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Die November-Revolution 1918 im Erleben und Urteil der Zeitgenossen | APuZ 45/1968 | bpb.de

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APuZ 45/1968 Die November-Revolution 1918 im Erleben und Urteil der Zeitgenossen

Die November-Revolution 1918 im Erleben und Urteil der Zeitgenossen

Susanne Miller Gerhard A. Ritter

Einleitung

Abbildung 1

Charakter, Bedeutung und historische Einordnung der deutschen Novemberrevolution sind bis heute umstritten. Es fehlte nicht an Ursachen und Symptomen eines radikalen Um-bruchs: der militärische Zusammenbruch des Kaiserreichs; der Widerstand gegen die Fortsetzung des Krieges; die unerwartet harten Waflenstillstandsbedingungen der Siegermächte-, die Absetzung der herrschenden Dynastien und deren widerstandslose Abdankung; die Übernahme der Staatsgewalt im Reich und in den Bundesstaaten durch vorwiegend sozialdemokratische „Volksregierungen" und deren weitreichende sozialpolitische Maßnahmen; die spontane Bildung von Arbeiter-und Soldatenräten im ganzen Reichsgebiet; eine bis dahin in Deutschland unbekannte Leidenschaftlichkeit in der Demonstration politischer Stimmungen und Forderungen durch die in Bewegung geratenen Massen. Von diesen revolutionierenden Erscheinungen blieben jedoch entscheidende Machtpositionen unberührt; Herrschaftsverhältnisse wurden modifiziert, ohne grundlegend verändert zu werden: In den Reichsämtern und in den Ministerien der Einzelstaaten, in den Landratsämtern und in den Kommunalverwaltungen, in der Justiz und, vor allem, im Heer und in der Marine walteten die Männer des Kaiserreichs weiter ihres Amts; in der Wirtschaft, der Industrie und beim Großgrundbesitz wurde das Privateigentum — abgesehen von vereinzelten, sofort rückgängig gemachten eigenmächtigen Eingriffen von Arbeiter-und Soldatenräten — nicht angetastet; die schon in der ersten Phase der Revolution erfolgte Ankündigung der Einberufung einer verfassunggebenden Nationalversammlung und von Landesversammlungen deutete — trotz grundlegender Demokratisierung des Wahlrechts — auf eine gewollte Kontinuität der politischen Willensbildung und Strukturen hin; die bürgerlichen Parteien und ihre politischen Führungsgruppen wurden zwar vorübergehend im November 1918 in den Hintergrund gedrängt, aber nicht dauernd abgelöst. Angesichts der zwiespältigen Wesenszüge, die die neugeschaffene Republik damit von vornherein erhielt, ist es verständlich, daß schon sehr früh die Frage gestellt wurde, ob man ihre Geburtsstunde überhaupt als eine Revolution bezeichnen könne.

Dennoch kann kein Zweifel darüber bestehen, daß im Bewußtsein der Miterlebenden jene Tage und Wochen einen tiefen Einschnitt in ihrem Leben bedeuteten. Sie empfanden ihn, je nach Standort, als eine Bedrohung oder als eine Chance für ihre persönliche Existenz und für die der größeren Gemeinschaft, in die sie hineingestellt waren oder der sie sich durch eigene Entscheidung verbunden fühlten.

Für die führenden Kreise des deutschen Kaiserreichs bedeuteten die Novemberereignisse und ihre Folgen den Zusammenbruch einer Welt, in der der einzelne seinen Platz hatte — einer Welt, die sie, trotz gelegentlicher Bedenken gegen Einzelerscheinungen, bejahten und die sie zu erhalten oder zu restaurieren hofften. Mit dem Erlöschen des Bismarckreiches waren die Wertmaßstäbe, an denen sich seine Zeitgenossen — seine Repräsentanten und Nutznießer, weitgehend aber auch seine Kritiker und Opponenten — orientiert hatten, unwiderruflich erschüttert. Die persönliche Krise, in die der einzelne damit geraten war, drückte sich einerseits in bitterer Enttäuschung und tiefer Niedergeschlagenheit aus, andererseits in dem Versuch, das Alte, das sich nicht als tragfähig erwiesen hatte, zu reformieren und mit dem Neuen zu verbinden, überlieferte Werte, die man weiterhin als gültig betrachtete, wollte man in die neue Zeit hinüberretten. Aus der Verwurzelung in diesen Werten und dem Wunsch, einen völligen Bruch von Vergangenheit und Gegenwart zu verhindern, erwuchs vielen an verantwortlicher Stelle Amtierenden, insbesondere Beamten und Offizieren, das Gefühl der Verpflichtung, „sich zur Verfügung zu stellen“. Das hieß, auch unter den veränderten Verhältnissen weiter seinen Dienst zu versehen, schon um Schlimmeres oder das Schlimmste — das Absinken in den Bolschewismus oder ins Chaos der Anarchie — zu verhüten.

Die bürgerlichen Schichten Deutschlands beantworteten jene Umbruchzeit des Winters 1918/19 mit sehr differenzierten Reaktionen. Nicht bei allen überwog das Gefühl der Resignation und der sich schmerzlich abgerungenen Anpassung an das Unvermeidbare. Viele geistig führende Köpfe sahen hoffnungsvolle Ansätze, waren bereit, sich freimütig und schonungslos über die wahren Ursachen des deutschen Zusammenbruchs Klarheit zu verschaffen und aus ihrer Erkenntnis Konsequenzen zu ziehen. Sie waren gewillt, den neuen Kräften eine Chance zu geben und sie aus innerer Überzeugung oder doch aus Furcht vor einer Spaltung der Nation bei einer monarchischen Restauration zu unterstützen. Dies gilt für eine Reihe bedeutender Gelehrter, Schriftsteller und Publizisten. Für Dichter und Künstler eröffnete das Ende des vierjährigen Völkermordens und der Ausbruch einer vom Volk getragenen revolutionären Bewegung die Perspektive auf eine Gesellschaft, in der die Kluft zwischen Macht und Geist überwunden sein, in der zwischen Volk und Kunst das Verhältnis wechselseitiger Befruchtung bestehen werde, über den Nöten und Widrigkeiten dieser Novembertage erhob sich für sie die Vision einer heraufkommenden Zeit, in der die bisherige Herrschaft von Gewalt und Geld durch die der Vernunft, der Menschlichkeit und der Schönheit abgelöst werden würde.

Am anderen Rande des Spektrums stehen die uneingeschränkten, grundsätzlichen Gegner der Revolution; auch unter ihnen waren viele Vertreter des geistigen Deutschland. Sie waren höchst unterschiedlich in ihrem sozialen Status, aber auch in ihrer Bewußtseinslage und in ihrer Zielsetzung. Die einen wollten als Anhänger und Vertreter des ancien regime einfach die Uhr zurückdrehen, das Deutschland des Bismarckreiches wiederherstellen oder die eingetretenen Veränderungen nicht wahrhaben. Die anderen, aktive Keimzellen der nationalsozialistischen Bewegung, bekämpften nicht nur die Revolution, sondern haßten auch das ancien regime. Sie waren völkisch-deutsch, rassisch-antisemitisch, antiliberal, hielten westliche demokratisch-parlamentarische Vorbilder für dekadent und dem deutschen Wesen unangemessen. Von einem mystifizierten Gemeinschafts-und Fronterlebnis ausgehend, verdammten sie die Revolution als Verrat am Blutopfer von Millionen deutscher Soldaten.

Keine der hier im Groben skizzierten Gruppen bestimmte nach außenhin das Gesicht der Novemberrevolution. Ihr Träger, wenn auch nicht ihr Urheber, war die deutsche Arbeiterbewegung. Die Revolution war ein spontanes Ereignis, nicht das Ergebnis von Planung und Organisation. Es waren aber die Vertreter der organisierten Arbeiterschaft, die — wie Otto Wels auf dem Parteitag der SPD im Juni 1919 sagte — ihr „Ziel und Richtung“ gaben. Dies darf allerdings nicht in dem Sinne verstanden werden, als habe der Verlauf der Revolution den Intentionen der Arbeiterführer und -massen entsprochen — ganz im Gegenteil! Aber die positiven, fortwirkenden Resultate dieser Revolution: die Schaffung sozialer Einrichtungen, die Demokratisierung der staatsrechtlichen Grundlagen der Republik und die Bewahrung der -Einheit Deutschlands — all dies entsprang der Initiative der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften sowie der in deren Tradition verwurzelten Arbeiter-und Soldatenräte. Die Revolution wurde von der Arbeiterbewegung begrüßt in der Hoffnung, nun ihre jahrzehntelang verfochtenen Ideale und Forderungen verwirklichen zu können. Die Tage um den 9. November sind gekennzeichnet durch die Begeisterung der verschiedenen Gruppen der Sozialisten für die im Kriege verlorene Einheit der Arbeiterbewegung. Sehr bald aber taten sich tiefgehende Differenzen wieder auf, die Aussicht auf organisatorische Einigung schwand, und um die Jahreswende war auch das Regierungsbündnis zwischen Mehrheitssozialdemokraten (SPD) und Unabhängigen (USPD) zerbrochen. Um diese Zeit spaltete sich der radikale Flügel der USPD, der Spartakusbund unter Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, als Kommunistische Partei Deutschlands organisatorisch ab. Eine weitere Polarisierung der Kräfte, die in der ersten Januarhälfte im Berliner Spartakusaufstand gipfelte, war die Folge. Auf dem linken Flügel herrschte tiefe Erbitterung gegen die Mehrheitssozialdemokraten, deren Regierungsführung die Hoffnungen derer enttäuschte, die sofortige grundlegende Änderungen der Macht-und Besitzverhältnisse erwartet hatten. Und auch bei den Mehrheitssozialisten setzte Ernüchterung und Niedergeschlagenheit über die objektiven Schwierigkeiten ein, die ihrer Politik einer inneren Befriedung des Landes, einer Versöhnung mit den Feind-mächten und einer wirtschaftlichen Gesundung des ausgebluteten Reiches im Wege standen. Während der Ausbruch und die erste Phase der Revolution fast frei waren von Gewalttätigkeiten, stand ihr weiterer Verlauf im Zeichen blutiger Zusammenstöße zwischen radikalen Gruppen und Massen auf der einen und regierungstreuen Truppen, großenteils Frei-korps unter dem Kommando früherer kaiserlicher Offiziere, auf der anderen Seite. Die Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg durch Angehörige der Gardekavallerieschützendivision belastete die Regierung Ebert selbst in den Augen ihrer Anhänger. Die im folgenden vorgelegte Auswahl von Zeugnissen soll einen Eindruck vermitteln von den Stimmungen und Überlegungen, mit denen Zeitgenossen auf die historischen Ereignisse reagierten. Viele dieser Zeugnisse sind unmittelbar im Anschluß an das Erlebte entstanden, andere in der Distanz der Rückerinnerung. Mit dieser Auswahl einen wirklichen repräsentativen Querschnitt durch das deutsche Volk zu gewinnen, konnte nicht gelingen, denn die Überlieferung ist ungleichmäßig verteilt. über die Reaktionen der einfachen Soldaten, Arbeiter, Bauern oder Hausfrauen fehlen uns Berichte. Die zu Worte kommen, sind Menschen, die ihre Erlebnisse und Gedanken zu Papier gebracht haben. Es waren Männer und Frauen meist in herausgehobenen Stellungen, die dank ihrer Persönlichkeit und ihres Amts für einen größeren Personenkreis spra chen und diesen ihrerseits wiederum beeinflußten. Die Einteilung in Gruppen, die bei der nachstehenden Zusammenstellung getroffen wurde, ergab sich — abgesehen von den ersten Dokumenten, die vom Ausbruch der Revolution handeln — aus der beruflichen Position und dem politischen und persönlichen Standort der ^jeweiligen Verfasser. Wir sind uns jedoch bewußt, daß solch eine Einteilung nur eine Hilfskonstruktion ist, deren Linien verschiebbar bleiben. Das liegt einmal daran, daß die Grenzen zwischen den Gruppen oft fließend sind, dann aber auch an der Wandelbarkeit des individuellen Urteils und Verhaltens. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür ist Gustav Stresemann, der mit zwei Äußerungen vertreten ist: einer vorsichtig-abwartenden, unmittelbar nach Ausbruch der Revolution, und einer scharf ablehnenden, zwölf Monate danach, die ihn als Gegner der Revolution kennzeichnet, obwohl er in seiner späteren Tätigkeit als Reichskanzler und Außenminister durchaus als „Vernunftrepublikaner“ — um einen von Friedrich Meinecke geprägten Begriff zu verwenden — wirkte.

Die Realität der Revolution in all ihrer Komplexität und Tragweite für das Schicksal der ersten deutschen Republik spiegelt sich in den Erlebnis-und Stimmungsberichten derer wider, die nicht nur Zeugen, sondern auch unmittelbar Beteiligte waren. Ihre Aussagen, zusammen gesehen, geben vielfach ein zutreffenderes Bild dieser Realität als es durch distanzierte Darstellung und sachliche Analyse erfaßt werden könnte.

Zur Technik der Edition ist zu bemerken, daß Auslassungen der Herausgeber durch eckige Klammern und drei Punkte [. .. /angedeutet werden. Kurze, zum Verständnis notwendige Zusätze der Bearbeiter im Text einer Quelle wurden ebenfalls in eckige Klammern gesetzt. Die Fußnoten stammen von den Bearbeitern.

A. Zum Ausbruch der Revolution

Die Meuterei in der Marine Der im folgenden mit geringen Kürzungen wiedergegebene Brief eines nicht genannten Marinesoldaten über die yorgänge in der Flotte am 31. Oktober 1918 wurde der in Solingen erschienenen sozialdemokratischen „Bergischen Arbeiterstimme" von einem Leser aus Burscheid zur Verfügung gestellt.

Hoffentlich kommt dieser Brief nicht in unechte Hände. Also es sind große Dinge passiert bei der Kaiserlichen Marine. Sämtliche Linienschiffe und Panzerkreuzer meutern.

.. . ] Wir waren mit unserer Flottille eine Zeitlang draußen und hatten in der Nordsee ufgeklärt, waren verschiedene Male mit dem Engländer zusammen und merkten auch an sonstigen Anzeichen, daß etwas im Gange war.

Ms wir nun vor einigen Tagen einlaufen wollen, sahen wir, daß vor der Wilhelmshavener Einfahrt die ganze deutsche Flotte mit sämtichen großen Schiffen und Torpedobooten vor Anker lag, und wir mußten uns ebenfalls dortrin legen. Alles war erstaunt, niemand wußte Genaues. Plötzlich hieß es, der Flottenchef will in der deutschen Bucht Flottenmanöver nachen. Auf den plumpen Blödsinn fiel natürich keiner herein. Man bedenke aber auch iiesen Unsinn, jetzt — mitten in der Krisis — ein großes Flottenmanöver abzuhalten.

Der erste „Seeklar" -Befehl war nun auf Mitt-wochnacht festgesetzt worden, wurde aber iann plötzlich auf Donnerstag verlegt. Wir ruf den abseits liegenden Booten wußten nicht, was los war, man hörte wohl etwas munkeln Meuterei und Aufruhr, aber man glaubte ron s nicht. Gestern hieß es nun plötzlich: „, B 97'rnd , B 112‘ (ein anderes Boot von unserer albflottille) stehen von 8 Uhr an zur Verügung. Chef des 1. Geschwaders." Wir gingen im 8 Uhr längsseits von S. M. S. „Ostfries-and", worauf sich der Chef des 1. Geschwalers befindet, der dann bei uns an Bord stieg. Nir wußten nun noch immer nicht, was wir on der ganzen Sache halten sollten, bis dann rnser Halbflottillenchef die ganze Besatzung m Wohndeck antreten ließ. Dann hat er uns ine Rede gehalten, die ich in meinem Leben licht wieder vergessen werde. Es wäre etwas Trauriges passiert, auf allen Geschwadern lätte die Besatzung verschiedener Schiffe den Gehorsam verweigert. Als die Flotte auslaufen sollte, hätten die Mannschaften den Feuer-öschapparat angestellt, so daß in allen Kesseln das Feuer ausging. Bei jedem „Seeklar" -

Befehl hätten sie dasselbe gemacht und infolgedessen das Auslaufen der Flotte verhindert. Man fragte sie nach dem Grund, worauf sie antworteten, sie würden sonst keinen Befehl verweigern, aber unter keinen Umständen auslaufen. Sie wollten den Verzweiflungskampf der deutschen Flotte nicht mitmachen. An höherer Stelle sagte man sich, ehe wir die Flotte ausliefern, setzen wir alles auf eine Karte. Lieber lassen wir alles kurz und klein schießen, ehe wir dem Engländer unsere schöne Flotte ausliefern. Und wie auch der Kommandant S. M. S. „Thüringen" sagte:

„Wir verfeuern unsere letzten 2000 Schuß und wollen mit wehender Flagge untergehen." Darauf haben sie (die Soldaten) zu ihm gesagt, er solle allein losfahren, und nun ging der Krach los. Auf „Thüringen" und „Helgoland" vom 1. Geschwader war es am schlimmsten. Die Meuterer hatten sich im Vorschiff verbarrikadiert. Auf „Helgoland" hatten sie drei Geschütze besetzt. Die Rede, die unser Halbflottillenchef hielt, kann ich hier nicht ausführlich schreiben, er teilte uns nur mit, daß wir vom Befehlshaber der Torpedoboote dazu bestimmt seien, hier wieder Ordnung zu schaffen, und falls es die „Pflicht" erfordern sollte, müßten wir die Waffen gegen die eigenen Kameraden erheben. Wie uns zumute gewesen ist, kann ich keinem Menschen erzählen. Wir machten unsere Maschinengewehre, unsere Geschütze und Torpedos klar und fuhren etwa bis auf 200 Meter an die „Thüringen" heran. Inzwischen war aus Wilhelmshaven ein Dampfer mit 250 Marineinfanteristen eingetroffen, die die Aufrührer wegtransportieren sollten. Falls sich nun dieselben weigern sollten, den Dampfer zu betreten, sollte „B 97” dazwischenschießen.

Lieber Papa, wenn Du wüßtest, wie es mir zumute gewesen ist, als wir die Kanonen auf unsere Kameraden gerichtet hatten, welche ohnmächtige Wut ich hatte. Was sollten wir auch machen, es kam ja alles so plötzlich, keine Verständigung mit anderen Booten, keiner, der uns den Rücken deckte. Aber wir hofften ja immer noch, daß die Sache gut ablaufen könnte. Endlich nach einer Stunde gaben die Aufständischen ihre Sache auf und zeigten durch die Bullaugen die Rote-Kreuz-Flagge. Sie ließen sich dann, ungefähr 600 Mann, ruhig an Bord des Dampfers bringen. Uns fiel ein Stein vom Herzen, es hing an Haaresbreite, und wenn wir auch niemals auf unsere Kameraden geschossen hätten, auf uns waren von der Helgoland drei 15-Zentimeter-Geschütze gerichtet, und wenn nur ein Schuß von uns gefallen wäre, von „B 97" wäre kein Holzsplitter mehr übriggeblieben.

Ich werde den 31. Oktober in meinem Leben nie vergessen, es war tausendmal schrecklicher wie bei Oesel oder im Kanal.

Auf der „Helgoland" und den andern Schiffen hatte sich der Tumult inzwischen etwas gelegt. Den Zweck haben sie ja erreicht, die Flotte wird in der nächsten Zeit nicht auslaufen, und wenn wir jedenfalls auch darunter leiden müssen, aber unsere Zeit kommt bald oder der Friede muß bald kommen. Sonst machen wir ihn uns selber. Die Marine macht nicht mehr mit — wenn nur die Armee und das Volk bald folgt. [... ]

So, lieber Papa, das ist nun, was ich Dir vorläufig mitteilen kann. Beunruhigt Euch nun nicht, wenn's auch etwas drunter und drüber geht. Totschießen lassen wir uns nicht mehr die letzten Tage.

„Bergische Arbeiterstimme“ Nr. 266 vom 12. 11. 1918.

Karl Alexander von Müller 1882— 1964, Historiker und Publizist, Professor für Bayerische und Deutsche Geschichte an der Universität München. 1936— 1944 Präsident der Bayerischen Akademie der Wissenschaften.

Ich ging unmittelbar nach dem Essen auf die Theresienwiese [München]. Es war ein schöner, warmer Herbsttag, friedlich gedämpftes Licht über der Bavaria und den alten Türmen der Stadt. Als ich gegen halb drei Uhr von der Paulskirche herkam, war das weite Wiesen-oval, das sonst nur zu den fröhlichen Zeiten des Oktoberfestes von lauten Buden und Menschenmengen belebt war, noch beinahe leer; erst die vordersten Züge der geschlossen anrückenden Gewerkschaften begannen rings an den Einmündungsstraßen sichtbar zu werden. Aber am westlichen Wiesenhang, vom alten Schützenhaus bis zur Ruhmeshalle hinüber, standen, je einige hundert Schritt voneinander entfernt, schon drei, vier dunkle Menschenhaufen, wie einzelne Bienenschwärme, um rote Sowjetfahnen — die ersten, die ich in meinem Leben sah — geschart, alle Köpfe nach innen gewandt. Näherkommend vernahm ich bald die gellenden Stimmen der Redner, die auf Tischen und Stühlen in jedem solchen Stoßtrupp schrien, und sah unter diesen, neben vielen Soldaten, die ungewohnten Uniformen von Matrosen — wie Sturmvögel der Revolution schienen sie damals übernacht ganz Deutschland zu überfliegen. Inzwischen rückten, pünktlich und nach der Schnur wie auf dem Kasernenhof, die ersten Züge der Mehrheitssozialisten auf die zugewiesenen Plätze heran. Aber ihr Aufmarsch wurde verwirrt. Die vordersten Abteilungen, die in die Nähe des Hanges kamen, wurden unaufhaltsam von den Eisnerschen Rednern angezogen. Man sah die Ordner vergeblich hin und her eilen; Erhard Auer der versuchen wollte, die strömende Menge aufzuhalten, mußte den Versuch aufgeben; bald war der ganze Hang von ungeordnet wimmelnden Massen erfüllt: und schon gab Eisner das Zeichen zum Aufbruch.

Seine Haufen setzten sich nach oben, zu der Hangstraße, in Bewegung, einige tausend Hörer mit sich reißend. Eh’ ich mich’s versah, war ich selbst von der wild einherbrandenden Menschenwoge umspült und von ihrem Strudel verschlungen. „Auf geht’sl In die Kasernen! In die Gefängnisse! In die Lazarette!" Fanatische blasse Gesichter unter Arbeiter-und Matrosenmützen, viele aufgeregte Halbwüchsige, derbe Frauen, denen die gelösten Haarsträhnen um Gesicht und Schultern flogen. „Tuileriensturm" dachte der Historiker. Es gelang mir, eine Welle zu benützen, die mich hart an die Gitterstäbe des Schützen-kellers warf, um mich zwischen Mauer und Masse eingeklemmt festzuhalten, bis die vorbeirauschende Flut um die nächste Ecke, auf die sogenannte Schwanthalerhöhe, abgeflossen war. Mittlerweile hatten unten auf der Wiese die Mehrheitssozialisten ihre treugebliebenen Massen — die sichersten Schätzungen schwanken zwischen vierzig-und sechzigtausend Demonstranten — allmählich wieder In Ordnung gebracht; Auer und die andern Redner ergriffen das Wort, die vorgeschlagenen Resolutionen wurden angenommen, und dann marschierte alles in langen wohlgebildeten Reihen zu-rück durch die Stadt zum Friedensengel, wo die feierliche Schlußkundgebung anberaumt war.

Als ich gegen sechs Uhr durch die sonntäglich stillen Straßen nach Hause kam, fand ich vor meiner Wohnung einen alten Schulkameraden auf mich wartend, der vor kurzem als Hauptmann aus Südrußland zurückgekehrt war. Er war in erschreckender Erregung. „Ihr wißt ja alle nicht, was vor sich geht“! rief er mir zu. „Das ist der Bolschewismus! So fängt es an. Und wenn man ihm hier, im ersten Anfang, nicht die Kehle zudrückt, dann ist es zu spät! Ich habe doch alles in Rußland erlebt. Zu spät!“ Er beschwor mich, die obersten Stellen müßten ins Bild gesetzt, zum raschesten Handeln gebracht werden; er sei bereit, mit jeder zu sprechen, sie mit seinen Erfahrungen aufzurütteln. Aber zu wem? Während wir in die Stadt aufbrachen, entwickelte ich ihm kurz, warum ich zu den Ministerien kein Vertrauen mehr hätte; der König sei zu konstitutionell, um die Zügel an sich zu reißen; ich riet zur Kirche, zum Kardinal. Aber am erzbischöflichen Palais — so ausgestorben schien rings die stumme Straße und so blaßerregt mein Gefährte — erfuhren wir, der Kirchenfürst sei erkrankt, der Arzt habe unbedingte Ruhe vorgeschrieben. Es mochte inzwischen halb sieben, sieben Uhr geworden sein. Ich gab meinem Freund eine Empfehlung an einen Prälaten im Ordinariat und ging selbst ins nahe Kultusministerium.

