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Die ideologischen Grundlagen der Neuen Linken | APuZ 15/1969 | bpb.de

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APuZ 15/1969 Einheit vor Freiheit im Programm der NPD Die ideologischen Grundlagen der Neuen Linken

Die ideologischen Grundlagen der Neuen Linken

Andreas von Weiss

Die Neue Linke wird als eine Erscheinung des politischen Lebens als bekannt vorausgesetzt. Hier soll von ihren geistigen Grundlagen in einer Übersicht, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umfaßt, die Rede sein. 1. Der Einmarsch der sowjetischen Truppen in die CSSR, der in der Nacht vom 20. auf den 21. August 1968 stattfand, schafft eine Zäsur im Ablauf der Gegenwartsgeschichte. Man wird sich daran gewöhnen müssen, manche Tendenzen des Zeitgeschehens, manche politischen Bewegungen, deren Entwicklung man in ihrer Kontinuität zu beobachten hatte, nunmehr auf diese Zäsur zu beziehen. Bei der Darstellung der erwähnten Erscheinungen muß es jetzt heißen: a) Die Entwicklung vor dem 21. August 1968 und b) die Entwicklung nach dem 21. August 1968.

Das Datum vom 21. August 1968 ist nicht nur Zäsur im zeitgeschichtlichen Ablauf, es läßt sich auch als Prüfstein benutzen, an dem die Reaktion der verschiedenen politischen Kräfte gemessen werden könnte, wodurch ihre Wesensmerkmale deutlicher in Erscheinung treten.

Die Methode, den Gehalt, d. h. die Motivation, die Argumentation und die Zielsetzung politischer Bewegungen in einem solchen Prüfstein auf ihre Wertigkeit zu messen, soll auch auf die Neue Linke angewandt werden. Es ergibt sich jetzt die Gelegenheit, die Elemente des Komplexes „Neue Linke" auf ihren wahren Wert zu prüfen. Dies ist so zu verstehen: Auch die Neue Linke wird nach den Geschehnissen in der CSSR in veränderter Gestalt auftreten; das betrifft Personen, Argumente und Aktionen. Es wird, ausgehend von den August-Ereignissen, zu prüfen sein, welche Züge dieser Bewegung sich in Zukunft als bestimmend durchsetzen werden. Für den Vergleich des Vorher und Nachher ist ein kurzgefaßtes Resümee der bisherigen Entwicklung unerläßlich. 2. Die Neue Linke ist eine Herausforderung für die nichtkommunistische Welt und Gesellschaftsordnung, die sie einer rücksichtslosen Kritik unterzieht. Die Neue Linke ist nicht nur eine weltweite Bewegung, sie hat auch eine weltweite Bedeutung. Unsere Aufmerksamkeit verdient die Neue Linke, weil die Zentren ihrer Aktivität in den nordatlantischen Industriestaaten liegen; dort beeinflußt diese Bewegung die politische Szenerie. Der Ton liegt hier auf Industriestaaten mit nichtkommunistischer Gesellschaftsordnung; deshalb müßten für eine umfassende Betrachtung auch die Verhältnisse in Japan in die Darstellung einbezogen werden. Doch soll hier das Augenmerk auf Nordamerika und Westeuropa gerichtet sein. 3. Die Träger der Neuen Linken als einer politischen Bewegung sind junge Leute, die sich gegen das von Vertretern der älteren Generation verkörperte Establishment auflehnen. Ihrer sozialen Zugehörigkeit nach sind es überwiegend junge Intellektuelle. Die äußerliche —-demographische und soziologische — Kennzeichnung der Träger der Bewegung verführt oft zu unzulässigen Verallgemeinerungen, indem man gesellschaftskritische und politische Unruhen, die im Sowjetblock zu verzeichnen sind, mit solchen in den nichtkommunistischen Ländern auf einen Nenner zu bringen versucht. Es wird dann aus weiter darzulegenden Gründen gern von der „unruhigen Jugend" im allgemeinen gesprochen. Die Gleichsetzung der Studentenunruhen in Warschau oder Prag mit solchen in Berlin oder Berkeley ist eine unstatthafte Vereinfachung. Es ist nicht anhängig, politische Bewegungen nach dem Alter derjenigen zu klassifizieren, die sich in ihnen aktiv hervortun. Eine politische Bewegung erhält ihre Bedeutung durch die in ihr rationalisierten Emotionen, durch ihre Motivationen, die Argumente und durch ihre zielgerichteten Aktionen. Diese Elemente sind z. B. in Berlin und Warschau überaus verschieden gewesen. 4. Die Neue Linke ist der weitgehend rationalisierte oder ideologisierte Ausdruck einer typischen Gefühls-oder Stimmungslage des Menschen im industriellen Zeitalter. Bei den geistigen und psychischen Grundlagen sind zwei Schichten zu unterscheiden. Erstens die Schicht der weitgehend unbewußten, jedenfalls unreflektierten Gefühlserlebnisse, zweitens die Schicht der Reflexion.

