseins und der kommunistischen Sittlichkeit heranzubilden. Immer fällt dem Lehrer wie der Komsomol-und Pioniersorganisation eine wichtige, ehrenvolle und verantwortliche Rolle zu". Aus dieser Erklärung und aus den übrigen Partei-dokumenten geht klar hervor, daß die Jugend-erziehung in drei Richtungen erfolgen soll: 1. Die Erziehung muß immer mehr auf die Schulen bzw. die gesellschaftlichen Organisationen übertragen werden.

2. Alle Faktoren müssen ausgeschaltet werden, die der kommunistischen Jugenderziehung im Wege stehen (vor allem die Kirche, notfalls auch die Familie: Entzug der elterlichen Rechte).

3. In der Erziehung muß die physische Arbeit einen besonderen Platz einnehmen.

Was den letzten Punkt betrifft, so beobachtet man seit 1954 erhebliche Schwankungen und rückläufige Tendenzen.

In den Betrieben werden spezielle Organe geschaffen, die die Erziehung der Kinder in den Familien der Mitglieder des Betriebskollektivs leiten und kontrollieren. Der Elternrat für die Kontrolle der Kindererziehung verbietet, daß jene Eltern, die sich in der Familie nicht richtig verhalten, die Kindererziehung vernachlässigen, auf der Ehrentafel erwähnt werden oder daß ihnen der Titel „Held der kommunistischen Arbeit" verliehen wird. In den tadschikischen Betrieben gibt es betriebliche Kommissionen für die Kindererziehung. Es sind die Frauenräte, welche die Kindererziehung systematisch kontrollieren und gegen die Eltern, die ihre erzieherischen Pflichten vernächlässigen, gesellschaftliche Sanktionen verhängen. Einige Frauenräte kontrollieren sogar die Lernerfolge der Kinder und stehen mit der Schule in ständigem Kontakt.

In vielen Betrieben werden besondere Propagandisten beauftragt, die Werktätigen in ihren Wohnungen aufzusuchen und die Kindererziehung zu kontrollieren. Stellen sie eine schlechte Kindererziehung fest, übt das Kollektiv scharfe Kritik an den Eltern.

Die betrieblichen Kontrollen der Kindererziehung werden meistens von der betrieblichen Grundorganisation der Partei bzw. von den höheren Parteikomitees geleitet, kontrolliert und koordiniert. Beim Leningrader städtischen Parteikomitee wurde ein Rat für kommunistische Erziehung geschaffen, der u. a. die Erziehung der Kinder in der Stadt leitet und kontrolliert. Auch bei den städtischen Bezirks-komitees in Leningrad fungieren ähnliche Räte, die dem Prinzip des demokratischen Zentralismus folgend dem zentralen städtischen Rat gegenüber rechenschaftspflichtig sind. In den städtischen Moskauer Bezirkskomitees wurden Räte zur Unterstützung von Familie und Schule errichtet. Die betrieblichen Partei-organisationen erteilen einzelnen Parteimitgliedern den Auftrag, die Kindererziehung zu kontrollieren (in Schule und Elternhaus).

Es gibt Betriebe, die große Anstrengungen unternehmen, um die Freizeit der Kinder ihrer Werktätigen planmäßig zu organisieren. In einem Jaroslaver Großbetrieb hat man Kinder-klubs bzw. Pionierzimmer eingerichtet, um die Kinder in der Freizeit planmäßig beschäftigen und erziehen zu können. Auf dem Lande gelten die betrieblichen Institutionen für die Kindererziehung gleich als Institution des ganzen Dorfes, da das Dorf oft mit einer Sowchose oder Kolchose identisch ist oder Teil einer großen Sowchose bzw. Kolchose darstellt (Räte für Kindererziehung mit verschiedenen Sektoren usw.).

Auch bei den Hausverwaltungen in den Städten wurden Kinderzimmer errichtet. Es gibt auch hier Räte für die Zusammenarbeit mit Schule und Familie.