Der wohlbekannte breite Klostergang, den ich vor fünfundzwanzig Jahren als Knabe an der Hand meines Vaters betreten hatte, lag dämmrig in tiefem Frieden. Auch hier war das ganze Haus wie ausgestorben, alle Beamten bereits nach Hause gegangen. Der Minister sei vielleicht noch im Landtag oder in einer Ministerratssitzung; nur ein alternder Offiziant war im Vorzimmer, den mein Vater einst aus der Polizei mitübernommen hatte. Vor kurzem, erzählte er, seien Pöbelhaufen drüben vor der Residenz erschienen und hätten geschrien: „Nieder mit dem König! Nieder mit dem Millibauer! Wir brauchen keinen König mehr!" Aber sie seien wieder abgezogen. „Was glauben Sie denn, daß das noch wird, Herr Doktor?" Wie ich die breite Treppe wieder hinab-stieg, kam er mir noch einmal nachgeeilt, um mir die Hand zu drücken: „Das wenn Ihr Vater hätte erleben müssen!" Er hatte Tränen in den Augen. Mir war zu Mut wie bei einem Abschied vom alten Bayern, in dem ich ausgewachsen war, von der alten Zeit.

Durch den dunklen Kuhbogen und die schmale Gasse hinter dem schönen Preysingpalais sah ich zur Residenz. Uber ein Menschenalter lang, soweit meine Erinnerung zurückreichte, war hier, zwischen den beiden Bronzelöwen, unter dem Erzbild der Patrona Bavariae, jeden Mittag mit klingendem Spiel eine Kompanie des Leibregiments zur Wache des Königshauses aufgezogen. Nun, am ersten Tag meines Lebens, da das Königshaus wirklich des Schutzes bedurft hätte, fehlte sie. Dunkel lag der Wach-raum, leer standen die Gewehrständer neben der leeren Fahnenöse. Die mächtigen Renaissanceportale rechts und links davon waren geschlossen — Festung oder Gefängnis? Nur das ewige Licht unter der Mutter Gottes leuchtete wie immer aus seiner roten Ampel.

Müller, Karl Alexander von, Mars und Venus. Erinnerungen 1914— 1919, Gustav Kippler, Stuttgart 1954, S. 265— 267.

Wilhelm Blos 1849— 1927, seit 1872 Mitarbeiter und Redakteur sozialdemokratischer Zeitungen, Verfasser populär-historischer Werke, Reichstagsabgeordneter der SPD seit 1877 (mit einigen Unterbrechungen), 10. 11. 1918 Ministerpräsident, 8. 1919— 6. 6. 1920 Staatspräsident von Württemberg. Seine Frau Anna (1866— 1933), von Beruf Lehrerin, war ebenfalls politisch und schriftstellerisch tätig; sie wurde 1919 Mitglied der Deutschen Nationalversammlung.

Am Abend des 8. November befand ich mich in dem Restaurant Friedrichsbau 3) und im Nebenzimmer fand die Beratung der Metallarbeiter mit den Leitern der Bewegung statt.

Ich war rein zufällig in das Lokal gekommen und als ich bekannte Parteigenossen in das Nebenzimmer gehen sah, fragte ich einen, was da drinnen los sei. Er sagte mir, daß man „wegen morgen" berate. Da es nicht meine Art ist, mich vor-oder aufzudrängen, so hielt ich mich zurück.

Auf den nächsten Morgen, den 9. November, war meine Frau als Mitglied des Landesvorstandes der sozialdemokratischen Partei zu einer Sitzung in das Gewerkschaftshaus bestellt. Ich begleitete sie, da ich ein unbestimmtes Vorgefühl kommender Ereignisse verspürte, und so gingen wir von Degerloch herunter mitten in die Ereignisse des historischen neunten November hinein. [. . . ] Am Karlsplatz, auf der Planie, in der Eßlingerstraße und am Wilhelmspalast herrschte ein ungeheueres Getümmel. Soldaten und „Zivilisten", meist der Arbeiterschaft angehörig, wimmelten in äußerster Aufregung durcheinander. Man sah auf den ersten Blick, daß die Soldaten sich mit dem Volke verbrüdert hatten. Immerhin waren der Lärm und die Verwirrung nicht so groß, wie man es aus den Schilderungen anderer früherer Revolutionen kennt. Es war unverkennbar, daß jedermann vor Blutvergießen zurückscheute, das doch eine Begleiterscheinung so vieler Revolutionen gewesen ist.

Informationen über das, was bis jetzt geschehen, waren von niemand zu erhalten; wir strebten also ins Gewerkschaftshaus zu kommen, wo der Hof, die unteren Räume und die Treppen voll schreiender und gestikulierender Menschen waren. Aus dem Waisenhaus waren Maschinengewehre herübergebracht worden und deren Anblick erregte die Menge ebenso wie die Mitteilung, daß in den oberen Lokalitäten sich eine Wache befinde. Die Situation war bedenklich, denn man glaubte, die Wache wolle schießen, während, wie ich nachher erfuhr, die Wache glaubte, sie solle mit den Maschinengewehren vom Hof aus angegriffen werden. Wir legten uns ins Mittel, was aber nicht überall gut ausgenommen wurde, denn ein riesiger, finsterblickender Schmied sagte grimmig zu uns, es müsse „ganze Arbeit" gemacht werden. Viele verlangten, die Maschinengewehre sollten in den hinteren Saal ebener Erde gebracht werden, was schließlich auch gelang. Nachdem sie den Blicken der Menge entzogen, ward es etwas ruhiger und wir stiegen zur Wache hinauf, die wir unter einem Hauptmann in einem der oberen Säle fanden. Ich sagte dem Hauptmann, daß die Maschinengewehre weggebracht seien und forderte ihn auf, mit seiner Wache abzuziehen, was er auch tat, denn ich sah ihn gleich nachher auf der Straße. Er ließ einen Posten zurück, der es vorzog, bald auch zu verschwinden.

Die Aufstellung einerWache im Gewerkschaftshause war völlig zwecklos gewesen und hätte schließlich zu einem Gemetzel führen können.

Wir begaben uns dann in den Saal, wo die Leiter der Bewegung und der Landesvorstand beraten wollten. Es waren aber noch eine Menge anderer Leute hineingeströmt. Da ich von niemand eine Auskunft erhalten konnte und mir viele Leute recht ratlos erschienen, begab ich mich auf die Straße, um die Vorgänge zu beobachten. [. . . ] Auf dem Schillerplatz vor dem alten Schloß, sowie am Denkmal des Kaisers Wilhelm I. fanden Volksversammlungen statt. Vom Sockel des Schillerdenkmals herab proklamierten der Sozialdemokrat Hosenthien und der Unabhängige Engelhardt die sozialdemokratische Republik und ließen darüber abstimmen; sie ward einstimmig beschlossen. Ich sah dann den gewaltigen Demonstrationszug über die König-straßegehen; der Anblick war überwältigend. Alsdann begab ich mich nach Hause, da ich momentan nichts zu tun fand.

Auf dem Heimwege ließ mich der Gedanke nicht los, daß dieser Revolution etwas fehlte, nämlich eine allgemeine, alles überbrausende, mitreißende und erhebende Begeisterung. Ich sagte mir freilich, daß durch die furchtbare Niederlage und das Elend Deutschlands die sonst wohl nicht ausbleibende Begeisterung notwendigerweise etwas gedämpft werde. Aber der Gedanke stimmte mich immerhin etwas herab. Als meine Frau nach Hause kam, brachte sie die Nachricht mit, daß die Leiter der Bewegung mich ersuchen ließen, nachmittags im Landtagsgebäude zu erscheinen, da man meinen Rat wünsche. Ich begab mich mit meiner Frau dahin.

Unterwegs sah ich die Revolution noch in vollem Gange. Eine aufgeregte Menge umdrängte den Wilhelmspalast, wo sich der König befand; auf dem Vorplatz und auf den Treppen redeten viele Menschen heftig aufeinander ein. Viele andere waren in das Innere des Palastes eingedrungen und hatten durch einen Diener vom König verlangt, daß seine Standarte eingezogen und die rote Fahne aufgezogen werde; er hatte dies verweigert, aber sie flatterte doch vom Dache des Palastes.

Ein Leutnant hatte sich den Eindringenden widersetzt und wurde dafür blutig geschlagen; dies war das einzige Blut, das am 9. November 1918 in Stuttgart vergossen wurde.

Die Offiziere hatten, wie man mir mitteilte, den Soldaten selbst überlassen, was sie tun wollten. Die Revolution hatte so vollständig gesiegt, daß ein reaktionärer Rückschlag irgend welcher Art vollständig ausgeschlossen erschien. Anfangs erschien mir diese wunderbare Umwälzung, die alles auf den Kopf stellte, wie ein Traum; ich dachte mich aber rasch in die Wirklichkeit hinein.

Von da ab erst begann meine Betätigung in bezug auf die sich abspielenden Zeitereignisse.

Im großen Ausschußzimmer, das völlig überfüllt war, tagten Vertreter der beiden sozialdemokratischen Parteien, der Gewerkschaften und des Soldatenrats; dazu waren noch eine Anzahl anderer an der Arbeiterbewegung beteiligter Personen gekommen. Kaum konnten wir noch Platz bekommen.

Die Physiognomie dieser bedeutsamen Sitzung hat sich meinem Geiste besonders eingeprägt.

Auch hier vermißte ich den Hauch revolutionärer Begeisterung, den man doch hätte erwarten dürfen; auch hier drückte sich unverkennbar eine Stimmung aus, die man vielfach als Ratlosigkeit bezeichnen konnte. Diejenigen, welche redeten, bemühten sich durchweg sichtlich, an der Hauptsache vorbeizureden. Sogar eine sehr bekannte, bei jeder möglichen und unmöglichen Gelegenheit in den geschwollensten und blutrünstigsten Revolutionsphrasen schwelgende weibliche Persönlichkeit blieb stumm. Man drängte mich, eine Ansprache zu halten, und schließlich tat ich es.

Ich erinnerte die Versammlung, die zum Teil ihre historische Mission nicht zu erfassen schien, daran, daß ihr durch die Revolution die öffentliche Gewalt in den Schoß gefallen sei. Wenn sie diese Gewalt nicht festhalte, so würden sich andere derselben bemächtigen. Ich verwies auf das Beispiel früherer Revolutionen und sagte: „Sie müssen eine provisQrische Regierung bilden und diese Regierung muß vor allen Dingen darauf bedacht sein, sich eine Machtstellung zu sichern."

Meine Rede wurde nicht mit Begeisterung, aber mit allgemeiner Zustimmung ausgenommen. Das Stichwort war gegeben.

Blos, Wilhelm, Von der Monarchie zum Volks-staat, zur Geschichte der Revolution in Deutschland, insbesondere in Württemberg. Denkwürdigkeiten aus der Umwälzung. Zeitgenössische Memoirenwerke 1. Band, Verlag Berger, Stuttgart 1923. S. 20— 23.

Arthur Holitscher 1869— 1939, der Arbeiterbewegung eng verbundener Schriltsteller, Verlasset von Romanen, Erzählungen, Reisebüchern. In seinen Reportagen über die Sowjetunion beschältigte er sich insbesondere mit kulturellen Fragen. Er starb im Exil.

Jetzt aber werde ich vom 9. November singen und sagen, dem Tage der deutschen Revolution. Ich habe diesen Tag von früh bis Abend miterlebt, und er ist mir an der Hand eines ganzen Haufens von Notizen lebhaft in der Erinnerung geblieben. Dieser kläglich denkwürdige Tag bot durch das zufällige Erleben, das ein Einzelner in Berlin in den Straßen hatte, schon einen genauen Hinweis und Überblick über das, was nun folgen sollte — die kläglich mißglückte Revolution des deutschen Proletariats, Satyrspiel sozusagen einer Revolution vor der Tragödie, der langwierigen Tragödie des deutschen Arbeiters, die ihren Abschluß noch heute, da ich diese Zeilen schreibe, nicht gefunden hat.

Um 8 Uhr früh hatte ich mit zwei Mitgliedern des „Bundes" , dem Grafen Arco und Dr. Gumbel, ein Stelldichein am Stadtbahnhof Bellevue verabredet. Wir wollten von dort gemeinsam zum Abgeordneten Oscar Cohn gehen, um ihm die Dienste des Bundes für welche Art Betätigung immer in diesen Tagen des Ausbruchs der Revolution zur Verfügung zu stellen. Pünktlich zur verabredeten Zeit trafen wir uns am Bahnhof und traten alsbald in das bereits trotz dem frühen Morgen überfüllte Vorzimmer der Rechtsanwaltskanzlei von Dr.

Cohn ein. Cohn ließ uns vor den anderen Wartenden in sein Arbeitskabinett. Wir brachten unser Anliegen vor. Betreten und mit einer gewissen Verlegenheit sah Cohn uns an, einen nach dem anderen. Ich schätzte Cohn als einen der geradesten, ehrlichsten und offensten Menschen, denen ich im politischen Leben jemals begegnet bin. Ich bin auch überzeugt, daß er über keine besondere Verstellungskunst verfügt. Nach einer Weile sagte er uns: „Meine Herren, glauben Sie wirklich, daß wir, d. h. meine Parteigenossen, in die Lage kommen sollten, die Regierung zu ergreifen? Sollte dies geschehen, so werde ich natürlich auf Ihr Anliegen zurückkommen. Indes — glauben Sie wirklich allen Ernstes?" Dann waren wir entlassen. Hätten wir sogar diese Äußerung Cohns als eine Finte angesehen dafür, daß er Uneingeweihten die Situation nicht vollständig erklären und preisgeben wollte, — die Tatsache ist nicht aus der Welt zu leugnen, daß am 9. November führende Männer der beiden sozialistischen Parteien den Morgen buchstäblich verschlafen hatten. Sei es, daß das Datum der Revolution auf einen anderen Tag festgelegt war, sei es, daß die Revolution die Deutschen tatsächlich überrumpelt hat.

An den Bahnhof Bellevue zurückgekehrt, trennten wir uns. Ich fuhr allein nach den Linden und sah mich plötzlich in einem Knäuel von Menschen, die sich vom Brandenburger Tor bis zur Friedrichstraße durcheinander schoben. Man wartete auf Extrablätter. Man sah den Ereignissen mit Ungeduld entgegen. Wie schade, daß ich um 12 Uhr eine Verabredung mit Geheimrat Rang in seinem Amt, den Raiff-eisenschen Genossenschaften in der Köthener Straße, getroffen hatte. Gern hätte ich mich vom Zentrum nicht allzu weit entfernt, mich nach der Gegend der Maikäferkaserne im Norden aufgemacht, wo sich, wie man bereits Unter den Linden erzählte, zur Zeit entscheidende Kämpfe abspielten. An der Ecke der Neustädtischen Kirchstraße standen Soldaten um ein Maschinengewehr. Ein junger feudaler Leutnant in Feldgrau mit Monokel im erstarrten Gesicht meldete gerade einem anderen, der den Befehl über die kleine Gruppe hatte, irgendetwas, salutierte dann und machte kehrt. Der Befehlshabende, ein jovial rundlicher Mann vom Aussehen eines Korpsstudenten und einem Kneifer über seinen gutmütigen Augen, stand da und ließ die Ereignisse ruhig an sich herantreten. Ich ging zu ihm und sagte: „Sie werden doch hoffentlich nicht schießen lassen, wenn jetzt irgendwelche Unruhen Unter den Linden ausbrechen? Sie wissen doch, was in dieser Stunde vorgeht. Sie werden doch nicht schießen lassen!" Er sah mich an und sagte freundlich, schon ganz und gar unmilitärisch: „Ich denke nicht daran. Solange es nicht absolut notwendig ist, wird hier natürlich nicht geschossen werden." Die Soldaten kamen und stellten sich um uns beide, und der Leutnant wendete sich an sie und sagte: „Es wird hier doch nicht geschossen werden. Unsinn! alles ist ja ganz still." Einer der Soldaten sagte zu mir: „Nee, jeschossen wird nich mehr."

Ich ging dann zum Büro des Lokalanzeigers hinüber, wo wir auf Extrablätter warteten, traf Unter den Linden noch den Herrn, der damals im Reichstag bei der festlichen Sitzung des „Kulturbundes" die bewußte blutrünstige Kriegs-und Siegesrede gehalten hatte. Er war in Zivil und redete auf ein paar Leute ein, die um ihn standen. Plötzlich wendete er den Kopf mir zu, erkannte mich. Aus mir quoll es heraus: „Euch verdammten Kriegshetzern", sagte ich, „geht es hoffentlich bald an den Kragen." Die Leute um uns herum starrten uns beide an. Ich ging dann noch die Friedrich-straße entlang bis zur Weidendammerbrücke und kehrte denselben Weg zurück. Als ich an der Ecke der Neustädtischen Kirchstraße vor-überging, waren der Leutnant und die Soldaten mitsamt dem Maschinengewehr schon verschwunden. Scharen strömten dem Reichstag zu. Die ersten Extrablätter meldeten die Flucht Wilhelms II. Das Büro des Lokalanzeigers war von einer Menge umlagert.

Der Krieg war aus. Der Krieg war aus!

Holitscher, Arthur, Mein Leben in dieser Zeit. Der „Lebensgeschichte eines Rebellen" zweiter Band (1907— 1925), Potsdam 1928, S. 150— 152.

Eugen Fischer-Baling 1881-— 1964, 1909— 1913 Privatdozent für Kirchengeschichte an der Berliner Universität, während des Krieges in der Ausländsabteilung der Obersten Heeresleitung tätig, 1919— 1929 Sekretär des Untersuchungsausschusses des Reichstages für die Schuldfragen des Ersten Weltkrieges, 1930— 1945 Direktor der Reichstagsbibliothek, danach Hochschullehrer, zuletzt Professor für Wissenschaft von der Politik an der Freien Universität Berlin.

Aus dem Erlebnis des 9. November erwartete alle Welt den Beginn des Vernichtungskampfes gegen die Stützen der bisherigen Gesellschaft. Gegen den Besitz, dachte man — und es lag in der Luft, so zu denken —, werde sich der Hauptstoß richten, und er werde den Adel, die Beamtenschaft, die Richter, die Offiziere, die Politiker der Rechten mittreffen. Es hätte niemand überrascht, wenn am 10. ein Sturm auf die Villen im Tiergarten eingesetzt, wenn ein Revolutionstribunal zu arbeiten angefangen, wenn die Volksleidenschaft an den lautesten Siegverkündern und den obersten militärischen Führern sich vergriffen hätte. Dergleichen wurde erwartet. Aber ebenso selbstverständlich rechnete die Phantasie mit einem Gegenschlag der alten Mächte, besonders von der Front her, aber auch in der Heimat. Da hörte und las man am Vormittag des 10. November, daß sich Hindenburg auf den Boden der gegebenen Tatsachen und der neuen Regierung zur Verfügung gestellt habe. Es werden unter den damaligen Lesern und Hörern dieser Nachricht wenige sein, die sich nicht heute noch erinnern, daß sich, als sie sie vernahmen, plötzlich etwas in ihnen drehte. Es war das Weltbild, das sich drehte, und die Teile des Gehirns, in denen es gesessen hatte. Der Erschütterung folgte das Auflachen, mit dem der Mensch das verrückte Weltbild begreift und anerkennt, oder aber die Wut und Empörung, mit der er begreifend der neuen Lage sich widersetzt. Hindenburg hatte bisher als der Inbegriff des monarchischen und militärischen Prinzips gegolten, gegen das die Revolution sich auflehnte. Wenn der sich auf den Boden der Tatsachen und der neuen Regierung zur Verfügung stellen konnte, gab es dann einen einzigen Vertreter des alten Systems, dem nicht auf dieselbe Art in Dienst und Ansehen zu bleiben möglich war? Und wenn alle Hindenburgs Vorgang folgten — woran nicht zu zweifeln war —, fand sich dann nicht wie durch Zauber alles beim alten? Niemand konnte dieser Überraschung ohne Gefühlsausbruch Herr werden. Welch ein Bild am Tage nach dem Sturz der Monarchie!

Fischer-Baling, Eugen, 'Volksgericht. Die Deutsche Revolution von 1918 als Erlebnis und Gedanke. Rowohlt-Verlag, Berlin 1932. S. 220 f.

B. Schilderung, Bekenntnis und Reflexion

I. Arbeiterbewegung

Richard Müller Geb. 1890, Metallarbeiter, Mitglied der USPD, Organisator der Berliner Revolutionären Ob-leute, seit 10. November 1918 Vorsitzender des Vollzugsrats des Arbeiter-und Soldatenrats Berlin.

Und was zeigte sich in den Fabriken? Ein unbeschreiblicher Jubel über den Sturz des alten Regimes und über — die Einigung der beiden sozialistischen Parteien.

Der „Vorwärts" hatte in seiner Morgenausgabe einen Artikel gebracht mit der Über-schrift „Kem Bruderkampf!", in dem er schrieb, der Sieg des deutschen Volkes und insbesondere des Berliner Proletariats stehe ohne Beispiel in der ganzen Geschichte da. Aber es müsse jetzt für die Zukunft gesorgt werden, da habe die neue Volksregierung bis zum äußersten zu tun. Die Aufgabe sei nur zu lösen, wenn die Arbeiterklasse einig und geschlossen bleibt. „Ohne das geht es nicht! Wenn Gruppe gegen Gruppe, Sekte gegen Sekte arbeitet, dann entsteht das russische Chaos, der allgemeine Niedergang, das Elend statt des Glückes." [. . . ]

Der „Vorwärts" war an diesem Tage die Zeitung, die sich jeder Arbeiter zu verschaffen suchte. Ihm stand nur die von dem Spartakus-bund neu herausgegebene „Rote Fahne" gegenüber, deren Erscheinen den meisten Arbeitern noch unbekannt war und die an diesem Tage auch nur in einer kleinen Auflage erscheinen konnte.

Was der „Vorwärts" schrieb, wirkte ungemein stark auf die Arbeiter; selbst auf die, die noch am gestrigen Tage seine erbittertsten Feinde waren. Die ganze Kriegspolitik mit ihren Wirkungen auf die Lage der Arbeiter, der Burg-frieden mit der Bourgeoisie, alles was die Arbeiter bis aufs Blut gereizt hatte, war vergessen. Die Freude über den Sieg der Arbeiterklasse und der Widerwillen gegen den jahrelangen Bruderkampf drückten jede Überlegung nieder. Bis zum gestrigen Tage war jeder Artikel, jede Notiz des „Vorwärts" mit Mißtrauen ausgenommen worden, jetzt wurden sie als ehrlicher, aufrichtiger Willensausdruck hingenommen. An einen abermaligen Verrat der Sozialdemokratie wollten die meisten nicht glauben.

Die „Rote Fahne" schrieb am gleichen Tage: ...... Vier lange Jahre haben die Scheidemänner, die Regierungssozialisten euch durch die Schrecken eines Krieges gejagt, haben euch gesagt, man müsse , das Vaterland'verteidigen, wo es sich nur um die nackten Raubinteressen des Imperialismus handelte: Jetzt, da der deutsche Imperialismus zusammenbricht, suchen sie für die Bourgeoisie zu retten, was noch zu retten ist und suchen die revolutionäre Energie der Massen zu ersticken.

Es darf kein , Scheidemann'mehr in der Regierung sitzen; es darf kein Sozialist in die Regierung eintreten, solange ein Regierungssozialist noch in ihr sitzt. Es gibt keine Gemeinschaft mit denen, die euch vier Jahre lang verraten haben.

Nieder mit dem Kapitalismus und seinen Agenten!"

