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Wer treibt die Bundesrepublik wohin ? Das Treibenlassen — Unbehagen über die pluralistische Gesellschaft | APuZ 31/1968 | bpb.de

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APuZ 31/1968 Wer treibt die Bundesrepublik wohin ? Das Treibenlassen — Unbehagen über die pluralistische Gesellschaft

Wer treibt die Bundesrepublik wohin ? Das Treibenlassen — Unbehagen über die pluralistische Gesellschaft

Karl J. Newman

Die folgende Arbeit, die mit freundlicher Genehmigung des Verlages Wissenschaft und Politik, Köln, abgedruckt wird, bringt Auszüge aus der in den nächsten Tagen unter demselben Titel erscheinenden umfassenden Auseinandersetzung des Autors mit den politischen Ideen von Karl Jaspers. Bereits in der Ausgabe Nr. 16/1967 stellten wir einen Beitrag — aus der Feder von Bernhard Sutor — zur Diskussion, der sich mit der „Struktur des politischen Denkens bei Karl Jaspers" befaßte. Eine kritische Stellungnahme zu diesem Beitrag und die Antwort Sutors wurden in der Ausgabe Nr. 29/1967 veröffentlicht. Mit seiner streitbaren Jaspers-Analyse stellt sich K. J. Newman zugleich vor die heute von manchen Gruppen befehdete und in Frage gestellte parlamentarische Demokratie in der Bundesrepublik. Die Redaktion ist wiederum gern bereit, kritische Einwendungen entgegenzunehmen und sie — ggf. zusammen mit einer Replik des Autors — in einer späteren Folge zur Kenntnis zu bringen.

Wie man das Unbehagen künstlich aufbaut

Befinden wir uns wieder im Jahre 1930, oder ist die Gefahr für die bundesdeutsche Demokratie schon weiter fortgeschritten? Das Erscheinen von Karl Jaspers’ Buch im Jahre 1966 war gleichsam die Ouvertüre zu einem breiten Angriff auf unsere parlamentarische Demokratie.

Der Titel des Buches ist keineswegs originell, knüpft er doch an einen 1931 in der Zeitschrift „Die Tat" erschienenen Artikel „Wohin treiben wir?" an Darin wurden dem liberalen deutschen Verfassungsstaat von Weimar mit dem politischen Trick einer oberflächlichen Analyse munter die Totenglocken geläutet. Sein Verfasser hatte dem Ferment, das sich damals sowohl in der hündischen Jugend als auch im Zulauf der Jugend zu den radikalen Parteien manifestierte, eine spezifische Deutung gegeben. Gegen die damalige Parteien-Oligarchie schrieb er: „Machen wir uns frei von den großen Worten, mit denen heute eine immer dünner werdende Schicht die abzuschrecken sucht, die ihr den Glauben und das Vertrauen entzogen haben."

Der expressionistische Untertitel des Artikels „Weltuntergangsstimmung" könnte auch über der genannten Publikation von Jaspers stehen, fordert er doch die Jugend auf, der parlamentarischen Demokratie und ihren Parteien die Zustimmung radikal zu verweigern. Damit würde aber das bestehende System untergehen. Die Ausführungen beider Autoren waren als Paukenschlag gemeint und empfunden worden: „Denn das System ist tot und erstarrt", schrieb der „Tat" -Autor, „was aber im einzelnen aufbricht, sind neue lebendige Kräfte, die die wertlosen und sinnentleerten Formen beiseite räumen" und gleich zu Anfang: „Es gibt keine Möglichkeiten mehr, das heutige System zu erhalten, sondern dieses System steuert schicksalhaft und notwendig seinem Untergang zu." Ähnlich wie Jaspers heute rief der anonyme Autor der Demokratie damals zu: „Horcht hinein in die Jugend, die heute bei den Nationalsozialisten oder Kommunisten ist. Es ist das beste Menschenmaterial, über das Deutschland je verfügte . . . bis euch die Krise, eure Krise beiseite geräumt hat. Der neue Mensch ist bereits da in Deutschland!" Adolf Hitler und seine Vertrauensmänner müssen aufmerksame Leser der „Tat" gewesen sein. Sprach der Führer doch später von der „größten Jugend aller Zeiten". Damit meinte er allerdings sicherlich nicht die ganze kommunistische Jugend, sondern nur diejenigen unter ihnen, die später der SS und SA beitraten. Was versteht heute Jaspers, was verstand damals der „Tat" -Autor unter „Treibenlassen"? Jaspers bemüht sich, mit diesem Begriff die Achillesferse der bundesdeutschen Demokratie bloßzulegen, vorgeblich zur Heilung, im Ergebnis aber zur Schädigung dieser Demokratie. „Das eigentlich Schwebende, Unklare, Ungefestigte unserer politischen Existenz" — mit diesen Worten umschreibt Sontheimer, was Jaspers unter dem „Treibenlassen" begreift. Diese Schwächen sind typisch für jede Anfangsdemokratie, die Schwierigkeiten hat, alle jene Staatsbürger zu integrieren, deren Grundeinstellung noch immer den aus dem Obrigkeitsstaat tradierten Vorstellungen entspricht. Jaspers aber sieht in ihnen Anlaß genug, eine Bannbulle gegen die bundesdeutsche parlamentarische Demokratie zu schleudern.

So wie heute Jaspers und andere Gegner unserer parlamentarischen Demokratie, so begründete der „Tat" -Autor seine Angriffe auf die Demokratie mit dem angeblichen Vertrauensentzug der „Masse": „Sie glaubt nicht mehr an das System, sie vertraut ihm nicht mehr. Es ist ein völlig passiver geistiger Vorgang. Gerade er aber ist das gefährlichste Mittel für ein System, das lediglich auf Glauben und Vertrauen aufgebaut war."

Hier wird die Doppelschichtigkeit der Argumentation offenbar. Erst bauen die Feinde der Demokratie absichtlich das Unbehagen gegen sie auf, benützen dafür das Mißtrauen des an den Obrigkeitsstaat gewöhnten Bürgers gegen die Parteien und rechnen dann der Demokratie diesen Vertrauensverlust als schuldhaftes Versagen an. „Treibenlassen" soll dann heißen, daß die demokratischen Repräsentanten diesen Vertrauensentzug ignorieren So wie Karl Jaspers heute das auftretende Unbehagen auf die Erstarrung der „Parteienoligarchie" zurückführt, sprach der „Tat" -Autor damals vom Zusammenbruch „von oben".

Im April 1932 wurde der Herausgeber der „Tat", nämlich Hans Zehrer, deutlicher Mit dem Liberalismus breche die moderne politische Partei zusammen, „. . . die Entwicklung der Zukunft wird kein liberales Wahlrecht mehr enthalten, keine liberale Partei und kein liberales Parlament". Der Volkswille werde in Zukunft andere Wege gehen. Die SPD sei seit 1918 zum Bollwerk des Liberalismus gegen die antiliberalen Strömungen geworden. Gegen den Parteienstaat setzte Zehrer damals im Gefolge von Oswald Spengler und Jacob Burckhardt den Bund und den Orden, die teils elitäre, teils cäsaristische Züge tragen.

Es wird im Laufe dieser Ausführungen gezeigt werden, wie sehr Karl Jaspers mit seiner Vorstellung vom Treibenlassen seinen Vorgängern von der „Tat" verpflichtet ist.

Scheinbar bestehen große Unterschiede zwischen damals und heute. Der ideologische und propagandistische Angriff auf die Weimarer Republik hatte eine ganze Reihe von Vorläufern. „Tat" -Kreis und Faschismus stellten doch u. a. nur den Abschluß einer Entwicklung dar, die von der Romantik über Hegel, Gobineau, Houston Stewart Chamberlain, Treitschke, Nietzsche, Ludendorff, Spengler, Othmar Spann, Carl Schmitt, Sorel und Pareto bis zur Action Franaise und Mussolini führte. Allen diesen Denkern gemeinsam ist ihr Kampf gegen Demokratie und Liberalismus; ihr Einfluß auf den „Tat" -Kreis verständlich. Diesmal aber beteuert der ideologische Spiritus rector, indem er in der Nachfolge kantischer Wahrhaftigkeit zum Sturm gegen Bonn bläst, er wolle der deutschen Demokratie zur Selbstbesinnung und Umkehr verhelfen. Er hat das genaue Gegenteil erreicht, indem er mit unfehlbarem Spürsinn die Schwächen — die jedem Staats-gebilde anhaften — herausstellt, die nicht unansehnlichen Errungenschaften der deutschen Demokratie seit 1945 jedoch herabsetzt und relativiert, ein Porträt dieser Demokratie entwirft, das ihre Gesichtszüge bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Großer Beifall beim Publikum — aber um welchen Preis? Um den der Sammlung der im geheimen immer schon autoritär gesinnten, antiliberalen, intoleranten intellektuellen Kräften von rechts und links.

Gegen Parteien und Politiker

Jaspers stellt sich in seiner „Antwort" nachdem sich die Wähler bereits, nicht zuletzt auf seinen Rat hin, von den demokratischen Parteien abzuwenden begannen, vor die NPD. Während er die deutschen demokratischen Parteien, ganz im Sinne des bekannten Weimarer Schlagwortes von den „ Systemparteien", als eine kleine, innerlich volksfremde, von einer Parteienoligarchie beherrschte Minorität nachdrücklich verdammt hält er die NPD für weitaus ehrlicher und demokratischer. Warum? „In dem gesinnungspolitischen Vakuum, das bisher nur durch Lügen und Selbsttäuschungen ausgefüllt wird, zeigte die NPD eine zunächst von allen Interessen freie, scheinbar wahrere Gesinnung. Man will etwas glauben, etwas, wofür man zu leben meint und das das Herz höher schlagen läßt"

Sodann lädt Jaspers zur Zertrümmerung der SPD ein. „Denkbar wäre", so meint er," eine Abspaltung eines Teils (der SPD) zu einer Partei, die im Volk Widerhall findet. . . . Sie allein hätte einen politischen Glauben, der überzeugt". „Eine erfolgreiche Abspaltung eines großen Teils der SPD würde den politischen Zustand in der Bundesrepublik radikal ändern. . . . Das Vakuum wäre zu Ende."

Auch das begann sich nach der Veröffentlichung der „Antwort" im Sinne des Autors zu erfüllen. Jaspers'Rat hat zu einer Radikalisierung geführt und die SPD zu schwächen vermocht, doch die von der neuen Linken ausgehende Unruhe hat bisher nicht den Links-, sondern den Rechtsradikalen einen beträchtlichen Stimmenzuwachs gebracht.

Seit zwanzig Jahren wird in weiten Kreisen Westdeutschlands die wissenschaftliche Kritik am Marxismus-Leninismus vernachlässigt, obwohl doch z. B. an den amerikanischen Universitäten gerade dieser Forschungsbereich sich großer Beliebtheit erfreut. Die Folge ist, daß heute der intellektuelle und studentische Nachwuchs diesen Teil des politischen Denkens nur ganz ungenügend kennt und daher die Beschäftigung mit dem Marxismus-Leninismus den revolutionären Ideologen überläßt. Als eine Folgeerscheinung wird in vielen Kreisen diese Ideologie wieder als quasi-religiöse Autorität verehrt. Obwohl heute die Diskussion gefordert wird, bleibt diese doch zumeist einseitig, da es an der Toleranz gegenüber divergierenden Ansichten fehlt.

Jaspers’ neue Bücher sind gefährlich, weil sie Wahrheiten und Unwahrheiten geschickt vermischen. Nichts ist so verführerisch wie die Halbwahrheit. Soweit die Vorwürfe gegen die parlamentarische Demokratie und die pluralistische Gesellschaft zutreffen, beruhen die von ihm monierten Tatsachen auf einem Zusammenspiel historischer, soziologischer, wirtschaftlicher, politischer und nicht zuletzt sozial-psychologischer Kräfte. Diese Faktoren stellen einen weitverzweigten und komplizierten sozialen Nexus, nämlich die ganze soziopolitische Grundstruktur des Staates dar.