Die Stimmungslage vieler Menschen im industriellen Zeitalter in der Mitte des 20. Jahrhunderts ist gekennzeichnet durch Gefühle der Enttäuschung. Ungeachtet der allenthalben zunehmenden Perfektion des technischen und administrativen Apparates, der erklärtermaßen zur Daseinssicherung aufgebaut wird, fühlt der Mensch eine innere Leere anstatt der erhofften Erfüllung. Er ist unbefriedigt inmitten des überreichlichen, auf Bedürfnisbefriedigung zielenden Konsumangebotes. Der Mensch fühlt sich klein und unbedeutend in und gegenüber den Apparaten. Er kann seine Eigenpersönlichkeit nicht erleben und empfindet sich nur als Funktion der Technik des Lebens im weitesten Sinne. Die Gemeinschaft der Menschen erscheint ihm gestört, er fühlt sich vereinzelt neben anderen Teilchen einer atomisierten Gesellschaft. Der Protest gegen diese Erlebnisse äußert sich in verschiedener Weise. Eine Primärreaktion besteht in der Bejahung der Vereinzelung mittels eines forcierten Individualismus. Dieser äußert sich in einer die Gesellschaft karikierenden Haltung des Ohne-mich, wodurch die einzelmenschliche Kritik an Kultur und Gesellschaft dokumentiert wird. Alle — im einzelnen sehr unterschiedlich zu bewertenden — modernen Formen des Bohemetums, des individuellen Protestes sind hier zu nennen: Beat-Literatur, Provos, Gammler, Hippies, Raggare, Rokker, Heils Angels usw.

Doch die Artikulation des Protestes in einem bestimmten Verhalten gehört eigentlich bereits in den Bereich der Reflexion und damit in die zweite Schicht der geistig-psychischen Grundlagen der Neuen Linken.

Neben jenen mehr allgemein existenzbezogenen oder individuellen Gefühlen der Enttäuschung bestehen solche konstruktiverer Art. Die ungenügende, kritikbedürftige Welt der Gegenwart, ein Produkt der verabscheuungswürdigen Vergangenheit, muß verändert werden. Die Enttäuschung paart sich mit der Lust an vernichtender und schonungsloser Kritik, einer Form der menschlichen Aggressivität.

Da gerade der junge Mensch seine Unvollkommenheit, seine Unreife oft schmerzlich empfindet, versucht er diesen Mangel durch einen Angriff auf den Nebenmenschen abzureagieren. Es fehlt dem jungen Menschen die Erfahrung, daß das Leben Mühe und Arbeit ist, und zwar eigene Mühe und Arbeit. Er lebt mit seinen Gefühlen, mit seinen Hoffnungen in der Zukunft. Die „Forderung des Tages", das „hic rhodus, hic salta", die Notwendigkeit einer gegenwärtigen Pflichterfüllung, hat er noch nicht als das Gesetz menschlicher Existenz erkannt. Er projiziert sein eigentliches Leben in die Zukunft — die Gegenwart ist Behinderung und Unverstand, die Vergangenheit Ballast. Schuld daran ist die ältere Generation — sie lebte in der Vergangenheit, sie hat die unerträglichen Zustände der Gegenwart gezimmert. All dies muß radikal abgelehnt werden.

Die Unzufriedenheit mit den gegenwärtigen Zuständen betrifft alle Bereiche. Doch entstehen aus der Kritik an denjenigen Institutionen, die das Zusammenleben der Menschen in einem Gemeinwesen und den Sozialisierungsprozeß, das Hereinwachsen der jungen Generation in die Gesellschaft, ermöglichen sollen, die brennendsten Probleme. Dieser Umstand und die daraus resultierenden Vorgänge machen die Neue Linke zu einer eminent politischen Bewegung.

5. Ein Gefühl der Auflehnung, des Protestes wird aber erst politisch wirksam, wenn es in Begriffen, Vorstellungen und zielsetzenden Ideen Gestalt gewinnt. Man kann diesen Vorgang, einzelmenschlich gesehen, als Rationalisierung bezeichnen. Auf eine Menschengruppe bezogen spricht man besser von Ideologisierung. Die geistige Grundlage jeder Bewegung ist eine Ideologie. Es gibt keine Bewegung ohne Ideologie. Eine solche bewegungsprägende Ideologie kann sich aus Elementen verschiedener geistiger Systeme zusammensetzen, die durch einen Leitgedanken verbunden erscheinen. Dieser Leitgedanke, dieser gemeinsame geistige Nenner für alle in der Ideologie der Neuen Linken zusammengefaßten Denkrichtungen ist die linke Einstellung der Träger dieser Bewegung. Diese Einstellung äußert sich in der Bereitschaft zu einer rücksichtslosen Kritik alles Bestehenden. Die linke Einstellung, die vorherrschende Neigung zu rationaler Kritik der als irrational erlebten Gegenwart, ist zunächst nur die Voraussetzung einer bestimmten geistigen Verhaltensweise, sie ist Denkmethode, noch nicht Denkinhalt. Aus linker Einstellung erwächst progressives Denken — ein Denken, das von der Gegenwart aus in die Zukunft vorstößt. Linkes Denken muß, um kalkulierbare Größen zu erhalten, vom Ballast der Emotionen und der Denktraditionen weitgehend abstrahieren. Seine Denkinhalte sind rationale Ideale, die es in der Zukunft zu realisieren gilt. Die linke Einstellung bedingt von der Methode her eine gewisse Vorwahl der theoretischen Systeme, die in ihren Elementen Affinität zu der linken Einstellung zeigen, und mit deren Hilfe die Zukunft konstruiert werden soll.