Im gleichen Sinne sprachen die revolutionären Obleute in den Betriebsversammlungen zu den Arbeitern. Sie hatten damit keinen Erfolg, selbst dort nicht, wo sie jahrelang das vollkommenste Vertrauen der Arbeiter besaßen. Die Arbeiter wollten ein Zusammengehen der beiden Parteien und sie hielten es für richtig, daß der zu wählende Arbeiterrat paritätisch zusammengesetzt wurde. So kam es in einigen Betrieben, daß Funktionäre der Sozialdemokratie, die am Tage zuvor aus dem Betrieb geprügelt worden waren, weil sie sich dem Generalstreik nicht anschließen wollten, nunmehr als Mitglieder des Arbeiterrats gewählt wurden. —

Müller, Richard, Die November-Revolution. Vom Kaiserreich zur Republik. II. Band. Malik-Verlag, Wien 1925. S. 34— 36.

Hugo Haase 1863— 1919. Rechtsanwalt in Königsberg, seit 1890 sozialdemokratischer Reichstagsabgeordneter, 1911 Vorsitzender der SPD neben Bebel, 1917 Vorsitzender der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei. Im Rat der Volksbeauftragten führte er bis zu seinem Austritt aus der Revolutionsregierung am 28. Dezember 1918 mit Ebert den Vorsitz. Am 7. November 1919 starb er an den Folgen eines Attentats. Aus einem Brief Hugo Haases vom 26. November 1918 an seinen Sohn Ernst:

Die harten Waffenstillstandsbedingungen, die Notwendigkeit der überstürzten Demobilisierung, das Detail der Ernährungspolitik erheischen mehr als sonst die Aufrechterhaltung des eingearbeiteten Verwaltungsapparats. Die alten Beamten, die sich mit der Revolution abgefunden haben [... ], sind im Innern radikalen Neuerungen auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet nicht geneigt, als bloße Techniker sind sie dennoch nicht zu entbehren. Die Scheidemänner haben aber Bürgerliche auch in wichtigen politischen Stellungen gelassen. So haben wir bis jetzt noch nicht die Entfernung Solfs aus dem Auswärtigen Amt durchgesetzt, der ohne meine Kenntnis ganz im alten Stil Erlasse veröffentlicht hat. [. . . ]

Ich würde allein mit meinen Freunden die Regierung ergriffen haben, wenn nicht die Soldaten fast einmütig darauf bestanden, daß wir mit Ebert die Gewalt teilen sollten, und wenn nicht ohne Ebert ein erheblicher Teil der bürgerlichen Fachmänner Sabotage treiben würde. So müssen wir manches in Kauf nehmen, was uns contre coeur ist. Der revolutionäre Elan wird stark gedämpft.

Haase, Ernst (Hrsg.), Hugo Haase. Sein Leben und Wirken. Mit einer Auswahl von Briefen, Reden und Aufsätzen, Ottens-Verlag, Berlin 1929. S. 173.

Ernst Däumig 1866— 1922, seit 1901 Redakteur sozialdemokratischer Tageszeitungen in Thüringen und Sachsen, 1911— 1916 des Zentralorgans der SPD, „Vorwärts", schloß sich der USPD an. Als führender Vertreter der zunächst aus oppositionellen Gewerkschaftsfunktionären gebildeten revolutionären Obleute Berlins stand er in der Revolution auf dem linken Flügel der Partei, deren Vorsitz er im Dezember 1919 übernahm. Er war Mitglied des Vollzugsrats der Berliner Arbeiter-und Soldatenräte und bedeutendster radikaler Befürworter und Theoretiker des Rätesystems.

Auszug aus dem am 19. Dezember 1918 gehaltenen Korreferat Däumigs zum Thema „Nationalversammlung oder Rätesystem’ auf dem vom 16. — 21. Dezember 1918 in Berlin tagenden allgemeinen Kongreß der Arbeiter-und Soldatenräte in Deutschland.

Das Neue, das geschaffen werden muß, muß bewirkt werden durch die Aktivität, die politische, wirtschaftliche und kulturelle des ganzen deutschen Volkes, des ganzen deutschen Proletariats. Das ganze deutsche Volk, das arbeitende, werktätige Proletariat, sei es, daß es mit der Hand, sei es, daß es mit dem Kopf arbeitet, muß ergriffen und darauf aufmerksam gemacht werden, daß in diesen Tagen aus einem Meer von Blut und Tränen eine neue Welt entstehen muß.

Da war meine erste Hoffnung dieses erste Revolutionsparlament Deutschlands 6), das Parlament, das seit den Apriltagen des Jahres 1848 zum ersten Male wieder die Stimme des Volkes unverfälscht zum Ausdruck bringen soll.

Freilich, es ist ein eigen Ding um diesen ersten Teil der deutschen Revolution und um sein Revolutionsparlament. Der Rausch der ersten Revolutionstage ist sehr schnell verflogen. Alle die Bedenklichkeit, alle die Rückständigkeit und zähe Anhänglichkeit an die alten Ideologien ist noch sehr stark vorhanden. Da gilt es, nicht allein nach nationalökonomischen Berechnungen, sondern aus Kultur-gründen heraus diese Revolutionsbewegung so vorwärts zu treiben, daß aus ihr wirklich eine Volksbewegung wird, die die Tiefen des Volkes mit umfaßt. Das ist klar. Aber es ist nicht so klar, daß man es überall verstanden hätte. (Sehr richtig!) Denn, meine Herren, kein einziges Revolutionsparlament der Geschichte hat einen so nüchternen, hausbackenen, ja, ich sage, philiströsen Geist aufzuweisen, wie dieses erste Revolutionsparlament, das hier zusammengetreten ist. (Händeklatschen bei einer Minderheit.) -

Wo ist der große seelische, ideale Schwung, der durch die Nationalkonvente Frankreichs durchging? Wo ist die jugendfrische Märzbegeisterung des Jahres 1848? Wo ist die Hymne, die aus der Freiheitsbegeisterung des deutschen Volkes entstanden ist? — Nichts davon zu spüren! Ein großes Symbol kann man sehen: auf den Staatsgebäuden flattern noch die Farben des alten Systems mit ihren Emblemen und darüber ein armseliges rotes Wimpelchen. Das charakterisiert die Revolution von heute!

Allgemeiner Kongreß der Arbeiter-und Soldatenräte vom 16. bis 21. Dezember 1918 im Abgeordnetenhause zu Berlin. Stenographische Berichte, Berlin 1919, Spalte 226 f. Friedrich Ebert 1871— 1925, sozialdemokratischer -Reichstags abgeordneter, 1913— 1919 einer der beiden Vorsitzenden der SPD. In der Revolutionszeit führte er — zunächst gemeinsam mit Hugo Haase — den Vorsitz im Rat der Volksbeauftragten. Vom 11. Februar 1919 bis zu seinem Tode war er der erste Reichspräsident der Weimarer Republik.

Die hier folgende Ansprache hielt Ebert am 16. Dezember 1918 zur Begrüßung des Allgemeinen Kongresses der Arbeiter-und Soldatenräte Deutschlands.

Soldaten, Arbeiter der Deutschen Volksrepublik! Gestatten Sie mir im Namen des Rates der Volksbeauftragten einige Worte!

Mit einem Ruck leidenschaftlicher Entschlossenheit habt Ihr in den ersten Novembertagen zertrümmert, was im Laufe der Zeit morsch geworden war, habt Ihr die Abhängigkeit zerrissen, die man als gottgegeben ansah, und den deutschen Volksstaat vollkräftig ins Leben gesetzt. Die Könige sind auf und davon. Die Republik muß nach den Worten unseres großen französischen Genossen, des Friedensfreundes Jaures, eine Nation von Königen sein. Alle alten Herrenrechte sind mit einem Schlage zerbrochen, das Recht des Volkes ist die Grundlage des deutschen Staates.

Aber wir sind uns klar darüber, daß die Republik erst dann den Kern ihres Wesens erfüllt, wenn sie nicht nur die Herren, sondern auch die Ausbeuter beseitigt. Die tapferen Kämpfer der Revolution, die die Fürsten vom Thron, das Junkertum und die Schwerindustrie aus der Herrschaft des Staates vertrieben haben, sollen die Republik der Freiheit erobern, die freie sozialistische Volksrepublik. Diese junge Republik macht einstweilen noch einige Kinderkrankheiten durch. 5 Wochen nach der Revolution ist der neue Staat noch nicht so gefestigt und geordnet, wie die alte fünfhundertjährige Herrschaft der Hohenzollern und die tausendjährige der Wittelsbacher war. Alle, die ein großes Geschrei darüber erheben, wir vermöchten der Anarchie nicht Herr zu werden und seien nicht imstande, einen normalen Verlauf des staatlichen Lebens herbeizuführen, waren gewiß nie am Aufbau auch nur der kleinsten Organisation beteiligt. Ihr Arbeiter und Soldaten, in der übergroßen Mehrzahl alte, tätige Mitglieder der Arbeiterbewegung, wißt, wieviel Mühe die Gründung des kleinsten Parteivereins oder der kleinsten Gewerkschaft macht, wie lange es dauert, ehe sie ihre Aufgaben richtig erfüllt, — und Euch nicht wundern, Ihr werdet wenn der gewaltige Umschwung der Novembertage nicht alsbald einen Apparat zustande-gebracht hat, der reibungslos läuft und mit höchstem Nutzeffekt arbeitet. Gewiß drängt die Zeit. Nach den unsagbaren Verwüstungen des 51 monatigen Mordens, nach der frivolen Leichtfertigkeit der früheren Gewalten, die alles auf eine Karte gesetzt haben und, als sie fehlschlug, ratlos dastanden und nicht mehr aus und ein wußten und schließlich feige desertierten, steht die junge Volksrepublik vor den schwierigsten Aufgaben, die je einem eben erst geschaffenen Staatswesen gestellt waren. Inmitten eines allgemeinen Mangels an Bedarfsgütern jeder Art soll sie für ungezählte Millionen Arbeit schaffen, während alle Rohstoffe fehlen; inmitten einer allgemeinen Auflösung der alten politischen und sozialen Ordnung muß sie unbedingt dafür sorgen, daß das öffentliche und wirtschaftliche Leben nicht einen Tag stillsteht, daß Sicherheit, Nahrung, Kleidung, Beleuchtung und Heizung vorhanden sind. Die uns gestellte Aufgabe ist wahrhaft gigantisch. Ihre Lösung ist unmöglich, wenn jeder nach eigenem Kopf draufloswirt-.

schäftet.

Nur fester, einheitlicher Wille kann der unendlichen Schwierigkeiten der Lage Herr werden!

Die Arbeiterklasse im Waffenrock und in der Bluse, die im sozialistischen Kampfe die alten Götzen gestürzt und die neue Freiheit herbeigeführt, darf nicht dulden, daß Uneinigkeit, Zersplitterung, Eigensinn, Eigendünkel und Eigenmächtigkeiten sie um die Früchte der Revolution bringen! Sie muß unbedingt verlangen, daß ein einheitlicher Mehrheitswille gebildet wird und eine einheitliche Linie in allen praktischen Maßnahmen der Staatsverwaltung innegehalten wird, wie sie die Träger der Revolution vorschreiben.

Als am 9. November das Volk gesiegt hat, gab es keine regierende Gewalt in Deutschland mehr, alle alten Machthaber waren auseinandergestoben und verschwunden, wie weggeblasen und verweht im Winde. In diesem Augenblick mußten die Sieger die Gewalt ergreifen und die provisorische Regierung schaffen, die bis zum Zusammentritt der Nationalversammlung jetzt neu zu regeln und zu bekräftigen Ihre Aufgabe ist. Dazu haben Sie sich hier zusammengefunden, Vertreter der Arbeiter aus allen Gegenden Deutschlands, Vertreter der Soldaten von allen Formationen; Ihr Zusammenschluß soll das Beieinanderbleiben des einigen Deutschlands verbürgen. Ihr Zu-sammenschluß soll die Einheit im Wollen und Handeln der Reichsleitung für die nächsten Wochen sicherstellen. Sie sollen aus der Gewalt der siegreichen Revolution heraus den neuen Rechtsstaat errichten. Denn, verehrte Anwesende, auf die Dauer kann es in Deutschland nur eine Rechtsquelle geben: das ist der Wille des ganzen deutschen Volkes. Das war der Sinn der Revolution. Gewaltherrschaft hat uns ins Verderben gestürzt; nun dulden wir keinerlei Gewaltherrschaft mehr, komme sie, von wem sie wolle. Je eher wir dazu gelangen, unsern deutschen Volksstaat auf feste Rechtsgrundlagen des Willens der ganzen Nation zu stellen, um so eher wird die deutsche Volksrepublik gesund und stark, um so eher kann sie an die Erfüllung ihrer großen sozialistischen Ziele herangehen. Das siegreiche Proletariat richtet keine Klassenherrschaft auf. Es überwindet zunächst politisch, dann wirtschaftlich die alte Klassenherrschaft und stellt die Gleichheit alles dessen her, was Menschenantlitz trägt. Das ist der große ideale Gedanke der Demokratie. Wer ihn ganz und restlos in sich ausgenommen hat, kann den dauernden Frieden erringen, kann ein vollgültiges Mitglied der Familie der freien Völker werden. Demokratie und Nationalversammlung, die endgültige Überwindung der Willkürherrschaft, die dauernde Garantie der Selbstregierung des Volkes, das muß in dieser Zeit unsere Haupt-sorge sein.

Die Demokratie ist der Fels, auf den allein die Arbeiterklasse das Haus der deutschen Zukunft stellen kann. Verrichten Sie, Arbeiter und Soldaten, hier ein großes Werk der Freiheit und der Demokratie, und die deutsche Volksrepublik wird aller Gefahren Herr werden und einer glücklichen Zukunft entgegensehen.

Allgemeiner Kongreß der Arbeiter-und Soldatenräte Deutschlands vom 16. bis 21. Dezember 1918 im Abgeordnetenhause zu Berlin. Stenographische Berichte, Berlin 1919, Spalte 3 f.

Klara Bohm-Schuch 1879— 1936, sozialdemokratische Redakteurin und Schriftstellerin, Mitglied der Nationalversammlung und des Reichstags bis 1933.

Auszug aus einem im SPD-Zentralorgan veröffentlichten Artikel.

Der gewaltige Sturm, der das alte Deutschland zerbrach und über Nacht ein neues erstehen ließ, hat auch das Bollwerk niedergelegt, welches die Frauen von ihren Staatsbürgerrechten trennte. Bisher war die Frau dem Staate nur verpflichtet, hart und unerbittlich; nun soll es sich zeigen, ob sie trotz der schweren Lasten, welche sie trug — besonders während dieser vier Kriegsjahre trug —, reif genug ist, ihre Staatsbürgerrechte so auszuüben, wie es in ihrem und in der Gesamtheit Interesse liegt. Es muß sich erweisen, ob die Frauen den Wert der Freiheit erkennen und ob sie dieser Freiheit dienen wollen.

Wir Sozialistinnen haben unser Ideal, das Land unserer Sehnsucht, über Nacht erreicht. Weit offen stehen die Tore zu dem goldenen Land der Freiheit, und wir sind eingetreten, uns grüßt das Licht des neuen Tages. Aber vor den Toren stehen unsere Schwestern zagend, scheu, zweifelnd, und ein Teil von ihnen mit bitterem Weh im Herzen. Ihr Leben lang haben sie gebetet zu Götzen auf goldenen Thronen und können nun nicht begreifen, daß das alles nur noch ein Trümmerhaufen ist. Sie hängen noch heute mit ihrem Wesen in einer Gesellschaftsordnung, die unser Todfeind war, die wir bekämpft und besiegt haben. Alle diese Frauen müssen erkennen lernen, daß das namenlose Elend, welches wir über vier Jahre erduldet haben, doch nur das Werk ihrer Götzen, das Werk des Kapitalismus gewesen ist. Die Vergangenheit ist tot und niemals darf sie auferstehen.

Damit, daß am 9. November die Deutsche Republik errichtet wurde, ist das Werk der Revolution erst begonnen. Wenn die Wahlen zur Nationalversammlung die Volksmehrheit für die sozialistische Regierung ergeben, dann ist ihr Bestand gesichert, aber vollendet ist sie erst, wenn unser gesamtes Wirtschaftsleben sozialisiert ist, d. h. wenn die Produktionsmittel öffentliches Eigentum geworden sind und im Interesse der Gesamtheit arbeiten. Nur wenn das Werk so systematisch vollendet wird, können die Segnungen der sozialistischen Republik in absehbarer Zeit für die gesamte Arbeiterschaft zur Tat werden. [... ] Große wirtschaftliche und soziale Aufgaben sollen in den nächsten Wochen gelöst werden, müssen gelöst werden, wenn die junge Republik, wenn die Revolution nicht in Gefahr kommen soll. Und sie können gelöst werden, wenn die Arbeiterschaft sich einig ist. Aufklärend und einigend sollen die Frauen jetzt wirken, das ist ihre große Aufgabe. Sie sollen zeigen, daß auch sie reif geworden sind zu politischem Handeln. Die sozialistische Regierung wollen wir stützen, indem wir die sozialistischen Organisationen stärken.

Der Zukunft wollen wir dienen mit flammender Seele, indem wir einig arbeiten für das Glück der Menschen auf Erden, für die Ziele der Sozialdemokratie.

Bohm-Schuch, Klara, Die Frauen und die Revolution, in: Vorwärts Nr. 332 A, vom 3. 12.

1918.

Heinrich Schäfer 1880— 1924, Sozialdemokrat, 1910— 1918 Sekretär der Konsumgenossenschaft „Hoffnung"

in Köln, in der Revolutionszeit Mitglied des Kölner Arbeiter-und Soldatenrats und des Zentralrats der Deutschen Sozialistischen Republik, 1919 Mitglied der preußischen Landesversammlung, 1920— 1924 Beigeordneter der Stadt Köln.

Als mich mein Freund Sollmann am 10. Nov. bei Herrn Adenauer einführte und mich als den Volksbeauftragten beim Kölner Oberbürgermeister vorstellte, da war es mir keineswegs wohl zu Mute und ich weiß, dem Kölner Stadtoberhaupt erging es ähnlich. Mit feinem aber keinesfalls verletzendem Humor bemerkte Herr Adenauer, daß er bedauere, mich nicht willkommen heißen zu können. Obwohl ich dem Oberbürgermeister bekannt war und er genau wußte, daß für meine Partei kein Grund vorlag, ihm zu mißtrauen, kann man doch verstehen, daß es Herrn Adenauer gerade nicht angenehm war, einen Abgesandten der Revolution als Kontrolleur zur Seite gestellt zu bekommen. Anderseits war er Real-mensch genug, um sich mit den unabänderlichen Tatsachen abzufinden, ohne mit sich in Konflikt zu geraten. Der Kölner Oberbürgermeister ist kein Bureaukrat. Die Engstirnigkeit so vieler, auch höherer Verwaltungsbeamten, geht ihm ab. Sein scharfer Blick für die Geschehnisse der Zeit ließen ihn ahnen, daß es mit der Herrlichkeit des wilhelminischen Regiments zu Ende geht. Zudem war er Demokrat und daher von Hause aus einer Umgruppierung unseres Staatslebens durchaus nicht abgeneigt. Die politischen Ereignisse waren ihm in ihren Zusammenhängen völlig geläufig. Von der Revolution war er sicherlich weit weniger überrascht als gewisse andere Kölner Herren in ähnlicher sozialer Stellung. Er erachtete es als im Interesse der Stadt gelegen, den A. S. R. [Arbeiter-und Soldatenrat] anzuerkennen und in Konsequenz dieser Auffassung nahm er keinen Anstand, sich von diesem kontrollieren zu lassen. So fiel es ihm nicht allzuschwer, sich mit mir als seinem neuen Mitarbeiter zu verständigen. Den fehlenden Willkommgruß ersetzte Herr Adenauer, wie ich glaube, durch eine wohltuende Offenheit in all den Dingen, mit denen ich nunmehr „von Amts wegen" zu tun hatte.

Ich war mir von Anbeginn darüber völlig im Klaren, daß sich eine Geistesarbeit wie die des Kölner Oberbürgermeisters nicht in dem Sinne „beaufsichtigen" läßt, wie man etwa die Handlungen von subalternen Beamten kontrolliert. überdies lag dies auch gar nicht in meiner Absicht. Mir kam es vielmehr darauf an, zu wissen, daß das Oberhaupt der stadtkölnischen Selbstverwaltung nichts unternahm, was den Absichten der Revolution und den Intentionen des A. S. R. zuwiderlief. Ich glaube nicht fehlzugehen in der Annahme, daß es Herrn Adenauer eine sichtliche Erleichterung war, als ich in unserer ersten amtlichen Unterredung zum Ausdruck brachte, daß ich ihm keinesfalls in den Schubladen herumkramen und ihm in der Ausübung seines verantwortungsvollen Amtes irgendwie hinderlich sein wolle. Anderseits wollte ich mehr als ein Symbol sein. Ich verlangte, daß er sich jeden Eingriffs in die politischen Rechte des A. S. R.

enthalte und mich in allen Zweifelsfällen zu Rate ziehe. Die auf dieser Grundlage getroffene Vereinbarung wurde meines Wissens nicht verletzt. Auch ließ ich es mir nicht nehmen, in der ersten unter dem Zeichen des A. S. R. stattgefundenen Stadtverordnetenversammlung zu erscheinen und das Wort zu ergreifen. Im übrigen versah ich den Dienst eines Verbindungsoffiziers zwischen dem Rathaus und dem A. S. R. Außerdem nahm ich Gelegenheit, allen denjenigen; die sich an mich wandten, mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Schäfer, Heinrich, Tagebuchblätter eines rheinischen Sozialisten. Marcus und Weber, Bonn 1919. S. 26— 28.

Gustav Noske 1868— 1946; sozialdemokratischer Redakteur und Reichstagsabgeordneter, 1918 Gouverneur von Kiel, ab 29. Dezember 1918 Mitglied des Rats der Volksbeauftragten, von Februar 1919 bis März 1920 Reichswehrminister, 1920— 1933 Oberpräsident von Hannover.

In Kiel und vielen anderen Orten hatten sich Mehrheitssozialdemokraten und Unabhängige wie mit Selbstverständlichkeit zu gemeinsamer Arbeit zusammengefunden. Man redete nicht über Einigkeit, sondern nahm sie als Tatsache hin, wenn auch die getrennten Organisationen weiter bestanden. Obwohl die Unabhängigen weit an Zahl hinter den Sozialde-mokraten zurückblieben, wurde in den Ämtern Parität geübt. Anders in Berlin. Dort setzte der Krakeel — nicht zwischen den Arbeitern, sondern den Führern —• sofort ein. Wortführer der Unabhängigen versuchten, wie es z. B. in Hamburg vorübergehend gelungen war, das Heft allein in die Hand zu bekommen. Es bedurfte des Gebots der Soldaten, die keinen Zank zwischen den Parteien und Führern wollten, um eine paritätische Regierungsbildung herbeizuführen. Sechs Volksbeauftragte traten als politische Reichsleitung zusammen, Ebert, Scheidemann, Landsberg von den Mehrheitssozialdemokraten, Haase, Dittmann, Barth von den Unabhängigen.

Ende Dezember ging diese Verbindung in die Brüche und hatte den wahnwitzigen, verbrecherischen Bruderkampf zur Folge, der schwersten politischen und wirtschaftlichen Schaden für Reich und Volk bewirkte und das Vertrauen zur Arbeiterklasse und ihren politischen Organisationen erschütterte. In der Schicksalsstunde des deutschen Volkes versagte ein großer Teil des sozialdemokratisch gesinnten Proletariats und seiner Führer, zeigte es sich den zu lösenden Aufgaben nicht gewachsen. Wirtschaftliche Einsichtslosigkeit, politische Borniertheit und die Phrase triumphierten gegenüber den politischen und wirtschaftlichen Lebensnotwendigkeiten des Volkes. Seinen besten Freunden hat ein Teil des deutschen Proletariats die bitterste Enttäuschung bereitet.

Noske, Gustav, Von Kiel bis Kapp, Verlag für Politik und Wirtschait, Berlin 1920, S. 59— 60.

Rosa Luxemburg 1870— 1919, im russischen Teil Polens geboren, war sie von Jugend an führend tätig in der russischen sozialistischen polnischen und Bewegung. 1897 promovierte sie Zürich in zum Doktor der Staatswissenschaften. Seit 1898 lebte sie in Berlin und wirkte in der SPD als Redakteurin, Schriftstellerin, Lehrerin und Rednerin. Sie war der Kopf linken des Flügels der leidenschaftliche Gegnerin ihrer Politik im Weltkrieg. Fast die gesamte Kriegszeit war sie im Gefängnis, nach Ausbruch der Revolution wurde sie Redakteurin der Tageszeitung des Spartakusbundes „Die Rote Fahne", Gründungsmitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands. Am 15. Januar 1919 von Regierungssoldaten ermordet.