Soviel müßte Jaspers und auch denen, die mit ihm erneut zum Kampf gegen den liberalen Parteienstaat angetreten sind, bekannt sein: Weitverbreitete Denk-und Handlungsmodelle, die sich evolutionär aus den Gegebenheiten entwickeln, können nicht durch einen einfachen Aufruf zur Umkehr, sozusagen durch einen Knopfdruck, verändert werden. Das deutsche Parteiensystem, wie es nach dem Zweiten Weltkrieg erstand, war eine aus der damaligen Not geborene Schöpfung. In seinem Rahmen wirkten Verfolgte des Nationalsozialismus, Weimarer Politiker, die überlebt hatten und nicht durch Zusammenarbeit mit den Nationalsozialisten kompromittiert waren. In diesem Rahmen wirkten andere, die sich unter dem Nationalsozialismus politischer Aktivität enthalten oder sich in untergeordneter Stellung befunden hatten, solche, die infolge der Katastrophe, in die der Nationalsozialismus das deutsche Volk geführt hatte, vom Dritten Reich abgestoßen waren, und schließlich, wie überall, auch schwarze Schafe und Konjunkturritter. Vom ethischen Standpunkt ist der Umfall der deutschen bürgerlichen Parteien bei der Abstimmung über das Ermächtigungsgesetz des Jahres 1933 unentschuldbar. Wenn man aber in den Jahren 1945— 1948 diese Weimarer Politiker, wie es Jaspers verlangt, geächtet hätte, wo wären dann die parlamentarischen und rechtsstaatlichen Erfahrungen* geblieben, die den Wiederaufbau überhaupt erst ermöglichten? Allerdings waren zu gleicher Zeit auch Elemente ideologischer Natur in die politische Praxis der Bundesrepublik eingedrungen, die „Demokratie" eher als Lippenbekenntnis auffaßten. Immer schon gab es eine Querverbindung zwischen politischem Liberalismus und autoritärem Nationalismus, wie sie bereits im Zweiten Kaiserreich und am Ende der Weimarer Republik offenbar wurde, als die Deutsche Volkspartei der Harzburger Front beitrat.

Bannstrahl gegen das Grundgesetz

Jaspers meint: „Ein Vergleich mit dem Frankreich de Gaulles könnte lehrreich für uns sein, um deutlicher zu sehen, in welchem politischen Zustand wir uns befinden. Er selbst als ein Staatsmann hoher Bildung, der meisterhaft schreiben und reden kann", zeuge in seinem Auftreten von Würde. Er sei umgeben von „zahlreichen Männern ähnlichen geistigen Niveaus, klug, im Umgang kultiviert, — man kann nicht anders, als sich darüber grämen, wie viele andersartige Menschen unsere Bundesrepublik durch ihre Parteien herausstellt" sobald man den Blick nach Frankreich wendet. Wo bleibt der gute Wille Jaspers'der europäischen Demokratie gegenüber, wenn er sich nicht scheut, zu sagen, der Parteienzustand, den das Grundgesetz hervorgebracht hat, sei „eine Schmach vor den Deutschen und vor der ganzen Welt" Eine derartige Sprache wurde in den Zwischenkriegsjahren niemals von den akademischen Gegnern der Weimarer Republik gegen die republikanische Verfassung geführt, keineswegs z. B. von Carl Schmitt, Othmar Spann und ihren Schülern. Parallelen für einen solchen Angriff auf das Grundgesetz mit dem Resultat eines schweren Schadens für das Ansehen der Demokratie könnten allenfalls in den Reden Adolf Hitlers und Joseph Goebbels'gefunden werden. Jaspers lobt de Gaulle dafür, daß er „innenpolitisch eine Ordnung machte, die die politischen Parteien nicht völlig vernichtete, aber in ihrer Wirksamkeit außerordentlich beschränkte." In diesem Sinne „plädiert" Jaspers „für die Entwicklung der Mächte und Institutionen und Kontrollen, die die Parteien beschränken und aufnehmen in ein größeres politisches Ganzes."

Jaspers’ antidemokratischer Volksbegriff

Scheinbar besteht zwischen der früheren und heutigen Position Jaspers'einUnterschied. 1931 sollten es die Eliten sein, die das Edle und Vornehme in der Gesellschaft, d. h.den rationalen und edlen Kern im kantischen Sinne, gegen die Demagogie und Nichtigkeit der Parteienwirtschaft retten solten, d. h., eigentlich sollten die Honoratioren im christlich-abendländischen, traditionellen Sinne gegen den Aufstand der Massen, den Jaspers mit Nivellierung gleichsetzte, beschützt werden. Heute wendet er sich über die Parteien hinweg direkt an das „Volk" — ein Begriff, den er nicht näher definieren kann, da es für ihn kein lebendiger, sondern ein durchaus metaphysischer Begriff ist. Dennoch ist seine Vorstellung vom „Volk" von größter Relevanz. Er versteht es nicht im Sinne einer pluralistischen Gliederung der Gesellschaft, sondern eher in einem vagen plebiszitären Sinne wie Rousseau, und dementsprechend muß er auch die Wiedereinführung von Volksbegehren und

Volksentscheid fordern. Dabei stützt sich Jaspers auf die Schweizer Praxis der direkten Demokratie, ohne sich viel Gedanken darüber zu machen, daß diese dort eine systemimmanente Rolle spielt. Er ignoriert in unverzeihlicher Weise den Sprengeffekt, den eine auf plebiszitäre Mittel gestützte Demagogie in einer modernen Industriegesellschaft ohne gefestigtes demokratisches Selbstbewußtsein haben muß.

Hat sich Jaspers seit 1931 wirklich grundlegend geändert? Das „Volk", das er gegen die Herrschaft der „Parteienoligarchie'zur Selbstbesinnung aufruft, gibt es nach seinem eigenen Geständnis nicht als greifbare Realität Es existiert nur als Idee, als Mythos. Und weiter: „Wenn wir im politischen Denken an das Volk appellieren, so ist es keine feste Größe . . . Aber für die Demokratie ist im Ursprung doch das Vertrauen eines Volkes zu sich selbst entscheidend. Das Volk ist die Gemeinschaft der . . . Menschen, die sich selber erziehen, aus der politischen Dumpfheit herauskommen zum Leben in ihren Institutionen . .

Wie sollen sich Menschen nun gegenseitig erziehen? Jaspers bietet uns das Beispiel des republikanischen Roms. Und warum? Da nur Magistrate das Volk zu Volksversammlungen einberufen, nur Beamte Anträge stellen konnten, sei die Mitwirkung des Volkes sehr gering gewesen. Nur mit Ja oder Nein konnte im alten Rom abgestimmt werden, genau wie im Dritten Reich. Das, meint Jaspers, sei ein kluges Mißtrauen dem Volk gegenüber gewesen. Trotzdem, fährt er fort, sei das Grund-vertrauen zum Menschen, zum Volke, Bedingung sinnvollen Lebens. Das Vertrauen werde aber nicht dem Menschen geschenkt, wie er heute sei, sondern dem, der er werden könne. Mit anderen Worten, Jaspers drückt hier das Platonsche Ideal der Veredlung der Menschen-seele aus. In Platons Staat waren die Philosophenkönige die Hüter, die die Seelen durch weise Herrschaft veredelten. Die Politiker Deutschlands verdammt Jaspers, weil sie diese Aufgabe seiner Meinung nach nicht erfüllen. Obwohl das Mißtrauen nach den Ereignissen des Jahres 1933 groß sein müßte, sollte man dennoch das Volk, etwa durch Einführung des Referendums, beteiligen. Wir haben aber gesehen, daß in der Schweiz — Jaspers'Leitbild — das Volk durch einflußreiche Beamte beraten wird. Wie könnte auch sonst ein Bauer aus Uri oder Schwyz wissen, wie er abstimmen soll?

Diese Einstellung läßt eine elitäre Entwicklung sowohl nach rechts als auch nach links zu: nach rechts hin im Sinne des „Tat" -Kreises und der konservativen Revolutionäre, durch die Bünde, die verschworene Gemeinschaft, die restaurative Bürokratie, die teilmokratisehen Meßgehirne mit ihren Computern, nach links durch die Räte und das Politbüro.

Selbst die Schweiz stellt sich nach Imbodens 23a) Eingeständnis im Einklang mit den westlichen Demokratien immer mehr auf die Parteiendemokratie ein. Das mächtige Hindernis, das in der Bundesrepublik der Wiederkehr autoritärer Machteinflüsse im Wege steht, sind die demokratischen Parteien. Wenn es gelingt, diese, dem Rat Jaspers'folgend, lahmzulegen, wird es das Chaos geben, das zur Diktatur führt, genau wie die von ihm im Jahre 1931 geforderte Elite nicht zur platonischen Hüterin des Staates wurde, sondern zum SS-Staat von Hitler, Himmler und Goebbels.

Es wäre möglich, Jaspers’ Behauptung, er und die restaurativen Denker seien Feinde, ohne daß sie es wissen, dahin zu deuten, daß sie faktisch, ohne es sich einzugestehen, Kampfgenossen gegen die lebendige Anfangsdemokratie Deutschlands sind — damals Weimar, heute Bonn. Gemeinsam ist ihnen, d. h. Jaspers und dem „Tat" -Kreis vor allem, daß sie — von der Hegeischen metaphysischen Staatsauffassung beseelt und vom Gedanken an Nietzsches Zarathustra beflügelt — außerstande sind, einzusehen, es sei Zweck des Staates, irdischen Durchschnittsmenschen zu dienen und von diesen gestaltet zu werden. Dabei ist es irrelevant, auf welche Denkmodelle sie sich zur Rechtfertigung ihrer romantisierenden Postulate berufen. Carl Schmitt, der eigentliche Lehrmeister des „Tat" -Kreises und auch seines scheinbar widerwilligen Schülers, Karl Jaspers, entpuppte sich letzten Endes als ein gläubiger Anhänger des großen Leviathan von Thomas Hobbes den er gegen die angeblich aus der Französischen Revolution stammende deutsche Rechtsstaatsidee ausspielte. Auch in der kritischen Zeit zwischen 1930 und 1933 hat Jaspers zum Kampf gegen die Massengesellschaft, die er mit Pöbelherrschaft gleichsetzte, aufgerufen.

Anwalt des Radikalismus

Wir kennen aus der Weimarer Republik die sehr populär gewordene Theorie, man müsse sich mit den totalitären Strömungen auseinandersetzen. Doch wissen wir nur zu gut, daß totalitäre Parteien eine ihrer Hauptwaffen in der Organisation sehen. Das trifft sowohl für Rechtsradikale als auch für die Kommunisten zu. Uns ist bewußt daß illegale Apparate im Untergrund stets vorhanden sind, daß aber eine erlaubte Partei die Möglichkeiten ihres illegalen Apparates wesentlich besser ausnutzt und daß besonders die Rechtsradikalen ohne eine wirklich öffentliche Sammlungspartei noch viel weniger ausrichten können als die Kommunisten. Jaspers'Forderung, den Totalitarismus allein mit geistigen Waffen zu bekämpfen, ist daher abwegig. Dennoch stellt er sich — in vollem Bewußtsein der historischen Gefährlichkeit des Rechtsradikalismus in Deutschland — vor die NPD. Er spricht von der „Vaterlandspartei", die schon zu Kaisers Zeiten und noch früher, seit dem Verrat an der liberalen Gesinnung im Jahre 1866, den Chauvinismus gepredigt habe. Immer schon bestand in Deutschland ein Potential von ca. 15 0/0 rechtsradikaler Stimmen. Gerade Jaspers, der seit 1945 zur Besinnung und zur Umkehr aufruft, der doch extreme Schritte gegen alle, die irgendwie mit dem Dritten Reich verbunden waren, forderte und fordert, müßte das wissen. Dennoch kommt er zu der paradoxen Schlußfolgerung, schuld an dem Wiederaufleben der Rechtsradikalen seien nicht die Reste des fanatischen Nationalismus, nein, die Bonner Parteien seien schuld. Warum? Erstens, weil sie das bestehende politische Vakuum bisher nur mit „Lügen und Selbsttäuschungen" ausgefüllt hätten, zweitens, weil nur die Rechtsradikalen eine subjektive Glaubenskraft besäßen, wodurch sie den anderen Parteien gefährlich überlegen seien drittens wegen ihrer „sachlich-politischen Substanzlosigkeit", womit er vermutlich ihre pragmatische Alltagspolitik meint

Die einzige Partei, die nach Jaspers der NPD entgegentreten könnte, wäre eine linksradikale, von der SPD abgespaltete Partei, die ebenfalls eine „wahrhaftige Glaubenskraft" besäße Wenn sodann alles nach Jaspers Wunsch ginge, hätten die Deutschen wieder ihren politischen Bürgerkrieg, ihre Schlägertrupps der dreißiger Jahre, die das „Wahrhaftige", das „Glaubenswerte" mit zwar „wahrhaftigen", aber dafür um so skrupelloseren Männern und Mitteln austragen würden. Tun wir Jaspers unrecht? Keineswegs. Mokiert er sich doch selbst über die deutsche Furcht vor dem Bürgerkrieg und sagt expressis verbis: „Das Faktum, daß überhaupt die NPD als neue Partei auftreten und in die Parlamente gelangen konnte, ist als solches nicht nur unbefriedigend."

Jaspers als Kulturpessimist.