Die Gewerkschaftsorganisationen und der Komsomol haben ebenfalls wichtige Aufgaben im Zusammenhang mit der Kindererziehung übernommen. Bei den Gewerkschaftskomitees in den Betrieben, den territorialen Gewerkschaftskomitees und in den gewerkschaftlichen Räten (Stadt, Bezirk usw.) gibt es besondere Kommissionen für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, die u. a. für die Freizeitgestalfund der Kinder und Jugendlichen, in erster Linie während der Schulferien, sorgen müssen (Art. 8, Statut). Die Komsomolorganisationen müssen — wie der Erste Sekretär des ZK des republikanischen Komsomols von Kirgisien während des III. republikanischen Pädagogenkongresses betonte — die Schule und die Eltern bei der Erziehung unterstützen. In diesem Sinne spricht auch das geltende Statut der KPdSU (Art. 61 und 62) über die Aufgaben des Komsomols. Die Beschlüsse des XIV. Komsomolkongresses betonten ausdrücklich diese Pflicht der Komsomolorganisationen. Das vom XV. Komsomoikongreß ergänzte bzw. geänderte Komsomolstatut ging noch näher auf diese Aufgaben ein.

Wichtige Bedeutung für die Kindererziehung haben schließlich die Elternkomitees in den Schulen und die Kommissionen für Minderjährige. Die Elternkomitees sind in den Grund-und Mittelschulen tätig. Ihre Aufgabe ist es, mit dem Pädagogenrat der Schule zusammenzuarbeiten und den Kindern die notwendigen Voraussetzungen zum Lernen und zur richtigen Entwicklung zu schaffen. Sie dürfen sich nicht auf die Feststellung der Mängel beschränken, sondern müssen auch die Art und Weise, wie die Mängel behoben werden können, erörtern. Im Falle schwerwiegender Erziehungsmängel sind die Elternkomitees angehalten, die Eltern vor Kameradschaftgerichte zu bringen.

Auf Grund der Beschlüsse des XXL Parteikongresses (Februar 1959) wurden die Kommissionen für Minderjährige gebildet. Sie waren lange Zeit ohne Reglement. Erst 1961/62 wurden in den einzelnen Unionsrepubliken Richtlinien erlassen. Im Sinne des Art. 1 des Statutes für die Kommissionen für Minderjährige in der RSFSR (Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets der RSFSR vom 29. 8.

1961) haben diese die Aufgabe, gegen Jugendkriminalität und Aussichtslosigkeit sowie Verwahrlosung der Kinder und Jugendlichen zu kämpfen und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Sie sind bei den Exekutivkomitees der Sowjets sowie bei den Ministerräten der Autonomen Republiken und Unionsrepubliken tätig. Die Bezirks-(Stadt-) Kommission verhandelt über alle strafbaren Handlungen der Minderjährigen unter 14 Jahren sowie über bestimmte Vergehen der Minderjährigen zwischen 14 und 16 Jahren, ferner über die Strafsachen von Minderjährigen zwischen 14 und 18 Jahren, bei welchen das Strafverfahren von den Gerichten eingestellt und die Akten der Kommission übergeben wurden. Die Kommission muß die Kindererziehung auch innerhalb der Familie kontrollieren. Stellt die Staatsanwaltschaft fest, daß Eltern ihre erzieherischen Aufgaben vernachlässigt haben, so informiert sie die zuständige Kommission, die eine Untersuchung durch ihre gesellschaftlichen Aktivisten (Inspektoren) durchführen läßt und gegebenenfalls den Antrag stellt, die ihre Pflichten vernachlässigenden Eltern vor der Öffentlichkeit zu verurteilen. Anderenorts werden Eltern, die ihren erzieherischen Pflichten nicht nachgekommen sind, vor die Kommission geladen, die dann selbst entscheidet, welche Maßnahmen gegen diese ergriffen werden müssen. Oft werden die Sessionen der Kommissionen für Minderjährige in den Wohnstätten oder im Betrieb vor der Öffentlichkeit abgehalten.

V. Die Bewegung der kommunistischen Arbeit

Die Bewegung der kommunistischen Arbeit umfaßt das ganze Volk und verkörpert einen indirekten gesellschaftlichen Zwang. Sie übt auf ihre Angehörigen einen „moralischen" Druck aus. Die Bewegung stützt sich auf zwei Prinzipien: a) Jedes Werktätigenkollektiv bildet „nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine soziale Zelle"; b) der sozialistische Arbeitswettbewerb ist ein Gesetz der Entwicklung der sozialistischen Produktion und wird der Konkurrenz im Kapitalismus gegenübergestellt.