6. Die Neue Linke umfaßt ein breites Spektrum von Denkrichtungen. Die jungen Anhänger dieser Bewegung haben bisher kein origiB näres System ihrer Theorie der Gesellschaftskritik geschaffen. In gleichem Maße, wie die Neue Linke den verschiedenen Propheten, die meist aus der Generation ihrer Väter, ja sogar ihrer Großväter stammen, folgt, findet sie den Ausdruck ihrer Gefühle und Gedanken von diesen geistigen Führern im wahrsten Sinne des Wortes vorgeschrieben.

Es sind vor allem vier wesentliche Denkrichtungen zu unterscheiden: a) Der Existentialismus war willkommen als Denksystem, das dem Erlebnis der individuellen Vereinzelung Ausdruck gab. Er sieht den Menschen als einen beziehungslos in eine sinnlose und feindliche Umwelt „Geworfenen"; aus dieser Situation kann nur das individuelle Engagement, die autonome Setzung des Zieles durch den Einzelmenschen herausführen. Die Vorstellung, mit dieser Setzung einer geistigen Elite anzugehören, findet hier ihre Ansatzpunkte und ihre Formulierungen. b) Die Psychoanalyse dient dem Bedürfnis, kausale Zusammenhänge innerhalb einer umfassenden animalischen Gesetzmäßigkeit auffinden zu können. Die Auffassung des Menschen als eines primitiv-biologischen Wesens, das einen Soziologisierungsprozeß durchmacht, eine „Zähmung" (Freud) mit frühen Vorprägungen und fast mechanisch wirkenden Verhaltensschemata, unterstützt den Zweifel an der Gültigkeit konventioneller Werte. Diese Auffassung erscheint wenigstens als Teillösung des Welträtsels. Gegenüber solchen tiefgründigen Erklärungsversuchen sind die nur politologischen oder ökonomischen Theorien als oberflächlich zu betrachten. Der besondere Reiz der Psychoanalyse als wissenschaftlich praktizierter Enttabuisierung sei hier nur nebenbei erwähnt. Er kommt dem Bildersturm-bedürfnis der jungen Intellektuellen entgegen. c) Die romantisierende Kulturkritik der Neuen Linken — eine moderne Form Rousseauscher Verherrlichung des „Edlen Wilden" — ist zugleich eine Kritik an den Zuständen der entarteten Kultur der nordatlantischen Industrieländer. Kämpferische Wirklichkeit erlangt dieser Protest gegen den „faulen Westen" in den Befreiungskämpfen der kolonialen und halb-kolonialen Völker. Hieran entzünden sich die Gefühle für menschliche Gerechtigkeit, die Sehnsucht nach edler Primitivität, die Verherrlichung der Partisanenromantik und das Verlangen nach dem Abenteuer des radikalen Neubeginns einer jungen Gesellschaft. d) Schließlich — als letzte und entscheidende Denktradition — bestimmen verschiedene Richtungen des Nachfolgemarxismus den geistigen Horizont der Neuen Linken. Vorherrschend sind hier wiederum die anarchistischen Denkelemente des Marxismus. Die permanente Revolution der Trotzkisten ist ein adäquater Ausdruck für die unermüdliche Kritik des Bestehenden seitens der Neuen Linken. Doch ist die Vorherrschaft der Trotzkisten noch durch einen anderen Umstand bedingt.

Die Enttäuschung über die gesellschaftlichen Zustände erwuchs auch aus dem Erlebnis des Immobilismus der politischen Lage nach dem letzten Kriege, als der Fortschritt der Welt im „Kalten Krieg" der beiden Supermächte zu erstarren drohte. Hinzu kam die Fehlentwicklung des Marxismus bei seiner Praktizierung in der Sowjetunion. Bald war die Formel für diese Deformation gefunden: „Stalinismus" hieß sie.

Dieser Sündenbock hatte Schuld an allen Mißerfolgen. Er hatte aber auch Trotzki ermorden lassen; so wurde dieser zum letzten Propheten des Marxismus und seine Anhänger zu Gralshütern der reinen Lehre der Revolution.

Ein weiteres Ereignis förderte die diasporaartige Verbreitung neo-marxistischen Denkens außerhalb der kommunistischen Parteien. Die Niederwerfung des ungarischen Aufstandes hatte für den organisierten Extremmarxismus eine vor allem die Organisationen treffende Sprengwirkung. So entstanden viele linkssozialistische Sekten, die um die Verbreitung ihrer Lehre — meist erfolgreich — bemüht waren, konnten sie doch noch unter der Fahne der Gegnerschaft zu den etablierten Kommunisten segeln. Die Folgen der Ereignisse um die CSSR werden ähnlich sein und sich nur durch den Grad ihrer Auswirkungen unterscheiden, denn jetzt treffen die Kommunismuskritiker und Marxismusanhänger auf die ausgebaute Auffangstellung der Neuen Linken.

Wichtig als Ausgangspunkt neo-marxistischer Sektenbildung ist auch der Gegensatz zwischen Rot-China und der Sowjetunion. Auch auf dieser Grundlage stieg die Zahl der Keimzellen „wahren" marxistischen Denkens.

Außer diesen nachfolgemarxistischen Richtungen, die im wesentlichen die Revolutionstheorie ausbauen, gibt es weniger spektakuläre Tendenzen, die das alte originär-marxistische Erbe der soziologischen und ökonomischen Analyse verwalten. Klassenkampf und kapitalistisches Wirtschaftschaos sind auch für die Neue Linke keineswegs veraltete Begriffe oder Termini.