Zwei bedeutende Werke über den Aufstieg der Masse zur Macht erschienen beinahe gleichzeitig Anfang der dreißiger Jahre: In dem einen, verfaßt von dem Spanier Ortega y Gasset, steht am Anfang: „Da die Massen ihrem Wesen nach ihr eigenes Dasein nicht lenken können noch dürfen und noch weniger imstande sind, die Gemeinschaft zu regieren, ist damit gesagt, daß Europa heute in einer der schwersten Krisen steht. . . . Sie heißt der Aufstand der Massen." In dem zweiten, verfaßt von Karl Jaspers, heißt es ganz ähnlich: „Technik und Masse haben einander hervorgebracht. . Die große Maschinerie muß eingestellt sein auf die Masseneigenschaften: ihr Betrieb aut die Masse der Arbeitskräfte, ihre Produktion auf die Wertschätzungen der Masse der Konsumenten. Die Masse scheint herrschen zu müssen, aber es zeigt sich, daß sie es nicht vermag." Und „Der Mensch ist, wenn er als Masse da ist, doch in der Masse nicht mehr er selbst. . . . Was der Andere hat, möchte ich auch haben: was der Andere kann, würde ich auch gekonnt haben. Der Neid herrscht heimlich und dabei die Sucht, zu genießen durch Mehrhaben und Mehrgelten."

Ortega y Gasset betont, seinem romanischen Erbe treu, die anarchischen Aspekte der Massendaseins. Er schildert den Massenmenschen als ungezogenes Kind, das keine Verpflichtungen anerkennt, das die sozialen Vergünstigungen des Wohlfahrtsstaates als die ihm gebührenden Früchte des paradiesischen Baumes hinnimmt Er kenne nur staatsbürgerliche Rechte, aber keine Pflichten und sei von der Perfektion seiner moralischen und intellektuellen Ausstattung zutiefst überzeugt. Der Ausspruch Rathenaus vom „Vertikaleinfall der Barbarei" leuchtet auf Die moderne Technik erscheint als Korrelat der Massengesellschaft. Die eine kann nicht ohne die andere le-ben. Die größte Gefahr sei die gewaltige Staatsmaschine, selbst ein Produkt der Massengesellschaft. Herrschaft als Ausdruck geistiger Macht liege im Sterben, da sich die Massen der Staatsmaschine bemächtigen. Dies aber könnten sie nur durch einen Diktator, der ihrem eigenen niedrigen Niveau Rechnung trage. Die Massengesellschaft bedeute so das Ende des Sozialvertrags, die Rückkehr zum vorgesellschaftlichen Kampf aller gegen alle.

Auch dieser Schluß — könnte man sagen — geht auf die spezifisch spanischen sozialhistorischen Erfahrungen zurück: einerseits die Tendenz der Massen zur Anarchie, andererseits die autokratische Staatsform, die durch jene gerechtfertigt wird. Tatsächlich meint Ortega y Gasset, die Staatsgewalt sei notwendig, weil der Massenmensch, den er für dumm, eingebildet und maßlos aggressiv hält, eben keine Autorität anerkenne.

Der Deutsche Karl Jaspers kam zu ähnlichen Folgerungen: Die sich aus der Massengesellschaft ergebende Mittelmäßigkeit beeinträchtige die Führerauslese. „Mit der Vereinheitlichung des Planeten hat ein Prozeß der Nivellierung begonnen, den man mit Grauen erblickt. Was heute für alle allgemein wird, ist stets das Oberflächliche, Nichtige und Gleichgültige. ... In tropischen Pflanzen und im nordischen Fischerdorf sieht man die Filme der Weltstädte, überall sind dieselben Kleider. Die Manieren des Umgangs, die gleichen Tänze, derselbe Sport, dieselben Schlagworte eines aus Aufklärung, angelsächsischem Positivismus und theologischer Tradition gemischten Sprachbreis erobern sich das Erdrund"

Eine Prüfung der politischen Schriften Jaspers'ergibt, daß er im Grunde bei seinen bereits in den dreißiger Jahren in der Tradition des deutschen Kulturpessimismus vorgetragenen Einwänden gegen die Nivellisierungstendenzen der Massengesellschaft als solcher geblieben ist und diese Einwände samt ihren alten Klischees jetzt gegen die Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik richtet. So wie er damals über das sich in der westlichen Welt ausbreitende unpersönliche Umgangsethos klagte: „Kein Berühren von Mensch zu Mensch im Persönlichen, wo man sich in Massen zusammenfindet eine selbstdisziplinierte Ordnung. . . ." so verachtenswert erscheinen Jaspers heute die höflichen und verbindlichen Umgangsformen unserer Parlamentarier, das Sich-Zusammenreden, das Sich-gegenseitig-Beglückwünschen zu seiner gegenseitigen Meinung, von wohlanständigen Durchschnittsmenschen, den Sprößlingen eines noch immer verdammenswerten Massendaseins

Hier zeigt sich deutlich Jaspers’ mangelndes Verständnis für die lebendigen Daseinsformen der Demokratie im Unterschied zur normativen Verfassungsvorschrift. Durch einen schwer verständlichen Sprung in der Logik hat er den westlichen, nichtdeutschen Erscheinungsformen der Massengesellschaft inzwischen eine Generalabsolution erteilt obwohl gerade in den USA die Vermassung infolge der Technisierung, der Standardisierung nicht nur von Konsumwaren, sondern von Denkmodellen und Kulturformen sowie durch die Mischung von Rassen, Völkern, Sprachen, Religionen und Sitten ein in der Geschichte bisher unbekanntes Ausmaß erreicht hat.

Parteien und Demokratie

Zweifellos sind die Probleme schwer zu lösen, die die Massengesellschaft der demokratischen Autorität entgegensetzt. Sind sie aber unlösbar? In Deutschland bestand schon immer eine instinktive Abneigung gegen den Berufspolitiker und den Parteienstaat. In bewährter obrigkeitsstaatlicher Form tritt die alte Hegeische Antithese von Volk und Staat allzuleicht auf, ohne daß diese Begriffe im Sinne unserer jetzt verfügbaren soziologischen Kenntnisse näher erläutert werden. Im repräsentativen Verfassungsstaat wird nun einmal der Wille des Volkes kanalisiert durch demokratische Parteien, die keine sich gegenseitig befeh-dende Heerlager sind. Sie dienen den Interessen aller und stellen im Zuge der politischen Willensbildung unentbehrliche Faktoren dar. Ein Angriff gegen das Parteiensystem, ob durch fortwährende Abwertungen oder durch den Versuch, die finanzielle Grundlage der Parteien zu erschüttern, ist indirekt ein Angriff gegen die Autorität der Demokratie, die diesen Angriff abwehren muß, sofern sie nicht bereit ist, Selbstmord zu begehen.

Die Parteien sind untrennbare Bestandteile der pluralistischen Gesellschaftsordnung, zu der auch Interessenverbände, Kirchen, kulturelle und andere Organisationen zu rechnen sind. Es wird häufig übersehen, daß gerade diese Organe der pluralistischen Gesellschaft das Gerüst der modernen Massengesellschaft darstellen. Allein mit ihrer Hilfe ist es der Demokratie möglich, die Massengesellschaft zu strukturieren und ihre Autorität zu behaupten. Die Kritiker der Massengesellschaft übersehen diesen wichtigen Zusammenhang. Viele Klagen über die angeblichen Schwächen der Massengesellschaft entspringen der vergeblichen Sehnsucht nach einer Welt, die nie mehr zurückkehren kann. Die industrielle Revolution hat nämlich einen Übergang von den Kleingruppen, wie der Familie, der Dorfgemeinschaft, der Zunft, zu den unpersönlichen großen Verbänden und Vereinigungen geschaffen. Diese nehmen im Zeitalter der Verstädterung immer mehr an Gewicht zu. Planung ist unter diesen Umständen unumgänglich. Wer aber plant den Planer? Diese Frage ist heute deutlicher gestellt als je zuvor. Wer wagt es, sich seinen Mitmenschen gegenüber als so übergeordnet zu betrachten, daß er sie wie Moleküle, die kein Recht auf Widerspruch haben, einzuplanen und einzuebnen vermöchte? In dem Anspruch auf Autorität des planenden Fachmannes gegenüber der Masse ist also ein mit der Autorität der Demokratie unvereinbarer Anspruch auf ein totalitäres Ubermenschentum enthalten. Gibt es da einen Ausweg? Einer, der imstande war, diese Frage zu beantworten, war Karl Mannheim. Seine Antwort war einfach und überzeugend: Die Planer der Zukunft müssen die Freiheit planen. Dabei ist entscheidend, ob es möglich ist, die demokratisch-parlamentarischen Kontrollen auf eine geplante Gesellschaft anzuwenden. Würden diese Kontrollen im Zuge der Planwirtschaft verschwinden, würde der Orwellsche Alptraum allerdings Wirklichkeit werden.

Wie kann aber Planung mit Freiheit verbunden werden? Der demokratische Staat muß den Mut aufbringen, für seine großen Errungenschaften einzustehen und sie mit starker Hand zu verteidigen. Eine echte Demokratie ist die stärkste und stabilste aller Staatsformen, wenn sie fähig ist, im eigenen Volk den Stolz auf ihre Institutionen zu begründen und zu nähren. Erforderlich ist, daß die Repräsentanten der Demokratie dem Volk mit gutem Beispiel vorangehen und die Würde der parlamentarischen Institutionen wahren, so daß sich das Volk in diesen Institutionen selbst verkörpert sieht. Dies bereitet in den angelsächsischen und nordischen Ländern oder etwa in der Schweiz und Holland, wo eine Kontinuität vom altgermanischen Thing über die mittelalterliche Ständekammer zum modernen Parlamentarismus erhalten blieb, keine Schwierigkeiten. Länder wie Frankreich und Deutschland haben es schwerer, weil einige hundert Jahre des absoluten Fürstenstaates einen rivalisierenden Autoritätsanspruch aufkommen ließen. Daher rührt bei uns dieses ewige Zurückgreifenwollen auf eine angeblich unpolitische Bürokratie und einen angeblich überparteilichen Staat.

Versteht Jaspers Max Weber richtig?

Jaspers beruft sich immer wieder auf Max Weber — zu Unrecht, denn dieser hatte eine klare und pragmatische Einsicht in die Politik. Wo Max Weber beispielsweise von der Wahrheitspflicht spricht, versteht er durchaus, daß sie zwar zur absoluten Ethik unbedingt erforderlich ist, daß aber die einseitige Publikation von Schuldbekenntnissen, die das eigene Land ohne Rücksicht auf die Folgen belasten, nicht die Wahrheit fördert, sondern diese durch den Mißbrauch und die Entfesselung von Leidenschaften verdunkelt.

Eben ein solches permanentes Bekenntnis der Schuld am Nationalsozialismus fordert Jaspers von den deutschen demokratischen Politikern, die ihn nicht verschuldet haben. Wenn aber dieses permanente Schuldbekenntnis dem Rechtsradikalismus neue Wähler zufuhrt, begrüßt Jaspers es als Ehrlichkeit, die die deutsche Demokratie lebendiger mache. Da also Jaspers der Bundesrepublik sowohl den Rechts-als auch den Linksradikalismus als besonders blutreinigend empfiehlt, müssen wir ihm die Frage stellen, ob er uns als Existentialist nicht auch den Bürgerkrieg empfehlen will.

Max Weber ist nicht frei von der traditionellen Verwechslung von Religion und Politik. Er meint, der Politiker sei in hohem Maße Glaubenskämpfer, der der Gefolgschaft des menschlichen Apparates bedürfe, wie dieser wiederum der Hoffnung auf die himmlische oder irdische Prämie, worunter er ethische Identifizierung, Rache, Macht, Beute und Pfründe verstand Es lag nahe, daß sich Max Weber, der sich trotz seines Bemühens um eine wertfreie wissenschaftliche Einstellung doch nicht von seiner Verankerung im Bürgertum des neuen Kaiserreichs lösen konnte, diese Prämiensucht vor allem der Sozialdemokratie zuschrieb. Verständlich ist auch, daß in der deutschen Intellektuellenschicht, die zum großen Teil Max Webers Klassenmilieu entstammte, diese Vorstellungen starke Wurzeln geschlagen hatten. Andererseits ist Jaspers Max Weber gerade dort nicht gefolgt, wo der Webersche Diskurs zur kritischen Entscheidung gelangt, nämlich bei der Unterscheidung von Gesinnungs-und Verantwortungsethik Den Gesinnungsethikern — die immer schon in Deutschland zahlreicher waren als die Verantwortungsethiker — haben Karl Jaspers'„Wohin treibt die Bundesrepublik?" und seine „Antwort" mächtigen Auftrieb gegeben, und zwar sowohl ihrem rechten als auch ihrem linken radikalen Flügel.

Die Verantwortungsethiker aber hat Jaspers in die Verteidigung gedrängt. Jaspers beherzigt nicht das Urteil Max Webers über die Gesinnungspolitiker, die nach Weber „plötzlich massenhaft in das Kraut schießen mit der Parole: die Welt ist dumm und gemein, nicht ich; die Verantwortung für die Folgen trifft nicht mich, sondern die anderen. ..." Weiß Jaspers nicht, daß Max Weber die Streiter gegen die demokratischen Parteien, die dieser durch seine Schriften ermutigt hat, folgendermaßen charakterisierte: „Daß ich es in neun von zehn Fällen mit Windbeuteln zu tun habe, die nicht real fühlen, was sie auf sich nehmen, sondern sich an romantischen Sensationen berauschen." Jaspers brauchte die in Deutschland schon immer verbreitete falsche und irreführende Gesinnungsethik nur mit der von Robert Michels betriebenen Verketzerung der SPD zu verbinden, um das gewünschte Resultat einer Radikalisierung zu erzielen. Die Frage bleibt, ob Jaspers ein bereits bestehendes Unbehagen bloß genau skizzierte oder aber dieses erst aufgebaut hat. Durch seine

Einseitigkeit wirkt er irreführend. Max Weber wußte: „Die Politik bedeutet ein starkes, langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich." Jaspers hat nur den leidenschaftlichen Schnell-bohrern etwas zu bieten. Wo aber bleibt das Augenmaß?