Auszug aus einem Artikel Rosa Luxemburgs „Der Acheron in Bewegung“, erschienen in der „Roten Fahne“ vom 27. November 1918. [. . . ] Eine Revolution hat stattgefunden. Arbeiter, Proletarier — im Waffenrock oder im Arbeitskittel — haben sie gemacht. In der Regierung sitzen Sozialisten, Arbeitervertreter.

Und was hat sich für die Masse der Arbeitenden in ihrem, täglichen Lohnverhältnis, in ihrem Lebensverhältnis verändert? Gar nichts oder so gut wie gar nichts! Kaum daß hie und da einige kümmerliche Zugeständnisse gemacht worden sind, sucht das Unternehmertum dem Proletariat auch das Geringe wieder zu eskamotieren.

Man vertröstet die Massen auf die kommenden goldenen Früchte, die ihr von der Nationalversammlung in den Schoß fallen sollen. Durch lange Debatten, durch Gerede und parlamentarische Mehrheitsbeschlüsse sollen wir sanft und „ruhig" in das gelobte Land des Sozialismus hineinschlüpfen.

Der gesunde Klasseninstinkt des Proletariats bäumt sich gegen das Schema des parlamentarischen Kretinismus auf. [. . . ]

Statt auf die beglückenden Dekrete der Regierung oder auf die Beschlüsse der famosen Nationalversammlung zu warten, greift die Masse instinktiv zu dem einzigen wirklichen Mittel, das zum Sozialismus führt: Zum Kampf gegen das Kapital. Die Regierung hat bis jetzt alle Mühe darauf verwendet, die Revolution — zu kastrieren, unter dem Geschrei gegen jede Bedrohung der „Ordnung und Ruhe" die Harmonie der Klassen zu errichten.

Die Masse des Proletariats wirft ruhig das Kartenhaus der revolutionären Klassenharmonie um und schwingt das gefürchtete Banner des Klassenkampfes. [. . . ]

In der heutigen Revolution sind die eben ausgebrochenen Streiks keine „gewerkschaftliche" Auseinandersetzung um Lappalien, um das Drum und Dran des Lohnverhältnisses. Sie sind die natürliche Antwort der Massen auf die gewaltige Erschütterung, die das Kapital-verhältnis durch den Zusammenbruch des deutschen Imperialismus und die kurze politische Revolution der Arbeiter und Soldaten erfahren hat. Sie sind der erste Anfang einer Generalauseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit in Deutschland, sie läuten den Beginn des gewaltigen direkten Klassenkampfes ein, dessen Ausgang kein anderer als die Beseitigung des kapitalistischen Lohnverhältnisses und die Einführung der sozialistischen Wirtschaft sein kann. Sie lösen die lebendige soziale Kraft der gegenwärtigen Revolution aus: die revolutionäre Klassenenergie der proletarischen Massen. Sie eröffnen die Periode der unmittelbaren Aktivität der breitesten Massen, jener Aktivität, zu der die Sozialisierungsdekrete und Maßnahmen irgendwelcher Vertretungskörperschaften oder der Regierung nur die Begleitmusik bilden können. [. .. ]

Die proletarische Masse ist durch ihr bloßes Erscheinen auf der Bildfläche des sozialen Klassenkampfes über alle bisherigen Unzulänglichkeiten, Halbheiten und Feigheiten der Revolution zur Tagesordnung übergegangen. Der Acheron ist in Bewegung geraten, und die Knirpse, die an der Spitze der Revolution ihr kleines Spiel treiben, werden purzeln, oder sie werden endlich das Kolossalformat des weltgeschichtlichen Dramas, an dem sie mitspielen, verstehen lernen.

Zitiert nach: Luxemburg, Rosa. Ausgewählte und Reden Schriften, Marx-Engels-Lenin-lnstitut hrsg. beim ZK der SED, II. Band, Dietz-Verlag, Berlin (Ost) 1951. S. 617— 621.

Karl Liebknecht 1871— 1919, Rechtsanwalt, Anhänger des äußersten linken Flügels der Sozialdemokratischen Partei, Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses (seit 1908) und des Reichstags (seit 1912). 1916 Verurteilung zu vier Jahren Zuchthaus wegen einer öffentlichen Kundgebung gegen den Krieg, nach seiner Freilassung im Oktober 1918 neben Rosa Luxemburg an der Spitze des Spartakusbundes. Am 15. Januar 1919 von Regierungssoldaten ermordet.

Der hier auszugsweise abgedruckte Artikel Liebknechts war nach dem Scheitern des Berliner Spartakusaufstands geschrieben worden und erschien am Tage der Ermordung Lieb-knechts und Rosa Luxemburgs im Zentralorgan der von ihnen gegründeten Kommunistischen Partei Deutschlands.

Jawohl! Die revolutionären Arbeiter Berlins wurden geschlagen.

II. Bürgerliche Politiker und Publizisten

Hellmut von Gerlach 1866— 1935, linksliberaler Publizist, Herausgeber der „Welt am Montag“ und Mitglied des Reichstages 1903— 1907. Im Ersten Weltkrieg Vorkämpfer der radikalen bürgerlichen Linken und des Pazifismus. November 1918 bis März 1919 Unterstaatssekretär im preußischen Innenministerium. 1933 Emigration nach Frankreich.

Und die Ebert-Scheidemann-Noske haben gesiegt. Sie haben gesiegt, denn die Generalität, die Bürokratie, die Junker von Schlot und Kraut, die Pfaffen und die Geldsäcke und alles, was engbrüstig, beschränkt, rückständig ist, stand bei ihnen. Und siegte für sie mit Kartätschen, Gasbomben und Minenwerfern.

Aber es gibt Niederlagen, die Siege sind; und Siege, verhängnisvoller als Niederlagen.

Die Besiegten der blutigen Januarwoche, sie haben ruhmvoll bestanden; sie haben um Großes gestritten, ums edelste Ziel der leidenden Menschheit, um geistige und materielle Erlösung der darbenden Massen; sie haben um Heiliges Blut vergossen, das so geheiligt jedem dieses wurde. Und aus Tropfen Blutes, dieser Drachensaat für die Siege von heute, werden den Gefallenen Rächer erstehen, aus jeder zerfetzten Fiber neue Kämpfer der hohen Sache, die ewig ist und unvergänglich wie das Firmament.

Die Geschlagenen von heute werden die Sieger von morgen sein. [.. . ] Noch ist der Golgathaweg der deutschen Arbeiterklasse nicht beendet — aber der Tag der Erlösung naht. Der Tag des Gerichts für die Ebert-Scheidemann-Noske und für die kapitalistischen Machthaber, die sich noch heute hinter ihnen verstecken. Himmelhoch schlagen die Wogen der Ereignisse — wir sind es gewohnt, vom Gipfel in die Tiefe geschleudert zu werden. Aber unser Schiff zieht seinen geraden Kurs fest und stolz dahin bis zum Ziel.

Und ob wir dann noch leben werden, wenn es erreicht wird — leben wird unser Programm; es wird die Welt der erlösten Menschheit beherrschen. Trotz alledem!

Liebknecht, Karl, Leitartikel „Trotz alledem!“ in: „Die Rote Fahne“ vom 15. 1. 1919 [Auszug] Von den Zehntausenden von Offizieren, die noch am 8. November auf das „Heil dir im Siegerkranz" eingeschworen waren, hatte nicht einer am 9. November das Bedürfnis empfunden, für seinen Kaiser sein Leben hinzugeben. Auch sie hatten sämtlich das Gefühl: Die Monarchie hat ausgespieltl Wer konnte, eilte nach Hause, um Zivil anzuziehen. Wer auf der Straße von Soldaten angehalten wurde, ließ sich widerstandslos seiner Offiziersabzeichen entkleiden. Ein Sturm auf die Bastille tat nicht not. Die Verteidiger der deutschen Bastille zogen schon vorher die weißen Fahnen auf! Die Tore der Gefängnisse öffneten sich freiwillig, um die politischen Gefangenen wie den Hauptmann von Beerfelde, freizugeben, und ihnen den Weg in die Sozialdemokratie zu eröffnen. Die Soldaten verbrüderten sich mit dem Volk.

Fast ohne jedes Blutvergießen war die Hohen-zollernmonarchie in eine Republik verwandelt worden. Die Straßen Berlins waren von einer festlich-frohen. Menge erfüllt. Kein Ruf nach Rache wurde laut. [. . . ]

Da ich sozusagen von innen her die ersten Monate nach der Revolution mitangesehen habe, glaube ich, etwas objektiver als viele radikale Kritiker die Sünden und Verdienste der neuen Machthaber gegeneinander abwägen zu können. Schwere Unterlassungssünden sind vorgekommen.

Spielend leicht wäre es damals gewesen, wie in Österreich die Fürstenvermögen zu Gunsten des Volkes zu enteignen. Das erwartete jedermann, die Fürsten wohl in erster Linie. Warum es nicht geschehen ist, ist mir nie klar geworden. Hätte man jedem der entthronten Fürsten eine Rente auf Lebenszeit ausgesetzt, so hätte das einen sehr noblen Eindruck gemacht. Aber offenbar hat man damals Hemmungen gehabt, die im Augenblick einer so-genannten Revolution allerdings unfaßbar erscheinen. Weit schwerer wiegt noch die zweite Unterlassungssünde, daß man nicht den Finger gegen den Großgrundbesitz gerührt hat. In Estland, Litauen, Lettland, Polen und der Tschechoslowakei wurde die Masse der Land-bevölkerung der neuen Staatsordnung durch eine Agrarreform gewonnen, die den Groß-grundbesitz radikal beschnitt. Bei uns waren die Bauern und namentlich die Bauernsöhne damals fast sämtlich „rot". Sie erwarteten, daß nun endlich ihr Landhunger gestillt werden würde. Aber nichts Derartiges geschah. Die sozialistischen Gelehrten konnten sich sämtlich nicht einigen, ob man den Groß-grundbesitz sozialisieren oder parzellieren solle. Und weil man sich weder für die eine noch die andere Maßnahme entscheiden konnte, machte man überhaupt nichts. Die Junker behielten ihre ganze Wirtschaftsmacht, die sie seitdem so trefflich gegen die Republik ausgenützt haben. Die Bauern aber waren tief enttäuscht, daß ihnen die Republik zwar neue Steuern, aber kein neues Land gebracht hatte, und marschierten wieder nach rechts. Die Republik blieb einbeinig, eine städtisch-industrielle Angelegenheit. „Hätte uns im November 1918 die Republik die Hälfte unseres Besitzes konfisziert, so hätten wir die andere Hälfte als ein Geschenk des Himmels angesehen", gestand mir später ein Großgrundbesitzer.

Wer alle Unterlassungssünden der Republik ihren ersten Herren als todeswürdiges Verbrechen ankreidet, übersieht jedoch die verzweifelt schwierige Lage der ersten Monate. Da waren es die außenpolitischen Verhältnisse, die täglich neue Sorgen heraufbeschworen. Der Siegesrausch der Entente erbitterte das deutsche Volk, das sich von der Bekehrung zur Demokratie einen erträglichen Frieden versprochen hatte. Alles mußte die Regierung versuchen, um die Waffenstillstands-und Friedensbedingungen wenigstens von Fall zu Fall zu mildern.

Die grauenvolle Ernährungslage belastete die Köpfe der Verantwortlichen vor allem anderen. Primum vivere! Aber die Ernährung war nicht einmal auf zwei Wochen im voraus sichergestellt. Der Verwaltungsapparat mußte aufrecht erhalten bleiben, auch wenn ihn noch so reaktionäre Elemente bedienten. Da war der brudermörderische Kampf zwischen den drei Arbeiterparteien S. P. D., U. S. P. D. und Spartakusbund, dem Vorläufer der K. P. D. [... ] Inzwischen zog Karl Liebknecht, ein ehrlicher Fanatiker, durch die Straßen von Berlin und rief zum Kampf gegen die „Verräter an der Revolution" auf. [... ] Zu diskutieren war mit ihm kaum. Aber er besaß eine Intensität des Mitempfindens mit den Opfern irgendeiner Tyrannei, die ihn zu jedem, aber wirklich jedem Opfer bereit machte. Ich habe vor dem Kriege viel in Sachen der russischen politischen Flüchtlinge mit ihm gearbeitet. Dabei bekam ich den höchsten Respekt vor seiner Selbstlosigkeit und seiner Willensstärke [... ]

Politisch gingen unsere Ansichten weit auseinander. Aber ich habe ihn gern gehabt. Und ich glaube, daß das auf Gegenseitigkeit beruhte. Als ich am Nachmittag des 9. November 1918 auf der Treppe des Reichstags stand, wurde ich plötzlich von hinten umarmt. Ich drehe mich um und blicke Karl Liebknecht in die halb feuchten, halb strahlenden Augen. Mit warmer Stimme ruft er mir zu: „Gerlach — endlich die Freiheit! Sie gehen nicht ganz mit mir, ich weiß. Aber heute wollen wir uns doch zusammen freuen!"

Gerlach, Hellmut von, Von Rechts nach Links, Europa-Verlag, Zürich 1937, S. 242— 245. Theodor Wolff 1868— 1943, bürgerlich-liberaler Publizist, seit 1897 Redakteur, seit 1906 Cheiredakteur des „Berliner Tageblatts“, 1918 Mitgründer der Deutschen Demokratischen Partei, 1933 Emigration nach Frankreich, Tod im Konzentrationslager.

Unter dem ermüdeten Novemberrock schlug auch nur selten ein leidenschaftlich revolutionäres Herz. Keine Literatur hatte die Geister auf die Republik vorbereitet, kein Freiligrath kein Herwegh hatte mit der Wucht des poetischen Wortes an den Fürstenthronen gerüttelt, und die Prosa der radikalsten Kritiker hatte gerade bei der Staatsform am wenigsten verweilt. Es gab, nimmt man die eine Rosa Luxemburg aus, keine starke revolutionäre Figur. Der zapplige Lieb-knecht, den diese merkwürdige Frau nur aus opferbereiter Treue nicht verließ, war ein schmächtiger Tribun. Die sozialdemokratischen Führer waren wie ein Mime, der immer fleißig und anständig die Rolle des alten Vater Miller in „Kabale und Liebe" gespielt hat und plötzlich den jungen feurigen Ferdinand darstellen soll. Sie waren gezwungen, die revolutionäre Sache in die Hand zu nehmen, weil es eine proletarische Bewegung war und weil sie nicht zulassen konnten, daß der un-ausgereifte Rebell und der bolschewistische Spartakismus ihnen die Arbeiterschaft entrissen und ein Chaos erzeugten, vor dem ihre alte, an Ordnung, Vernunft und Disziplin gewöhnte Gewerkschafterseele Abscheu empfand. Einige dieser sozialdemokratischen Führer wurden ausgezeichnete Minister, entwik-kelten sich, obgleich der kaiserliche Staat ihnen keinerlei Gelegenheit zu Vorstudien gegeben hatte, zu staatsmännischen, vielleicht allzu staatsmännischen Persönlichkeiten und bewiesen mehr Regierungstalent als sehr viele ihrer Vorgänger unter dem alten Regime. Ebert, Otto Braun und Severing, die nicht auf hohen Schulen gewesen, nicht durch Examina gegangen, nicht in einer Beamtenkarriere aufgestiegen waren, hätten in jedem modernen Staat, demokratischer Republik oder liberaler parlamentarischer Monarchie, sich vortrefflich bewährt. Sie kamen in den ungeheuren Wirren der Niederlage, mußten das Volk aus der Sintflut auf den festen Boden führen, mußten, wie niemals Regierende vor ihnen, zwischen fortwährenden Schwierigkeiten, Widerwärtigkeiten und Gefahren hindurchfinden, hätten für ihre Leistung ganz besonders den Dank der bürgerlichen und adligen Kreise verdient und wurden unablässig beschimpft und bedroht. Sie waren, ganz wie so viele bürgerliche Politiker, gegenüber skrupelloseren Parteigängern nicht immer klug und vorsichtig genug und nicht immer geschickt in der Auswahl ihrer Hilfskräfte, aber sie und die ungeheure Mehrzahl ihrer Genossen waren ehrbar, bescheiden, uneigennützig und blieben in langer Amtszeit arm. 'Wolff, Theodor, Der Marsch durch zwei Jahrzehnte, de Lange, Amsterdam 1936, S. 181— 183.

Marie-Elisabeth Lüders 1878— 1966, liberale Politikerin und Publizistin, im Ersten Weltkrieg Leiterin der Frauenarbeitszentrale beim Kriegsministerium in Berlin, 1918— 1921 Direktorin der Niederrheinischen Frauenakademie in Düsseldorf, als Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei 1919— 1930 Mitglied der Weimarer Nationalversammlung und des Reichstags, 1937 Zuchthaus und Gestapohaft, 1953 Mitglied des Bundestags (Freie Demokratische Partei, Alterspräsidentin).

Am 9. November 1918 starb meine Mutter. Sie wurde das Opfer der Folgen völliger Unterernährung, da sie sich konsequent weigerte, mehr zu beanspruchen, als durch die ungenügenden Rationen gestattet war. Kurz vorher erreichte mich aus Berlin ein dringendes Ersuchen des Kriegsministeriums, mich sofort für die Zurückführung der vielen tausend Etappenhelferinnen nach Deutschland zur Verfügung zu stellen. Nach dem Empfang dieser Nachricht ging ich sofort mit dem Telegramm des Kriegsamtes zu dem Vorsitzenden des Arbeiter-und Soldatenrats [... ] und bat um einen Militärfahrschein, den ich auch erhielt, nachdem er mit einem rotgefärbten preußischen Adler gestempelt war. Man bestellte mir außerdem zur Unterstützung für den Abend zwei Soldaten; sie trafen pünktlich in meiner Wohnung ein. Nach zwei Stunden kam endlich ein überfüllter Militärtransportzug. Meine Beschützer rissen unter Protest der Insassen eine Abteiltür auf, ergriffen mich an den Beinen und schleuderten mich wie ein Torpedo kopfüber auf zwölf Soldatenbeine, riefen „gute Reise" und knallten die Tür zu. Ich hatte Glück, denn die Soldaten waren aus Brandenburg, einige sogar waschechte Berliner. Nachdem sie mich beleuchtet und Anlaß meiner Reise — Todkrankheit meiner Mutter — erfahren hatten, bestätigten sie ihre angeborene Gemütlichkeit und Hilfsbereitschaft mit dick be-legten Stullen und „wärmendem" Schnaps. Letzteren lehnte ich dankend ab, aber die Stullen taten mir sehr not. Zur Nacht rollten sie mich in einen Woilach, schoben mir eine Decke unter den Kopf und verstauten mich so auf den zwölf Beinen. Mit dem Hinweis an alle Mitfahrenden: „Wir haben hier eine janz feine Dame, die schlafen will“, befahlen sie Ruhe. Im Nebenabteil ging es recht laut zu, die Unterhaltung war zum Teil etwas zweifelhaft. Plötzlich hing sich ein baumlanger Kerl über die halbhohe Trennwand und verkündete: „Wenn ihr nicht gleich stille seid, hau ick euch übern Kopp, dat ihr durch die Rippen kiekt wie die Affen durchs Gitter!" Das genügte. Nach etwa zehn Stunden waren wir in Bielefeld wo nach etwa einer Stunde ein D-Zug durchkommen mußte. Unter Bedauern, guten Wünschen, und vom Fluchen des Stationsvorstehers begleitet, stieg ich aus und rannte über die Gleise zum Bahnhofsgebäude. Auf dem Vorplatz fiel mein Blick auf ein großes Plakat; es verkündete die Gewährung des Stimmrechts der Frauen. Ein Mann, der neben mir stand und offenbar meine freudige Erregung bemerkt hatte, fragte sehr nüchtern: „Was wollen Sie damit?" Ich antwortete: „Anderen helfen!" Die Fahrt bis Berlin zog sich endlos hin, der Zug war fast leer. Die Frage „was wollen Sie damit" begleitete mich ununterbrochen. [... ] Nach dem gemeinsamen Beschluß — auch der Arbeiter-und Soldatenräte —, eine Nationalversammlung einzuberufen, setzte überall die Arbeit für die Wahlen ein. Ich zog von Stadt zu Stadt durch die besetzten Gebiete, zwischen Aachen, Essen und Köln, da ich nicht nur neben Friedrich Naumann an der Spitze des Berliner Wahlvorschlages der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) stand, sondern auch in Aachen und Düsseldorf aufgestellt war. Diese Wahlreisen waren wohl die anstrengendsten meines vierzigjährigen politischen Lebens: völlig unterernährt, ungenügend gekleidet, in ungeheizten Zügen, mit rigoros durchgeführten Durchsuchungen, langem Warten im Freien und in der ständigen Sorge, der Verwendung gefälschter Personalpapiere überführt zu werden. Schließlich endete diese wochenlange Jagd im Düsseldorfer Krankenhaus, wo ich dann auch wählen mußte.

Lüders, Marie-Elisabeth, „Fürchte Dich nicht. Persönliches und Politisches aus mehr als 80 Jahren 1878— 1962.", Westdeutscher-Verlag, Köln und Opladen 1963, S. 74— 76.

Margarete Gärtner 1888— 1962, Publizistin, 1914— 1919 Referentin in der dem Auswärtigen Amt unterstehenden Zentralstelle für Auslandsdienst, danach tätig in der Volksbildungsarbeit, in außenpolitischen Organisationen und in Frauenverbänden.

Neben der Arbeit konnte ich noch leidenschaftlichen Anteil an den zur Um-und Neugestaltung Deutschlands führenden Ereignissen nehmen. Zunächst wurden sicher nicht alle, doch viele Menschen vor die Frage ihres eigenen Gewissens gestellt, ob sie, die Jahre und Jahrzehnte in irgendeiner Form, beamtet oder nicht, dem Kaiserreich und seinen Einrichtungen gedient, nach der Novemberrevolution der neuen, sozialistischen „Volksregierung" (hier tauchte das Wort, das später eine so fatale Nebenbedeutung erhalten sollte, zum ersten-mal auf) ohne weiteres dienen könnten. Auch bei mir war das der Fall. Ich hatte das Glück, mir bei einem weisen älteren Staatsmann Rat holen zu können, bei Staatssekretär Dr. Theodor Lewald [. . . ]. Lewald sagte etwa folgendes: „Das Deutsche Reich ist, sicher nicht ohne Schuld seiner Regierenden, zusammengebrochen. Die Wehrmacht ist trotz vieler Siege und bewunderswerter Leistungen geschlagen, und die Heere strömen in die Heimat zurück, soweit sie nicht in Kriegsgefangenschaft gerieten, und treffen dort auf eine erregte, verzweifelte, halb verhungerte Bevölkerung. Das, was wir in den letzten Tagen in Berlin, Kiel, Hamburg, München, Leipzig und wo immer erlebten, wird leider erst ein Anfang sein. In diesem Chaos hat jeder auf seinem Posten zu bleiben und seine Pflicht zu erfüllen, sonst macht er sich am noch größeren Chaos mitschuldig. Ich jedenfalls werde auf meinem Posten bleiben, solange man mich arbeiten läßt." Das war das, was ich brauchte, und ich weiß, daß Staatssekretär Lewalds Worte vielen andern, denen ich sie weitergab, geholfen haben. Gärtner, Margarete, Botschafterin des guten Willens. Außenpolitische Arbeit 1914— 1950, Athenäum-Verlag, Bonn 1955, S. 47 f.

Gustav Stresemann 1878-1929, 1902 Gründer und Syndikus des Verbandes Sächsischer Industrieller, Mitglied des Reichstags 1907— 1912, 1914— 1918 (nationalliberal), 1918— 1929 (Deutsche Volkspartei). 1923 Reichskanzler, 1923— 1929 Reichsaußenminister. 12 [. . . ] eine der größten Umwälzungen ist vor sich gegangen. Der Kaiser und Kronprinz haben der Krone entsagt, eine große Anzahl deutscher Bundesfürsten, vielleicht in diesem Augenblick schon alle, haben freiwillig für sich und ihre ganze Dynastie abgedankt oder sind zur Abdankung gezwungen worden. Der Reichstag, das Parlament des freiesten Wahlrechts der Welt, ist von Soldaten besetzt, und die Abgeordneten sind außerstande, zusammenzutreten, um als Volksvertreter zu wirken. Am 15. November muß ein neuer Kriegskredit von 15 Milliarden ausgenommen werden, der der verfassungsmäßigen Zustimmung bedarf. Niemand weiß, ob die inzwischen abgesagte Tagung des Reichstages stattfinden wird oder ob wir einer Entwicklung entgegengehen, die uns in der Schaffung von Arbeiter-und Soldatenräten russische Zustände bringt, wenn wir auch erfreulicherweise noch am Abgrund des Bolschewismus vorbeigekommen sind.

