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Strukturwandel des parlamentarischen Regierungssystems in der Bundesrepublik | APuZ 18/1968 | bpb.de

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APuZ 18/1968 Student und Politik Strukturwandel des parlamentarischen Regierungssystems in der Bundesrepublik

Strukturwandel des parlamentarischen Regierungssystems in der Bundesrepublik

Joachim Raschke

1. Die Große Koalition

Bei der Gründung der Großen Koalition hatten CDU/CSU und SPD im einzelnen unterschiedliche Motivationen, Begründungen und Ziele. In einem war man sich im Herbst 1966 jedoch einig: Die Große Koalition sollte unpopuläre und schwierige, aber notwendige Entscheidungen fällen und durchsetzen (z. B. Finanzplanung, Reform der Wirtschaftsstruktur etc.), was man bei einer breiten parlamentarischen Mehrheit für leichter hielt. Eine solche Konzentration der parlamentarischen Kräfte ist für das parlamentarische Regierungssystem aus Notzeiten bekannt (z. B. in England als „National Government" während des Ersten und Zweiten Weltkriegs unter Einschluß aller Parlamentsparteien). Von den Parteien, die die Große Koalition bildeten, wurde behauptet, daß in der Bundesrepublik eine Krise bestehe, die nur durch eine „Konzentration der Kräfte" beseitigt werden könne. Es gibt im Zusammenhang mit der Großen Koalition eine ganze Reihe von Fragen, die politischer Beurteilung unterliegen und hier nicht behandelt werden können, z. B. ob eine so breite Regierung für die genannten Aufgaben notwendig war, ob in Friedenszeiten ein solches System des „National Government" berechtigt ist, ob die Nachteile einer solchen Konstruktion die Vorteile überwiegen, ob die Große Koalition bisher durch Regierungserfolge gerechtfertigt wurde.

Zu diesen Fragen reichen die Meinungen von entschiedener Zustimmung bis zu radikaler Ablehnung. Uns interessieren hier nur die funktionalen Konsequenzen einer solchen Regierungsform auf Parlament, Wahlen und Wähler.

Uber die möglichen Auswirkungen einer Großen Koalition auf das Regierungssystem schrieb der Bundestagsabgeordnete Ulrich Lohmar 1963: „Was würde die Große Koalition für die Machtstruktur in der Bundesrepublik bedeuten können? Das Parlament und seine Fraktionen würden sich wieder als Legislative und als Kontrollorgan der Regierung betrachten können, ein der Verfassung entsprechendes Selbstverständnis des Parlaments könnte möglich werden. Die Mehrheitsfraktion wäre nicht länger die parlamentarische Exekutive der Regierung, sondern die beiden großen Fraktionen im Parlament würden der Regierung, die aus Vertretern beider Parteien gebildet wäre, gegenüberstehen. Das heute bestehende Macht-kartell von parlamentarischer Mehrheit, Regierung und Verwaltung wäre damit beseitigt." Was Lohmar hier als Folge einer Großen Koalition beschreibt und was er auch begrüßt, entspricht einem Grundzug des präsidentiellen Regierungssystems, in dem sich Parlament und Regierung weitgehend unverbunden gegenüberstehen und sich gegenseitig kontrollieren. Vor-und Nachteile von parlamentarischem und präsidentiellem Regierungssystem seien dahingestellt, um aber zum präsidentiellen System überzugehen, reicht es nicht, die Regierung zu wechseln, man müßte die Verfassung ändern.

Nur wenn Regierungschef und Parlament getrennt gewählt werden (wie im präsidentiellen Verfassungssystem), können sie auch voneinander unabhängig sein.

Das Parlament ist im parlamentarischen Regierungssystem als Entscheidungsträger in Konkurrenz zur Regierung nicht ausgerüstet.