Eschenburg hat recht, wenn er meint: „Die Voraussetzung für eine institutioneile Autorität der Demokratie ist die prinzipielle Bejahung der Verfassung durch die überwiegende Mehrheit des Volkes." Er spricht von einer Krise der institutionellen Autorität zur Zeit der Weimarer Republik, deren Gründe er durchleuchtet, indem er schildert, wie sowohl Feinde als auch vermeintliche Freunde die Autorität der Demokratie zunichte machten

Heute stellen wir ähnliche Erscheinungen fest, und es nützt wenig, daß staatliche Institutionen im Sinne Eschenburgs „autoritätsgerecht" gehandhabt werden. Denn auch, wenn ihre Träger sich stets verantwoi lungsvoll verhalten, können mächtige Träger der „öffentlichen Meinung" wie Verbände und andere Massenmedien aus egoistischen oder politischen Gründen in die entgegengesetzte Richtung wirken, d. h. die Autorität der demokratischen Institutionen tendenziell untergraben. Insofern wäre es nur für die deutsche obrigkeitsstaatliche Tradition charakteristisch, wenn man mit Stahl behauptet, die Mehrheit hätte keine Autorität. Daß sie in Wirklichkeit Autorität in ausgeprägtem Maße besitzen kann, beweisen die Verhältnisse in den USA und England zur Genüge. Daß hierzulande die Autorität immer wieder angezweifelt wird, daß dabei die Autorität der institutioneilen politischen Organe abnimmt, weist den aktiven demokratischen Kräften die Aufgabe: Sie besteht nicht nur darin, die deutsche Demokratie vor jenen zu schützen, die ihr den Boden zu entziehen suchen, sondern auch durch Reformen auf sozialem, institutionellem und wirtschaftlichem Gebiet den veränderten Gegebenheiten Rechnung zu tragen und für die Zukunft vorzusorgen.

Die Gemeinsamkeit der „unbewußten Gegner" Munition aus der Carl-Schmitt-Schule

Die demokratischen Parteien werden beschuldigt, kein Vertrauen zum Volk zu haben. Das ist einer der Hauptvorwürfe gegen die Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik. Jaspers schließt sich diesem Vorwurf an, entkräftet ihn jedoch sogleich, indem er einräumt, daß „das Mißtrauen gegen ein Volk, das die Manipulationen der Politiker (im Jahre 1933) sich gefallen läßt, groß sein" muß Er negiert die Möglichkeit eines allmählichen Prozesses der Entfaltung der Demokratie und möchte das Volk in die politische Tätigkeit „hineinspringen" lassen. Wie stellt er sich dieses „Hineinspringen" praktisch und institutionell vor? Vor allem bezweifelt er, ob unser Staat überhaupt eine Demokratie ist. Die politischen Parteien seien zwar nach Art. 21 GG Organe des Volkes, tatsächlich aber sei das Übergewicht der bestehenden Parteien durch ihre Organisation und ihre Geldmittel so groß, daß neue Parteien kaum eine Chance hätten. Die bestehenden seien selbständige Mächte geworden und nicht mehr Organe des Volkes, sondern des Staates, der nunmehr wieder als Öbrigkeitsstaat die Untertanen beherrsche. Das bedeute, daß die Staatsführung in den Händen einer den Staat usurpierenden Parteienoligarchie liege

Nun bringt Jaspers vieles, was vor ihm von Staatsrechtlern gesagt wurde, übersetzt es jedoch Eine im Jahre die des in Volkes.

1964 veröffentlichte Broschüre von Ernst Forsthoff trägt den Titel: der „Strukturwandlungen modernen Demokratie" Darin wird schon vorweggenommen, daß die moderne Massen-demokratie nur als „Parteiendemokratie" denkbar ist, weil der politische Volkswille nur über die Parteien formierbar sei Hatte der Wähler in der Weimarer Republik noch eine „ganze Skala" von Entscheidungsmöglichkeiten, da ihm eine große Zahl von ideologisch und wirtschaftlich scharf umrissenen Parteien zur Verfügung standen, so lägen, meint Forsthoff, die Verhältnisse heute ganz anders: Worüber könne denn der Wähler überhaupt noch entscheiden? Inwieweit habe seine Stimme noch einen Wert? Ob er für Regierung oder Opposition stimme, sei „eine im taktischen bleibende Stellungnahme, aber gewiß keine sachliche politische Willensentscheidung" Es handelt sich also nur um die „quotenmäßige Aufgliederung des Parlaments in Parteien, zwischen denen sich grundsätzliche politische Verschiedenheiten kaum noch feststellen lassen" Forsthoff betont auch die mangelnde Bereitschaft der Bundesbürger, sich parteipolitisch zu assoziieren. Um die Schwäche unseres Parteisystems zu korrigieren, fordert Forsthoff mit vollem Recht eine selbstbewußtere öffentliche Meinung, die bei uns, anders als etwa in England und Amerika, fehlt. Andererseits gibt er dem Zweiparteiensystem, das die öffentliche Meinung überhaupt ermöglicht, keine Chancen, denn das Zweiparteiensystem sei der deutschen Tradition fremd, „eine typisch englische Institution" Forsthoff zeigt eine eindeutige Abneigung gegen ein Zweiparteiensystem in der Bundesrepublik, weil es erstens im deutschen Boden nicht verwurzelt sei und weil es zweitens die Entmachtung des Wählers fördere, indem es ihn zur Stellungnahme für Regierung oder Opposition zwinge. Diese Einstellung Forsthoffs entspricht der kontinentalen Tradition, derzufolge sich der Wähler nur ungern das schöne Spielzeug eines — im Sinne Jaspers’ — wahrhaftigen Glaubensbekenntnisses für eine der streitbaren Ideologien nehmen läßt. Forsthoff betont eigentlich nur in einem neuen Zusammenhang, was er und die anderen Staatsrechtler seiner Schule, deren Mittelpunkt die Zeitschrift „Der Staat" bildet, schon seit Bestehen der Bundesrepublik vertreten haben. Ihre Strukturanalyse der Institutionen der Bundesrepublik ist aber für einen ganz anderen Hörer-und Leserkreis bestimmt als Jaspers’ politische Schriften. Ihre Verfassungskritik, in der Wissenschaft ein normaler Schulungs-und Ubungsprozeß, deren mehr oder weniger hypothetischer Charakter als solcher erkennbar bleibt, richtet sich an Dozenten und Studenten des öffentlichen Rechts und wird nicht wie bei Jaspers in populären Werken verbreitet, die soviel dazu beigetragen haben, das Vertrauen des Volkes in die Institutionen der Bundesrepublik zu erschüttern.

Schon 1951 sprach der Göttinger Staatsrechtler Werner Weber von der „Mediatisierung des Volkes" durch die Parteien und stellte fest, daß das Volk in der Weimarer Verfassung noch eine bedeutende Kraft gewesen sei, die sich vor allem in der Wahl des Reichs-präsidenten, bei Reichstagswahlen und schließlich durch Volksbegehren und Volksentscheid äußerte Diesen Einfluß des Volkes hätten nun die „Bonner Parteien" nicht mehr gewollt, deshalb werde der Bundespräsident nicht mehr vom Volk gewählt, deshalb seien sowohl die an ein Plebiszit appellierenden Parlamentsauflösungen als auch Volksbegehren und Volksentscheid beseitigt worden. In der Bundesrepublik könne also die öffentliche Meinung — abgesehen von der Wahl des Bundestages — nicht weiter zur Geltung kommen. Die Wahl habe nur eines zum Gegenstand, nämlich „zwischen den schon organisierten vorhandenen Parteien und den von ihnen präsentierten Mandatsbewerbern zu optieren und kraft dieser Option den Parteien ihr parlamentarisches Gewicht zuzuteilen" Die Parteien — so hieß es schon 1951 — beherrschten die politische Willensbildung des Volkes und repräsentierten den Staat gegenüber dem Volk, während das Volk zu den Vorständen, Fraktionen und Führern der organisierten Parteien nun wie zu einer Regierung Stellung nehme

Außerdem, meinte Weber, stehe diese dominierende Rolle nicht den Parteien schlechthin, sondern bevorzugt einer Gruppe von Mittel-parteien zu — Jaspers würde sagen: der Parteienoligarchie. Für ihn ist die Wahl Akklamation zur Parteienoligarchie, die sich nach Werner Weber schon im Grundgesetz die Herrschaft über das „Volk" sicherte und ihre Herrschaft im Grundgesetz verankerte.

Wenn der Philosoph im Namen von Immanuel Kant nach mehr „Freiheit" für das „Volk" ruft, so leiht er im Grunde nur der von Carl Schmitt gegründeten Staatsrechtsschule seinen Namen.

In den letzten Jahren zeigt sich eine auffallende Popularität der Staatsrechtsschule von Carl Schmitt. Er hatte schon in den zwanziger Jahren mit großem juristischem und schriftstellerischem Talent folgenschwere Angriffe gegen die Weimarer Demokratie gerichtet.

Carl Schmitt hat in der Gedankenwelt seiner Schüler eine Trennung von Liberalismus und Demokratie herbeigeführt — einem Liberalismus, den er mit der zersetzenden Herrschaft der Verbände gleichsetzte, und einer Demokratie, die er, im Sinne Rousseaus, als durchaus vereinbar mit einer cäsaristischen Diktatur verstand. Gegen das angeblich fruchtlose Debattieren der Legislative setzt er den Dezisionismus einer starken Exekutive, die er, wie er später in seiner Schrift „Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes" bekannte, als Gewaltherrschaft der totalitären Diktatur auffaßt.

In der Weimarer Republik zögerten aber die akademischen Vertreter der autoritären und — wie sich nachher herausstellen sollte — totalitären Staatsidee aus Gründen des Berufs-ethos, so offen zu sprechen wie Jaspers heute. Sie nahmen die Demokratie in eine Art juristische Zwickmühle und agierten hinter einer respektablen Kulisse von Hegelianismus. Man argumentierte, der Parlamentarismus habe seine Daseinsberechtigung dadurch eingebüßt, daß die Plenarsitzung des Parlaments an Bedeutung verloren habe und die wichtigsten Entscheidungen in Ausschüssen fielen. Einerseits behaupteten sie, das System der Ausschüsse, in denen auch Experten gehört werden können, sei eine durch die historische Evolution bedingte Notwendigkeit, die eben die technokratische Entwicklung zur rationalen Diktatur hin unterstreiche, andererseits förderten sie die Entwicklung zur Technokratie dadurch, daß sie das Parlament mit der in Deutschland leider schon immer üblichen Geringschätzung als „unnützen Debattierklub" beschimpften. Die Nationalsozialisten nannten es „Quatschbude".

Bemerkenswert ist, daß Carl Schmitt schon damals bei der Bekämpfung der Demokratie zwei Alternativen gleiche Wirksamkeit zuerkannte: erstens der rationalistischen Diktatur, die er mit Recht vom Jakobinertum ableitete und deren Ursprung er mit Hobbes in der Vorstellungswelt und Methodik der Naturwissenschaften sah. Ihr stand er deswegen mit Sympathie gegenüber, da er mit ihr nicht die Vorstellung endloser Diskussionen, sondern vielmehr gewaltsamer Tat verband. Mit Trotzky tadelte Schmitt den Demokraten Kautsky. Seine eigentliche Begeisterung gehörte aber der zweiten Möglichkeit — der auf direkter Aktion und Gewaltanwendung basie-sendest Irrationalitätsphilosophie konservativer Revolutionäre, wie der des Spaniers Donoso Cortes, dem Mythos der Gewalt und dem Mut zur Entscheidungsschlacht.

Bemängelt wird von Jaspers weiter das konstruktive Mißtrauensvotum, das der chronischen Regierungsinstabilität der Weimarer Republik entgegenwirken sollte. Wie leicht war es doch damals, eine Reichsregierung zu stürzen, ohne sich um deren Nachfolge kümmern zu müssen, da das reine Proporzwahlrecht zu einer heillosen Zersplitterung des Parteiwesens führte! Dem wollten die Väter des Grundgesetzes durch die Einführung der Fünf-Prozent-Klausel entgegenwirken. Diese bescheidene Konzession an das Mehrheitswahlrecht kann aber — wie sich jetzt herausstellt — das Auftreten radikaler antidemokratischer Parteien nicht verhindern. Doch selbst die Fünf-Prozent-Klausel geht Jaspers zu weit. Er möchte sie abschaffen. Er wünscht die Rückkehr eines Zustandes, unter dem Deutschland permanent von höchst labilen Koalitions-oder Minderheitskabinetten regiert wurde. Von Februar 1919 bis Januar 1933 amtierten in Deutschland 17 Kabinette, deren durchschnittliche Lebensdauer demnach weniger als zehn Monate betrug. Dadurch entstand während der wirtschafts-und außenpolitischen Krisen ein Machtvakuum, das dem Radikalismus hervorragende Entfaltungsmöglichkeiten bot. Doch das stört Jaspers wenig, denn er versteht die Politik als einen fortwährenden Kampf von sich bekriegenden Ideologien. Dadurch eben wird für ihn Politik erst „wahrhaftig" und „inhaltsvoll".