Das deutsche Bürgertum außerhalb der Sozialdemokratie sieht sich gegenwärtig fast zur Einflußlosigkeit verurteilt. In einigen Bundesstaaten wirken bürgerliche Politiker in den Ministerien mit, im wesentlichen handelt es sich aber dabei nur um sachliche Arbeitsministerien, der politische Einfluß liegt in den Händen der Sozialdemokratie, innerhalb welcher der Kampf um die Vorherrschaft stattfindet. In der Zwischenzeit wurden die Waffenstillstandsbedingungen der Entente bekannt, die an Furchtbarkeit alles übertreffen, was jemals einem besiegten Volke auferlegt worden ist. Der Feind vor den Toren, zum Einmarsch in das zur Okkupation überlassene Gebiet bereit, schon heute drohend mit dem Einmarsch in ganz Deutschland, „um Ordnung zu schaffen"! Transportkrisis und Hungersnot vor der Tür! Das große Problem der Demobilisierung ungelöst! Im Innern Bruch mit den Jahrhunderte-und jahrtausendelangen monarchischen Überlieferungen! Straßenkämpfe in der Reichshauptstadt und eine Ansprache Lieb-knechts vom Balkon des Schlosses der Ho-henzollern in Berlin — ist die Gegenwart, in der wir leben, eine Gegenwart, von der niemand zu sagen weiß, ob sie geordneten Zuständen wieder Platz machen wird oder ob sie zum zeitweiligen Chaos führt.

Wir vermögen unsererseits zu den Ereignissen noch nicht Stellung zu nehmen. Was in diesen letzten Tagen auf uns eingestürmt ist, verlangt nach leidenschaftsloser Betrachtung und Würdigung. Es ist auch unmöglich, mit dem Sturmschritt der Ereignisse überhaupt Tempo zu halten. Wer weiß, ob das, was sich heute als Diktatur des Sechsmännerrates darstellt, morgen noch vorhanden ist? Der sozialdemokratische Führer, Ebert, gibt sich gewiß alle Mühe, die Entwicklung vor einem sich überstürzenden Radikalismus zu bewahren. [••] Aber was ist heute noch von irgendwelcher Dauer? Unsere Aufgabe ist, alles zu tun, um Ruhe und Ordnung aufrecht zu erhalten und uns vor einem Chaos zu bewahren. Völlig falsch wäre es deshalb auch, daran Kritik zu üben, daß die Beamtenschaft sich der neuen Regierung zur Verfügung gestellt hat und weiter arbeitet. Die schwerste Pflichterfüllung ist der Sieg über das eigene Empfinden. Wir begrüßen es, daß eine Persönlichkeit, wie Oberst Köth, seine Kraft als Staatssekretär für das Demobilisierungswesen zur Verfügung stellt, um dafür zu sorgen, daß die wirtschaftlichen Vorgänge sich in Ruhe vollziehen, und wir verstehen, daß deshalb Beamte wie Krause und Schiffer auf ihrem Posten bleiben, die im Gegensatz zu den Verhältnissen stehen, welche durch die rote Flagge vom Brandenburger Tor gekennzeichnet werden. Besonnenheit und Pflichterfüllung bis zum Äußersten, das wollen wir unsererseits uns bewahren und hinüberretten, auch wenn um uns herum die festesten Grundmauern einstürzen, an deren Unerschütterlichkeit wir fest gelaubt hatten.

Stresemann, Gustav, „Der Umsturz“, Artikel in der Wochenschrift „Deutsche Stimmen“ vom 12. 11. 1918, in: Gustav Stresemann, Von der Revolution bis zum Frieden von Versailles. Reden und Aufsätze, Staatspolitischer Verlag G. m. b. H., Berlin 1919, S. 40— 42.

Joseph Schöfer 1866— 7930, katholischer Theologe, im Ersten Weltkrieg Felddivisionspfarrer. Landtagsabgeordneter seit 1905, Führer der Zentrumspartei in Baden.

Es waren harte Tage; mehr wie einen braven Wehrmann haben wir noch begraben im Madetale oder auf dem Heldenfriedhof zu Gorze in Lothringen. Mitten in dieses Leid hinein kamen von Freiburg und Karlsruhe Telegramme, die mich nach Hause riefen; keines gab klar den Grund an; alle ließen jedoch schwere politische Sorgen erkennen. Diese ersten Boten der Heimat trafen mich vorn in Onville. Beim Schein einer Karbidlampe oder einer Kerze las ich sie und sann und überlegte. Eines stand fest: solange noch ein Schuß fällt, bleibe ich bei meinen braven Wehrmännern. Ich gab so den Telegrammen keine Folge und keine Antwort.

Unterdessen kam Schlag auf Schlag. Der Kaiser war auf holländisches Gebiet übergetreten und hatte damit Heer und Thron und Fahne verlassen. Es kam der Befehl zur Bildung von Soldatenräten. Man hörte Gerüchte von Revolution in der Heimat; man sah sie schließlich in der Nähe. Der Waffenstillstand mit seinen niederschmetternden Bedingungen gab dem Krieg einstweilen die Waffenruhe und setzte so dem Blutvergießen ein Ende.

Mitten in diese Tage kam ein Ruf der badischen Regierung zum Landtag. Ich nahm nun Urlaub, um der Einladung Folge zu leisten. Die Fahrt nach Hause gehört zum Bittersten meines Lebens. Ich hätte aufschreien mögen, als ich die Zeichen der Auflösung sah; sie wurden an Zahl größer, an Inhalt trauriger, je weiter ich von meinem Truppenteil weg kam. Diese Erlebnisse zu schildern, versage ich mir an dieser Stelle.

Daheim hatte das Zentralkomitee unserer Partei in Offenburg getagt und sich mit der ernsten Lage befaßt. Ich hatte auch dazu eine dringende Einladung erhalten; allein ich bewertete und behandelte sie wie die Telegramme. So konnte ich selbst dort nicht anwesend sein.

Fehrenbach war von Berlin gekommen und brachte, wie man mir nachher erzählte, die ganze Niedergeschlagenheit aus den dortigen Erlebnissen mit. Ich habe später selber die Kugelspuren in seiner Reichstagspräsidentenwohnung gesehen. Daß derlei Erlebnisse keine gehobene Stimmung erzeugen, wohl aber den ganzen Ernst der Lage zeigen, erscheint für jeden ohne weiteres begreiflich. Die Rede, welche Fehrenbach infolgedessen in Offenburg hielt, schloß mit dem Worte: „Finis Germaniae!" (Deutschlands Ende). Wer will leugnen, daß die so bezeichnete vaterländische Gefahr unmittelbar vor der Tür stand? Sie zu sehen, sie in ihrem vollen Ernst zu erkennen, vollends die daraus zu erwartenden Folgen zu ahnen und zu beklagen, das ist keine Schande; auch die Tränen eines seinem Volk treuergebenen, stets vaterländisch denkenden und handelnden Staatsmannes sind hier menschlich wohlverständlich; sie sind das Zeugnis vom namenlosen Unglück unseres Volkes wie vom treu patriotischen Sinn dessen, der sie vergoß. Solange ein Bismarck unser Reich für verloren ansah, wenn der nächste Krieg, wenn also dieser Weltkrieg verloren ging, muß man volles Verständnis für die aus Berlin mitgebrachte Stimmung und Auffassung haben. Daß Fehrenbach in der Folge wie ein Junger zugegriffen hat, ist bekannt.

Diese Lage aber, so verzweifelt sie geworden war, durfte unter keinen Umständen zum Verzweifeln führen, nicht einmal zur Tat-und Ratlosigkeit. Höchste Energieentfaltung und klare Führung, das forderte die Lage. Sowenig es an der Front eine Instruktion für bestimmte kritische Fälle gab, ebensowenig war mit den politischen Erfahrungen der Vergangenheit hier viel anzufangen; was hier wie dort half, das waren bestimmte allgemeine Grundsätze, die Entschlußkraft und der Mut zum Handeln mit dem Ziele: die Revolution so rasch als möglich zum Stillstand und Schweigen zu bringen und die Staatsordnung und das Reich zu retten, die Heimat vor ieindlicher Invasion zu bewahren, für Ruhe, Ordnung, Arbeit und Brot zu sorgen.

Die Herren der Zentralleitung der Partei stellten sich — das muß zu ihrer Anerkennung gesagt werden — fast restlos auf diesen Boden. Sie mußten dementsprechend auch alles unterstützen, was der Anarchie mit ihren namenlosen Gefahren steuerte und zu dem eben bezeichneten Ziele immerhin noch führen konnte. Ich sage: „noch führen konnte". Die Hoffnung, ob es gelinge, war allerdings nicht besonders groß; aber gerade darum galt es, zu handeln, entschlossen zu handeln, in erster Linie die letzten großen und entscheidenden Ziele, wie ich sie eben kurz andeutete, bestimmt zu verfolgen und dazu alles Geeignete in die Wege zu leiten.

Schöfer, Dr. Joseph, Mit der alten Fahne in die neue Zeit, Herder & Co. GmbH, Verlagsbuchhandlung, Freiburg im Breisgau 1926, S. 102 bis 104.

Gustav Mayer 1871— 1948, Historiker und Journalist, 1896 bis 1906 Korrespondent der „Frankfurter Zeitung", 1920 a. o. Professor für Geschichte der Demokratie und des Sozialismus in Berlin. Während der nationalsozialistischen Herrschaft emigrierte er nach England.

Brief von Gustav Mayer an seine Schwester Gertrud und seinen Schwager Prof. Karl Jaspers vom 29. Januar 1919.

Am Horizont hängt auf allen Seiten schwärzestes Gewölk. Das Schlimmste bleibt die tiefe moralische Erkrankung des Volksorganismus und das Fehlen führender Persönlichkeiten auf allen Gebieten. Von der Nationalversammlung verspreche ich mir keine Konsolidierung der Zustände, überhaupt habe ich den Eindruck, als ob in geschichtlicher Perspektive gesehen, eine Konsolidierung noch nicht möglich, vielleicht noch nicht einmal wünschenswert ist. Der Deutsche hat in dieser Weltkrisis gezeigt, daß er kulturell noch ganz unfertig ist: gegenwärtig strebt die große Masse der Besitzenden und auch der Intellektuellen aus Ruhebedürfnis oder aus Geschäftsinteresse einfach zum Alten zurück; die Revolution soll nur eine Episode gewesen sein. Die Massen des Volks aber sind verwildert, verirrt, gänzlich aus dem Gleichgewicht gebracht, schlecht geführt, schlecht zu führen, und fast ist mir, als ob ungeheures Schicksal notwendig sein wird, um alle diese Elemente neu zusammen zu kneten und eine neue, höhere, fertigere Form unseres Volkstums zustande zu bringen. Ich fürchte, jene irren gewaltig, die da meinen, daß alles wieder gut ist, wenn der Hans die Grete, will sagen unser Spießer die ersehnte Verfassung bekommen hat. Ich fürchte, die einmal in Bewegung geratenen Massen werden sich eine gemäßigt demokratische Regierung nicht lange Zeit gefallen lassen, ich fürchte, daß die sozialdemokratische Mehrheit, wenn es nicht gelingt, in den nächsten Wochen den wirtschaftlichen Verfall zum Stillstand zu bringen, sich abgewirtschaftet haben wird wie in Ruß-land die Menschewiki. Die Philister, Spießer, kleinen Bürokraten, die sie führen, diese dii minorum gentium sind den ungeheuren Aufgaben der Zeit nicht gewachsen. Wir brauchen Männer, die bekennen, die Wege weisen, die fortreißen, die den Sozialismus als eine neue Religion verkünden, welche nicht nur private Wünsche erfüllt, sondern den Menschen nach oben reißt. Besonders in den Massen der Jugend, die den Waffenrock auszieht, die aber früher nie ordentlich gearbeitet oder zu arbeiten verlernt hatte, ist ein ungeheures Verlangen nach dem Großen, für das sie sich einsetzen will. [. . . ] Mayer, Gustav, Erinnerungen, Vom Journalisten zum Historiker der deutschen Arbeiterbewegung, Europa-Verlag, Zürich, Wien 1949, S. 316— 317.

III. Offiziere

General Walther Reinhardt 1872— 1930, württembergischer Ofiizier, im Weltkrieg Generalstabsoilizier, November 1918 Departementsdirektor im preußischen Kriegsministerium, Januar 1919 preußischer Kriegsminister, Oktober 1919 Chef der Heeresleitung, trat nach dem Kapp-Putsch von diesem Posten zurück.

Aus einem Brief Reinhardts an seine Frau vom 14. November 1918.

Für weitreichende Zukunftspläne ist der Boden noch zu schwankend, Richtlinien meines Handelns bleiben: möglichst baldige Vereinigung mit Euch, Sicherung einer Tätigkeit, die mir und Euch einen Unterhalt gewährleistet, aber mich nicht auf den Boden von politischen Verpflichtungen zwingt, die ich mit meiner Ehre nicht vereinbaren kann. Ob der zukünftige Offiziersberuf ein solcher Boden wird oder ob die neuen Männer vernünftig genug sind, das Heer nur zu einem parteifreien Vaterlandsdienste zu verpflichten, den man auch ehrlich unter einer Republik tun könnte, das muß sich zeigen. . .. Ich bin Gott sei Dank noch immer rüstig, kerngesund und keineswegs verzweifelt. Ins Herz getroffen ist freilich der heiße Vaterlandsfreund und der Soldat in mir. Die militärische Lage des Reichs ist furchtbar. Man sieht auch hier bis hinab in die tiefsten Volksschichten keinerlei Freude in den Gesichtern über den Frieden. Diesen Schlag werden wir auch nicht vergessen. Wir haben zweifellos große Schuld, aber auch unendlich viel Unglück. Ekelhaft ist die Scheinheiligkeit und das Pharisäertum, mit dem jetzt viele ihren Teil der Schuld vollkommen verkennen, so alle linksstehenden Zeitungen. Das Schlimmste war die Unehrlichkeit und Zwiespältigkeit unseres politischen Fühlens und Handelns, daran hat zweifellos auch die Oberste Heeresleitung ein gerütteltes Schuldmaß. Aber das läßt sich überwinden. Die äußeren Umstände sind schwerer oder wenigstens im Augenblick schwerer zu bessern. Wir stehen noch ganz schwankend, die alte sozialistische Partei hat das Heft nicht fest in der Hand, nur sie bietet aber zur Zeit Gewähr für Ordnung. Man muß sie daher unterstützen. Es scheint zu gelingen, sie zu halten mit Ebert an der Spitze. Ich lernte dieser Tage alle diese Männer kennen. Er machte einen recht guten Eindruck. Fast alle Ordnungselemente halten zu ihm.

Ernst, Fritz, Aus dem Nachlaß des Generals Walther Reinhardt, in: Die Welt als Geschichte, 18. Jg., Kohlhammer-Verlag, Stuttgart 1958, S. 48. Albrecht von Thaer 1868— 1957, preußischer Generalmajor, nach dem Waffenstillstand Kommandant einer Freiwilligen-Brigade an der deutsch-polnischen Grenze.

Brief des Generalmajors Albrecht von Thaer vom 20. 11. 1918 an seine Frau.

In Berlin scheint die Entwicklung leider weiter nach links zu gehen. Jetzt sind Hindenburg und Groener in ihrer Ruhe doch eigentlich bewundernswert. Sie haben die Ansicht, daß man unser Volk nur mit einem schwer Fieber-kranken vergleichen kann und daß mit der Zeit auch dieses Fieber sich beruhigen wird. [.. . ] Könnte doch unserem Lande noch geholfen werden! Unser Land hatte doch einen so prachtvollen Stand anständiger famoser Menschen, aber wer von denen noch nicht tot ist, ist krank oder kaputt, und was sich jetzt deutsches Volk nennt, damit ist momentan wenig Staat zu machen. Eine einstige Rettung Deutschlands wird m. E. auch wieder aus denjenigen Kreise kommen, die bisher auch Beamtentum und Offiziersersatz stellten, denn es sind nun einmal die Begriffe von Anstand, Moral, Pflichttreue seit Jahrhunderten da drin. Unsere Industrie-Arbeiterschaft ist von ihrem Volksheiligen Marx doch leider sehr stark vergiftet, und in den höheren Schichten hat Nietzsche sehr zerstörend gewirkt. Du weißt, welcher Greuel er mir ist. Allerdings, als ich ihn kennen lernte, war er schon nicht mehr richtig im Oberstübchen. Die wenigsten Deutschen haben ihn wirklich gelesen und von denen, die es taten, auch nur wenige ihn verstanden; trotzdem sie also wenig von ihm wissen konnten, hielt doch jeder Esel sich nun für einen Herrenmenschen, der Anspruch hatte, sich völlig auszuleben, so sehr es ihm beliebte.

Wenn man nüchtern sich alles überlegt, so wird man wohl für eine ganze Reihe von Jahren mit einer Republik rechnen müssen, die nicht rein sozial-demokratisch, aber stark sozialistisch sein wird. Darum wird das Meiste, was an das Königtum und die alte Armee erinnert, verpönt sein. Im Westen und Osten werden die äußeren Feinde uns vom Lande abknapsen, was sie können. Riesenschulden werden wir ihnen bezahlen müssen. Diese nebst den inneren eigenen Kriegsschulden werden hauptsächlich unsere besitzenden Klassen tragen müssen, so daß sie gänzlich verarmen. Die Judenschaft wird sich wohl durchmogeln, was sie ja meistens verstehen. Der Großgrundbesitz dagegen wird am dollsten rangenommen werden. Der ganze Zustand des Lebens wird sehr zurückgehen, für uns alle kaum ertragbar vielleicht. [... ] Ich kann mir eigentlich nur zweierlei denken, entweder sich möglichst unter gleichgesinnten bescheidenen Menschen in einem kleinen ländlichen Ort in Pommern oder sonst östlicher Heimat unterzutauchen oder auszuwandern, aber wohin? Die ganze Welt ist doch mit uns verfeindet. In den meisten Ländern würde man kaum Aufnahme finden, vielleicht blieben Argentinien und Chile oder Südwestafrika noch übrig, aber solange Deine guten Eltern am Leben sind, will ich Dir mit solchen Gedanken das Leben nicht schwer machen. Ich kann jetzt noch arbeiten und in der Hauptsache mich in etwas Neues auch noch einarbeiten. Dieser Moment vergeht aber in einiger Zeit, denn wer jetzt über 50 Jahre ist, und diesen Krieg so erlebt hat, der wird auch einen Knax [sic! ] davon weg haben. Vor allem denke ich an die Zukunft unserer Kinder. Mir kommt doch so ungeheuer viel darauf an, daß sie sich alle auf unserem Niveau halten, nichts trauriger als seine Kinder runterkommen zu sehen und dabei, wieviel unzählige Kinder gibt es jetzt von Offizieren, die gar keine Eltern mehr haben, die für sie sorgen können. Das ist doch etwas Schreckliches! Unser Volk ist gerade in dieser Beziehung jetzt doch in schwerer Gefahr.

Thaer, Albrecht von, Generalmajor a. D., Generalstabsdienst an der Front und in der O. H. L., Aus Briefen und Tagebuchaufzeichnungen, hrsg. von Siegfried A. Kaehler, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1958, S. 274 bis 275.

General Walther Freiherr von Lüttwitz 1859— 1942, im Ersten Weltkrieg zuletzt Kommandierender General des dritten Armeekorps, danach Freikorpsführer, militärischer Organisator des Kapp-Putsches.

Von den Greuelszenen, die die russische Revolution des Jahres 1917 wie ein blutiges Fanal hinter sich herzog, blieb der deutsche Novemberumsturz zwar im allgemeinen verschont. Er brachte jedoch eine sich über das ganze Reich mehr und mehr ausdehnende Anarchie, die befürchten ließ, daß nicht nur das Reich zerfallen, sondern auch das ganze Volk im Sumpfe des Bolschewismus verkommen würde. Zwar gehörten die sogenannten Volksbeauftragten, die die politische Macht an sich gerissen hatten, größtenteils der gemäßigten mehrheitssozialdemokratischen Partei-25 richtung an. Nur der Volksbeauftragte Barth stand hart an der Grenze des Kommunismus. Sie waren jedoch untereinander uneinig, trauten sich gegenseitig nicht über den Weg und bekämpften sich, jedesmal bevor eine Entscheidung zu fällen war, bis aufs Messer. [... ] Der einzige, der eine staatsmännische Veranlagung besaß, war Fritz Ebert, der spätere Reichspräsident. Ihm gelang es, den rechten Flügel seiner Partei so zu stärken, daß die Anfänge einer politischen Operationsbasis gebildet werden konnten. Aber diese stand nur auf sehr schwankendem Grunde. Neben den Volksbeauftragten krakeelten die Soldaten-räte, die sich mittlerweile zu Arbeiter-und Soldatenräten erweitert hatten. Ihre Führer, häufig ausgemachte Deserteure, vielfach glatte Landesverräter und sonstige katilinarische Existenzen, führten wilde Brandreden und bildeten eine Zentrale in Berlin, die den Anspruch erhob, daß ihr die gesamte Staatsexekutive übertragen werden müsse. Eine ihrer Hauptaufgaben sahen diese Volksbeglücker darin, selber ein möglichst gutes Leben zu führen und sich hohe Barbezüge zu bewilligen. Außerdem wurde auch dafür gesorgt, daß das wertvolle deutsche Heeresgut möglichst schnell an internationale Konsortien verschoben wurde.

Zumal in Berlin spitzten sich die Dinge immer mehr zu. Die Soldatenratszentrale ließ selbstherrlich Haussuchungen und Verhaftungen vornehmen. Die heimgekehrten Truppen ließ man ohne Aufsicht und ohne geregelten Dienst in den Kasernen herumlungern, in denen naturgemäß bald alles drunter und drüber ging. Bald konnte unter diesen Umständen von geordneten Truppenverbänden nicht mehr die Rede sein. Jeder Soldat kampierte in der Kaserne, die ihm aus irgendwelchen Gründen gerade am meisten zusagte. Ein wildes Weibervolk ging in den militärischen Unterkünften aus und ein und löste die allerletzten Bande ehemaliger Zucht und Ordnung. Die Offiziere waren von den Soldatenräten meist zu völliger Ohnmacht verurteilt worden oder vielfach abgesetzt. Die etwa 4000 Mann starke unkontrollierbare Belegschaft der Kaiser-Franz-Kaserne führte beispielsweise ein jüdischer Feldwebel. [.. . ]

Einen starken Auftrieb erhielt das Treiben dieser zuchtlosen Elemente durch die Bildung des Spartakus-Bundes unter Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Dieser Bund arbeitete offen auf die restlose Bolschewisierung Deutschlands nach russischem Vorbild hin. Vornehmlich auf sein Betreiben bildete sich Mitte November in Berlin ein aus zwölf Arbeitern und vierzehn Soldaten bestehender so-genannter Vollzugsrat, der unter der Leitung von Richard Müller und des früheren Hauptmanns von Beerfelde stand. Dieser Rat maßte sich sogar die letzte Entscheidung bei der Ernennung von Regierungsbeamten und bei der Besetzung der obersten Behördenstellen an. So trieben die Dinge sichtbar der Katastrophe entgegen.

Wenn ich angesichts dieser Entwicklung, nachdem ich von der Front in meinen Standort Berlin zurückgekehrt war, nicht sogleich den Dienst verließ, so geschah das, weil ich wie viele andere Offiziere von der Notwendigkeit überzeugt und durchdrungen war, meine Dienste dem Vaterlande wenigstens so lange zu erhalten, bis die Herrschaft der linksradikalen Elemente gebrochen war. Vielleicht kann man auch sagen, daß mein Verbleiben auf meinem Posten eine höhere Fügung darstellte, denn Ende Dezember wurde ich von der gänzlich ratlos gewordenen und immer mehr bedrängten Regierung der Volksbeauftragten in zwölfter Stunde mit der Vorbereitung zur Niederwerfung des Spartakismus beauftragt. [... ]

Das alte Offizierkorps lieh seine Hilfe den Volksbeauftragten nicht aus Verehrung oder aus politischer Überzeugung, sondern aus der Not der Zeit heraus, die es gebieterisch erheischte, das Hereinbrechen russischer Zustände zu verhindern. So wie die Dinge im inzwischen herangedämmerten Dezember 1918 lagen, war dies nur im Verein mit der Regierung Ebert möglich. Die Zeit, in der die Truppe vielleicht selbständig und aus sich heraus die Revolte im Keim hätte ersticken und nieder-werfen können, war unwiderbringlich verpaßt.