Die Bewegung faßt die Teilnehmer sowohl bei der Arbeit als auch in der Freizeit zusammen und gilt als die höchste Form des Arbeitswettbewerbs. Die kommunistischen Arbeitskollektive kontrollieren ihre Mitglieder im Betrieb und in der Freizeit, sie erheben Anspruch auf die Freizeitgestaltung ihrer Mitglieder und deren Familien, sie betrachten das Privatleben als Fortsetzung der Produktion, die Freizeit als Vorbereitung zur Erfüllung der Produktionsaufgaben. Die allgemeine Losung der Bewegung lautet: „Kommunistisch leben und arbeiten", wobei das Hauptgewicht in der Praxis auf die Arbeit, in der Theorie auf das Privatleben gelegt wird.

Die Pflichten der Teilnehmer kann man in drei Kategorien zusammenfassen:

a) Förderung der Produktion, Erfüllung bzw. Übererfüllung der Planaufgaben, b) fachliche und ideologische Weiterbildung, c) gegenseitige „Hilfe" (auch im Sinne der Kontrolle) sowohl am Arbeitsplatz als auch im Privatleben. Die Mitglieder der kommunistischen Arbeitskollektive verpflichten sich, die Prinzipien der kommunistischen Morcd als Richtschnur für ihre Tätigkeit zu beachten. Jeder Teilnehmer dieser Bewegung soll auch im Privatleben Vorbild für andere sein.

Da Hilfe auch Kontrolle bedeutet, besuchen die Aktivisten der Kollektive der kommunistischen Arbeit die Mitglieder in ihren Wohnungen, um zu prüfen, ob sich diese von den Überresten der Vergangenheit befreit haben. In einigen Kollektiven verpflichten sich die Mitglieder, an der Erziehung der jungen Generation aktiv teilzunehmen, und zwar sowohl im Rahmen der „Großfamilie" (des Kollektivs der kommunistischen Arbeit) als auch im weiteren Kreis. Von besonders großer Bedeutung ist die organisierte und planmäßige Freizeitgestaltung der Mitglieder: Kollektiver Kino-oder Theaterbesuch, kollektive Ausflüge usw.

1965 nahmen über 30 Millionen an der Bewegung teil (ca. ein Drittel der Werktätigen). Trotz dieser Massenteilnahme wird sich eine Elite bilden, welche sich von den übrigen Werktätigen isoliert und über besondere Privilegien verfügt. Die schwachen Mitglieder werden ausgeschlossen, obwohl sie eigentlich hätten erzogen werden müssen. Dort, wo die Bestrebungen zur Elitebildung entschieden abgelehnt werden, fallen die Kollektive der kommunistischen Arbeit auseinander, was ein indirekter Beweis für das Scheitern der Bewegung ist: Die Teilnehmer denken an ihre eigenen (materiellen) Vorteile und nicht an die Interessen der Gemeinschaft bzw.der gesamten Gesellschaft.

VI. Die Kameradschaftsgerichte

Die Kameradschaftsgerichte sind Organe zur Heranbildung der neuen sozialen Normen nichtjuristischen Charakters, die später die Rechtsnormen ablösen sollen. Die Erfüllung dieser Normen soll von der Gesellschaft erzwungen werden. Bei den Verhandlungen sind die Kameradschaftsrichter und die anwesenden Arbeitskollegen bemüht, die Angeschuldigten zu bewegen, ihre Fehler zu bereuen und Selbstkritik zu üben. Die Kameradschaftsgerichte erörtern bei Verhandlungen in den Betrieben in erster Linie das Verhältnis zur Arbeit, zum sozialistischen Eigentum, das Benehmen im Betrieb und das Verhältnis zum Kollektiv (Hilfsbereitschaft, Anpassung usw.); außerdem wird auch das Privatleben untersucht. Sogar die Gleichgültigkeit dem Kollektiv und der eigenen Zukunft gegenüber gilt als Verletzung der Sozialnormen und wird von den Kameradschaftsgerichten behandelt. Die Kameradschaftsgerichte bei den Hausverwaltungen befassen sich beinahe ausschließlich mit Problemen des Privatlebens. Die Verhandlungen werden im Sommer auf dem Hof, im Winter in einer größeren Wohnung abgehalten, die einzelnen Angelegenheiten werden sowohl auf Initiative der Kameradschaftsgerichte bzw.der Hausverwaltungen als auch auf „Signale" der Hausräte und der Haus-komitees behandelt.