Auch diese Vorstellung geht auf die bereits erwähnte Staatsrechtsschule zurück. Ihr Gründer, Carl Schmitt, sieht im Polemischen den Inbegriff des Politischen. Folglich kennt er nur die Alternativen Selbstbehauptung oder Untergang, Freund oder Feind. Die Zusammenarbeit der demokratischen Parteien in der Bundesrepublik muß ihm daher „als verwirrte Zwischenlage" erscheinen. Jaspers aber übertrifft Schmitt noch bei weitem, sieht er doch in der Kompromißbereitschaft des Bonner Parlamentarismus, in der gemeinsamen Arbeit der Parteien, in gegenseitiger Achtung der Parlamentarier über Fraktionsgrenzen hinweg nur Unlähigkeit und, so muß man vermuten, Korruption.

Genau wie Jaspers möchten die Anhänger der Carl-Schmitt-Schule einen Staat sehen, der hoch über der verächtlichen Massengesellschaft thront, der sich nicht auf einen „Kuhhandel der Parteien" verlassen muß, sondern zu allen Zeiten sachgerechter Entscheidung fähig ist. Dieser Staat soll vom „Philosophenkönig" und seiner Elite geführt werden. Wo soll dieser „Philosophenkönig" herkommen? In den dreißiger Jahren hätten die Dezisionisten ihn in der Nähe des Reichspräsidenten-Palais oder in der Reichswehr gesucht. Heute ergeben die Jaspersschen Ideen einen Januskopf. Die eine Hälfte findet ihre Modelle in Übereinstimmung mit den Bundesgenossen aus der Carl-Schmitt-Schule bei de Gaulle, Franco und Salazar, die andere bei Catilina, Pareto, Sorel, Castro, Che Guevara, Ho Tschi Minh und Mao. In jedem Fall wirkt sich das Verlangen Jaspers'nach Freiheit im Endeffekt als Freiheit des elitären Staatsmannes aus.

Wenn sich Jaspers für die Wiedereinführung des Referendums einsetzt, so ignoriert er den Schaden, den Volksbegehren und Volksentscheid durch die Aufputschung radikal-nationalistischer Gefühle in der Weimarer Republik anrichteten. Es war der demagogische Mißbrauch dieser plebiszitären Einrichtungen, der beispielsweise die Stresemannsche Locarno-Politik diskreditierte und so den Sieg des Nationalsozialismus vorbereitete.

Als Gegengewicht gegen die angeblich übermächtigen Parteien empfiehlt Jaspers einen vom Volk gewählten, mit weitgehender Autorität ausgestatteten, unerhört einflußreichen Bundespräsidenten. Unterschätzt Jaspers nach den Erfahrungen, die Deutschland mit dem Reichspräsidenten von Hindenburg machte, die neuerliche Gefahr eines plebiszitären Staatsoberhauptes oder nimmt er sie in Kauf, um die Parteien zu entmachten? Letzteres scheint eher der Fall zu sein, denn der Ruf nach dem starken Staatspräsidenten — zumindest ebenso mächtig wie die Parteien zusammengenommen — muß im Zusammenhang mit Jaspers'Wertschätzung des parteifeindlichen Einflusses General de Gaulles gesehen werden. Vielleicht spielen auch seine Vorstellungen vom amerikanischen Präsidialsystem eine Rolle. Denn Jaspers weiß nicht, wie sehr der amerikanische Präsident Politiker sein muß, gerade in dem Sinne, der Jaspers zutiefst zuwider ist. Er weiß nicht, wie sehr er sich den Forderungen der Masse anpassen muß.

Das Establishment und die deutschen Gaullisten

Der Begriff Establishment bezeichnet in England jene Gruppe von elitären und einflußreichen Persönlichkeiten, die geistig um Whitehall und Westminster angesiedelt sind und traditionell ein Vorrecht auf Ämter, Titel und Jobs haben. Es ist aber nicht diese englische Form, die heute in der Bundesrepublik zur negativen Apostrophierung von Establishment geführt hat, dem inneren Kern der Parteien-oligarchie, den es zu bekriegen gilt, sondern die französische Deutung des „Etablissement" in dem Sinne, in dem Armin Mohler es skizziert Es ist dieses Etablissement, das sich nach Mohler im Frankreich der Dritten und Vierten Republik gegenseitig die Ministerposten zuschob, überragenden Persönlichkeiten den Einfluß verwehrte und das „gute Volk" tatsächlich entmachtete: „Die Wahl einer Partei-Etikette war nur eine Scheinentscheidung, nämlich zwischen nur scheinbar Verschiedenartigem." Jede direkte Einwirkung des Bürgers auf die Politik sei durch raffinierte Blockierung seitens des Etablissements verhindert worden. Der sich ergebenden Opposition gegen das Etablissement trat nun — nach Mohler — „der Retter, der Glücksfall de Gaulle" entgegen. Der Bedrohung durch Faschismus, Kommunismus und Militärdiktatur entzog sich das Etablissement also durch Zuflucht zu einer für Mohlers Begriffe revolutionären Taktik: „nämlich den Teufel des Cäsarismus mit dem Beelzebub eines großen Einzelnen auszutreiben — eines großen Einzelnen, der zwar die Komitees verachtet und meisterhaft auf dem Klavier der Massenseele zu spielen weiß, aber dennoch kein Diktator sein will. Ein Experiment also, das wirklich nur mit der einmaligen Persönlichkeit des Generals de Gaulle möglich war."

Die Machtergreifung de Gaulles mittels eines gegen die parlamentarische Demokratie Frankreichs gerichteten Militärputsches und sein hartnäckiges Festhalten an der Macht mit Hilfe von vornehmen, gebildeten und disziplinierten Herren ist genau das, was Jaspers’ Ideal der dreißiger Jahre entspricht. Die Gleichung: Jaspers’ Parteioligarchie — Mohlers Etablissement ist. daher kein Zufall. Daß Mohler seiner Schrift über die Fünfte Republik eine für die Deutschen didaktische Bedeutung beimißt, geht aus einer seiner weiteren Publikationen hervor Der Autor, der sein Werk Carl Schmitt gewidmet hat als einer, „der zu-gibt, vom ihm gelernt zu haben”, tritt wieder offen für irrationales Denken ein. Totalitär sind nach Mohler nicht etwa Kommunisten oder Nationalsozialisten, sondern die Vertreter der parlamentarischen Demokratie in Deutschland, die den Gesinnungsgenossen Mohlers die Massenmedien nicht in genügendem Maße zur Verfügung stellen. Kritisiert wird an der Bundesrepublik ihr Beharren auf dem Ethischen in der Politik und ihre Ablehnung des Machiavellismus, den Mohler mit dem Politischen schlechthin identifiziert. Er begrüßt es, daß das Ausscheren Chinas aus dem kommunistischen Block und der Rückzug de Gaulles vom Atlantischen Bündnis die Welt wieder polyzentrisch gestaltet haben. Damit wird aber dem anarchischen Prinzip der nationalen Souveränität, das doch letzten Endes einen anachronistischen Zustand internationaler Willkürpolitik darstellt, Tür und Tor wieder geöffnet.

Offensichtlich wünscht Mohler nicht nur ein enges außenpolitisches Verhältnis Deutschlands zu Frankreich, sondern vor allem, daß Deutschland durch eine enge Verkettung mit Frankreich in einen Antagonismus zur englischen und amerikanischen Demokratie gerät und dadurch nicht umhin könnte, sich auch innenpolitisch der Fünften Republik anzugleichen. Daneben aber bringt Mohler einen Aspekt des restaurativen Denkens, der mit den Bußrufen Karl Jaspers'nicht in Einklang gebracht werden kann. Unter dem Motto „Nationalmasochismus" versucht er, die Hitler-Ära historisch zu relativieren und ihr einen ehrenhaften Platz in der deutschen Geschichte zuzuweisen. Er verwendet auch häufig den für die restaurative Schule charakteristischen Begriff der „Vergangenheitsbewältiger", zu denen er zum Beispiel auch Nolte mit seinem Buch „Der Faschismus in seiner Epoche" zählt. Er nennt alle diejenigen deutschen Zeitgeschichtler, Politologen und Soziologen, die das Phänomen des Nationalsozialismus gewissenhaft analysieren, „Spätsieger" und beschuldigt sie, das nationalsozialistische Deutschland nachträglich im Geiste verraten zu haben. Mohler versetzt sie damit in eine Art innere Emigration zurück und gibt sie dem Emigrantenhaß preis. Dieser Emigrantenhaß, der bei den letzten Bundestagswahlen gegen die Kanzlerkandidatur Willy Brandts so deutlich auf-flackerte, beruht im Grunde auf der Erbitterung darüber, daß die politischen Emigranten es nicht nur ablehnten, sich den Schergen der Diktatur zur fügen, sondern es obendrein noch wagen, rückblickend den einzig wirksamen Weg zur Bekämpfung des totalitären Unrechts-staates aufzuzeigen.

Mohler geißelt die „Berufsbewältiger" der Vergangenheit, weil sie nacheinander den Sozialdarwinismus, die kleinbürgerliche Existenzangst, den preußischen Untertanengeist, das Herrenmenschentum, die dörfliche Idylle, den Pietismus und das Turnen als Ursache der Konzentrationslager anführen. Seine metaphysisch-irrationale Betrachtungsweise schließt die Möglichkeit eines derartigen multikausalen Zusammenspiels verschiedener sozialer, politischer und ökonomischer Faktoren aus.

Selbstverständlich findet man bei Mohler das ganze restaurative Arsenal: Generalamnestie für die im Namen des Führers begangenen Verbrechen, die Aufforderung an das deutsche Volk, einen neuen Cäsar zu küren, dessen Attitüde aber nicht notwendigerweise derjenigen des einstigen gleichen müßte. Er müßte auch bescheiden genug sein, um sich mit der Rolle des Juniorpartners de Gaulles zu begnügen, zumindest solange, bis er eine eigene „force de frappe" zur Verfügung hätte. Jaspers und seine zahlreichen Schüler würden sich zwar leidenschaftlich gegen eine General-amnestie, gegen einen Schlußstrich unter die Vergangenheit wenden, aber mit Mohler in den Ruf nach einem deutschen de Gaulle einstimmen. Wenn aber ein deutscher Gaullismus in der Praxis zu anderen Ergebnissen führen würde, als Jaspers annimmt, würde er erneut gekränkt feststellen, daß die Geschichte seine Visionen nicht bestätigte. Auch Moeller van den Bruck und die konservativen Revolutionäre hatten sich ja das Dritte Reich ganz anders vorgestellt, als es sich in der Realität dann offenbarte.

Wo bleibt hier die „Verantwortungsethik", die der Philosoph nicht nur beim Politiker voraussetzen, sondern vor allem selbst beherzigen sollte?

Karl Jaspers sieht in seiner „Antwort" davon ab, dreien seiner wichtigsten Kritiker Rede und Antwort zu stehen. Es erweist sich, daß diese drei Kritiker, nämlich Ehrhard Eppler Fritz Rene Allemann und Joachim Wiesner eines gemeinsam haben, nämlich auf die Leichtfertigkeiten und Widersprüchlichkeiten der Jaspersschen Thesen hinzuweisen.

Räte und Splitterparteien

Jaspers hat der Bundesrepublik geraten, durch die Abschaffung der Fünf-Prozent-Klausel und die Einführung von Volksbegehren zum selbstmörderischen Parteienwirrwarr der Weimarer Zeit zurückzukehren und als Gegengewicht gegen die Parteien revolutionäre „Räte" einzuführen In Verbindung mit seiner Forderung nach einem „gaullistischen" allmächtigen Präsidenten bliebe den Parteien ein recht geringer Spielraum übrig.

Jaspers scheint in Übereinstimmung mit dem plebiszitären Linksradikalismus marxistischer Prägung der Auffassung zu sein, Räte seien eine sehr demokratische Einrichtung, die in Rußland nur von der Parteiorganisation usurpiert wurde.