Eine besondere Sparte des Neo-Marxismus, und zwar eine Weiterführung der technologischen Theoreme der Originallehre, scheinen mir gewisse Denkmodelle der Futurologie zu sein. Die Werkzeuge des Menschen, vom Alt-Marxismus als Leitfossilien zur Bestimmung vergangener Gesellschaftsformationen genutzt, werden nun als Wegweiser in die Zukunft zu neuer Ehre erhoben.

Diese Denkrichtungen als geistige Fundamente der Neuen Linken sind untereinander Verbindungen eingegangen. Besonders hervorzuheben wäre die Verbindung der Psychoanalyse mit der marxistischen Soziologie. Doch hat auch der existentialistische Marxismus, der besonders die Auseinandersetzung mit dem originär-marxistischen Problem der Entfremdung in modernisierter Formulierung pflegt, für den Welt-und Kulturschmerz der Neuen Linken einen geschätzten Aussagewert. 7. Die stets aktuelle Bedeutung der Neuen Linken besteht in der durch sie aufgerührten Problematik einiger Grundtatsachen des menschlichen Zusammenlebens.

Es sind dies die Probleme der Revolution oder der Evolution der Gesellschaft, das Problem der Gewalt, die Chance der Gewaltlosigkeit. Ein Kernpunkt der Auseinandersetzung ist das Wesen der Herrschaft, als deren Negation die Anarchie erscheint, schließlich — mit allen vorgenannten Problemen zusammenhängend — das Phänomen menschlicher Autorität, das Gewicht einer menschlichen Persönlichkeit im Zusammenleben mit ihren Mitmenschen. Dabei darf auctoritas nicht mit potestas, Staatsgewalt, Amtsgewalt, verwechselt werden; diese ist ein Teilbereich der Herrschaftsproblematik. Die Dialektik der Probleme Anarchie und Autorität scheint zentral für die Neue Linke zu sein. Die Schwierigkeit für die Neue Linke liegt in dem Umstand, daß der praktizierte Anarchismus in Gegensatz gerät zu der Notwendigkeit der Autoritätsanerkennung, da nur diese die Bildung einer Gesinnungsgemeinschaft ermöglicht. Doch ist wiederum das Verlangen nach radikaler Kritik per definitionem an sich autoritätsfeindlich; das Auftreten von sektiererischen Partialautoritäten verstärkt nur die Zerrissenheit der Gesellschaft. Die Autoritätsfeindlichkeit, wie sie von der Neuen Linken praktiziert wird, erweist sich als zerstörerisch für jede menschliche Gesellschaft. 8. Das Ziel des etablierten Kommunismus, eine spezifische Gesellschaftsformation aufzubauen, bedingt seine kritische Einstellung gegenüber der Neuen Linken. Umgekehrt kritisiert die Neue Linke den etablierten Kommunismus. Diese Bezeichnung bezieht sich auf die herrschenden kommunistischen Parteien. Die in vielen Verlautbarungen geäußerte Kritik speziell am Kommunismus sowjetischer Prägung dient der Neuen Linken — oft unbeabsichtigt — als politisches Alibi. Die Weltöffentlichkeit, an das Denkschema Ostblock-Westblock gewöhnt, wertet jede Kritik an der Führungsmacht des Ostblocks, an der Sowjetunion, für den Kritiker als einen Ausweis für dessen Zugehörigkeit zum Lager der Ostblockgegner. Unterstützt wird diese Fehleinschätzung der politischen Stellung der Neuen Linken durch die allgemeine Neigung, in gewissen Abständen den Tod jeglicher Ideologien zu verkünden. Diese Art der Gesundbeterei ergibt sich aus den verschiedenen Motiven. Der begreifliche Widerwille gegenüber der Engstirnigkeit mancher Ideologien und die daraus resultierende Hoffnung auf die kritische Einsicht der ehemaligen Anhänger einer Ideologie soll hier nicht behandelt werden. Wichtiger — und infolge ihrer Realitätsferne eher besorgniserregend — ist der Versuch, überall Auflösungserscheinungen im Kommunismus zu sehen. Die hierfür übliche Formel lautet: Polyzentrismus. Mit ihr soll das Gespenst des revolutionären marxistischen Kommunismus gebannt werden. Die Hoffnung auf Abschwächung der politischen Stoßkraft des revolutionären Gedankens, die mit der Feststellung eines Polyzentrismus verbunden wird, geht von der Annahme aus, daß die Bildung vieler organisatorischer Zentren den tragenden und vereinigenden Gedanken einer geistigen Bewegung abtöten könnte. Sicherlich könnte dies geschehen. Doch wäre es dann nur ein Beweis, daß die geistigen Grundlagen der Bewegung bereits vorher ihre Virulenz verloren hatten.

Die Neue Linke ist eher ein Beweis dafür, daß ihre geistigen Triebkräfte äußerst virulent sind. Dabei sind die Organisationsformen der Neuen Linken, wenn von ihnen überhaupt die Rede sein soll, ein Paradebeispiel des Polyzentrismus.