Die Kameradschaftsgerichte sind von zwei Gesichtspunkten her betrachtet besonders wichtig für das Regime: 1. Sie bilden ein Mittel zur Unterordnung des Menschen gegenüber dem Kollektiv, zur Kontrolle der Werktätigen im Betrieb und in der Wohnstätte.

2. Sie übernehmen auf Antrag einen bedeutenden Teil von Delikten gegen den Staat, wodurch sie wesentlich zur Entlastung der staatlichen Gerichte beitragen.

Die Kameradschaftsgerichte sind beinahe zu einer „Massenorganisation" geworden: 1962 gab es in der Sowjetunion über 180 000 Kameradschaftsgerichte, allein in Moskau 5000 mit über 30 000 gesellschaftlichen Richtern. 1963 ist ihre Zahl auf 200 000 gestiegen, 1965 auf 230 000.

Es besteht kein Zweifel, daß die Kameradschaftsgerichte ein wirksames Mittel in der Hand der Partei darstellen. Die Staatsbürger fürchten dieses Organ wegen der großen Öffentlichkeit der Verhandlungen mehr als die staatlichen Gerichte. Es kommt vor, daß die Beschuldigten gezwungen werden, sich vor dem Kollektiv zu erniedrigen. Eine Lehrerin beschwerte sich in einer Leserzuschrift an eine Zeitung, daß ein „gesellschaftliches Dorf-gericht" zwei junge Bauern vor dem Kollektiv niederknien und sich auf diese Weise entschuldigen ließ. Der Zeitungskorrespondent antwortete: Es sei durchaus nicht zu beanstanden, wenn jemand vor dem Kollektiv auf die Knie falle und um Verzeihung bitte.

VII. Ausblick

Bei der Heranbildung des „neuen Menschen" sollte zunächst einmal das „Alte" zerstört werden, um das „Neue" schaffen zu können. Georg Lukäcs stellte in einem Artikel zum 50. Jahrestag der russischen Oktoberrevolution jedoch fest, daß der Terror zum Selbstzweck geworden sei. Die Diktatur der Arbeiterklasse habe sich in eine Diktatur des Proletariats über das Proletariat verwandelt. Schließlich sei daraus die Herrschaft einer Einzelperson entstanden.