Sind die „Sowjets" wirklich von der kommunistischen Partei Rußlands „usurpiert" worden? Ist es nicht vielmehr so, daß die Organisation der Arbeiter-und Soldatenräte genau dem Aktionsprogramm entsprach, das Lenin entworfen hatte? Glaubt Jaspers ernstlich, man brauche nur die Räte schalten und walten zu lassen, dann werde sich trotz der Einseitigkeit ihrer Zusammensetzung und trotz ihres-theoretischen Dilettantismus schon der rechte Weg des „lieben Gottes in der Geschichte" zeigen? Ist es nicht vielmehr so, daß Zustandekommen und Zusammensetzung dieser Räte den totalitären Drahtziehern erst Ansatzpunkte liefern, wie sie besser gar nicht erhofft werden können? Diese von Jaspers vorgeschlagenen „Räte" sind eben gerade das weiche Wachs, das der starke plebiszitäre Präsident mit Hilfe von Volksbegehren und Volksentscheid nach Entmachtung von Bundestag und demokratischen Parteien am leichtesten kneten könnte. Wo treibt uns also Karl Jaspers hin, wohin möchte er uns zumindest treiben? Ich glaube, aus dem Dargelegten ergibt sich eine bedeutsame Antwort: Entmachtung des Bundestages, Entmachtung von CDU/CSU, SPD und FDP. Das Volk als amorphe Masse aus im Grunde genommen politisch Unerfahrenen soll sich nach Aushöhlung des Grundgesetzes von einem an die Macht gekommenen plebiszitären Staatsmann führen lassen. Ihm soll das ganze Vertrauen und die ganze Macht zustehen Wie aber der Satz Max Webers: „Dann aber prüfen wir, ob Du es recht gemacht hast, und wenn nicht, dann an den Galgen mit Dir!" verwirklicht werden soll, wenn dieser Staatsmann einmal diese Machtfülle mißbraucht, darüber sagt Jaspers nichts.

Marcuse ergänzt Jaspers'Aufruf zur Anarchie

Karl Jaspers blieb nicht der einzige Wegweiser. Er erhielt im geeigneten Augenblick unverhoffte Unterstützung. Herbert Marcuse hat die Jaspersschen Gedankengänge der Linken akzeptabel gemacht. Er griff zunächst dessen Argument auf, daß eine unehrliche Establishment-Demokratie in Deutschland alle gesunden Keime ersticke. Auch er fordert Umkehr. Sie soll jedoch nicht nur durch Selbstbesinnung und größere Wahrhaftigkeit, sondern durch Abkehr von der Toleranz und Hinwendung zur Aggression vollzogen werden. Nach Marcuse braucht das parlamentarische System, in dem er nur eine Zwangsjacke sieht, überhaupt nicht toleriert zu werden. Anarchie sei für die Gesellschaft viel gesünder, weil sie neue Möglichkeiten schaffe. Da die pluralistische Gesellschaft keine Wendung zum Fortschritt zulasse, müsse sie gewaltsam beseitigt werden. Was nachher kommt, spricht Marcuse nicht aus. Doch die Konsequenzen seiner Theorie beginnen sich bereits abzuzeichnen Die Anarchie, die er empfiehlt, soll durch Ablehnung der Leistungsgesellschaft, durch Entfesselung der „Libido", durch den radikalen Bruch mit allen Konventionen, die der hemmungslosen Lustbefriedigung im Wege stehen, verwirklicht werden. Ordnung und Kultur sind nicht wichtig.

Wie gelangt Marcuse zu so paradoxen Schlüssen, die weder von seiner linkshegelianischen Ausgangsstellung noch von seinem Ansatzpunkt in der Aufklärung der vorkantischen Epoche und in den Frühschriften von Karl Marx zu erwarten wären? Marcuse begreift, daß der „ökonomische Mensch" des Marxismus darum eine Fiktion ist, die der Realität des Lebens entbehrt — nicht weniger als der ökonomische Mensch des Manchester-Liberalismus —, weil sowohl Kapitalismus als Marxismus den psychologischen Faktor viel zu niedrig einschätzten. Diese Einseitigkeit versucht Marcuse auszugleichen, indem er den Marxismus durch eine eigene Freud-Interpretation ergänzt.

Für ihn bedeutet die Massengesellschaft wegen des Aufkommens irrationaler Kräfte Regression, also Rückschritt zur Barbarei. Die Massen bestimmen die Politik der Führung, und die Mobilisierung der Massen bedeutet „autoritäre Herrschaft in demokratischer Form". In diesem Punkt sind Marcuse und Jaspers einig. Wie Jaspers unterscheidet auch er scharf zwischen irrationaler Masse und rationalem Volk. In den Konventionen, die die Moral beherrschen, sieht er internalisierte Herrschaft, Repression auf Grund der versteinerten politischen Struktur und Eigentumsverhältnisse. Die Konventionen beherrschen vor allem die Sexualmoral.

Wie jeder Student der Soziologie aber weiß, machen es sich diejenigen, die die Konventionen der Moral mit denen der Sexualmoral gleichsetzen, viel zu einfach. Die Konventionen bestimmen den größten Teil des sozialen Handelns: Sie greifen in das Leben von Gesellschaft und Gemeinschaft viel umfassender ein als die staatlichen Gesetze, deren Sanktionen stets einen äußerlichen und ausnahmsweisen Charakter tragen. Eine Gesellschaft, deren Ordnung von Konventionen unabhängig und nur von Richtern und Polizei abhängig wäre, würde binnen weniger Tage zusammenbrechen. Selbst auf dem Gebiet der Sexualmoral würde die Abschaffung aller Konventionen nicht nur den Garten der Lüste, sondern auch den Ausbruch der Hölle der physischen Gewalttätigkeit aller gegen alle, das Reich des unbeschränkten Terrors Wirklichkeit werden lassen. Denn die physischen Repressionen sind ja — wie Sigmund Freud nur zu gut wußte — mit denen der aggressiven Triebe aufs engste verbunden.

Marcuse greift jedoch lediglich jene Freud-sehen Theorien auf, die in sein Konzept passen. Die konkreten staatspolitischen Folgen berühren ihn nicht. Die Verantwortung für diese Folgen seiner Theorien lehnt er rundweg ab.

Widersprüchlicherweise verlangt Marcuse den Bruch mit den „rationalen" Konventionen, mithin der stabilisierten Herrschaft, um die Möglichkeit für eine repressionsfreie Welt, d. h. eine Welt ohne Lebensnot (Ananke) zu ermöglichen. Damit öffnet er gerade dem Irrationalismus die Tür. Er macht sich keine Gedanken darüber, was an die Stelle der Konventionen treten soll. Demokratie und Zivilisation, die Marcuse ablehnt, können sich seiner Meinung nach nur noch halten, wenn die Regierungen Bereitschaft und Fähigkeit entwickeln, Angriffsimpulsen „von unten" zu widerstehen. Daher verurteilt er diesen Widerstand.

Die Analogie mit der Haltung Jaspers’ heute und in den dreißiger Jahren bietet sich an. Einerseits die Ermutigung zur Anarchie, andererseits der Ruf nach der Elite, die allein die Freiheit gegen die Bedrohung durch die Massengesellschaft retten kann. Wenn aber Repression durch Bruch mit den Konventionen aufhören sollte und die drohende Technisierung des menschlichen Daseins durch schrankenlose Befriedigung aller Gelüste abgewendet scheint, wird dann nicht gerade erst der totalitäre Herrscher herbeigerufen? Schon Platon wußte, daß das Übermaß von Freiheit, also die anarchische Demokratie, in ein Über-maß von Knechtschaft führt, da in jeder Gesellschaft eine Tendenz zum Ausgleich von Autorität und Freiheit besteht. Die Freisetzung der Leidenschaft macht ein größeres Maß politischer Autorität erforderlich. Die Gewalt ist, so schon Hobbes, die einzige Sprache, die die Leidenschaften verstehen. Bei einer Konferenz in St. Hilda's College, Oxford, sagte Karl Mannheim im Jahre 1939: „Das große Ausmaß politischer Freiheit in England ist eine Folge der noch vorherrschenden strikten Konventionen". Georg Simmel wußte, „wie sehr der Mensch einer bestimmten Proportion zwischen Freiheit und Gesetz bedarf und sich, wo die Maßbestimmung beider ihm nicht aus einer Quelle kommt, das gegebene Quantum der einen durch ein aus irgendeiner anderen Quelle beschafftes Quantum der anderen zu ergänzen strebt, bis jene Proportion erreicht ist" Da nun Marcuse den Menschen manche der wichtigsten ethischen Bindungen nehmen will, liegt es auf der Hand, daß der einzige Herrscher, der eine derart aus den Fugen geratene Gesellschaft regieren könnte, nur totalitär sein kann. Wir befänden uns dann wieder im Naturzustand des Thomas Hobbes, in dem jeder seinen Leidenschaften frönen will und diese in rücksichtslosem Kampf gegen andere, ebenfalls zügellose Individuen, durchsetzt. Auch das Ende wäre dasselbe wie bei Hobbes: In einer Gesellschaft von Raubtieren muß das größte und ärgste Raubtier König sein.

Wie gelangt Marcuse, der seinerzeit aus Deutschland emigrierte, zu seiner aggressiven Haltung gegenüber der bundesdeutschen Demokratie? Die Antwort ist nicht schwer. Er hat sich seit 1933 genausowenig gewandelt wie Jaspers und genau wie dieser lebt er noch in der Zeit vor 1933. Trotz seiner Hinwendung zum Anarchismus glaubt er, seiner ursprünglichen marxistischen Einstellung treu geblieben zu sein. Wenig kümmert ihn die Marxismus-Kritik, die in der Zwischenzeit — besonders in seiner Wahlheimat Amerika — den metaphysischen Charakter der marxistischen Dialektik aufgezeigt hat. Da für Marcuse der Nationalsozialismus nur eine cäsarische Erscheinungsform der kapitalistischen Industrialisierung ist kann er im hochindustrialisierten Deutschland in teilweiser Anlehnung an Max Weber nur „den Scheincharakter der modernen Massendemokratie mit ihrer angeblichen Abgleichung und Ausgleichung der Klassengegensätze" sehen. „Die Ordnung, der man sich unterwirft", ist für Marcuse die „erschreckend rational, d. h. die für den Einzelnen nicht mehr übersehbare und faßbare Welt der Waren und Leistungen", die „so tüchtig verwaltet und zu berechenbarer Verfügung gestellt" wird.

Wir sehen, auch Marcuse schreckt das Gespenst „moderne Massengesellschaft". Es handelt sich nur um eine andere Form des deutschen Kulturpessimismus. Zudem ist der Autor von der amerikanischen extremen Form der Leistungsgesellschaft und ihrer Absage an die Prophezeiungen von Marx und Engels zutiefst enttäuscht. Der „affluent Society", „der Wohlstandsgesellschaft", gilt sein Zorn, weil sie die Marx-Engelsche Prognose der zunehmenden Gegensätze zwischen Monopolkapitalismus und Proletariat und die Hoffnung auf Revolution Lügen strafte. Deswegen muß er den Klassenkampf international umstrukturieren und spricht daher vom menschlichen Elend und der methodischen Grausamkeit außerhalb der amerikanischen Grenzen. Ob man aber im Gegensatz zwischen Industrie und Entwicklungsländern einen Klassenkampf im marxistischen Sinne sehen kann, ist mehr als zweifelhaft. Er scheint sich hier der leichtfertig tröstenden Ausrede vieler befreiter Kolonialländer zu bedienen, die die früheren Kolonialmächte für das Nichteintreten des versprochenen Milleniums der nationalen Unabhängigkeit verantwortlich machen, unter anderem auch für die in Rotchina absichtlich aus imperialistischen Motiven geförderte Bevölkerungsexplosion. Im Fernen Osten und in Lateinamerika sollte Marcuse mit viel größerer Berechtigung als im Westen die Antibabypille propagieren. Auch verschweigt er hier systematisch die Rolle der Vereinigten Staaten als Förderer der Befreiung vom Kolonialismus und als Finanzspender der Dritten Welt, obwohl eine Kritik des Verhaltens der USA gegenüber ihrer eigenen Negerminderheit viel berechtigter wäre.

Die lange Kette der Widersprüche

Zu Recht ist bemerkt worden, daß in den Angriffen Jaspers'auf die Demokratie eine große Zahl von Widersprüchlichkeiten zu finden ist. Im Namen der Freiheit untergraben sie deren Fundamente. Im Namen der Demokratie zerstören sie den demokratischen Bau. Einerseits spricht Jaspers wie Wilhelm II. von der gelben Gefahr, fordert sogar zum Präventivkrieg gegen Rotchina auf, andererseits aber trägt er dazu bei, den Maoismus direkt in die Bundesrepublik zu bringen Einerseits spricht Jaspers davon, daß die Ordnung der Institutionen eine rein äußerliche sei, um dann aber selber eine ganze Reihe von undurchdachten institutionellen Vorschlägen anzubieten Einerseits lehnt er die Notstandsgesetze in Bausch und Bogen ab, weil ein „äußerer Notstand" im atomaren Krieg sowieso gesetzlich nicht geregelt werden könne, tritt aber andererseits für eine mit konventionellen Waffen ausgerüstete Bundeswehr ein, räumt also ein, daß es doch den Kriegszustand geben könnte, der natürlich ein äußerer Notstand wäre

Es sind zum Teil eben diese Widersprüchlichkeiten, durch die Jaspers sowohl den rechten als auch den linken antidemokratischen Kräften Schützenhilfe gewährt. Zu Recht meint Eppler, „daß einige Stellen seines Buches — aus dem Zusammenhang gerissen — im . Neuen Deutschland', andere in der rechtsradikalen Presse abgedruckt werden können" In der Tat, hier werden leichtfertig die im deutschen Bürgertum verbreiteten antidemokratischen Vorurteile hochgespielt. Wenn Eppler fragt: „Wie vergiftet muß die politi-sehe Atmosphäre eines Landes sein, in dem ein solches Buch zum Bestseller wird?", muß ihm geantwortet werden, daß die politische Atmosphäre vor allem durch die politischen Bücher von Jaspers vergiftet wurde. Es ist doch eine altbewährte Technik, daß unter dem Vorwand der Kritik zunächst ein Popanz aufgebaut wird, der diese Kritik dann erst rechtfertigen soll. Das geschah schon einmal in der Weimarer Zeit und geschieht heute wieder.