Mit freundlicher Genehmigung des Colloquium Verlages Otto H. Hess, Berlin, werden aus der in Kürze erscheinenden Schrift „Der Bundestag im parlamentarischen Regierungssystem. Darstellung und Dokumentation", Schriftenreihe „Zur Politik und Zeit-geschichte, Heft 28/29", die beiden Kapitel „Die große Koalition" und „Außerparlamentarische Opposition" als Vorabdruck veröffentlicht. Die Parlamentsfraktionen bleiben im parlamentarischen Regierungssystem auch bei einer Großen Koalition von der Regierung abhängig: auf Grund der allgemeinen Überlegenheit der Regierung (z. B. bei Planungsaufgaben), wegen der vielfachen Identität von Regierung und Parteiführung und wegen der vielfachen Verbundenheit von Regierung und Parlamentsmehrheit (z. B. Anwesenheit von Ministern in Fraktionssitzungen).

Große Koalition im parlamentarischen Regierungssystem bedeutet also nicht Übergang zum präsidentiellen System. Zu welchen Änderungen im Machtgefüge führt eine Große Koalition? 1. Das Verhältnis von Regierung zu Regierungsmehrheit wird schwieriger. Zwar spricht wenig dafür, daß sich das Parlament als Ganzes als Gegenspieler der Regierung verstehen wird, aber wo die Regierung über eine Mehrheit von 90 % der Mandate verfügt, kann diese Mehrheit wohl kaum auf Dauer der Regierung geschlossen in allen Fragen folgen. Es wird sehr schwierig sein, die berechtigten Autonomieansprüche der Fraktionen zu befriedigen, ohne den Zusammenhalt zu gefährden. Die Unterschiede zwischen den Parteien scheinen immerhin noch so groß, daß sich die Abgeordneten gegen eine zwangsweise Vereinheitlichung durch eine gemeinsame Fraktionsdisziplin für 90 % aller Abgeordneten sträuben. Es haben sich bereits Tendenzen einer gewissen Verselbständigung des Parlaments in Fragen von nicht erstrangiger gezeigt (z. B. Bedeutung wechselnde parlamentarische Mehrheiten). Einfacher könnte das Regieren werden, wenn die Regierung sich um wechselnde parlamentarische Mehrheiten nicht kümmerte und sich mit Mehrheiten von 50 0/0 zufrieden gäbe. Ob sie das mit Rücksicht auf ihre Legitimität tun kann, ist fraglich. 2. Große Koalition bedeutet zahlenmäßige Schwächung der Opposition. Regierung und Regierungsmehrheit (9O°/o der Mandate) haben ein übermäßiges Gewicht gegenüber der Opposition (10 °/o der Mandate). Die Opposition liegt weit unterhalb der unteren Wirksamkeitsgrenze. Da einige Funktionen des Parlaments (z. B. Artikulation und Kontrolle) vorwiegend von der Opposition ausgeübt werden, bedeutet die Schwächung der Opposition einen Funktionsverlust des Parlaments. Es ist zu fragen, ob diese Funktionen von anderen Institutionen und Gruppen wahrgenommen werden, z. B.der außerparlamentarischen Opposition.

Das Parlament scheint vor allem in Artikulation und Information und in der Kontrolle geschwächt zu sein. Selbst Abgeordnete der Regierungsmehrheit beklagen sich über schlechte Information durch die Regierung.

Untersuchungen würden wohl ergeben, daß der Bundestag im ersten Jahr der Großen Koalition weiter aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt ist und weiter an Interesse verloren hat. Die Opposition vertritt zu wenige und ist für niemanden eine Gefahr; ihre Argumente gewinnen wohl kaum die Aufmerksamkeit eines breiteren Publikums. Innerhalb der 90 °/o Abgeordneten der Regierungsfraktionen gibt es zwar Meinungsverschiedenheiten und Kontroversen, sie erreichen aber kaum einmal das Plenum des Parlaments.

Auch die Kontrolltätigkeit des Parlaments scheint abgeschwächt zu sein. Der SPD-Fraktionsvorsitzende, Schmidt, beschwerte sich z. B. im Oktober 1967 darüber, daß zehn Große Anfragen von der Regierung seit Monaten unbeantwortet seien.