Eine andere Argumentationsmethode bei der Beurteilung des Verhältnisses von herrschendem Kommunismus zur Neuen Linken hält sich an die Kritik, die seitens der ideologischen Wortführer im Ostblock an der Neuen Linken geübt wird. Solche kritischen Äußerungen lieB gen in großer Zahl vor. Doch sollten sie richtig gewertet werden. Unübersehbar neben allen Bemerkungen, die sich auf Disziplinlosigkeit und ideologische Unschärfe der Neuen Linken beziehen, steht die Formel: Die Neue Linke ist die Reservearmee des Weltkommunismus. Der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, daß sich die kritischen Darstellungen, die z. B. in der sowjetischen Publizistik über Zustände im kapitalistischen Ausland gegeben werden, fast ausnahmslos, d. h. abgesehen von den Berichten der Auslandsvertreter der sowjetischen Massenmedien, auf die Äußerungen von Vertretern der Neuen Linken in diesen Ländern stützen. 9. Die Neue Linke ist eine internationale Bewegung, die neben ihrer organisatorischen Vielschichtigkeit und scheinbaren Zusammenhanglosigkeit einen unübersehbaren geistigen Konsensus zeigt.

Dieser Konsensus wird erkennbar in der Anerkennung derselben geistigen Führer, in der Vertretung der gleichen Ideen, in der Anwendung der gleichen Argumentation und der gleichen Aktionsmethoden.

Dieser Zusammenhang wird zum Teil erklärbar durch die Art der Verbreitung des Gedankengutes der Neuen Linken, die sich vornehmlich auf die Hochschulen konzentriert. Ferner sind hier die Verbindungswege der geistigen Missionstätigkeit von Bedeutung. Die Neue Linke, wie wir sie jetzt kennen, entstand in den USA in Zusammenhang mit ähnlichen Vorgängen in England, wobei für diese Wechselwirkung insbesondere die sprachlich-kulturellen Beziehungen entscheidend waren. Doch hat die Bewegung erst in den USA Schwung und überzeugende Argumentationsfülle bekommen. Das allgemeine Vorbild, das die USA für das Nachkriegsdeutschland abgaben, wurde gefördert durch den studentischen und allgemeinakademischen Austausch und wirkte dann von Übersee her in die Bundesrepublik.

Auf die Gründe für diese bereitwillige Rezeption nordamerikanischer sozialkritischer Verhaltensmodelle sollte näher eingegangen werden. Die Neue Linke in den USA mit ihren wichtigsten Organisationen, dem SNCC (Students Non-Violent Coordinating Committee) und dem SDS (Students for Democratic Society), wurde dort als eine autochthone nordamerikanische Sozialbewegung aufgefaßt, vergleichbar den Populisten der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts und den Industrial Workers of the World (IWW = Wobblies) der Jahrhundertwende. Sie erscheinen als politischer Neubeginn. Viele ihrer sozialen Forderungen mochten allein in der amerikanischen Szenerie Bedeutung haben (Negerproblem), manche waren gegenüber der in der Bundesrepublik verwirklichten sozialen Errungenschaften überholt. Die Organisationsformen aber, das Suchen nach dem Neubeginn, die Frische, mit der die Forderungen vorgetragen wurden, die neuen Demonstrationsmethoden beeindruckten die bürokratiemüden jungen Intellektuellen der Bundesrepublik und andere junge Leute mit sozialrevolutionären Idealen, die sie gegen jede Tradition durchsetzen wollten.

Die allgemein in den Industriestaaten rezipierte Thematik der Neuen Linken, als deren wesentliche Punkte hier Hochschulkritik als Schlüssel der Gesellschaftskritik und Anti-Vietnamkriegs-Kampagne zu nennen wären, wirkte sich dann, befeuert durch viele international beschickte Veranstaltungen, in anderen europäischen Ländern aus. Zu nennen wären mit Vorrang Frankreich und — weniger wichtig — Italien, Holland, Belgien, die skandinavischen Länder. 10. Die Vorgänge in der CSSR sind ein Prüfstein für die Bedeutung der Neuen Linken.

Ebenso wie nach der Niederwerfung des Auf-standes in Ungarn im Jahr 1956 ging nach der Okkupation der CSSR durch die Sowjetunion eine Welle der Empörung um die Welt, die sich in starken Worten äußerte. Allenthalben wurden Protestresolutionen verfaßt und bereitwillig von den verschiedenen Leuten unterschrieben. In diesem Chor waren die Stimmen der Neuen Linken kräftig vertreten, das heißt also, Stimmen aus dem linkssozialistischen, revolutionär-marxistischen oder anarchistischen Lager.

Man kann sagen, daß diese Stimmen Ende August und im September 1968, verglichen mit den Meinungsäußerungen von linker Seite nach dem Ungarnaufstand, zahlreicher waren und vor allen Dingen mehr Beachtung fanden.

Dies ist zunächst eine Bestätigung dafür, daß die Neue Linke im Bewußtsein der Öffentlichkeit jetzt fest etabliert ist und entsprechende Beachtung findet. Sie wußte außerdem, was sie ihrem antistalinistischen „Image" schuldig war.

Damals, im Jahr 1956, äußerten sich die Proteste meist in Parteiaustritten und Parteineugründungen, waren eine eher interne Angelegenheit und wurden häufig schadenfroh als kommunistisch-linkssozialistische Sektenbil19 düng registriert. Jetzt aber gelten die Vertreter der Neuen Linken als Sachverständige, als arbitri elegantiarum, wie moderner Kommunismus auszusehen habe.