Auch die außenpolitischen Vorschläge Jaspers'stellen eine einzige Kette von Widersprüchen dar. Einerseits rät er der Bundesrepublik, in jeder Hinsicht den USA als Führungsmacht des Westens zu vertrauen, andererseits möchte er, daß wir die Sowjetunion und den Ostblock durch die Anerkennung der DDR und der Oder-Neiße-Linie zufriedenstellen. Aber wenn er zugleich fordert, wir dürften nie die Berliner Mauer anerkennen, vollzieht er einen merkwürdigen politischen Sprung. Von einer Politik der kleinen und mittleren Schritte hält er nichts. Glaubt er, daß eine Bundesrepublik, die der Sowjetunion und Ulbricht jeden Wunsch von den Augen ablesen und erfüllen würde, von den USA noch als verläßlicher Partner angesehen werden würde? Was veranlaßt Jaspers zu der Annahme, die Sowjetunion, Polen und die DDR würden der Bundesrepublik dann keine weiteren Forderungen mehr stellen? Bleibt nicht der Sieg des Kommunismus über ganz Deutschland oder zumindest unsere Neutralisierung das Endziel, und wie verträgt sich das mit unserer Partnerschaft mit den USA, die er so beredt befürwortet? Jedenfalls denkt hier der Philosoph viel schneller, als der Außenpolitiker ihm folgen kann.

Sollten noch Zweifel bestehen, welcher konkreten politischen Richtung die Vorschläge von Jaspers zum Vorteil gereichen, kann sie der Chefideologe der NPD, Professor Dr. Anrieh, beheben. Vor dem Karlsruher Parteitag der NPD hielt Anrich ein Grundsatzreferat, das vom Parteiorgan „Deutsche Nachrichten" als geistige Basis der jungen Partei bezeichnet wurde. Aus einem einzigen kleinen Wort geht schon hervor, daß das Bonner Grundgesetz abgelehnt wird, nämlich aus dem Wort „Volksdemokratie", die unser parlamentarisches System ersetzen soll. Ist diese Anleihe bei Ulbricht ein Zufall? Warum dieser Pleonasmus, denn Demokratie bedeutet schon an und für sich Volksherrschaft. Allerdings sprach auch Nasser von einer Präsidialdemokratie, Sukarno von einer gelenkten, Franco von einer organischen und der verstorbene Diktator der Dominikanischen Republik, Trujillo, von einer selektiven Demokratie — warum sollten also Ulbricht und Anrich nicht gemeinsam von einer Volksdemokratie sprechen?

Mit allen Kritikern der Demokratie — inklusive Jaspers — verlangt Anrich die Wiedereinführung des Volksbegehrens und des Volksentscheids und die Stärkung der Stellung des Staatsoberhaupts.

Aus welchem Grunde soll der Bundespräsident eine stärkere Stellung erhalten? Damit er der Ganzheit Handlungsfähigkeit geben könne, wenn unklare Mehrheitsverhältnisse dem Parlament ein Handeln nicht ermöglichen sollten. Wegen der regelmäßigen Präsidentschaftswahlen bestehe — so Anrich — keine Gefahr einer Diktatur.

Damit aber unklare Mehrheitsverhältnisse den übermächtig gewordenen Präsidenten zum Eingreifen legitimieren können, muß erst das konstruktive Mißtrauensvotum gegen den Bundeskanzler gemäß Artikel 67 des Grundgesetzes abgeschafft werden. Dieser Artikel wurde bekanntlich von den Vätern des Bonner Grundgesetzes eingeführt, um eine Diskreditierung der Demokratie durch mangelnde Stabilität der Exekutive und ständigen Regierungswechsel — wie in der ersten deutschen Republik — zu verhindern. Auch hier geht Anrich mit Jaspers konform. Denn erst, wenn die durch Artikel 67 garantierte Stabilität der Exekutive in Form der Kanzlerdemokratie wegfällt, könnte unser Parlamentarismus genügend diskreditiert werden, um das Eingreifen des starken, etwa mit einem Notverordnungsrecht ausgestatteten Präsidenten als deus ex machina zu rechtfertigen.

Auch Anrich schließt sich dem Ruf nach dem Technokraten, dem überparteilichen Fachmann, an. Er möchte entweder die zweite Kammer, nämlich den Bundesrat, durch eine Ständekammer ersetzen oder diese als dritte Kammer unserem parlamentarischen System hinzufügen. Er fordert für die Formulierung und Fortbildung des normalen Rechts eine Vertretungskörperschaft von Fachleuten und anderen achtbaren Honoratioren, die für alle vom Bundestag zu beschließenden Gesetzesvorlagen die Vorentscheidung treffen sollen. Es handelt sich demnach um eine Ständekammer etwa im Sinne von Mussolinis Korporationen, die gleiche Rechte wie der gewählte Bundestag hätte, obgleich sie doch selbst, wenigstens zum Teil, eine nicht gewählte, sondern ernannte Körperschaft ist. Die Beantwortung der Frage, wer für ein bestimmtes Gebiet Fachmann ist, liegt häufig nur im Ermessen der nominierenden Autorität.

Hier haben wir wieder den Ständestaat von Othmar Spann, aber auch das „wohlberatene Volk", wie es sich Jaspers vorstellt.

Die Frage der Wahlrechtsreform

Eine Stärkung der parlamentarischen Regierung kann vor allem von einer Reform des Wahlrechts erwartet werden. Dann erst würden Koalitionen überflüssig. Die demokratische Autorität würde durch die Existenz starker Regierungs-und Oppositionsparteien ungeheuer gestärkt. Die von den Wählern bevorzugte Partei ist allein in der Lage, eine stabile, aktionsfähige und homogene Regierung zu bilden. Die Opposition steht der Regierung mit einem Schattenkabinett gegenüber. Der mit der Regierung unzufriedene Wähler weiß damit genau, welche Persönlichkeiten er in die Regierung bringt, wenn er der Opposition seine Stimme gibt. Die Entscheidung darüber, welche Partei nach den Wahlen die Regierung bilden soll, liegt nunmehr allein beim Wähler und nicht mehr in erster Linie bei den Partei-apparaten. Deshalb kann nur eine Wahlrechts-reform Tendenzen zur Parteioligarchie beseitigen. Aber gerade diesen Weg zur Stärkung möchte Jaspers der deutschen Demokratie verwehren, weil ihn seine Philosophie dazu zwingt, die politische Anarchie zu befürworten. Der Wechselwähler, der einmal für die Regierung und dann für die Opposition stimmt, ist für Jaspers anscheinend immer noch der „Gesinnungslump". Der deutsche Wähler hat die Neigung, sich dieser Verantwortung zu entziehen. Er wählt gern eine kleine Partei, wenn er seinem Unmut Luft machen will. Er will nur ja nicht am Kanzler-sturz— früher hätte man gesagt Königs-sturz — beteiligt sein. In tausend Jahren deutscher Kaiserreiche wurde nur ein einziger König ermordet, nämlich Albrecht L, und dieser fiel einem Familienstreit zum Opfer. Ein Psychologe würde sagen, der Deutsche, der für eine neue Regierung stimmt, begeht im Unterbewußtsein Vatermord. Wenn er für eine kleine Partei stimmt, kann er einerseits protestieren, andererseits den Kanzler in seinem Amt belassen. Das eben wird das Mehrheitswahlrecht verhindern. Es bietet den Wählern klare Alternativen und fordert sie auf: hier müßt ihr euch entscheiden, entweder ihr wollt Bundeskanzler A mit Außenminister B, Finanzminister C, Innenminister D usw. oder aber Bundeskanzler L mit Außenminister M usw.

Eine funktionsgerechte Demokratie

Diese Umstrukturierung der demokratischen Willensbildung würde die Krisenanfälligkeit vermindern. Radikale Parteien könnten sich nicht so leicht entwickeln. Aber Jaspers wünscht den Radikalismus, da er die Politik als Kampf sieht.

Jaspers hat unrecht, wenn er behauptet, Schwäche sei ein charakteristisches Merkmal der Demokratie. Die Kulturpessimisten, die im Gefolge von Oswald Spengler von der Degeneration des demokratischen Abendlandes sprachen, haben sich als falsche Propheten erwiesen. Eine richtig verstandene Demokratie ist, wie gesagt, die stärkste Regierungsform der Welt, weil sie sich auf den Konsens aller Staatsbürger stützt. Wenn aber das Kabinett schwach ist, und es muß schwach sein im Falle von Koalitionen und Minderheitsregierungen, die zum Verhältniswahlrecht gehören wie das Alpha zum Omega, dann erst erschallt der Ruf nach dem starken Staatsoberhaupt, dem Führer, der leimen soll, was das Verhältniswahl-recht zerbrochen hat.

Die Väter der Weimarer Verfassung hatten ursprünglich einen Reichspräsidenten vorgesehen, der nicht mehr Macht haben sollte als der englische König. Weitblickende Denker, wie der Liberale Naumann, hatten sich für die Einführung der relativen Mehrheitswahl eingesetzt, die zwar nicht im Interesse von Naumanns Partei, aber des deutschen Volkes gewesen wäre. Als jedoch Max Weber und Hugo Preuß, die beide ebenfalls aus der liberalen Bewegung hervorgegangen waren, die Vorliebe des Reichstages für das Proporzsystem erkannten, erklärten sie sich für einen starken Reichspräsidenten. Das ist der unglückselige Ursprung des Notstandsparagraphen des Artikels 48 der Reichsverfassung. Durch die Diktaturgewalt des Reichspräsidenten wurde der Weimarer Republik schon in ihrer Geburtsstunde einer der Krankheitskeime eingepflanzt, denen sie 14 Jahre später erlag. Aber diesen Bazillus wünschen uns Jaspers und seine rechten und linken Bundesgenossen erneut.

Was Jaspers als zunehmende Angleichung der großen politischen Parteien rügt, erweist sich letzten Endes als positiver Beitrag zur demokratischen Einheit. Eine demokratische Wahl ist kein Glaubensbekenntnis, sie soll ein funktionsfähiges Parlament und eine funktionsfähige Regierung zustande bringen. Wer glaubt, die Interessen des Volkes würden durch eine Vielzahl von Sektierergruppen geschützt, weil erst dadurch Minderheiten zu Worte kommen könnten, fürchtet insgeheim, daß das Volk für die Selbstverantwortung noch nicht reif sei. In der Tat ist die Tolerierung einer Opposition der am schwersten zu meisternde Lehrstoff der Demokratie. Eine tolerante Einstellung entwickelt sich nicht durch eine Vielheit von sich gegenseitig bis aufs Messer befehdenden Parteien, sondern im Gegenteil durch ein möglichst breites Spektrum unterschiedlicher Auffassungen innerhalb der großen Parteien. Schon Anfang dieses Jahrhunderts hatte der englische Staats-Wissenschaftler Bryce die Gründe für den Konsens in der amerikanischen Demokratie dargestellt. Da es zwischen den zwei großen Parteien, nämlich der republikanischen und der demokratischen, zahlreiche Berührungspunkte gibt, da bei den Republikanern mehr Geschäftsleute, bei den Demokraten weniger, aber auch Geschäftsleute zu finden sind, da die demokratische Partei mehr Arbeiter aufweist, die republikanische aber ebenfalls Arbeiter zu ihren Mitgliedern zählt, sind beide Parteien kompromißbereiter. Es kann sich zwischen ihnen keine unüberbrückbare weltanschauliche Kluft auftun, die dann zu einer Staatskrise führt: „Wir haben alle zugestimmt, übereinzustimmen." Gerade durch diesen Fundamental-konsens garantiert die Demokratie die nationale Einheit. Nur so kann die gegenseitige

Tolerenz gedeihen und das Leben und Leben-lassen gesichert werden.