Die FDP ist als Oppositionspartei zahlenmäßig zu schwach, um alle Minderheitsrechte nutzen zu können. So kann sie z. B. nicht die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses erzwingen (ein Viertel der Mitglieder des Bundestags), und sie kann allein keine namentliche Abstimmung verlangen (50 Abgeordnete erforderlich).

Theoretisch könnte die Integration von Verbandsinteressen bei einer großen parlamentarischen Mehrheit einfacher sein als bei einer knappen Mehrheit. Die Integration von Verbandsinteressen hängt sehr stark von anderen Faktoren ab (z. B.der wirtschaftlichen Entwicklung). Eine Aussage über die Wirkung der Großen Koalition ist hier noch nicht möglich.

Die Große Koalition wird voraussichtlich die Funktionen der Bundestagswahl beeinflussen. Vor allem wird die Richtungsauswahl für die Wähler noch schwieriger werden. Die beiden Regierungsparteien werden wohl nur in eine begrenzte Konkurrenz eintreten; jede Partei wird vor allem darum bemüht sein, die Erfolge der Regierung auf ihr Konto zu schreiben bzw. die Mißerfolge dem Koalitionspartner zuzuschieben. Da die Situation nach der Wahl nicht vorauszusehen ist und die Parteiführer eine Erneuerung der Großen Koalition nicht grund-B sätzlich ausschließen, wird es jedenfalls keine Konkurrenz auf Biegen und Brechen geben. Auch wenn es der FDP als Oppositionspartei gelingt, eine komplexe politische Alternative zu entwickeln, so ist sie doch auf Grund ihrer Bindung an höhere soziale Schichten für untere soziale Schichten kaum wählbar. Die Möglichkeiten der Richtungsauswahl lür den Wähler könnten durch die Parteien der außerparlamentarischen Opposition (s. S. 12 f.) erweitert werden.

Die Legitimationsfunktion von Wahlen würde reduziert, wenn die Wahlbeteiligung nach-ließe; die Integration durch Wahlen ließe nach, wenn die Parteien der außerparlamentarischen Opposition, die den Konflikt mit den bestehenden Verhältnissen besonders deutlich artikulieren, stärker würden.

Von einer Großen Koalition sind auch Auswirkungen auf die politische Ideologie zu erwarten. Diese Regierungsform dürfte dem immer noch gepflegten Ideal vieler Deutschen von einer überparteilichen Regierung entgegenkommen. Die Notwendigkeit einer großen Opposition für Erneuerung und Kontrolle kann nur durch Beispiel demonstriert werden; die Verkündung dieses Grundsatzes z. B. durch politische Bildung bleibt folgenlos. Die Verständnislosigkeit gegenüber der außerparlamentarischen Opposition, die z. T. eine Konsequenz der Großen Koalition ist, könnte den Ruf nach dem „starken Mann" und dem „Ordnung schaffen" zur Folge haben. Die Regierung der Großen Koalition, selbst als außerordentliches Unternehmen bezeichnet, verlangt von den Bürgern, vor allem den Parteibürgern, außerordentliche Disziplin: wenn die Große Koalition zusammenbreche, sei der Staat in Gefahr. Damit wird die Legitimität der Kritik von Bürgern in Frage gestellt. Das alles kann Spuren im Dnken über Demokratie hinterlassen.

Neben diesen Auswirkungen auf das politische System wäre die Effektivität der Regierung in Planung und Ausführung zu untersuchen. Ist die Regierung der Großen Koalition handlungsfähiger als die einer kleineren parlamentarischen Mehrheit? Ist sie so effektiv, wie es die Bürger erwarten? Zu einer objektiven Beantwortung dieser Frage fehlen uns die Mittel.