Dafür soll ein Beispiel unter unzähligen genügen: Am 26. August 1968 brachte „Der Spiegel" ein Interview mit Ernst Fischer, damals noch Mitglied des ZK der KPO. Fischer äußerte sich noch am 20. August zu der etwa möglichen Entwicklung in der CSSR. Nach seiner Meinung würde in Prag unter großen Schwierigkeiten „ein neues Modell erarbeitet". Das Geschehene werde allerdings in Ost und West falsch beurteilt. „Im Westen hofft man auf einen Zerfall des Kommunismus, im Osten sieht man hinter den Prager Ereignissen eine schleichende Konterrevolution." Fischer meinte im Namen der tschechoslowakischen Kommunisten zu sprechen, wenn er erläuterte: „. . . wir halten die Prager Reformen für einen außerordentlichen und moralischen Erfolg des Kommunismus. Wir sind überzeugt, daß der Kommunismus jetzt aufhört, ein Schreckgespenst zu sein, daß der Kommunismus die Chance hat, attraktiv zu werden."

Nach dem Einmarsch der Truppen der War-schauer-Pakt-Staaten in die CSSR äußerte Fischer seine Empörung: „Diese Aggression ist ein Bruch des Völkerrechts, aller Grundsätze des Sozialismus . . . Panzer haben eine große Hoffnung zermalmt. Dennoch: was vor acht Monaten in Prag begonnen hat, die Entwicklung eines demokratischen humanen Sozialismus, wird auf die Dauer stärker sein als jede Gewalt und jede Phrase."

Nach einer solchen Veröffentlichung der Meinung dieses prominenten Vertreters der Linken konnte bei dem Teil der politisch interessierten Öffentlichkeit der Bundesrepublik, der sich aus dem renommierten Nachrichtenmagazin „Der Spiegel" informiert, der Eindruck entstehen, als ob der vorherrschende Tenor der Verlautbarungen der Neuen Linken zu dem Thema CSSR-Okkupation aus Lob für die tschechischen Reformer und Tadel für das Vorgehen der Sowjetunion bestanden hätte. Doch hätte man schon früher auf gewisse Nuancen achten müssen.

11. Die Neue Linke war in der Beurteilung der Vorgänge in der CSSR bereits vor dem Einmarsch der Sowjetunion nicht einer Meinung. Rudi Dutschke zeigte im Gegensatz zu Fischers rückhaltloser Begeisterung eine leichte Reserve gegenüber den Prager Experimenten. In einem Interview zu Beginn einer im März 1968 unternommenen Prag-Reise, das in „Konkret" Nr. 5/1968 abgedruckt wurde, sagte er mit Bezug auf die „Demokratisierung" in der CSSR: „Es besteht allerdings die Gefahr, daß es bei den demokratischen Kräften in den sozialistischen Ländern zu einer zeitweiligen Verherrlichung bürgerlich-demokratischer Formen kommt (Liberalisierung)." Und noch deutlicher: „Rosa Luxemburgs Definition , Freiheit ist die Freiheit des Andersdenkenden'ist kein Plädoyer für die Freiheit von Faschisten; d. h., Rosa spricht für die Entfaltung der Demokratie auf der Grundlage der nicht mehr in Frage zu stellenden sozialistischen Basis." Die von Dutschke für die sozialistische Basis befürchtete Gefahr nennen die Sowjets beim Namen: „Konterrevolution".

Die Beteuerungen der Sowjetunion, sie sei gegen die Konterrevolution eingeschritten, meinte die Neue Linke als unglaubhaft darstellen zu müssen. Ihr ging es um die Reform des Kommunismus. Darum verkündet die Neue Linke allenthalben, die nationale Widerstandsbewegung gegen die Hegemonie der Sowjetunion sei unbedeutend gewesen. Es sei der neue Geist des Sozialismus, den die Sowjetunion unterdrückt habe. Jeglicher Nationalismus, für die Neue Linke ein Schreckgespenst, durfte auch in der CSSR nicht als psychopolitische Potenz auftreten.

Die Leugnung dieser politischen Potenzen läßt nur die halbe Wahrheit über die Ereignisse in der CSSR bekannt werden. Doch kann man aus Gründen des Taktes und auch zwecks Schonung der Beteiligten dieser falschen, weil einseitigen Darstellung der Sachlage nicht mit detaillierten Angaben widersprechen, indem man etwa auf manifeste Beispiele rein nationaler Empörung hinweist oder aber Namen von Orten und Personen nennt, die solche Vorfälle eindeutig präzisieren würden.