Es muß demnach eine große Partei geben, deren Aufgabe es ist, dafür zu sorgen, daß der soziale, kulturelle und politische Fortschritt niemals ins Stocken gerät. Es muß eine andere große politische Partei geben, die darauf achtet, daß dieser Fortschritt nicht überstürzt wird. Zu Recht meint Wiesner „Eine strukturelle Gesundung unserer Demokratie, gesichert durch ein institutionell verankertes Zweiparteiensystem (in dem dann die Fülle der Sozial-kräfte ihrerseits integriert wäre), würde, wie uns die empirische Betrachtung des Westminster-Modells lehrt, auch alle jene Forderungen erfüllen helfen, die Jaspers für die Bundesrepublik aufstellt."

Die realen Alternativen: Demokratie oder Totalitarismus

Solange die Lehren Jaspers’ auf Vorlesungsund Seminarraum beschränkt blieben, konnten sie trotz ihrer Einseitigkeit den ihnen gebührenden Anspruch als wertvolle Beiträge zum menschlichen Denken erheben. Jetzt, da sie mit Hilfe der Massenmedien das antidemokratische Denken in der Bundesrepublik machtvoll gefördert haben, stellt sich die Frage: Wie sieht die Alternative aus, die hier angeboten wird? In Übereinstimmung mit dem englischen Historiker und Staatsphilosophen Sir Ernest Barker habe ich an anderer Stelle die Möglichkeit einer Trennung des Liberalismus von der Demokratie ausgeschlossen Wenn der Mehrheitsgedanke die quantitative Seite der Demokratie darstellt, so vertritt der Liberalismus die qualitative Seite der Würde und des Rechts des einzelnen. „Freiheit im herkömmlichen Sinne bedeutet daher vor allem das Recht des Menschen, das Edelste und wahrhaft Menschliche in sich selbst zu entwikkeln und zu vervollkommnen." Freiheit ist in einer absolut egalitären Gesellschaft, die keine hierarchischen Zwischenstrukturen kennt — die von den Feinden der Demokratie als Parteienoligarchie oder Establishment abgewertet werden —, undenkbar. Eine absolute Gleichheit gibt es nur dort, wo der Einzelherrscher totalitär regiert. Alle Regierungsformen müssen zugrunde gehen, die die ihnen inhärenten Prinzipien ins Maßlose steigern. Die Demokratie geht an einem Übermaß von Freiheit und Toleranz zugrunde, sobald diese zur Anarchie führen, weil eben dann der Zusammenbruch aller staatlichen und sozialen Ordnung in das Gegenteil der Freiheit ausschlägt. Die Demokratie erliegt ebenfalls einem Übermaß an Gleichheit, weil deren Exzeß ein Übermaß der Reglementierung und demnach den Verlust aller Freiheit nach sich zieht.

Wie bereits erwähnt, möchte Jaspers die wichtigsten der im Grundgesetz eingebauten institutioneilen Sicherungen der rationalen Freiheit abschaffen. Er will einerseits durch die Einführung des Rätesystems dem Volke eine anarchische Freiheit, andererseits dem Staatsoberhaupt eine autokratische Gewalt zubilligen. Das Ergebnis seiner Vorstellungen liegt erschreckend nahe. Wenn die Parteien und damit das Parlament entmachtet sind, das Volk anarchisch desorganisiert ist, dann bleibt nur der cäsaristische Staatspräsident, der mit den Mitteln des Plebiszits sich zum absoluten Herrscher macht. Dann werden auch die Jaspersschen Eliten genausowenig vermögen wie etwa Othmar Spann, Carl Schmitt, die Gebrüder Jünger, Edgar Jung und, last not least, Karl Jaspers selbst im Dritten Reich auszurichten vermochten.

Obwohl die tradierten elitären Vorstellungen zum großen Teil auf Platon zurückgehen, verdanken wir ihm dennoch die hervorragendste Darstellung der anarchischen Degeneration des Verfassungsstaates und des daraus folgenden Sieges der Tyrannei. Die Begierden, meint Platon, bemächtigen sich der Seele des Jünglings, „wenn sie merken, daß ihr die richtigen Verteidiger fehlen, nämlich gute Kenntnisse, edle Bestrebungen und vernunftgemäße Grundsätze"

Die Zerstörung der Familie und der Vernunft führt dann logischerweise zur Zerstörung des Verfassungsstaates. Es ist nunmehr nicht nur die Jugend, es sind die Staatsbürger, die die staatliche Ordnung als solche ablehnen: . .denn schließlich, das weißt du ja, schwindet bei ihnen auch jede Achtung vor den Gesetzen, gleichviel ob geschrieben oder ungeschrieben, damit sie ja keinen Gebieter, in welchem Sinne es auch sei, über sich haben."

Das sind nach Platon die Anfänge, aus denen die Tyrannis hervorgeht. Die schrankenlose Freiheit wird zur Anarchie und führt zur Verknechtung des Staatswesens. Das Übermaß an Freiheit führt zum Übermaß an Knechtschaft. Die Politiker werden systematisch als Oligarchen verleumdet. Redegewandte Demagogen rufen zum Aufruhr gegen die Verfassungsordnung und ihre legalen Vertreter auf. Der Demagoge — heute würde er plebiszitärer Führer heißen — gibt schließlich vor, bedroht zu sein und fordert die Aufstellung einer Leibwache. Es ist gleichgültig, wie diese Wache genannt wird. Sie hieß einmal Freikorps, dann Stahlhelm, SA und SS, Rotfrontkämpferbund, Arbeitermiliz oder Rollkommando. Es ist stets der gleiche Vorgang. Es ist der tödliche Stoß gegen den demokratischen Verfassungsstaat.

Es ist einfach unentschuldbar, wenn ein Philosoph, der die höchste Pflicht zur Wahrhaftigkeit hat, nicht zugibt, daß seine Lehren zur Katastrophe führen müssen.

Jaspers hat sich in ein Netz von Widersprüchen verwickelt! Wir appellieren an seine Redlichkeit, dieses Netz zu zerreißen! Er kann nicht die Freiheit des Volkes wollen und fördern und zugleich die Institutionen und Schutz-wälle der Demokratie systematisch untergraben und einreißen. Wer das bisher erfolgreichste demokratische Experiment in Deutschland durch seine maßlos übertriebenen Beschuldigungen diskreditiert hat, wer der Anarchie das Wort redet, wer die Freunde der Demokratie der Verachtung preisgibt und ihre Feinde lobt, muß sich solche Vorwürfe gefallen lassen. Es geht hier gar nicht um den Mann und Gelehrten Karl Jaspers, sondern um den Effekt seiner politischen Schriften. Wir wissen jetzt, wer die Bundesrepublik wohin treibt — es ist die unheilige Allianz von Rechts-und Linksradikalismus, die sie in das Chaos der Anarchie und in die totalitäre Diktatur treiben. Wir haben auch die geistigen Lotsen genannt, die den Kurs gesetzt haben, aber die Verantwortung ablehnen: Caveant Consules! Wachsamkeit, Entschlußkraft, Konsequenz, Geschick und Elastizität im Einsatz für die Demokratie sind geboten.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Karl Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik?, München 1966.

  2. Wohin treiben wir? Weltuntergangs-Stimmung, in: Die Tat Nr. 23/1931, S. 329— 354.

  3. Ebda., S. 354.

  4. Ebda., S. 339.

  5. Ebda., S. 329.

  6. Ebda., S. 354.

  7. Kurt Sontheimer, Menetekel über die Bundesrepublik, in: Der Monat.

  8. A. a. O.

  9. A. a. O. S. 345.

  10. Hans Zehrer, Das Ende der Parteien. Zusammenbruch der liberalistischen Formen, in: Die Tat, April 1932, S. 68.

  11. Daß die bundesrepublikanische Verfassungswirklichkeit Schwächen hat, wird hier nicht bezweifelt.

  12. Karl Jaspers, Antwort. Zur Kritik meiner Schrift Wohin treibt die Bundesrepublik?, München 1967, S. 118 ff.

  13. Ebda, S. 86 ff.

  14. Ebda, S. 120 ff.

  15. Ebda, S. 121.

  16. Ebda, S. 122.

  17. Jaspers, Antwort, S. 114.

  18. Ebda., S. 113 f.; Hervorhebung durch Kursivsatz vom Vers, dieses Beitrages.

  19. Ebda, S. 114; Hervorhebung durch den Vers.

  20. Jaspers, Antwort, S. 126.

  21. Ebda, S. 126 f.

  22. Carl Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes, Hamburg 1938.

  23. Philip Selznik, Organizational Waepon, A Study of Bolshevik Strategy and Tactics, New York— Toronto—London 1952.

  24. Jaspers, Antwort, S. 120.

  25. Ebda.

  26. Ebda, S. 121.

  27. Ebda, S. 122.

  28. Jose Ortega y Gasset, Der Aufstand der Massen, Hamburg 1931, S. 7.

  29. Karl Jaspers, Die geistige Situation der Zeit, Berlin—Leipzig 1933, S. 28.

  30. Ebda, S. 31 f.

  31. Gasset, a. a. O., S. 49 ff.

  32. Ebda, S. 59.

  33. Jaspers, Die geistige Situation, S. 68.

  34. Ebda, S. 39.

  35. Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik?, S. 112 ff.

  36. Vermutlich, weil Churchill und Roosevelt als aristokratische Führer der englischen und amerikanischen Demokratien doch noch seinen Vorstellungen entsprechen (Antwort, S. 28 ff.).

  37. Max Weber, Politik als Beruf, in: Gesammelte politische Schriften, Tübingen 1958, S. 539.

  38. A. a. O„ S. 539.

  39. Ebda.

  40. Ebda, S. 547.

  41. Ebda, S. 548.

  42. Theodor Eschenburg, Uber Autorität, Frankfurt/Main 1965, S. 168.

  43. Ebda, S. 168.

  44. Jaspers, Antwort, S. 129.

  45. Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik?, S. 133.

  46. Ernst Forsthoff, Strukturwandlungen der modernen Demokratie, Berlin 1964.

  47. Ebda, S. 10.

  48. Ebda, S. 10.

  49. Ebda, S. 11.

  50. Ebda, S. 11.

  51. Ebda, S. 11.

  52. Ebda, S. 12.

  53. Werner Weber, Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem, Stuttgart 1951, S. 19.

  54. Ebda, S. 20.

  55. Ebda, S. 20.

  56. Ebda, S. 23.

  57. Ebda, S. 23.

  58. Carl Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes, Hamburg 1938.

  59. Armin Mohler, Die Fünfte Republik, Was steht hinter de Gaulle?, München 1963, S. 18 ff.

  60. Ebda, S. 33.

  61. Ebda, S. 77.

  62. Ebda, S. 78.

  63. Armin Mohler, Was die Deutschen fürchten, Stuttgart-Degerloch 1965.

  64. Ebda, S. 141 ff.

  65. Ehrhard Eppler, Wohin treibt Karl Jaspers?, in: Die Zeit, 22. 7. 1966.

  66. Fritz Rene Allemann, Der Philosoph und die Bundesrepublik, in: Merkur, XX. Jahrgang, Heft 10, Köln—Berlin 1966, S. 976— 985.

  67. Joachim Wiesner, Jaspers und die deutsche Verfassungswirklichkeit. Jahrbuch für Verfassung und Verfassungswirklichkeit, Köln—Opladen 1966, S. 298— 317.

  68. Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik?, S. 135.

  69. Jaspers Antwort, S. 70.

  70. Herbert Marcuse, Kultur und Gesellschaft, Frankfurt 1965.

  71. Georg Simmel, Soziologie, München—Leipzig 1923, S. 292 f.

  72. Herbert Marcuse, a. a. O., S. 115.

  73. Ebda, S. 123.

  74. Ebda, S. 124.

  75. Erhard Eppler, a. a. O.

  76. Fritz Rene Allemann, Der Philosoph und die Bundesrepublik, a. a. O., S. 977.

  77. Ebda, S. 977 ff.

  78. Erhard Eppler, a. a. O.

  79. Joachim Wiesner, a. a. O., S. 312.

  80. Karl J. Newman, Zerstörung und Selbstzerstörung der Demokratie, Köln 1965, S. 280 ff.

  81. Platon, Der Staat, übersetzt von Otto Apelt, Hamburg 1961, S. 335.

  82. Ebda, S. 340.

Weitere Inhalte

Karl J. Newman, Dr. jur., Dr. phil., Professor für politische Wissenschaften an der Universität Köln, geb. 9. Juli 1913 in Hohenelbe/Böhmen, 1939 aus politischen Gründen nach England emigriert, Schüler von K. Mannheim und A. D. Lindsay, Lehrtätigkeit an den Universitäten Oxford, London und Natal/Südafrika, 1950— 1961 Ordinarius für politische Wissenschaften an der Universität Dacca/Pakistan, Mitarbeit an der pakistanischen Verfassung, 1958/59 Gastprofessor an der Columbia-Universität/New York. Veröffentlichungen u. a.: Essays from Pakistan, 1953; Essays on the Constitution of Pakistan, 1956; Entwicklungsdiktatur und Verfassungsstaat, 1963; Zerstörung und Selbstzerstörung der Demokratie 1918— 1939, 1965.