Ein System der Großen Koalition ist eine Abweichung vom parlamentarischen Regierungssystem als Konkurrenzmodell mit Mehrheitsentscheiden. Die beiden großen Parteien teilen sich im Proporz die wichtigen Ämter; in politischen Sachfragen versuchen sie sich zu verständigen (Kompromiß) oder klammern die Fragen ungelöst aus oder bilden ein Junktim zwischen zwei oder mehr Fragen, so daß jede Partei zumindest teilweise zum Zuge kommt. Ein überstimmen der einen durch die andere Fraktion würde wohl das Ende der Koalition bedeuten. Ein System der Großen Koalition hat Elemente einer „Proporzdemokratie", wie sie von Lehmbruch als eigenes Modell neben dem Konkurrenzmodell dargestellt wurde Die Proporzdemokratie hat in den westlichen Demokratien auf Dauer bisher nur in der Schweiz funktioniert, allerdings bei einem besonderen Verfassungssystem und bei spezifischen gesellschaftlichen und historischen Voraussetzungen. In Österreich hat eine Proporz-demokratie für kurze Zeit nach dem Ersten Weltkrieg und von 1945 bis 1966 bestanden. Sie erreichte (bis 1947 Allparteienregierung unter Einschluß der KPÖ) 1955 ihr Hauptziel, die Erlangung der staatlichen Souveränität. Bei der Bewältigung der „normalen" politischen Aufgaben hat sie sich nicht bewährt. Sie wurde aber erst aufgegeben, als eine der Koalitionsparteien, die ÖVP, 1966 die absolute Mehrheit der Mandate erhielt; die dritte Partei des österreichischen Parlaments war von den beiden anderen Parteien nicht als koalitionswürdig angesehen worden.

In der Bundesrepublik wurde die Bildung einer Großen Koalition dadurch erleichtert, daß CDU/CSU und FDP nicht mehr koalieren wollten und die parlamentarische Basis einer SPD/FDP-Regierung nach Meinung der SPD zu schmal war. Die Beendigung der Großen Koalition dürfte erleichtert werden durch die absolute Mehrheit, einer Partei oder ausreichende Mehrheit für CDU/CSU oder/und SPD bei einem Zusammengehen mit der FDP. Gegen eine Beendigung der Großen Koalition wirkt vor allem die Gewöhnung an den Koalitionspartner, an die „bequeme Mehrheit" und vor allem an die Vorteile der Regierungsteilhabe.

2, Außerparlamentarische Opposition

Da in der Öffentlichkeit unter außerparlamentarischer Opposition sehr Unterschiedliches verstanden und sie sogar schon als „sogenannte" bezeichnet wird, empfiehlt es sich, ein paar Definitionen für verschiedene Begriffe der politischen Opposition einzuführen.

Dabei wäre vor allem ein Unterschied zwischen funktionellen und institutionellen Oppositionsbegriffen zu machen. Funktionelle Oppositionsbegriffe orientieren sich an der Wirkungsweise und den Adressaten oppositioneller Tätigkeit. Institutionelle Oppositionsbegriffe orientieren sich an den Institutionen des politischen Systems (z. B. parlamentarische Opposition, innerparteiliche Opposition).

Bei den funktionellen Oppositionsbegriffen schlagen wir vor, zwischen einem weiten und einem engeren Begriff zu unterscheiden. Nach dem weiten Begrift wäre Opposition jede Meinung und Aktion, die den politischen Machthabern insgesamt oder einzelnen institutionalisierten Machthabern (z. B. Regierung oder parlamentarischer Opposition) entgegengesetzt ist oder mit der die schwächeren den stärkeren institutionalisierten Machthabern gegenübertreten (z. B. parlamentarische Opposition gegenüber Regierung). Die Opposition wirkt durch Kritik, Kontrolle und Alternativentwurf. Dieser weite Begriff hat den Nachteil, zu vieles zu umfassen. Nahezu jede Gruppe vertritt einmal Ansichten, die denen der Regierung entgegenlaufen, viele einzelne äußern Kritik.