Die Reaktion der Bevölkerung im „Sowjetblock" auf die Proklamation der Heranbildung des „neuen Menschen" ist unterschiedlich. Man kann zwischen drei Verhaltenstypen unterscheiden, deren gemeinsamer Nenner die eindeutige Ablehnung des von Partei und Staat verlangten Kollektivismus ist. 1. Der Durchschnittsbürger verhält sich völlig gleichgültig. Er nimmt aus Furcht am Kollektivleben teil, um seine Stellung nicht zu verlieren, sucht aber nach den gemeinsamen Veranstaltungen möglichst bald Zuflucht in seiner Wohnung. Nach außen gibt er sich als überzeugter Kommunist, verhält sich aber zu Hause „reaktionär". Er ist eine „gespaltene Persönlichkeit" und will kein Pionier der kommunistischen Gesellschaftsordnung werden. Die Lehre des Marxismus-Leninismus lernt er zwar kennen, ist aber nicht bereit, diese in die Praxis umzusetzen. 2. Ein Teil der Bevölkerung reagiert ablehnend; darunter befinden sich auch zahlreiche Jugendliche. Die kommunistische Führung hat schon oft ihre Besorgnis darüber zum Ausdruck gebracht, daß die Jugend nur nehmen, nicht aber geben will. Sie weigere sich, sich ideologisch und politisch weiterzubilden. Die strafrechtliche Gesetzgebung habe diese negative Erscheinung zur Kenntnis nehmen müssen und ginge gegen „Spekulanten" mit verschärften Maßnahmen vor. Hinter den Spekulanten würden sich häufig auch Diebe am sozialistischen Eigentum verbergen. Diebstahlsdelikte sind im Laufe der letzten Jahre sowohl zahlen-als auch wertmäßig stark angestiegen. Angesichts der großen Zahl der Delikte unterscheiden die Richter zwischen vier Diebstahlskategorien: Kleindiebstahl, Diebstahl in bedeutendem Umfang, in großem Umfang und in besonders großem Umfang. Spekulanten und Diebe werden zugleich als „Schmarotzer" oder „Pa-rasiten" gebrandmarkt. Sie werden mit aller Schärfe verfolgt. Der Verfassung nach ist jeder Bürger verpflichtet, ehrlich zu sein und seinen Fähigkeiten entsprechend zu arbeiten. Schwere Diebstahlsdelikte werden meistens mit Deportation von zwei bis zu fünf Jahren bestraft. In zunehmendem Maße hat sich im Sowjetblock auch das sogenannte Rowdytum verbreitet, das oft mit Spekulation und Diebstahl verbunden ist. Angesichts der gefährlichen Verbreitung des Rowdytums hat sich der Staat für eine Unterscheidung zwischen mehreren Kategorien entschlossen. Ohne nennenswerte Erfolge werden Einheiten der freiwilligen Miliz (Volksdruzinen) aufgestellt, um diese Art von Verbrechertum zu bekämpfen. Häufig kommt es vor, daß die Mitglieder oder sogar die Leiter dieser Einheiten Angehörige von Spekulanten-und Rowdygruppen sind. Sie lassen sich nicht von der Gesellschaft umerziehen. Die von den Kameradschaftsgerichten und den Kollektiven der Werktätigen verhängten „gesellschaftlichen Strafen" lassen sie unbeeindruckt. Den größten Teil dieser Gruppe bilden Jugendliche, die kein anderes System als das „sozialistische" kennen. In ihrem Bewußtsein konnten also die „Überreste" der Vergangenheit keine Wurzeln schlagen. 3. Eine zahlenmäßig kleine Gruppe, deren Einfluß aber im ganzen Ostblock von Bedeutung ist, besteht in erster Linie aus jungen Intellektuellen und Schriftstellern. Diese Elite verleiht dem Begriff „neuer Mensch" eine andere Deutung als es die Partei wünscht. Sie lehnt den Marxismus-Leninismus nicht grundsätzlich ab, denkt sogar in dialektischen Kategorien und ist bemüht, die Probleme des Lebens durch Anwendung dialektischer Methoden zu lösen. Sie bejaht im Grunde das gesellschaftliche Eigentum an großen Produktionsmitteln und lehnt den Kapitalismus ab. Sie befürwortet die sozialistischen Ideen des Marxismus-Leninismus, verlangt aber deren Realisierung. Diese Elite will mehr Freiheit. Sie versteht unter dem Begriff „Freiheit" aber die vollständige Freiheit des geistigen Schaffens, des politischen Lebens und der Diskussion. Sie fordert die freie Berufswahl und lehnt den von verschiedenen gesellschaftlichen Organisationen vorgeschriebenen Arbeitsplatzwechsel ab. Sie will Demokratie. Unter Demokratie versteht sie aber nicht den Terror und nicht eine parteigebundene („parteiliche") Demokratie, sondern eine echte Herrschaft des Volkes. Sie verlangt, daß die in der Verfassung garantierten Grundrechte ohne Einschränkung gewährleistet werden.

Diese Elite des Ostblocks ist den Andersdenkenden gegenüber nicht feindlich eingestellt. Sie begrüßt eine Diskussion sowohl im In-als auch im Ausland. Sie denkt zwar in Klassen-kategorien, lehnt aber die drastischen Methoden des stalinistischen Klassenkampfes entschieden ab. Die Angehörigen dieser Gruppe sind keine Gegner des Kollektivs, wollen ihre Freiheit dem Kollektiv gegenüber aber bewahren. Sie verlangen, daß auch das Kollektiv ihre individuellen Interessen respektiert, und fordern die gerechte Verteilung des Sozialprodukts unter die Werktätigen.