Walther Freiherr von Lüttwitz, Im Kampf gegen die November-Revolution. Schlegel-Verlag, Berlin 1934. S. 9— 17.

IV. Das geistige Deutschland

Rainer Maria Rilke 1875— 1926, in Prag geborener bedeutender Dichter, 1914— 1919 Aufenthalt in München. Brief Rilkes an seine Frau Clara Rilke vom 7. November 1918 In den letzten Tagen hat München etwas von seiner Leere und Ruhe aufgegeben, die Spannungen des Augenblicks machen sich auch hier bemerklich, wenngleich sie zwischen den bajuwarischen Temperamenten sich nicht gerade geistig steigernd benehmen, überall große Versammlungen in den Brauhaussälen, fast jeden Abend, überall Redner, unter denen in erster Reihe Professor Jalfe sich hervortut, und wo die Säle nicht ausreichen, Versammlungen unter freiem Himmel nach Tausenden. Unter Tausenden auch war ich Montagabend in den Sälen des Hotel Wagner. Professor Max Weber aus Heidelberg, Nationalökonom, der für einen der besten Köpfe und für einen guten Redner gilt, sprach, nach ihm in der Diskussion der anarchistisch überanstrengte Mühsam 17) und weiter Studenten, Leute, die vier Jahre an der Front gewesen waren, alle so einfach und offen und volkstümlich. Und obwohl man um die Biertische und zwischen den Tischen so saß, daß die Kellnerinnen nur wie Holzwürmer durch die dicke Menschenstruktur sich durchfraßen, — wars gar nicht beklemmend, nicht einmal für den Atem; der Dunst aus Bier und Rauch und Volk ging einem nicht unbequem ein, man gewahrte ihn kaum, so wichtig wars und so über alles gegenwärtig klar, daß die Dinge gesagt werden konnten, die endlich an der Reihe sind, und daß die einfachsten und gültigsten von diesen Dingen, soweit sie einigermaßen aufnehmlich gegeben-waren, von der ungeheueren Menge mit einem schweren massiven Beifall begriffen wurden. Plötzlich stieg ein blasser junger Arbeiter hinauf, sprach ganz einfach: „Haben Sie oder Sie, habt Ihr", sagte er, „das Waffenstillstandsangebot gemacht? und doch müßten w i r das tun, nicht diese Herren da oben; bemächtigen wir uns einer Funkenstation und sprechen wir, die gewöhnlichen Leute zu den gewöhnlichen Leuten drüben, gleich wird Friede sein." Ich wiederhole das lange nicht so gut, wie er es ausdrückte, plötzlich als er das gesagt hatte, stieg ihm eine Schwierigkeit auf, und mit rührender Gebärde, nach Weber, Quidde und den an-deren Professoren, die neben ihm auf dem Podium standen, fuhr er fort: „Hier, die Herren Professoren, können französisch, die werden uns helfen, daß wirs richtig sagen, wie wirs meinen.. Solche Momente sind wunderbar, und wie hat man sie gerade in Deutschland entbehren müssen, wo nur die Aufbegehrung zu Worte kam, oder die Unterwerfung, die in ihrer Art auch nur ein Machtanteil der Untergebenen war.

Rilke, Rainer Maria, Briefe, Bd. II (1914— 1926). Hrsg, vom Rilke-Archiv in Weimar, Insel-Verlag, Wiesbaden 1950, S. 110— 111.

Friedrich Burschell Geb. 1889, Schriftsteller, Verfasser von Novellen, Biographien, Essays.

Man hat die deutsche Revolution, an der ich Anfang November 1918 in München beteiligt war, hinterher als bloßen Zusammenbruch oder gar als einen Militärstreik bezeichnet. Für uns, meine Freunde und mich, und für Millionen Fronstsoldaten bedeutete die Abdankung der deutschen Herrscherhäuser und des bisher bestehenden Machtapparates aber nicht nur das Ende des sinnlosen, mörderischen Krieges, nicht nur Rettung und Befreiung, sondern unendlich viel mehr: die Hoffnung, ja die Zuversicht, daß aus dem Umsturz eine neue und bessere Welt erstehen werde.

Ich kann mich noch gut erinnern, wie mir in diesen Tagen Rainer Maria Rilke auf der Münchener Ludwigstraße begegnete. Ich trug die feldgraue Uniform eines bayerischen Kavallerieleutnants, von der freilich, wie es sich für einen Revolutionär gehörte, alle Rangabzeichen abgetrennt waren. Ich war von dem gerade in seinem Amt am Promenadeplatz installierten Ministerpräsidenten Kurt Eisner gekommen, der mich zu einer Art von militärischem Adjutanten gemacht hatte. Rilke kam auf mich zu, er war an diesem Vormittag ebenso aufgewühlt wie wir alle. Die tiefe, manchmal bis zur Verzweiflung sich steigernde Melancholie, die ich während der letzten Kriegswochen bei meinen Besuchen in seiner in der Ainmillerstraße gelegenen Atelierwohnung hatte beobachten können, schien jetzt von ihm abgefallen. Ich entsinne mich, wie er mitten im Gespräch seine Hand ausstreckte, sie einige Male öffnete und schloß, als umspannte sie einen Gegenstand. „So reif ist die Zeit", sagte er zu mir, „man kann sie jetzt formen". Diese Worte, die ich nicht ver-, gessen habe, trafen genau die Stimmung, in der wir damals lebten.

Ich wohnte in einem geräumigen Parterrezimmer der einst wohlbekannten, heute verschwundenen Pension Romana, Akademie-straße 7, dicht beim Siegestor. Mein Zimmer hatte einen separaten Eingang und war gleich von der Straße aus zu erreichen. Es ging damals hoch bei mir her. Gesellig, wie ich war, ließ ich mir die vielen Besucher gefallen, die eifrigen Boten, die die neuesten Nachrichten brachten, und die hilfsbereiten jungen Damen aus den umliegenden Schwabinger Pensionen. Besonders gut erinnere ich mich an die Nächte, in denen wir bis lange nach Mitternacht bei nie versiegendem Tee und umhüllt von Tabaks-wolken diskutierend beiandersaßen. Burschell, Friedrich, Revolution, München 1918/19. Aus meinen Erinnerungen (Statt der in der Emigration verlorenen Briefe), in: Briefe der Expressionisten. Hrsg. Kasimir Edschmid, Ullstein-Verlag, Frankfurt/M. —Berlin 1964, S. 143.

Ernst Troeltsch 1865— 1923, berühmter evangelischer Theologe und Geschichtsphilosoph, Professor in Bonn, Heidelberg, seit 1914 in Berlin, 1919 bis 1921 Staatssekretär für evangelische Angelegenheiten im preußischen Kultusministerium. Sonntag, den 10. November, war ein wundervoller Herbsttag. Die Bürger gingen in Massen wie gewöhnlich im Grunewald spazieren. Keine eleganten Toiletten, lauter Bürger, manche wohl absichtlich einfach angezogen. Alles etwas gedämpft wie Leute, deren Schicksal irgendwo weit in der Ferne entschieden wird, aber doch beruhigt und behaglich, daß es so gut abgegangen war. Trambahnen und Untergrundbahn gingen wie sonst, das Unterpfand dafür, daß für den unmittelbaren Lebensbedarf alles in Ordnung war. Auf allen Gesichtern stand geschrieben: Die Gehälter werden weiterbezahlt. Montag, den 11. November hatte Hans Delbrück seinen siebzigsten Geburtstag. Ich mußte, ihn zu besuchen, ein bißchen durch den Wald gehen. Meine Frau wollte mich nicht ohne Revolver gehen lassen. Aber in Wahrheit war alles absolut ruhig. Dort traf ich allerhand Spitzen der Gelehrten-, Beamten-und Finanz-welt. Es war eine merkwürdige Feier, ähnlich einer Begräbnisfeier. Man sprach gedämpft. Der Glück wünschende Redner fand vor Tränen die Worte nicht. Delbrück erwiderte ergreifend, es sei das Ende der Friderizianischen Monarchie, mit der all sein politisches Denken und jeder Glaube an Deutschlands Zukunft verwachsen sei; sie habe stets an bösen Rückbildungen und Erstarrungen gelitten, woraus sich stets revolutionäre Neigungen ergaben. So furchtbar wie jetzt, habe es freilich mit ihr noch nie gestanden. Der Glaube des Historikers an alle seine bisherigen Maßstäbe und Voraussetzungen sei im Wanken. Aber es gelte Goethes Wort: „Und keine Macht und keine Zeit zerstückelt geprägte Form, die lebend sich entwickelt." Ich ging fort ohne Glauben an diese geprägte Form, denn soviel man sehen konnte, war gerade ihr „Gepräge", die militärische Form und der zugehörige „Geist" bei den Massen unheilbar zerbrochen. Was aber dann?

Troeltsch, Ernst, Spektator-Briefe, Aufsätze über die deutsche Revolution und die Weltpolitik 1918/22. Mit einem Geleitwort von Friedrich Meinecke. Zusammengestellt und herausgegeben von H. Baron, Verlag J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 1924, S. 24— 25.

Max Weber 1864— 1920, bedeutender Gesellschafts-und Geisteswissenschaftler, einer der Gründer der modernen Soziologie, Professor in Berlin, Freiburg i. Br., Heidelberg, ab 1919 in München. Aus einem Brief von Max Weber vom 18. November 1918 aus Heidelberg:

Der Zusammenbruch Ludendorffs, die Demoralisierung der Armee: Folge des ewigen Aufpeitschens der „Stimmung" durch Versprechungen, die unmöglich erfüllt werden konnten, diese Kurzsichtigkeit und dieser Mangel an Augenmaß für das Mögliche, dann diese Würdelosigkeit des Kaisers und die Zerfahrenheit der Dilettantenregierung — das alles war qualvoll. Lange werden wir daran zu tragen haben, was unserer Ehre geschah, und nur der Taumel der „Revolution" ist jetzt eine Art von Narkotikum dagegen für die Menschen, ehe die schwere Not kommt. Greulich ist auch das viele Phrasenwerk und deprimierend die vagen Hoffnungen und ganz dilettantischen Spielereien mit einer „glücklicheren Zukunft", die doch in der Ferne liegt, so fern wie je. Woran man sich freut, ist die schlichte Sachlichkeit der einfachen Leute von den Gewerkschaften, auch vieler Soldaten, z. B. im hiesigen „Arbeiterund Soldatenrat", dem ich zu-geteilt bin. Sie haben ihre Sache ganz vorzüglich und ohne alles Gerede gemacht, das muß ich sagen. Die Nation als solche ist eben doch ein Disziplinvolk — freilich, wenn das einmal wankt, dann wankt — das sieht man ja — auch alles, auch im Innersten dieser Menschen. Entscheidend ist jetzt, ob die verrückte Liebknecht-Bande niedergehalten wird. Sie werden ja ihren Putsch machen, da ist nichts zu ändern. Aber es kommt darauf an, daß man ihn schnell niederwirft, und dann nicht etwa wilde Reaktion treibt, sondern sachliche Politik. Das muß man hoffen — wissen kann man es nicht. Geht es schlimm, dann muß man die Amerikaner, ob man will oder nicht, Ordnung schaffen lassen. Hoffentlich bleibt uns die Schande erspart, die Feinde schalten lassen zu müssen, über dem allen denkt man fast nicht mehr an den Verlust von Metz und Straßburg! — sollte man es für möglich gehalten haben?

Aus einem Brief Max Webers vom 24. 11. 1918.

Zur Zeit ist unser „Gesicht" so zerstört, wie das keines Volkes in ähnlicher Lage je gewesen ist, weder Athens nach Aigospotamos und Chaironaia noch vollends Frankreichs 1871. Aber schnöde, ungerecht und lieblos sind die jetzigen billigen Urteile, die von den Anhängern der zusammengebrochenen Hasardpartie — natürlich — daran geknüpft werden, über vier Jahre Hunger, über vier Jahre Kampferund Morphiumspritzen der Stimmungsmache vor allem — das hat s o auch noch kein Volk über sich ergehen lassen müssen. Wir fangen noch einmal wie nach 1548 und 1807 von vorn an. Das ist der einfache Sachverhalt. Nur daß heute schneller gelebt, schneller und mit mehr Initiative gearbeitet wird. Nicht wir, aber schon die nächste Generation wird den Beginn der Wiederaufrichtung sehen. Natürlich gebietet die Selbstzucht der Wahrhaftigkeit, uns zu sagen: mit einer w e 11-politischen Rolle Deutschlands ist es vorbei: die angelsächsische Weltherrschaft — „ah c’est nous qui l’avons faite", wie Thiers zu Bismarck von unserer Einheit sagte — ist Tatsache. Sie ist höchst unerfreulich, aber: viel Schlimmeres — die russische Knute! — haben w i r abgewendet. Dieser Ruhm bleibt uns. Amerikas Weltherrschaft war so unabwendbar wie in der Antike die Roms nach dem punischen Krieg. Hoffentlich bleibt es dabei, daß sie nicht mit Rußland geteilt wird. Dies ist für mich Ziel unserer künftigen Weltpolitik, denn die russische Gefahr ist nur für jetzt, nicht für immer, beschworen. Im Augenblick ist natürlich der hysterische ekel-hafte Haß der Franzosen die Hauptgefahr. [... ] Die nächsten zehn Jahre werden noch entsetzlich sein. Dafür, daß der politisch-soziale Masochismus jener würdelosen Pazifisten, die jetzt wollüstig in „Schuld" -Gefühlen wühlen — als ob der Kriegs erfolg innerlich etwas bewiese, wie ein Gottesgericht und als ob der Schlachtengott nicht „mit den größeren Bataillonen" wäre. (W i r haben gezeigt: Nicht immer!) — dafür, daß das schwindet, sorgen schon die Feinde. Den wütenden Klassenkampf müssen wir austoben lassen, bei der furchtbaren inneren Ermattung, die kommen wird, nur sorgen: daß er sich keine Theorie auf sich selbst macht, sondern, sich ehrlich eingesteht. Ehrlichkeit überhaupt ist jetzt das Allererste. Wir haben der Welt vor 110 Jahren gezeigt, daß wir — nur wir — unter Fremdherrschaft eines der ganz großen Kulturvölker zu sein vermochten. Das machen wir jetzt noch einmal! Dann schenkt uns die Geschichte, die uns — nur uns — schon eine zweite Jugend gab, auch die dritte.

Weber, Marianne, Max Weber. Ein Lebensbild, Verlag J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 1926, S. 648 f.

Kasimir Edschmid 1890— 1966, bekannter Romanschriftsteller und Essayist, bedeutender Vertreter des Expressionismus.

Der folgende, stark gekürzt wiedergegebene, offene Brief Edschmids war an den sozialdemokratischen Staatspräsidenten von Hessen gerichtet.

Diese Bewegung, die mit einer elementaren Sachlichkeit und Reife die Lage umdrehte, hat Sie durch das Glück und Ihre Arbeit an einen Posten getragen, dessen Verantwortlichkeit schauerlich und neiderregend ist.

Ihre Verantwortung ruht in ihrer Erstmaligkeit. Sie treten als Erster vor das Neue. Auf den Griff Ihrer Hand kommt es bedeutsamer an als auf das meiste, was andere nach Ihnen tun werden. Sie haben eine Revolution zu verteidigen gegen das Seitherige und gegen das Chaos. Sie haben dem elementaren Ereignis die menschliche Formung zu geben, den Haß zu beruhigen, die Skepsis zu verachten, vor allem aber den Dingen Beweiskraft zu geben. Sie haben zu festigen. [... ] Verfallen Sie nicht dem Irrtum zu glauben, daß Sie nun diese Stelle einnähmen, geschehe allein durch die vorzügliche Organisation des Proletariats, durch den Willen der Soldaten. Nie, sehr verehrter Herr, geschah solches ohne den Geist. Verwechseln Sie die Tatsachen nicht mit den Ursachen. Nur der Wille zur Freiheit und zur Gerechtigkeit, nur dies war der innere Anstoß. Die Revolution setzte es in den Stand der Macht. Nun festigen Sie es.

Die Aufgaben sind hundertfach. Nehmen Sie nicht in dem verhängnisvollen Irrtum, dies sei nebensächlich, keine Zeit sei hierfür vorhanden, (was im Grunde das innerlich dringendste ist), dies, was wir fordern, worum ich Sie beschwöre, als eine ästhetische Angelegenheit. Es geht um das tiefste Geheimnis der neuen Existenz, es geht darum, die Grundlagen des neuen Jahrhunderts geistig zu legen. Vertrauen Sie auf den Geist. Schaffen Sie ein Kommissariat für die geistigen Dinge und für die Kunst in Hessen. Geben Sie dem Lande und der Stadt, die aus dilettantischer Spielerei den Namen der Kunst eng verschwistert bei sich trug, geben Sie diesem Namen das eigentliche Recht, indem Sie ihn auf Gesinnung stellen. Machen Sie aus dem Snobismus den Ernst. Aus dem Spiel die Tat. Sie, der Sie der Presse nahestehen, wissen, daß die geistige und künstlerische Jugend Deutschlands die Revolution gewollt hat, sie heiß begrüßt, daß ihre Ziele den Ihren parallel stehen, daß wir eine Literatur haben voll der radikalsten Forderungen der Gerechtigkeit und der Qualität. Sie wissen, wie schmachvoll sie unterdrückt war, wie der Geist, die neue Idee geknechtet war, wie alle offizielle Gunst dem Ungenügenden zufloß. Machen Sie (endlich) den Kontakt zwischen Volk und Intelligenz. Treiben Sie kulturpolitische Propaganda. Stellen Sie die heiße Lust zu arbeiten neben die Maschinengewehre und diese werden bald überflüssig sein.

Auf zur kulturpolitischen Propaganda des neuen Staates. Nieder auch in der Kunst mit der Gesinnungslosigkeit, dem Mangel an Richtung, Gesicht, Profil. Auf zum Zweck. Nieder mit der Aufpäppelung der Kitschiers mit der Ruhmesglorie. Nieder mit der Macht erbärmlicher Mittelmäßigkeit. Es lebe die Gesinnung, die Qualität. Treiben Sie die Kunst, die so große, zutiefst politische Ideale hat, ins Volk. Sie haben eine Bühne. Machen Sie aus dem Hoftheater ein Revolutionstheater für das Volk. Haben Sie nicht Museen, Ausstellungen, Bildungsstätten, Adademien? Geben Sie die Macht in die Hände eines unbestechlichen geistigen Rates. [. . -]

Es genügt nicht, daß die Revolution da ist. Revolution heißt Verpflichtung an ihrem Geiste. [... ]

Denn vergessen Sie nicht, daß, was Sie an einem kleinen Volke heut tun, den Ewigkeitswert jeder erstmaligen Tat, jeder ersten Erkenntnis hat und daß Sie auch dies nicht nur im partikularen, sondern in ganz großem Maßstab zu verantworten haben werden!

Frankfurter Zeitung (1. Morgenblatt), 5. 12.

1918: Kasimir Edschmid: Kulturaufgaben der hessischen Republik. Ein Brief an den Minister Ulrich.

Käthe Kollwitz 1867— 1945, sozialkritische Graphikerin und Bildhauerin.

Tagebuchaufzeichnung vom Silvester 1918. Heute abend wollen wir bei Sterns sein. Die fünf verflossenen Silvesternächte waren rückwärts gewandt. Waren voll Schmerz, Trauer, Sehnsucht nach dem Frieden. Diese Silvester-nacht wollen wir nicht für uns verleben. Hans ist da. Mit ihm zusammen wollen wir bei unseren liebsten Freunden, bei Sterns sein, gemeinschaftlich dem nächsten Jahr entgegengehn. Denn jetzt ist alles Zukunft. Zukunft, die wir hell sehen wollen über das nächste Dunkle hinweg. Man will heut nicht allein sein, man will sich Mut machen, will Glauben bekräftigen und ausdrücken.

Dies Jahr hat den Krieg beendet.

Noch ist kein Frieden. Der Frieden wird wohl sehr schlecht werden. Aber es ist kein Krieg mehr. Man kann sagen, dafür haben wir den Bürgerkrieg. Nein, soweit ist es noch nicht trotz allem Schlimmen.

1918 hat den Krieg beendet und die Revolution gebracht. Der entsetzliche, immer unerträglichere Kriegsdruck ist fort, und das Atmen ist wieder leichter. Daß wir damit gleich gute Zeiten bekämen, glaubt kein Mensch. Aber der enge Schacht, in dem wir staken, in dem wir uns nicht rühren konnten, ist durchkrochen, wir sehen Licht und atmen Luft.

Kollwitz, Käthe, Aus meinem Leben, Verlag P. List, München 1961, S. 94— 95.

Briefwechsel zwischen den Historikern Siegfried A. Kaehler und Friedrich Meinecke Siegfried A. Kaehler (1885— 1963), Professor in Breslau (1928— 1932), Halle (1932— 1935), Jena (1935— 1936) und Göttingen (1936— 1953).

Friedrich Meinecke (1862— 1954), Professor in Straßburg (1901— 1906), Freiburg 1906— 1914) und Berlin 1914— 1928, 1946— 1948, 1948 erster Rektor der Freien Universität Berlin, 1949 Ehrenrektor. Kaehler an Meinecke Halle, 22. 1. 1919 Sehr verehrter Herr Professor, vielleicht zu 1. 1919 Sehr verehrter Herr Professor, vielleicht zu Unrecht habe ich angenommen, daß der überstürzte Gang der Dinge, welcher uns die sogen. Errungenschaften des Neuen Deutschland eingetragen hat, mich des politischen Bekenntnisses überhoben hätte, welches Sie von mir in gewissem Sinne bei meinem letzten Besuch am 1. X. 18 verlangten. Denn es wird sich, wo und wie man auch versuchen mag, durch die Kriegszeit fallen gelassene Fäden wieder aufzunehmen, nicht vermeiden lassen, unter Deutschen . . . von den Ereignissen auszugehen, die uns täglich und stündlich seit drei Monaten die Seele zermürben. Damals war es Ihnen noch von Wichtigkeit, mich von der Notwendigkeit des demokratischen Parlamentarismus überzeugt zu sehen und von der Richtigkeit des parteipolitischen Weges, welchen Sie mit anderen führenden Männern zu diesem Ziel eingeschlagen hatten. . . . Heute stehen wir vor der Aussicht, daß ein demokratisches Reichsparlament mit papiernen Beschlüssen den preußischen Staat „beseitigen" wird, ohne nennenswerten Widerstand bei einem Volke zu finden, dessen Führer und Massen sich bis zum 9. XI. als „königstreu bis auf die Knochen" betrachteten, und das mit seiner Wahl vom 19. [Januar] sich als ebenso überzeugt „mit beiden Beinen" auf den Boden der Republik gestellt hat. Ein fern stehender Beobachter mag vielleicht auf den Gedanken kommen, daß die gefährliche „englische Krankheit", die uns aus dem Krieg in das Chaos begleitet, weniger die erhöhte Sterblichkeitsziffer der Bevölkerung als ihre politische Knochenerweichung ist. Es gibt wohl kein treffenderes und kein vernichtenderes Urteil über uns, als das Foch 22) es dieser Tage ausgesprochen hat, so ziemlich das Einzige, was man den Deutschen noch glauben könne, sei, daß sie Hunger hätten. Diese Tatsache ist das Einzige, was im Kreisen der Dinge bei uns feststeht. Vor einem halben Jahr noch konnten wir hoffen, wenigstens unser geistiges Selbst aus dem drohenden Untergang zu retten. Aber der Gang der Dinge hat ja erwiesen, daß wir nicht einmal ein „Selbst" besaßen, uns selbst als eine Einheit fühlten; diesen Traum haben nur wir törichten Front-soldaten geträumt. Was geschehen, hat gezeigt, daß die Hälfte des Volkes, zum mindesten der Heimat, innerlich im Lager des Feindes stand. Auch geistig war der Krieg schon verloren, als er begonnen wurde. Im Herbst 1918 haben Demokratie und Sozialismus offen vollzogen, was sie seit zwei Jahren im wahnwitzigen Parteikampf vorbereitet hatten. [. .. ] Und wieder wird das deutsche Volk die Sisyphusarbeit beginnen müssen, den Felsblock der Staatsgründung in jahrhundertelangem Mühen bergauf zu wälzen, um ihn dann wieder in entscheidender Stunde zu Tal rollen zu lassen. Es ist nicht ein Geschehen durch äußere Bedingtheit, es ist eine aus der Tiefe des Volks-charakters notwendig folgende Entwicklung.