Führt man drei zusätzliche Bedingungen ein, kann man einen engeren Begriff von Opposition erhalten. Man kann zu Bedingungen machen: a) Es müssen relevante Unterschiede in den politischen Anschauungen konkur -der rierenden Gruppen bestehen, b) Die Opposition muß sich in irgendeiner Form organisiert haben, c) Mit b) zusammenhängend: Es muß eine gewisse Beständigkeit der Oppositionsstellung gegeben sein. Mit diesen zusätzlichen Bedingungen wird die Zahl der zu untersuchenden Oppositionsphänomene erheblich eingeschränkt. Von den institutionellen Oppositionsbegriffen interessieren in diesem Zusammenhang nur zwei: die parlamentarische und die außerparlamentarische Opposition. Unter parlamentarischer Opposition verstehen wir die nicht in der Regierung vertretenen Parlamentsgruppen, die die Regierung zumindest teilweise bekämpfen. Außerparlamentarische Opposition wird die kritische Tätigkeit der nicht im Parlament vertretenen Gruppen genannt.

In diesem Kapitel verwenden wir eine Definition, die den engeren funktionellen Oppositionsbegriff mit dem institutioneilen Begriff außerparlamentarischer Opposition vereint. Danach sind unter außerparlamentarischer Opposition relevante kritische Meinungen und Aktionen zu verstehen, die den politischen Machthabern insgesamt oder einzelnen institutionalisierten Machthabern von Gruppen entgegengesetzt werden, die sich in irgendeiner Form organisiert haben und deren Oppositionsstellung von einer gewissen Beständigkeit ist.

Der Begriff der außerparlamentarischen Opposition wird seit 1967 von einem Teil der studentischen Opposition in Beschlag genommen. Ein Überblick zeigt, daß außerparlamentarische Opposition über die studentische Opposition hinausgeht und daß sie nicht erst seit 1967 besteht. a) Parteien Hier sind die Parteien gemeint, die nicht im Parlament vertreten sind. Bei der Bundestagswahl 1965 kamen von diesen Parteien nur NPD (rd. 665 000) und DFU (rd. 435 000) auf größere Stimmenanteile. Für die im Parlament vertretenen wie für die nicht vertretenen Parteien gilt: wer eine Partei gründet, beteiligt sich an Wahlen, wer sich an Wahlen beteiligt, will Parlamentssitze und Anteil an politischen Entscheidungen.

Dabei kann diese Beteiligung am parlamentarisch-demokratischen System taktisch sein und Hand in Hand gehen mit einem affektiven oder theoretisch begründeten Antiparlamentarismus. Historisches Beispiel: Die NSDAP hat sich an Wahlen beteiligt, um die Macht zu gewinnen, die es ihr ermöglichte, die Demokratie abzuschaffen. In einem etablierten Parteiensystem wie dem der Bundesrepublik tendieren die nicht im Parlament vertretenen Parteien zu einer scharfen Kritik am System aller Parlamentsparteien. b) Bewegungen unter Kontrolle der Parteien Da die SPD als damalige Oppositionspartei auf Grund ihrer Minderheitsstellung im Bundestag die Entscheidung der Regierungsparteien über die atomare Ausrüstung der Bundeswehr nicht verhindern konnte, versuchte sie, die Öffentlichkeit durch die formell unabhängige außer-parlamentarische Bewegung „Kampf dem Atomtod" für ihre Forderungen zu gewinnen. Als propagandistische Gegenorganisation wurde unter dem Einfluß der Regierungspartei CDU/CSU das Komitee „Rettet die Freiheit" gegründet. Die geringe Autonomie dieser Bewegungen zeigt sich daran, daß sie sehr schnell verstummten, als die Parteien sie nicht mehr für erforderlich hielten. c) Interessenverbände Da die wichtigste Funktion der Interessenverbände in der Durchsetzung ihrer Interessen liegt, steht ihre oft partielle Opposition meist unter dem Vorbehalt der Erfüllung ihrer Forderungen. Sehr wenige Verbände betreiben eine zugleich allgemeinpolitische und interessenpolitische Opposition, wie z. B.der DGB, der von der Tarifpolitik, Bildungspolitik und Verfassungspolitik (z. B. Notstand) bis zur Außenpolitik teilweise oppositionelle Positionen bezieht. Die partielle interessenpolitische Opposition der meisten Verbände bedient sich vorwiegend der Stellungnahmen, Pressekonferenzen etc. von Vorständen; -intensivere Oppo sition von Verbänden mit großer Mitgliederschaft kann zu Demonstrationen führen (z. B. „Marsch auf Bonn" organisiert von den Kriegsopferverbänden). d) Single—ptirpose—movement.