Diese Elite ist bemüht, den Marxismus-Leninismus neu auszulegen. Ihre Interpretation des Marxismus-Leninismus ist die Politik des dritten Weges, die die polnischen und ungarischen Studenten, Arbeiter und Schriftsteller im Jahre 1956 forderten und die heute die jungen Intellektuellen in der Tschechoslowakei verlangen. Sie setzen sich für einen geistigen und politischen Pluralismus ein und lehnen jegliche Gleichschaltung des Individuums ab. Sie fordern Freiheit und Demokratie und verzichten auf eine uneingeschränkte Führungsrolle der kommunistischen Partei. Sie verlangen sogar die Zulassung von anderen Parteien und hören im Sinne der gültigen Auslegung der ideologischen Dogmen auf, Revolutionäre und Marxisten-Leninisten zu sein. Einheit von Staat und Gesellschaft unter dem Führungsmonopol der Kommunistischen Partei gilt als Grundbedingung für die Marxisten-Leninisten. Diese Forderung wird aber von vielen Anhängern des dritten Weges abgelehnt.

Innerhalb der Partei befindet sich eine konservative, allerdings immer kleiner und einflußloser werdende Gruppe, die die Konzessionen des Regimes als eine Lockerung der gesellschaftlichen Disziplin ablehnt. Sie verlangt einen schärferen Kurs und administrative Maßnahmen. Es ist anzunehmen, daß diese Gruppe allmählich ganz verschwindet, während sich der Einfluß der Anhänger einer Politik des dritten Weges ständig erhöhen wird.

Man darf die Prophezeihung wagen, daß der zur dritten Kategorie gehörende Menschentyp immer mehr die Führung schrittweise auf allen Gebieten übernehmen wird. Durch das Auftreten dieser geistigen Elite wird der „Sowjetsozialismus" ein neues Gesicht erhalten, daß der Annäherung und Verständigung zwischen Ost und West den Weg ebnen könnte. Ein solcher Menschentyp in Osteuropa könnte die politischen, geistigen und menschlichen Voraussetzungen einer friedlichen Koexistenz und einer friedlichen Zusammenarbeit schaffen, die die jetzigen Machthaber nur als eine Taktik des internationalen Klassenkampfes betrachten.

Zum Schluß ist die Frage zu stellen: Ist es gelungen, im Ostblock wesentliche Charaktereigenschaften der Menschen zu verändern? Die Ergebnisse der Untersuchung beweisen, daß beinahe auf allen Gebieten das Gegenteil des Geplanten erreicht wurde — trotz Theorie und offizieller Parteierklärungen. Der Mensch ist — im Guten wie im Bösen — der alte geblieben. Der „Sowjetmensch" entwickelt allerdings in Anpassung an das System zwei negative Eigenschaften besonders stark: Servilität nach oben, Hochmut und Arroganz nach unten. Durch den Versuch, die Menschen gleichzuschalten, werden derartige Eigenschaften zwangsläufig herangebildet. Eine Gesellschaft, die sich auf eine solche „Elite" stützen muß, kann aber nicht als „fortschrittlich" und der sich servil anpassende Mensch keinesfalls als „Mensch neuen Typs" angesehen werden.

Das Ziel, einen „neuen Menschentyp" in Osteuropa heranzubilden, wurde bisher nicht erreicht. Ein totalitäres gesellschaftliches System, das den Menschen bei der Arbeit und in der Freizeit erfaßt, ihn ständig kontrolliert, ihm alles vorschreibt, widerspricht der menschlichen Natur. Es muß der Zukunft überlassen bleiben, ob das Endziel je erreicht werden kann. Der Druck der Partei und des Staates und die „moralischen" und „materiellen" Anreize fördern aber eine Uniformierung des Menschen und der Gesellschaft.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Vilmos von Zsolnay, Dr. phil., geboren 1934 in Szombathely/Ungarn; Teilnehmer am ungarischen Volksaufstand, Flucht nach Österreich; Studium an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz; seit 1960 Lehrbeauftragter an der Universität Mainz; Promotion 1963. Veröffentlichungen u. a.: Die Entstehung der ungarischen Literatur unter Matthias Corvinus, Köln—Detroit—Wien 1962; Johann von Hunyadi und die Verteidigung Belgrads, Koblenz 1967; Die Wissenschaft in Osteuropa, Mainz 1967; Das Schulwesen Ungarns, Frankfurt/Main 1968; zahlreiche Zeitschriftenaufsätze und Rundfunkbeiträge.