Und weil ich glaube, daß es sich um . Vorgänge säkularer Voraussetzungen und säkularer Tragweite handelt, kann ich den seltsamen Optimismus nicht teilen, mit welchem die Deutschen seit den Novembertagen sich den Fragen der Innendekoration eines Hauses widmen, dessen Mauern und Dach von fremder Hand eingerissen werden. Und ich verstehe ein Volk nicht mehr, das sich über Schmach und Schande des eigenen Verschuldens hinwegtäuscht mit der Spiegelfechterei, das Vergangene als schlechthin untauglich und lebensunfähig zu verwerfen und von sich abzutun, als sei es ein ihm Wesensfremdes gewesen, als hätte dies Vergangene nicht vor vier Jahren das ganze Volk zu einmütiger Verteidigung begeistert, als sei der Wechsel auf die Zukunft, den man mit kühnster Kreditforderung ausstellt, die einzige Wirklichkeit, die zu gelten hat. Und ich kann die Verachtung, welche die feindliche Welt uns deshalb entgegenbringt, nur für zu begründet betrachten, und ich muß sie teilen. Damit gehöre ich, so jung ich bin, zu denen, die keine Zukunft mehr im Vaterland haben. [. .. ] Sie selbst, sehr verehrter Herr Professor, stehen den neuen Verhältnissen bejahend gegenüber, wie sich aus Ihrem Beitritt zur demokratisch-republikanischen Partei 23) ergibt. Da ich diese positive Stellungnahme zur Republik, die weit über das Sichabfinden mit den einmal gegebenen Zuständen hinausgeht, nicht verstehe und da sie auch im Widerspruch steht mit dem, was Sie gelegentlich meines letzten Besuches mir über Ihre Königstreue [. . . ] sagten, so darf ich vielleicht aufgrund des alten Schülerverhältnisses die Bitte äußern, über diese Stellungnahme, die ich auch unter geschichtlichem Gesichtspunkt nicht begreifen kann, mir gütigst Aufklärung geben zu wollen. [. . . ] Wir haben ja seit einem halben Jahrhundert das gleiche Wahlrecht gehabt, und die Massen sind staatsfeindlich geblieben: wir haben seit drei Monaten die Republik, und sogar eine sehr sozialistisch orientierte, und die industrielle Masse bleibt staatsfeindlich. Nicht die von Westen kommende Demokratie, welche die volonte generale und mit ihr Bil-düng und Denkfähigkeit voraussetzt, liefert den Rahmen ihrer Gesichtspunkte, sondern der Bolschewismus, der politische Glauben der Primitiven, die gar nicht fähig sind, den Staat zu erfassen, sondern sich halten an das, „was sie sehen". Sie sehen den Nicht-Arbeiter, und sehen in ihm den Feind, weil er „anders" ist, genauso, wie die schon verdorbene Armee der letzten beiden Jahre im Offizier „den" Feind sah, weil er „anders" als sie selbst die gleiche Pflicht erfüllte. Und ich fürchte, der Gang der Ereignisse wird trotz der — zu schnellen — Niederwerfung der Berliner Bolschewisten uns bald genug aller bürgerlich-akademischen Erörterungen über die bessere Staatsform entheben. [.. . ]

Mit der Bitte um Empfehlung an Ihre Frau Gemahlin Ihr in bleibender Verehrung ergebener Siegfried Kähler Meinecke an Kaehier [Ende] Januar 1919

Lieber Freund.

Ihr Schreiben hat mich tief bewegt und erschüttert. Das Erste und Dringendste für Sie und mich ist doch jetzt, daß wir uns gegenseitig au fonds erst einmal zu verstehen suchen. Und dann möchte ich Ihnen ganz kurz sagen, wie ich zu meiner jetzigen Haltung gekommen bin. Ich habe von jeher in der Entfremdung der Massen vom nationalen Staate unser Grund-unglück gesehen, habe mich schon 1890 — darin ganz abweichend von meinem damaligen Milieu — auf die Seite des jungen Kaisers gegen Bismarck gestellt, weil Bismarck die soziale Reform damals hinderte. Der Kaiser hat mich und uns alle enttäuscht —, aber jenem Grundgedanken bin ich treu geblieben. Ohne sozialen Frieden zwischen Arbeiterschaft und Bürgertum, ohne Basierung des Staates auf beide Schichten sind wir nicht und werden wie nie eine Nation. Ich hoffte, daß wir es würden, als der Krieg ausbrach, und schrieb damals „diese innere Eroberung (Gewinnung der Massen) sei uns die eigentliche Eroberung, die wir machen müssen". Ich erstrebte natürlich auch größere Sicherheit unserer Weltstellung — aber beides hing für mich eng zusammen. Denn ohne innere nationale Kohärenz konnten wir auch nicht Weltpolitik treiben. Im Kriege und nachher — in der Revolution — haben nun sowohl Bürgertum und alte Ordnungen, wie auch die Massen versagt und gesündigt — erstere durch die wahnsinnige Kriegszielund U-Bootpolitik und durch die ganze Hybris überspannter Machtpolitik, deren Exponent Ludendorff wurde. — Letztere durch ihre Zuchtlosigkeit in der Revolution und jetzt. Wir sind im allertiefsten Abgrund, — was nun tun, um uns zu retten? Ich bin nach wie vor Herzensmonarchist, aber die Restauration der Monarchie, zur Zeit überhaupt unmöglich, würde uns nur von neuem wieder spalten, würde den Bürgerkrieg der einen Volkshälfte gegen die andere verewigen. Idi bürge nun nicht dafür, daß wir auf dem von uns beschrittenen Wege, ein Kompromiß zwischen bürgerlicher und sozialer Demokratie zu finden, den sozialen Frieden erreichen werden, — aber ich weiß nur das, daß wir auf jedem anderen Wege ihn nie und nimmer erreichen werden, — und das ist es, was mich mit schmerzlicher Resignation dazu gebracht hat, der demokratisch-republikanischen Partei beizutreten. In dem Konflikt zwischen staatsmännischer Vernunft und ererbten Idealen, den wir alle jetzt auszutragen haben, glaubte ich mit festem Schritte den Forderungen der Vernunft folgen zu müssen. Was mich, inmitten aller inneren Gebrochenheit und Schmerzen und dunkelsten Stimmungen noch hält, ist, außer der Pflicht, für meine Kinder zu leben, der Gedanke an mein Vaterland, an mein Volk, das ich nie hassen kann wie Sie, wenn es sich anders beträgt als es sollte, — sondern für das ich leben und wirken möchte, solange ich atme, — mag es auch noch tiefer in den Abgrund sinken als es schon geschehen ist. Und die Hoffnung will mir auch nicht erlöschen, daß sowohl im Bürgertum wie in der mehrheitssozialistischen Arbeiterschaft immer noch gute, tüchtige, zu einem Kompromiß miteinander fähige Elemente vorhanden sind. Darum lohnt sich der Versuch, auf den Trümmern des Alten einen Neubau aufzurichten. Glauben Sie mir, auch mich übermannt oft genug der Schmerz über den Sturz der alten Welt und den Verlust so vieler nationaler Güter, — aber solange wir den Glauben an unser Volk nicht verlieren, ist noch nicht Alles verloren, können wir noch hoffen und wirken. Ihre hoffnungslose Stimmung aber ist furchtbar, furchtbar — und ungerecht! Entsetzlich zu denken, daß Sie in verbitterter Opposition gegen das, was das eherne Schicksal uns aufgezwungen hat und was wir nur durch inneren Entschluß zur Arbeit am Neuen uns erträglich machen können — Ihr ganzes Leben verharren würden.

In herzlicher Gesinnung Ihr getreuer Fr. Meinecke.

Meinecke, Friedrich, Ausgewählter Briefwechsel, herausgegeben und eingeleitet von Ludwig Dehio und Peter Classen, Koehler Verlag, Stuttgart 1962, S. 328— 332, 334— 336. Ernst von Salomon Geb. 1902, Schriftsteller, bei Ausbruch der Revolution Kadett, nahm an den Freikorpskämpfen 1919— 1921 im Baltikum und in Oberschlesien sowie am Kapp-Putsch 1920 teil, mußte wegen seiner Beteiligung an dem Mordanschlag an Rathenau eine mehrjährige Zuchthausstrafe verbüßen.

Levee en mässe — wer bot uns das Wort? Das war es, ja, das war esl Wir mußten alle aufstehen gegen .den Feind. Wir mußten der Revolution einen Sinn geben, wir mußten das Land aufkochen lassen, die Fahnen, die gültig waren, und seien es die roten, nach vorn tragen, — das mußten wir. Sollten wir nicht die Revolution lieben lernen? Hatte nicht Kerenski weitergekämpft und hatte nicht Lenin der ganzen Welt den Krieg erklärt? Wir würden alle Waffen tragen, und wir würden sie tragen mit der Leidenschaft des Sieges, die uns mehr verhieß als unseren Bestand zu wahren, die uns eine Mission wert sein ließ, die der Verzweiflung ihren fahlen Schimmer nahm und aus Busch und Hecke, aus jedem Fenster, jedem Torweg unsern Haß und unsern Glauben spritzte. Wer sollte widerstehen unserm Aufstand? Der Mann, der uns das Wort bot, stand nicht im Ruche krauser Phantasterei — wir sollten's wagen!

Ich wollte die Revolution lieben lernen; vielleicht waren ihre Energien noch nicht geweckt. Vielleicht lauerten die Matrosen auf die Parole, vielleicht standen die Arbeiter, die Soldaten bereits zu heimlichen Bataillonen geformt, vielleicht war die Sprache der Aufrufe schon gesprüht aus den quirlenden Gluten eines unmeßbaren, ungeheuerlichen, welt-trotzenden revolutionären Willens — die aktivsten Elemente der Nation trugen die Waffen schon in den Händen.

Und ich lief durch die Stadt, aber die Stadt war ruhig. Und ich drängte mich in die Versammlungen, aber erhitzte Redner donnerten von Junkern, Pfaffen und Schlotbaronen und vom fluchbeladenen Hohenzollernregime. Und ich las mit Inbrunst die Proklamationen, aber da stand etwas von einem Demobilmachungskommissar und Anordnungen zur Durchführung der Waffenstillstandsbedingungen. Und ich rannte durch die Straßen, aber die Menschen gingen zur Arbeit, sie blieben kaum stehen vor den grellroten Plakaten, sie gingen müde in alten, abgeschabten Kleidern dem Hunger nach, unendlich geduldig, verdrossen, und wenn sie etwas sprachen, dann war es wie gemurrt, und die Frauen standen wie immer an den Ecken in langen Reihen und warteten ergeben. Ich schmiß mich an die Wachleute, aber die sahen mich mißtrauisch an und führte Worte im Mund, die ich kannte, zerledert und abgekaut und hundertmal gehört. Und ich sah geballte Massen mit wehenden Fahnen und prangenden Schildern, aber da schrie es über die Plätze „Nie wieder Krieg" und „Gebt uns Brot", und sie standen und sprachen vom Generalstreik und von Betriebsrätewahlen. Und ich wandte mich an meine Bekannten, an Bürger, an Offiziere, an Beamte, aber sie sagten, es müsse erst Ordnung werden und sprachen von der Schweinewirtschaft, mit der unsere zurückkehrenden Feldgrauen schon aufräumen würden.

Aber die Matrosen, die Matrosen hatten die Revolution gemacht, sie waren wie das mahnende Gewissen aus ersten Tagen des Aufbruches, sie strichen kühn durch die Stadt, sie waren Keim und Träger jeder Erregung. Zum zweiten Male ging ich ins Polizeipräsidium, stieg über die schmutzige, ausgetretene Treppe, ging in ein Zimmer mit rohen Holztischen und Bänken, auf denen Kochgeschirre, Brotbeutel, Bierkannen, Seifenstücke, Kämme, Tabaksbeutel, Fettgläser, Speckstücke in tollem Wirrwarr lagen und dazwischen verstreut Patronen, Karabiner, Seitengewehre, Lederzeug, indes ein Maschinengewehr gebuckelt in der Ecke stand neben einer Kiste Handgranaten. Da lagen, hockten, standen die Matrosen, rauchten, spielten, dösten, aßen, sprachen, und über ihnen hing die Luft, schwer und blau, aus Schweiß und Staub und Rauch, der Ruch eines Heerlagers, voll sonderbar beklemmender Würze, gleich als ob alles ahnen ließe, daß hier Sprengstoffe lagerten, die auf den zündenden und befreienden Funken warteten.

Und ich erniedrigte mich, ließ mich anfahren oder höhnisch belächeln, stand im Wege, ging nicht, bot schlechten Tabak an, mischte mich heiser in rüde Unterhaltung, belachte die Zoten, erzählte selber eine, biederte mich an, schmiß mich heran, suchte mir einen, zwei, die abseits saßen, holte Zeitungen vor. Und einer, ein Kleiner, Junger, mit kessem Gesicht, der frage mich aus, den log ich an, beschimpfte den Kaiser, ließ mir erzählen von prahlerischen Heldentaten, wie sie ihre Offiziere verprügelt, wie viele Mädchen sie über die Bank gezogen, bestaunte ihn, bis der geschmeichelt duldete, daß ich über die Wach-leute herzog, über die schlappen Hunde, die die Revolution verraten wollten, aus Furcht vor den Bourgeois und aus Furcht vor den Franzosen. Und ob er wüßte, daß die Franzo-sen herkämen, und was sie dann machen würden, die Franzosen würden doch keine Bewaffneten dulden, und ob sie kämpfen würden, ob sie kämpfen würden gegen die Franzosen?

V. Das Lager der Gegenrevolution

Gustav Stresemann Seit jenem 9. November ist nunmehr etwa ein Jahr vergangen. In der schnellebigen Zeit, in der wir leben, ist ein Jahr mehr als sonst ein Jahrzehnt. Was vor der Revolution lag, erscheint wie im Dämmer ferner Vergangenheit, obwohl uns von ihm nur eine verhältnismäßig kurze Zeitspanne trennt. Wir leben in der Zeit des durch die Revolution geschaffenen neuen Deutschland. Was hat es uns bisher gebracht?

Fest steht zunächst das Negative: er hat uns bis heute einen Frieden nicht gebracht: Weder den Gerechtigkeitsfrieden, den die Anhänger der Revolution uns als schönen Lohn deutscher Demokratisierung und Revolutionierung versprachen, noch den Frieden überhaupt [. .. ]

Die verlockenden Ideen von Völkerbund und Völkerversöhnung und einer neuen sittlichen Erhebung des Menschengeschlechts sind längst als Betrug erkannt. Die große außen-politische Weltillusion des 9. November ist verflogen. Alle Hoffnungen, die etwa in dem Schlagwort ausmündeten: durch die Revolution zum Frieden, sind hoffnungslos zerstört.

Die Revolution hat uns nicht die innere Versöhnung gebracht. Leidenschaftlicher als je bekämpfen sich im neuen Deutschland die neuen Parteien. Die deutsche Arbeiterschaft ist gespalten. Haase nennt Scheidemann einen Verräter. Der wildeste Terror wird gegen den Parteifeind angewendet und soweit das deutsche Volk nicht wieder apathisch geworden ist, steht es sich in den einzelnen extremen Partei-richtungen so fremd gegenüber, als sprächen die Menschen eine verschiedene Sprache. Niemand garantiert, daß der ersten Revolution nicht eine zweite folgt. Bürgerblut ist unter der Republik mehr geflossen, als unter der 500jäh-rigen Herrschaft der Hohenzollern. Belagerungszustand, Zeitungsverbote, militärische Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Ordnung, alle die Mittel des alten Regimes, nur verschärft und vergröbert, kennzeichnen den Stand der Dinge auf der einen Seite, der Schrei gegen die Noske-Garde und die Bluthunde

Da lachte der Kerl und sagte: „Wir nicht, wer noch?" und spie in die Ecke.

Ernst von Salomon, Die Geächteten, Verlag Rowohlt, Berlin 1933, S. 22— 25. tönt von der anderen Seite. Das deutsche Wirtschaftsleben ist gegenwärtig beinahe hoffnungslos verrottet. Der furchtbare Sturz der Kurve der deutschen Produktion seit dem 9. November kann nur millimeterweise eingeholt werden [... ]

Die in den letzten Kriegsjahren beginnende Durchlöcherung der deutschen Sitten wurde durch die Revolution zum Niederbruch der Sitten und der Moral weitergeführt. Der ehrliche Handel und Wandel kann vor behördlichen Schikanen und Steuern nicht aus und ein, der Mittelstand geht hoffnungslos zugrunde, aber Schieber und Wucherer bilden die neue Aristokratie des Landes und schänden den Leichnam der gemordeten deutschen Nation durch Orgien der Spielleidenschaft, geschmackloser Lustbarkeiten und Selbstentwürdigung. Die Korruption hat Hausrecht im neuen Deutschland erlangt. Soweit in der kurzen Zeit möglich, ist an die Stelle des alten, in manchem vielleicht engherzigen, aber sachlich und fachlich erprobten Beamten die besoldete Partei-tüchtigkeit getreten.

Wer freut sich eigentlich des 9. November? Die Demokratie beginnt von ihm abzurücken, obwohl sie ihn erst bejubelte. Das Zentrum macht aus seiner Abneigung kein Hehl. Die Sozialdemokratie steht im Zeichen des Katzenjammers und einer ihrer Führer gesteht, daß die Massen sagten: wenn das Sozialismus ist, was wir heute erleben, dann wollen wir wieder zurück zum alten Regime. Die Unabhängigen fühlen sich durch den 9. November betrogen, weil die Revolution in einer Farce der kapitalistischen Republik geendet habe. Die Gefühle unserer Freunde bedarf es nicht darzulegen. Müde und armselig schleppt sich die Revolution durch das erste Jahr ihres Bestehens, überall Niederbruch, fast nirgends ein Anfang von Neuem. — Das ist die Novemberstimmung, in der das deutsche Volk den Jahrestag der Revolution begeht.

Suchen wir nach dem großen Fehler der Revolution, nach dem, was ihr in der Geschichte ewig als Makel anhaften wird, dann ist es das Fehlen der Idee, der nationalen Erhebung zur Durchsetzung der Lebensbedingungen des deutschen Volkes. Gewiß ist es unrichtig, das ganze Elend unserer Tage lediglich auf die Revolution schieben zu wollen. Sie übernahm eine bitter schwere Erbschaft; der Sieg im Weltkrieg war nicht mehr zu gewinnen, es ging nur noch um den ehrenvollen Frieden. Hier aber ist sie mit dem ungeheuren Schuld-konto belastet, die Zersetzung im Heere durch die Agenten der Revolution vorbereitet und durch die Regierung der Revolution nicht verhindert zu haben [. .. ]

Der Friede war nur noch unter Opfern zu erkaufen, aber daß er zum Niederbruch unserer ganzen Weltstellung führte, das ist die Errungenschaft der Revolution. Und deshalb wird der Revolutionstag nie nationaler Gedenktag in Deutschland werden. Die Revolution und die Republik, beide vermögen dem Gemüt des deutschen Volkes nichts zu geben. Die leidenschaftliche Auflehnung der deutschen akademischen Jugend und Schuljugend in den gebildeten Ständen gegen den Geist des 9. November zeigt uns den Weg in die neue Zukunft. Noch immer führte die deutsche Bildung, in der Jugend verkörpert, das Volk zu neuer Entwicklung. Die gemütsarme und in der Niedertrampelung unserer nationalen Ehre gemüts-rohe Revolution hat bei dieser Jugend ausgespielt und sich damit um ihr Zukunftsgedenken im deutschen Volke gebracht. Sie wird nie mit deutscher Größe, sondern sie wird nur in Verbindung mit dem deutschen Elend der Gegenwart genannt und von späteren Geschlechtern verflucht werden.

Stresemann, Gustav, „Zum Jahrestag der Revolution", Artikel in der Wochenschriit „Deutsche Stimmen" vom 5. 11. 1919, in: Gustav Stresemann, Von der Revolution bis zum Frieden von Versailles. Reden und Aufsätze, Staatspolitischer Verlag G. m. b. H., Berlin 1919, S. 190— 194.

Kuno Graf von Westarp 1864— 1945, konservativer Politiker, 1908 bis 1920 Oberverwaltungsgerichtspräsident in Berlin, Mitglied des Reichstags 1908— 1918 (konservativ) und 1920— 1932 (bis 1930 deutsch-national), trat aus Protest gegen Hugenberg aus der Deutschnationalen Volkspartei aus und gründete 1930 die Konservative VolksPartei.

Auszug aus einem Artikel Westarps vom 10. November 1918 Preußens Königsthron ist zerbrochen. Die in 500jähriger Geschichte begründete Herrscher-stellung der Hohenzollern hat ihr Ende gefunden. Der deutsche Kaisertraum ist ausgeträumt, des Deutschen Reiches Herrlichkeit und Weltstellung ist vernichtet; das alte ruhmbedeckte preußische und deutsche Heer, die Flotte, der Stolz und Liebling des Volkes, liegen mit beschmutztem Ehrenkleide am Boden. Unsagbar schwer wurde das deutsche Volk durch das Geschick betroffen, daß es nach einem Heldenkampfe von 50 Monaten der Übermacht von vier Fünfteln der ganzen Menschheit militärisch erliegen mußte; schwerer noch und vernichtender trifft es die eigene Schuld, daß es zuletzt sich selbst aufgab, daß es sich lossagte von Treue und beschworener Pflicht, von Würde und Ehre, daß es sich wehrlos in die Hand seiner Feinde gab. Vor unsern Augen steht in unerbitterlicher Klarheit das Bild der Sühne, die dem deutschen Volke nicht erspart bleiben wird. Ein fürchterliches Erwachen wird dem Taumel der jetzigen Tage folgen. Noch hat man, da diese Zeilen geschrieben werden, die Waffenstillstandsbedingungen nicht bekanntgegeben, die der Feind dem wehrlos sich Ergebenden vorzuschreiben für gut befunden hat; noch kennen wir die Friedensbedingungen nicht, die er alsdann diktieren wird. Wer zweifelt daran, wie sie aussehen werden? Jahrzehnte der Lohnsklaverei stehen bevor, in denen der unbarmherzige angelsächsische Herr der Welt dem deutschen Volke eine wirtschaftliche, persönliche und politische Knechtschaft aufzwingen wird, wie sie noch nie erhört worden ist. Innerer Zerfall, eine unüberbrückbare Kluft im eigenen Volke, die Unfertigkeit aller staatlichen Einrichtungen wird auf lange hinaus die Kraft zu neuem Aufschwung lähmen. Erst die Geschichte wird die Größe der Schuld ganz ermessen, mit der diejenigen belastet sind, die die Verantwortung für diesen Ausgang tragen. Durch Partei-sucht verblendet, haben die Sozialdemokraten um ihrer eigenen Herrschaft willen das Land dem Feinde preisgegeben. Haltlosigkeit, Schwäche, Furcht bei den regierenden Stellen und im Lager der bürgerlichen Parteien haben mit der unerbittlichen Folgerichtigkeit weltgeschichtlicher Entwicklung dem Ende zuge-trieben, vor dem wir jetzt stehen. Wir Konservativen haben das Schicksal nicht wenden können. Gemäß unserer Pflicht und unserer Über-zeugung haben wir nicht aufgehört, warnend unsere Stimme zu erheben; man hat schon während der Herrschaft des früheren Regierungssystems uns keinen Einfluß eingeräumt und uns während des Krieges seit über Jahr und Tag von jeder Mitwirkung ausgeschlossen. Wir werden weiter unsere Pflicht gegen das Vaterland erfüllen.... Heute sei uns noch gestattet, schweigend in stillem Schmerz das Haupt zu senken.

Auszug aus einem Artikel Westarps vom 10. November 1918, zitiert in: Grai Westarp, Konservative Politik im letzten Jahrzehnt des Kaiserreiches, Deutsche Verlagsgesellschait Berlin 1935, Band II, S. 665.