Dieser Begriff bezeichnet Bewegungen, die sich mit einem oder vorwiegend mit einem Themenkreis befassen. Beispiele sind: die „Kampagne für Demokratie und Abrüstung" (Ostermarsch), die sich gegen Atomwaffen, für eine allgemeine Abrüstung und für die Demokratisierung der Gesellschaft einsetzte; die „Internationale der Kriegsdienstgegner", die in den verschiedenen Staaten, so auch in der Bundesrepublik, Sektionen hat — ihr „Thema" ist der Pazifismus; das Kuratorium „Notstand der Demokratie", daß die Ablehnung von Notstands-gesetzen in der Bundesrepublik propagiert und versucht, die oppositionellen Kräfte in dieser Frage zu koordinieren; auch eine so systemimmanente Organisation wie die „Deutsche Wählergesellschaft" müßte man zur außerparlamentarischen Opposition rechnen — ihr einziger Programmpunkt ist die Einführung der Mehrheitswahl in der Bundesrepublik. Diese single-purpose-movements haben zwar alle nur einen Themenkreis, wollen und können ihn aber meist nicht aus den politischen Zusammenhängen herauslösen. e) Massenmedien Hier ist an die Definition zu erinnern: nicht die kritische Einzelstimme, sondern die organisierte Gruppe, nicht die gelegentliche, sondern die relativ beständige Oppositionsstellung interessiert. Eine relativ beständige und teilweise entschiedene Opposition wird von den Presseorganen mit hoher Auflage nur von „Der Spiegel" betrieben. Nicht ohne kritischen Einfluß sind wohl einige Magazinsendungen des Fernsehens wie Monitor, Report und Panorama. In relevanter ideologischer Distanz zu den Machthabern stehen Monatszeitschriften, die eine entschiedene Opposition verfechten: z. B. „Konkret" und „Blätter für deutsche und internationale Politik", die aber nur geringe Auflagen haben. Es gibt in der Bundesrepublik keine oppositionelle Tageszeitung mit'großer Verbreitung. f) Gesellschaftliche Gruppen Heute wären dazu zu rechnen vor allem Teile der Jugend, darunter in erster Linie Studenten, aber Teile Gewerkschaftsjugend und auch der auch Schüler. Die oppositionellen Studenten haben als organisatorische Basis die Organe der studentischen Selbstverwaltung und die politischen Studentenverbände (z. B. SDS). Die Studentenverbände der SPD und der FDP, SHB und LSD, und z. T.der RCDS (Studentenverband der CDU) sind heute oppositionell gegenüber den Führungen der Mehrheiten der Parteien eingestellt, zu denen sie sich bekennen. Einige Studenten versuchen heute, die Verbindung zu linken Arbeitern und Gewerkschaftern und zu Schülern herzustellen. Von außen angestoßen, aber auf autonomem Interesse und Aktivität beruhend, ist das „Aktionszentrum unabhängiger und sozialer Schüler" (AUSS) ein Ansatz zur Bildung einer Schüleropposition. g) Politische Clubs Politische Clubs sind die jüngste Organisationsform außerparlamentarischer Opposition in der Bundesrepublik. In Frankreich z. B. sind solche Clubs als Organisationsform der Linken seit einigen Jahren bekannt (z. B. Club Jean Moulin). Auch in der Bundesrepublik deuten die Clubs bereits im Namen eine politische Richtung an, z. B. Club Voltaire, Club Georg Büchner, Club Humanite. Es handelt sich ent13 weder um politisch-literarische Clubs oder um rein politische Clubs. Sie verstehen sich wohl überwiegend als intellektuelle Avantgarde, die durch Aufklärungsarbeit Staat und Gesellschaft zu demokratisieren sucht. Der Republikanische Club Berlin versteht sich außerdem als Aktionszentrum, von dem zu bestimmten Anlässen z. B. Demonstrationen ausgehen. Die Mitgliederzahlen der politischen Clubs sind bis heute recht gering.