Jedoch sei die Meinung eines ehemaligen tschechischen Sozialdemokraten, Izak Hruska, als Hinweis auf die wirklichen Ereignisse zitiert. Sie wurde in den Nummern 5 und 6 des Jahrgangs 1968 der nordamerikanischen Zeitschrift „Dissent", eines Organs der dortigen Neuen Linken, vor und nach dem 21. August 1968 veröffentlicht: „Für unsere Gesinnungsgenossen werden die kommenden Monate schwierig sein", schrieb Hruska vor dem Einmarsch der Sowjets. „Sie wissen, daß es töricht wäre, den Streit auf die Spitze zu treiben, so daß Moskau intervenieren oder einen Staatsstreich in Prag veranstalten könnte. Doch wissen sie auch, daß ohne ihren offen ausgeübten Druck auf das Dubcek-Regime dieses sich in einem mehr oder weniger wohlwollenden autoritären System konsolidieren würde, wodurch das Verlangen nach einer allgemein anerkannten demokratischen Erneuerung bitter enttäuscht werden würde." Im November 1968 bezeichnete Hruska die Rolle von Dubcek als unklar, die Sowjets hätten Dubcek letztlich geholfen, eine Entwicklung, die er nicht meistern konnte, in den Griff zu bekommen. Eine Wendung zu einem Regime, wie das Gomulkas in Polen, sei durchaus möglich.

Je mehr Zeit seit dem August 1968 vergeht, desto größer scheinen die Zweifel bei der Neuen Linken zu werden, ob in den ersten acht Monaten des Jahres 1968 in der CSSR alles getan wurde, um trotz „Demokratisierung" die „sozialistische Basis" zu erhalten. Der Streit in der Münchner Zeitschrift „Kürbiskern" ist in dieser Hinsicht aufschlußreich. Der Chef-Redakteur Yaak Karsunke wollte in den Kommentaren zu der Okkupation in der CSSR die gegensätzlichen Meinungen zu diesem Problem veröffentlichen. Anscheinend sollte die Sowjetunion getadelt werden, wenn auch daneben apologetische Meinungen über das Verhalten der Führungsmacht des Weltkommunismus laut werden sollten. Doch der Angriff auf die Sowjetunion war den drei Redakteuren Hannes Stütz, Manfred Voß und Friedrich Hitzer nicht genehm. Stütz gehört zu den Unterzeichnern des DKP-Manifestes. Karsunke hat nach dieser Auseinandersetzung den „Kürbiskern" verlassen. 12. Die Neue Linke neutralisiert die Empörung über die Okkupation der CSSR.

Der bereits erwähnte Hruska meint feststellen zu können, daß die Welt sich an den Schrecken gewöhne. Als Ungarn besetzt wurde, empörte sich die ganze Welt, „jetzt wird ein solcher Vorfall als Routineangelegenheit genommen". An dieser Entwicklung zum Übergang zur Tagesordnung ist die Neue Linke nicht unbeteiligt. Hier sind Einschränkungen zu machen: Die Beteiligung der Neuen Linken beruht nicht auf Planung, aber ihre Auswirkung ist nichtsdestoweniger evident. Zwecks Erläuterung dieser Behauptung muß zunächst ein Irrtum in der prognostischen Bewertung der psychopolitischen Folgen des Einmarsches der sowjetischen Truppen in die CSSR für die Sowjetunion zugegeben werden.

Man konnte der Meinung sein, daß die Sowjetunion eine Intervention in der CSSR nicht wagen würde, weil sie damit das mühsam aufgebaute Bild einer friedliebenden Sowjetunion zerstören könnte, wodurch sie sich die propagandistisch-agitatorische Arbeit in aller Welt erschweren würde. Die Kritik an der Intervention und der Abscheu vor der Gewaltpolitik, so war anzunehmen, würden auch der Volksfrontpolitik schweren Schaden zufügen. Doch die bisherige Entwicklung beweist in zunehmendem Maße, daß die Schädigung der weltweiten Propagierung der Ziele der sowjetischen Politik geringer zu sein scheint, als zuerst vermutet wurde.

Bei dieser Entwicklung der Dinge spielte die Neue Linke eine wichtige Rolle auf der Szenerie der nach dem Einmarsch der Sowjetunion in die CSSR veröffentlichten politischen Meinung.

Die Neue Linke ist beschrieben worden als geistig-politische Bewegung mit nur rudimentären Organisationsansätzen und anarchistischer Verachtung jeder ideologischen Direktive, die von einer Zentralstelle mit autoritärem Anspruch ausgehen könnte. Es liegen daher die verschiedensten Meinungsäußerungen aus den Kreisen der Neuen Linken zur CSSR-Besetzung vor. Die Vorgänge um den „Kürbiskern" sind ein Beispiel des internen Meinungsstreites.

Dennoch ist ein erstaunlicher ideologischer Konsensus festzustellen, der, ohne dirigistische Sprachregelung in den Meinungsäußerungen, die Neue Linke in einigen Grundüberzeugungen eine einstellungsmäßig gemeinsame Position beziehen läßt.

Als Grundüberzeugung der Neuen Linken wird übereinstimmend festgestellt, daß sie „gegen Beifall und Empörung auf der falschen Seite" ist, wie es in einem Flugblatt der Neuen Linken anläßlich der Invasion in die CSSR heißt. Die jetzt einsetzende antikommunistische Kampagne wurde als scheinheilig bezeichnet, „denn der für alle Bundesbürger offensichtliche Beweis der Möglichkeit des demokratischen Sozialismus ist ja für die herrschenden Gruppen der Bundesrepublik viel gefährlicher als das Schreckgespenst des Stalinismus, dessen Beschwörung in unserem Lande dazu dienen soll, sozialistische Bestrebungen leichter in Schach zu halten und öffentlich zu verketzern .... Das schließt jeden gemeinsamen Protest mit den Repräsentanten des Kapitalismus aus."