Elard von Oldenburg-Januschau 1855— 1937, Rittergutsbesitzer auf Januschau, als deutsch-konservatives Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses (1898— 1910), des Reichstags (1902— 1912) und des Preußischen Herrenhauses (1915— 1918) einer der Führer der ostelbischen Agrarier. 1930— 1932 erneut Mitglied des Reichstags (deutschnational).

Ohne Macht und in dem rasenden Taumel dieser Tage auch ohne Einfluß gab es für meine Freunde und mich keinen Weg mehr, der Revolution im Innern entgegenzutreten und damit den Zusammenbruch der fünfhundertjährigen Monarchie der Hohenzollern zu verhindern. Ich finde keine Worte, um meinen Schmerz über das Geschehen des Novembers 1918 wiederzugeben, um zu schildern, was in mir zerbrach. Ich fühlte eine Welt einstürzen und unter ihren Trümmern alles das begraben, was der Inhalt meines Lebens gewesen war, was meine Eltern mich von Kindesbeinen an zu verehren gelehrt hatten. Das Werk, an dem Jahrhunderte gebaut, wofür auch meine Vorfahren gestritten hatten, war nicht mehr. Das stolze Königsgeschlecht der Hohenzollern, für das mein Herzblut zu vergießen ich erzogen und bereit war, dem meine ganze Liebe gehörte, war in den Staub gesunken. Der Ehren-schild Preußens, der junge Ruhm des Deutschen Reiches war durch den Verrat des eigenen Volkes im Angesicht des Landesfeindes besudelt worden.

Zerrissenen Herzens machte ich mich auf den Heimweg und fuhr nach Westpreußen zurück, um wenigstens dort in den mir gezogenen Grenzen für Zucht und Ordnung zu sorgen. In Januschau begrüßte mich mein alter Diener mit der Botschaft, daß sich auch hier der Geist der Auflehnung bemerkbar gemacht habe. Einer meiner Knechte habe sich nicht ohne drohende Worte gegen mich zum Herrn auf Januschau erklärt. In dem Gefühl, daß hier auf meinem eigenen Grund und Boden schnell, persönlich und kräftig gehandelt werden müsse, nahm ich einen handfesten Knotenstock und begab mich auf das Feld, wo auch der erwähnte Knecht arbeitete. Ich trat auf ihn zu, nahm ihn beim Ohr und fragte ihn: „Wer regiert in Januschau?" Als er nicht antwortete, schrie ich ihn an: „Ich haue dich in die Fress', daß du Kopp stehst." Diese Sprache verstand er. Sein Mut verließ ihn, und er bezeichnete mich als den Herrn. Das gegenseitige Vertrauensverhältnis war wieder hergestellt. Er arbeitet nach wie vor mit der gewohnten Gewissenhaftigkeit in meinem Betriebe. Damit war die Revolte in Januschau erledigt. Das Beispiel wirkte so, daß seitdem nie wieder eine Auflehnung bei mir vorgekommen ist.

Dann aber begann es in meinem Kreise unruhig zu werden. Allenthalben wurden Drohungen laut. So wurde ich zum Beispiel gewarnt, ich solle mich nicht auf meinem in der Gegend sehr bekannten Schecken in Deutsch-Eylau blicken lassen. Ein Telefonanruf aus Danzig kündigte mir den Besuch zweier Lastwagen mit revolutionären Matrosen an, die mich ausheben wollten. Ich antwortete nur: „Die haben wenigstens etwas zu heben." Immerhin hielt ich es unter diesen Umständen für angezeigt, einen Stoßtrupp ins Leben zu rufen. Er bestand aus 36 Mann — alles altgediente Soldaten, die mit Waffen und Munition wohl versehen waren. Aber er brauchte nicht in Aktion zu treten. Sein Dasein hat genügt, um die Ordnung im Kreise aufrechtzuerhalten.

Oldenburg-Januschau, Elard von, Erinnerungen, Verlag Koehler und Amelang, Leipzig 1936, S. 208 f.

Oberst Wilhelm Reinhard Geb. 1869, im Ersten Weltkrieg Kommandeur des 4. Garderegiments zu Fuß, organisierte Ende 1918 ein Freikorps, das er im Januar gegen den Spartakusaufstand in Berlin einsetzte. Später SS-Oberführer, General in der Wehrmacht, 1934— 1943 Präsident des Kyffhäuserbundes, einer Dachorganisation von Krieger-vereinen.

Schon in Belgien hatte ich mit dem Kommandeur des Ersten Garde-Regiments, Grafen Eulenburg, über unser ferneres Wirken in der Armee gesprochen. Wir waren übereingekommen, ihr so lange zu dienen, wie es unsere Ehre als preußischer Offizier ermöglichte, wollten aber beide nicht den Fluch der Geschichte auf uns sitzen lassen, als Kommandeure aus dem alten Gardekorps die Zustände zu fördern, die in Deutschland eingetreten waren. Wir verabredeten uns, zum Kriegsminister zu fahren und zu versuchen, in Berlin Ordnung zu schaffen.

Der Minister, Exzellenz Scheüch, der uns sehr wohwollend empfing, hielt die Sache für aus-sichtslos. Er war ja Kenner der Verhältnisse. Exzellenz Scheüch meinte, daß auch die soge-nannte Regierung wenig tun könne.

Wir bestanden auf einer Zusammenkunft mit Herrn Ebert, den wir fragen wollten, was aus Deutschland würde, und erhielten sie durch Vermittlung des Kriegsministers zugesagt.

Am 10. Dezember war ich mit meinem Divisionskommandeur, dem verstorbenen General von Jena, Zeuge des Einmarsches der ersten Truppe, der Garde-Kavallerie-Schützendivision in Berlin. Er in tadelloser Generalsuniform mit Helm; ich in Felduniform, Mütze und Revolver.

Schon bei unserer Ankunft war die jammer-volle Absperrung der von Wels gegründeten republikanischen Soldatenwehr auf dem Pariser Platz durchbrochen. Zehntausende von Menschen, meist pärchenweise, strömten in wildem Gedränge durcheinander. Irgendeine Ordnung existierte nicht. [. . . ]

Der Wagen des Kriegsministers rollte an. Er wollte zur Tribüne. Kaum hielt das Auto im Gedränge, als Dutzende von Menschen das Dach erkletterten, so daß unter der Last die Reifen platzten. Schließlich erschienen die Anfänge der Truppe. Sie marschierten auf, und Herr Ebert redete. Aber schon marschierte eine neue Brigade an, im Volksgedränge von der Ansprache nichts hörend. Unter dem Brandenburger Tor kam ihre Musik nicht weiter und spielte laut schallend „Deutschland, Deutschland über alles!"

Zwischen der ersten und zweiten Strophe rief jemand aus der Menge: „Nu, Kinders, singt doch mit!" und schon stimmte alles in die alte Weise ein.

Als man sang „Deutsche Frauen, deutsche Treue", war es, als wenn alles sich besänne. Man sah sich unangenehm berührt um; das Lied und die Musik verhallte, über die Wangen eines alten Herrn mit weißen Haaren rollten Tränen. Man schämte sich, es war das Ende! Auf den Wagen und Pferden der vor-überrollenden Truppenfahrzeuge saßen Weiber und Matrosen und paradierten in wüstem Durcheinander vor dem Oberhaupt der Republik, [... ]

Ebert verließ die Kanzel und wanderte, von einem Matrosen untergefaßt, hutschwenkend dem Palais eines Bismarck zu.

Am Abend fand nunmehr die Unterredung mit ihm im Kriegsministerium statt. [... ] Zu der Besprechung mit dem Volksbeauftragten Ebert waren außer dem Kriegsminister, Exzellenz Scheüch, der mit dem Kommando über die Truppen in und um Berlin beauftragte General Lequis, einzelne Regimentskommandeure und Offiziere der Stäbe anwesend.

Ich wurde aufgefordert, die militärische Lage klarzulegen, und führte aus, daß die alten Jahrgänge der Armee nicht — wie angeordnet — zu entlassen seien, damit das Heer bestehen bliebe und Deutschland einen leidlichen Frieden bekäme. Ebert und sein Staatssekretär der Reichskanzlei Baake erklärten dies für unausführbar, nachdem einmal die Entlassung befohlen sei.

AIs ich erwiderte, daß mit den jungen, eben erst eingezogenen und durch die Revolution verdorbenen Leuten der Ersatzbataillone nichts zu machen wäre, sagte Baake, es sei nicht der richtige Ton, den ich hier dem ersten Volks-beauftragten gegenüber fände. „Das preußische Offizierkorps gehört nach Golgatha, dann wird alles besser werden."

Ich erwiderte ihm, die Sozialdemokratie wolle uns vernichten; der Geist des größtenteils auf den Schlachtfeldern ruhenden preußischen Offizierkorps würde aber aufstehen.

Die Unterredung drohte sehr scharf zu werden. Ebert bat in ruhigerem Ton, damit die Besprechung zu einem Ergebnis führen könne. Es kam nur noch die Lage innerhalb Deutschlands in Betracht. Ich machte nunmehr darauf aufmerksam, daß durch die Massenverhetzung und die durch Liebknecht allerorts betriebene Volksbewaffnung mit neuen revolutionären Aufständen unter der roten Fahne zu rechnen sei. Die schon in jenen Tagen unruhige Volks-Marinedivision würde der Ausgangspunkt für derartige Bestrebungen sein. Ich schlug vor, zur Beruhigung des Landes zu mindesten sofort ein Gesetz herauszugeben, wonach jeder, der unberechtigt Militärwaffen, Munition usw. im Besitz hätte und sie nicht in 48 Stunden an der Militärbehörde ablieferte, zu erschießen sei.

Ebert und Baake sprangen erregt auf.

Dieser führte aus, daß meine Forderung ausgeschlossen sei, weil es ein alter Grundsatz der Sozialdemokratie sei, die Todesstrafe aufhören zu lassen. Schließlich wurde beschlossen, daß jeder, der Waffen besäße, mit einer erheblichen Geldstrafe belegt werden sollte. Infolge der notwendigen Zustimmung der unabhängigen Volksbeauftragten zu dem Beschluß er-schien das Gesetz erst sehr viel später und naturgemäß ohne jede Wirkung. Meiner Ansicht, daß der Liebknecht-Aufstand beginnen würde, sobald die alten Jahrgänge der Armee entlassen seien, wurde widersprochen. Ebert und Baake wollten von einem solchen Auf-stande nichts wissen. Sie verließen erregt und mißmutig das Ministerium. Der General Le-quis, der folgte, äußerte: „Der Sozialdemokrat wird den Dreck noch essen, den er gemacht hat."

Bei dem durch die jahrzehntelange Verhetzung, durch die Presse in seinem Wahn genährtem Volk, alles Militärische zu beseitigen, war das wenige durch die Ereignisse noch brauchbare Personal der Armee nach der Entlassung der alten Jahrgänge kaum noch in der Lage, das große hereinbrechende Unglück zu wenden.

Reinhard, Wilhelm, 1918— 1919. Die Wehen der Republik, Verlag Bischoff, Berlin 1933. S. 41— 45.

Adolf Hitler 1889— 1945, nationalsozialistischer Parteiführer, 1933— 1945 Reichskanzler, 1934 Reichspräsident, starb durch Selbstmord.

So kam ich [nach der Verwundung durch einen Gasangriff im Oktober 1918] in das Lazarett Pasewalk in Pommern, und dort mußte ich — die Revolution erleben!

*

Es lag etwas Unbestimmtes, aber Widerliches schon lange in der Luft. Man erzählte sich, daß es in den nächsten Wochen „los“ gehe — ich vermochte mir nur nicht vorzustellen, was darunter zu verstehen sei. Ich dachte in erster Linie an einen Streik, ähnlich dem des Frühjahrs. Ungünstige Gerüchte kamen dauernd aus der Marine, in der es gären sollte. Allein auch dieses schien mir mehr die Ausgeburt der Phantasie einzelner Burschen als Angelegenheit größerer Massen zu sein. Im Lazarett selbst redete wohl jeder von der hoffentlich doch bald herbeieilenden Beendigung des Krieges, allein auf ein „Sofort" rechnete niemand. Zeitungen konnte ich nicht lesen.

Im November nahm die allgemeine Spannung zu.

Und dann brach eines Tages plötzlich und unvermittelt das Unglück herein. Matrosen kamen auf Lastkraftwagen und riefen zur Revolution auf, ein paar Judenjungen waren die „Führer" in diesem Kampfe um die „Freiheit, Schönheit und Würde" unseres Volksdaseins. Keiner von ihnen war an der Front gewesen. Auf dem Umweg eines sogenannten „Tripperlazaretts" waren die drei Orientalen aus der Etappe der Heimat zurückgegeben worden. Nun zogen sie in ihr den roten Fetzen auf. [... ]

Meine erste Hoffnung war noch immer, daß es sich bei dem Landesverrat nur um eine mehr oder minder örtliche Sache handeln konnte. Ich versuchte auch einige Kameraden in dieser Richtung zu bestärken. Besonders meine bayerischen Lazarettgenossen waren dem mehr als zugänglich. Die Stimmung war da alles andere eher als „revolutionär". Ich konnte mir nicht vorstellen, daß auch in München der Wahnsinn ausbrechen würde. Die Treue zum ehrwürdigen Hause Wittelsbach schien mir denn doch fester zu sein als der Wille einiger Juden. So konnte ich nicht anders als glauben, daß es sich um einen Putsch der Marine handle, der in den nächsten Tagen niedergeschlagen werden würde.

Die nächsten Tage kamen, und mit ihnen die entsetzlichste Gewißheit meines Lebens. Immer drückender wurden nun die Gerüchte. Was ich für eine lokale Sache gehalten hatte, sollte eine allgemeine Revolution sein. Dazu kamen die schmachvollen Nachrichten von der Front. Man wollte kapitulieren. Ja, war so etwas überhaupt auch nur möglich?

Am 10. November kam der Pastor in das Lazarett zu einer kleinen Ansprache; nun erfuhren wir alles.

Ich war, auf das äußerste erregt, auch bei der kurzen Rede anwesend. Der alte, würdige Herr schien sehr zu zittern, als er uns mitteilte, daß das Haus Hohenzollern nun die deutsche Kaiserkrone nicht mehr tragen dürfe, daß das Vaterland „Republik" geworden sei, daß man den Allmächtigen bitten müsse, diesem Wandel seinen Segen nicht zu versagen und unser Volk in den kommenden Zeiten nicht verlassen zu wollen. Er konnte dabei wohl nicht anders, er mußte in wenigen Worten des königlichen Hauses gedenken, wollte dessen Verdienste in Pommern, in Preußen, nein um das deutsche Vaterland würdigen, und — da begann er leise in sich hineinzuweinen — in dem kleinen Saale aber legte sich tiefste Niedergeschlagenheit wohl auf alle Herzen, und ich glaube, daß kein Auge die Tränen zurückzuhalten vermochte. Als aber der alte Herr weiter zu erzählen versuchte und mitzuteilen begann, daß wir den langen Krieg nun beenden müßten, ja daß unter Vaterland für die Zukunft, da der Krieg jetzt verloren wäre und wir uns in die Gnade der Sieger begäben, schweren Bedrük-kungen ausgesetzt sein würde, daß der Waf-fenstillstand im Vertrauen auf die Großmut unserer bisherigen Feinde angenommen werden sollte — da hielt ich es nicht mehr aus. Mir wurde es unmöglich, noch länger zu bleiben. Während es mir um die Augen wieder schwarz ward, tastete und taumelte ich zum Schlafsaal zurück, warf mich auf mein Lager und grub den brennenden Kopf in Decke und Kissen. [. .. ]

Es war also alles umsonst gewesen. Umsonst all die Opfer und Entbehrungen, umsonst der Hunger und Durst von manchmal endlosen Monaten, vergeblich die Stunden, in denen wir, von Todesangst umkrallt, dennoch unsere Pflicht taten, und vergeblich der Tod von zwei Millionen, die dabei starben. Mußten sich nicht die Gräber all der Hunderttausende öffnen, die im Glauben an das Vaterland einst hinausgezogen waren, um niemals wiederzukehren? Mußten sie sich nicht öffnen und die stummen, schlämmund blutbedeckten Helden als Rache-geister in die Heimat senden, die sie um das höchste Opfer, das auf dieser Welt der Mann seinem Volke zu bringen vermag, so hohnvoll betrogen hatte? Waren sie dafür gestorben, die Soldaten des Augusts und Septembers 1914, zogen dafür die Freiwilligen-Regimenter im Herbste desselben Jahres den alten Kameraden nach? Sanken dafür diese Knaben von siebzehn Jahren in die flandrische Erde? War dies der Sinn des Opfers, das die deutsche Mutter dem Vaterlande darbrachte, als sie mit wehem Herzen die liebsten Jungen damals ziehen ließ, um sie niemals wiederzusehen? Geschah dies alles dafür, daß nun ein Haufen Ielender Verbrecher die Hand an das Vaterland zu legen vermochte? [... ]

Elende und verkommene Verbrecher!

Je mehr ich mir in dieser Stunde über das ungeheuere Ereignis klar zu werden versuchte, um so mehr brannte mir die Scham der Empörung und der Schande in der Stirn. Was war der ganze Schmerz der Augen gegen diesen Jammer?

Was folgte, waren entsetzliche Tage und noch bösere Nächte — ich wußte, daß alles verloren war. Auf die Gnade des Feindes zu hoffen, konnten höchstens Narren fertig bringen oder — Lügner und Verbrecher. In diesen Nächten wuchs mir der Haß, der Haß gegen die Urheber dieser Tat.

In den Tagen darauf wurde mir auch mein Schicksal bewußt. Ich mußte nun lachen bei dem Gedanken an meine eigene Zukunft, die mir vor kurzer Zeit noch so bittere Sorgen bereitet hatte. War es nicht zum Lachen, Häuser bauen zu wollen auf solchem Grunde? Endlich wurde mir auch klar, daß doch nur eingetreten war, was ich so oft schon befürchtete, nur gefühlsmäßig nie zu glauben vermochte.

Kaiser Wilhelm II. hatte als erster deutscher Kaiser den Führern des Marxismus die Hand zur Versöhnung gereicht, ohne zu ahnen, daß Schurken keine Ehre besitzen. Während sie die kaiserliche Hand noch in der ihren hielten, suchte die andere schon nach dem Dolche.

Mit dem Juden gibt es kein Paktieren, sondern nur das harte Entweder — Oder.

Ich aber beschloß, Politiker zu werden.

Hitler, Adolf, Mein Kampf, Zwei Bände in einem Band, München 40 1933, S. 221— 225.

Zeittafel

1918 28. Oktober In Wilhelmshaven Auflehnung von Matrosen der deutschen Hochseeflotte gegen Vorstoß in die Nordsee. Von da an Ausbreitung der Matrosenmeuterei auf weitere Hafenstädte. 4. November Matrosen in Kiel überreichen dem Gouverneur 14 Forderungen. 4. — 9. November In ganz Nordwest-und Mitteldeutschland Sympathiekundgebungen für die Kieler Matrosen. Bildung von Arbeiter-und Soldatenräten. 6. November Abreise der deutschen Waffenstillstands-delegation nach dem Westen. 7. November SPD fordert sofortigen Rücktritt des Kaisers und des Kronprinzen. 7. /8. November Ausrufung der Republik in München. Regierungsbildung unter Kurt Eisner (USPD). 9. November Generalstreik in Berlin. Der Reichskanzler Prinz Max von Baden übergibt Friedrich Ebert (SPD) das Kanzleramt und gibt die Abdankung Kaiser Wilhelms II. bekannt.

Philipp Scheidemann (SPD) proklamiert vom Reichstagsgebäude aus die deutsche Republik. 10. November Bildung des Rates der Volksbeauftragten (der vorläufigen Reichsregierung), dem 3 Sozialdemokraten (Ebert, Landsberg, Scheidemann) und 3 Unabhängige Sozialdemokraten (Haase, Dittmann, Barth) angehören. Versammlung der Berliner Arbeiter-und Soldatenräte im Zirkus Busch. Dort Wahl des Vollzugsrats und Bestätigung des Rats der Volksbeauftragten. 11. November Unterzeichnung des Waffenstillstandes im Wald von Compiegne. 25. November Konferenz der Vertreter aller deutscher Bundesstaaten mit der Reichsregierung in Berlin (Reichskonferenz). 30. November Erlaß des Wahlgesetzes für die verfassunggebende deutsche Nationalversammlung. 6. Dezember Vorübergehende Verhaftung des Vollzugsrats. Blutige Zusammenstöße zwischen Demonstranten und Regierungstruppen in Berlin. 16. — 21. Dezember Reichskonferenz der Arbeiter-und Soldatenräte in Berlin. Wahl des 27köpfigen Zentralrats der Deutschen Sozialistischen Republik, dem nur Mitglieder der SPD angehören. 23. /24. Dezember Meuterei der Volksmarinedivision in Berlin. Kämpfe um Schloß und Marstall zwischen Matrosen und Regierungstruppen unter General Lequis.

29. Dezember Austritt der USPD aus der Reichsregierung. Eintritt von Wissell und Noske (SPD) in die Regierung.

30. Dezember — 1. Januar Reichskonferenz des Spartakusbundes in Berlin, auf der die Kommunistische Partei Deutschlands gegründet wird. 1919 3. Januar Austritt der USPD aus der preußischen Regierung.

5. — 12. Januar Spartakusaufstand in Berlin. Niederschlagung durch Truppen unter Oberbefehl von Noske.

15. Januar Ermordung Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs durch Angehörige der Gardekavellerieschützendivision. 19. Januar Wahl zur verfassunggebenden deutschen Nationalversammlung.

6. Februar Eröffnung der Nationalversammlung in Weimar.

13. Februar Bildung des Kabinetts Scheidemann.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Mehrheitssozialist, Innenminister in der Regierung Kurt Eisner.

  2. Palais des Tuileries, ehemaliges Schloß der französischen Könige in Paris, Anspielung auf die Erstürmung der Tuilerien durch revolutionäre Pariser Massen am 10. August 1792.

  3. In Stuttgart

  4. Bund „Neues Vaterland", eine Anfang des Ersten Weltkrieges gegründete Organisation linker Intellektueller, die für einen Verständigungsfrieden eintrat.

  5. Führender USPD-Vertreter, MdR, Rechtsanwalt. Noch am gleichen Tag verhandelte er mit Ebert über den Eintritt seiner Partei in die neu zu bildende Regierung.

  6. Führender Sozialdemokrat, 1913— 1933 Redakteur der „Rheinischen Zeitung", 1919— 1933 MdR, 13. 8. — 3. 11. 1923 Reichsinnenminister.

  7. Lat.: „Zuerst leben”.

  8. Ferdinand Freiligrath, 1810— 1876, radikal-politischer Dichter.

  9. Georg Herwegh, 1817— 1885, • Freiheitsdichter, 1849 am Aufstand in Baden beteiligt.

  10. Die Fahrt hatte in Düsseldorf begonnen.

  11. Lewald war zu jener Zeit Unterstaatssekretär im Reichsamt des Innern.

  12. Constantin Fehrenbach (1852— 1926), Mitglied der Zentrumspartei, seit Juni 1918 Präsident des Deutschen Reichstags. In den ersten Wochen nach der Revolution bemühte er sich vergebens um die Einberufung des Reichstags.

  13. Lat.: „Die Idole der kleinen Leute".

  14. 1918 als Nachfolger Ludendorffs Erster General quartiermeister.

  15. Finanzminister in der Regierung Eisner. 17) Bekannter Dichter und Schriftsteller.

  16. Historiker, Pazifist.

  17. Historiker und als Herausgeber der „Preußischen Jahrbücher" einer der bekanntesten Publizisten der Zeit.

  18. Sieg Spartas über Athen 405 v. Chr.

  19. Französischer Marschall, 1918 Oberbefehlshaber der verbündeten Truppen in Frankreich.

  20. Anspielung auf die Äußerung Noskes bei der Übernahme des Auftrages, den Spartakusaufstand Januar 1919 zu unterdrücken: „Einer muß der Blut-hund werden, ich scheue die Verantwortung nicht."

  21. Richtig: Unterstaatssekretär

Weitere Inhalte

Dr. Susanne Miller ist wissenschaftliche Referentin bei der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien in Bad Godesberg. Professor Dr. Gerhard A. Ritter ist Ordinarius für Neuere Geschichte in Münster.