Das Phänomen der außerparlamentarischen Opposition ist der Öffentlichkeit vor allem durch die linke Opposition bewußt geworden. Diese hat aber bis heute kein geschlossenes Programm. Es ist eher möglich, die Themen zu nennen, auf die sie sich konzentriert.

Da sind einmal die Themen, die die Interessen der Gruppen unmittelbar berühren: z. B. Hochschulreform und Bildungspolitik für die Studenten, Strukturfragen der Industrie für die Gewerkschafter, Schulreform und Sexualprobleme für die Schüler.

Vor allem aber gibt es den großen Themenkreis der Linken vom SDS bis zum linken Flügel der SPD: Notstandsgesetzgebung als Versuch einer Abschaffung der Demokratie von oben;

Große Koalition als Verfestigung des „Establishments" ;

ehemalige Nazis in führenden Ämtern als Zeichen der Restauration; Demokratisierung der Gesellschaft von Sozialisierung oder Mitbestimmung über Abbau der politischen Justiz bis zu einem neuen Ehescheidungsrecht ;

Kampf gegen die privatwirtschaftliche Konzentration der Presse;

Abrüstung und Kampf gegen die Atomrüstung der Bundeswehr;

diplomatische Beziehungen zu osteuropäischen Staaten einschließlich der DDR als Voraussetzung einer europäischen Friedensordnung;

Unterstützung der Befreiungsbewegungen in den Entwicklungsländern, die gegen Kolonialmächte und traditionelle Oligarchien gerichtet sind;

Vietnam als Befreiungskampf eines Volkes und als unmenschlicher Krieg.

Die außerparlamentarische Opposition hat in der Bundesrepublik noch wenig Legitimität. In den Schulbüchern nicht vorgesehen, scheint sie keinen Platz im System der Institutionen zu haben und als Gegenbewegung nicht zulässig zu sein. Die Entstehung einer linken außerparlamentarischen Opposition in den letzten Jahren hat Gründe, die im Politischen und Sozialen liegen. Welche Faktoren wirken hier zusammen?

Die Intensität der parlamentarischen Opposition in Kritik, Kontrolle und Alternativentwurf hat stark abgenommen. Die FDP als heutige Oppositionspartei ist klein und gehört mit ihrer sozialen Basis zum gesellschaftlichen „Establishment".

Bestimmte Themen (z. B. Vietnam) werden von den machthabenden Parteien nicht oder kaum beachtet; andere Themen (z. B. Bildungspolitik) werden zwar behandelt, aber ohne die politischen Konsequenzen, die die außerparlamentarische Opposition für notwendig hält.

Objektive Mißstände wie der Vietnamkrieg oder die deutsche Bildungspolitik, die Lage der Bevölkerung in den Entwicklungsländern oder der Zustand der innerparteilichen Demokratie in den deutschen Parteien provozieren den Protest um so stärker, je weniger ein ernsthafter Reformwille bei den institutionalisierten Kräften gesehen wird.

Die Rezession der Wirtschaft in der Bundesrepublik hat das Bewußtsein für die Struktur-mängel der Gesellschaft geschärft.

Die Umwandlung der SPD in eine gemäßigte, ins politische und soziale System eingefügte Partei ermuntert andere Gruppen (z. B. Studentenverbände), die Erbschaft des Sozialismus aufzunehmen und weiterzuentwickeln.

Die Arbeiterschaft scheint in Resignation und Anpassung ihre Rolle als Träger einer fortschrittlichen Politik aufzugeben; ein Teil der außerparlamentarischen Opposition versteht sich als Nachfolger.

Der Zwiespalt zwischen der von der Regierung vertretenen Deutschland-und Ostpolitik und der Politik, die von Teilen der außerparlamentarischen Opposition für realistisch gehalten wird, mindert das Vertrauen in die Regierenden.

Weitere Faktoren sind die objektive Verschlechterung der sozialen Lage bestimmter Gruppen, z. B.der Studenten bei Ausbleiben der Reformen in ihren „Betrieben", den Hochschulen, der Abbau sozialer Leistungen für die Arbeitnehmer oder die Unsicherheit des Arbeitsplatzes, vor allem für die Arbeiter im Ruhrgebiet. Ebensowenig wie das Entstehen der außerparlamentarischen Opposition selbstverständlich ist, ist es auch ihr Bestehen. Auch hier müssen einige Faktoren zusammenwirken, um ihre Existenz zu ermöglichen. 1. Die rechtliche Zulässigkeit außerparlamentarischer Opposition (z. B. Informations-und Meinungsfreiheit, das Recht, Gruppen zu bilden, die Versammlungsfreiheit) und politisch neutrale, der demokratischen Verfassung verpflichtete Gerichte. 2. Bürger, die bei u. U. politisch völlig anderen Meinungen das Recht demokratisch operierender Minderheiten anerkennen und damit zur Legitimität außerparlamentarischer Opposition beitragen. Das Fehlen einer „Politischen Diffamierung der Opposition" 3). In der Bundesrepublik hat vor allem zu den Höhepunkten des Kalten Krieges die Diffamierung der linken Opposition — als kommunistisch inspiriert, beeinflußt oder gelenkt — ihren Spielraum außerordentlich verengt. 4. Wahrnehmung der Informationsfunktion durch die Massenmedien, vor allem die Presse. Nur so können auch die Argumente oppositioneller Minderheitsgruppen eine breitere Öffentlichkeit erreichen. Wird die außerparlamentarische Opposition totgeschwiegen und hat sie keine eigenen Publikationsmöglichkeiten, ist sie unter den Bedingungen der Massengesellschaft in Gefahr, esoterisch zu werden oder sich aufzulösen. 5. Minimum an materiellen Mitteln (Beiträge, Spenden, staatliche Mittel) und Mindestmaß an Organisation (Zusammenkünfte der Mitglieder oder Anhänger, verantwortliche Sprecher, Büros, freiwillige Helfer etc.). 6. Vorhandensein von ideologischen Spaltungen und von Interessenunterschieden, die im System der etablierten Kräfte entweder nicht ausgedrückt oder nicht zu befriedigenden Kompromissen geführt werden können.

Fussnoten

Fußnoten

  1. U. Lohmar, Innerparteiliche Demokratie, Statt gart 1963, S. 103.

  2. Gerhard Lehmbruch, Proporzdemokratie, in: Recht und Staat, Heft 335/336, Tübingen 1967.

  3. Heinrich Hannover, Politische Diffamierung der Opposition, Dortmund 1962.

Weitere Inhalte

Joachim Raschke, Dipl. Politologe, Redakteur der Schriftenreihe „Zur Politik und Zeitgeschichte", hrsg. von der Landeszentrale für politische Bildungsarbeit Berlin in Verbindung mit dem Otto-Suhr-Institut an der Freien Universität Berlin, geb. 1938 in Rosenheim. Veröffentlichungen: Wahlen und Wahlrecht, Berlin 1968 2); Wie wählen wir morgen? Verhältnis- oder Mehrheitswahl in der Bundesrepublik, Berlin 1967.