Von dieser Einstellung aus ergibt sich ein interessanter Gang der Argumentation: Die Neue Linke kann die politische Realität und die Bedeutung anti-sowjetischer oder antikommunistischer, letztlich aber nationaler Strömungen in der CSSR nicht zugeben, denn sonst käme der „Beifall von der falschen Seite". Sie muß also ihrem eigenen geistigen Weltbild zuliebe der sowjetischen Konterrevolutionsthese widersprechen. Indem die Neue Linke die Realität einer nichtkommunistischen Alternative zum kommunistischen Experiment in der CSSR leugnet, neutralisiert sie ungewollt die antikommunistischen Vorwürfe gegen die Sowjetunion. Die ideologisch bedingte Frontstellung der Neuen Linken gegen jeden Anti-Kommunismus macht sie im Effekt zum „potentiellen Verbündeten" der Sowjetunion, der Führungsmacht des Weltkommunismus. Andererseits stellt die Mißachtung der nationalen, anti-kommunistischen Opposition seitens der Neuen Linken das Problem des Reformkommunismus in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung.

Es ist zu erwarten, daß in Kürze alle Welt, Freund und Feind des Kommunismus, die Möglichkeit, ja die Notwendigkeit einer Reform des Kommunismus diskutieren wird. Dadurch wird implizite der Kommunismus aufgewertet, denn etwas, was reformbedürftig ist, ist vielleicht auch reformwürdig, das heißt im Grundsatz nicht verfehlt.

Die Frage nach den kommunistischen Grundsätzen aber ist bei der Diskussion um den Reformkommunismus die entscheidende. Die Neue Linke spricht sich in allen Meinungsäußerungen zur „konkreten Utopie" der neuen Gesellschaftsordnung für die endliche Verwirklichung der reinen Lehre des Kommunismus aus, so undifferenziert diese Zukunftsentwürfe im Detail auch sein mögen: Die Methode des radikalen Abbaus des Bestehenden zwecks Neuerrichtung eines „anständigen Wohnhauses" (H. Marcuse) wird widerspruchslos von allen akzeptiert. Es lassen sich in den Verlautbarungen der Neuen Linken keine Denkansätze erkennen zu einer Reform des Kommunismus, die sich bewußt von diesen Grundsätzen abzuwenden bereit wäre. Doch erst die Absage an die Grundsätze wäre diskussionswürdig, und nur in diesem Sinne wäre eine Reform des Kommunismus akzeptabel.

Eine andere Möglichkeit, die Kritik am Kommunismus aufzufangen, ergibt sich, wenn man über die Vorgänge in der CSSR schweigt. Bezeichnenderweise berichtet die „Neue Kritik", Heft 50, das nach dem 23. Delegiertentag des SDS Ende des Jahres 1968 erschien, nur von internen Organisationsschwierigkeiten. Bernd Rabehl erwähnt allerdings einmal die Tschechoslowakei in einem Nebensatz, um auf die Möglichkeit hinzuweisen, daß jetzt mit Wiederaufleben des Kalten Krieges die Polizei wahrscheinlich schärfer gegen die APO vorgehen würde.

Abschließend kann gesagt werden, daß die Meinungsäußerungen der Neuen Linken hinsichtlich der Vorgänge um die CSSR und damit zur Machtpolitik der Sowjetunion etwa folgendem Muster folgen: Das Vorgehen der Sowjetunion gegen den Reformkommunismus in der CSSR ist zu mißbilligen; man sollte sich aber durch eine solche Feststellung nicht zu einer allgemein feindlichen Haltung gegenüber der Sowjetunion verleiten lassen. Tonangebend in dieser Richtung sind die Jugoslawen, schon immer die Lieblingskommunisten der Neuen Linken.

Ist diese Position gewonnen, dann kann man auch zu einer vorsichtigen, aber direkten Verteidigung der Sowjetunion und des Kommunismus in der Sowjetunion übergehen. Ein Beispiel dafür bietet Erich Kuby („Ein Lehrgang in Hoffnung", SZ v. 7. /8. 9. 1968), der das behutsame Vorgehen der Sowjettruppen in der CSSR der alle Gegensätze überwölbenden, einigenden Kraft des internationalen Kommunismus zuschreibt. In einer solchen Betrachtung ist dann allerdings kein Platz mehr für die Würdigung eines prinzipiellen Widerstandes gegen jegliche freiheitsfeindliche Generallinie einer rationalen Heilslehre.

Auf diese Weise funktioniert die Neue Linke tatsächlich, wenn auch nicht einem dirigistischen Plan folgend, als eine geistige Auffangstellung und Reserve für die Aktionen des weltrevolutionären Gedankens im Westen. Es wird zu beobachten sein, welche Tendenzen der Neuen Linken bei ihrer Kritik an der Gesellschaft sich in diesem Prozeß als besonders hartnäckig und virulent erweisen werden.

Die Neue Linke ist bereits viel zu stark, als daß man noch sagen könnte: principiis obsta. Jedoch die Zäsur im Ablauf der Tagespolitik, der Einmarsch in die CSSR, hat blitzartig die politische Szene erhellt. Viele Vertreter der Neuen Linken wurden veranlaßt, ihren gelegentlichen Befürchtungen und Hoffnungen Ausdruck zu geben, die um die Schaffung, Sicherung und Erhaltung der „sozialistischen Basis" kreisten. Jetzt ergibt sich die Gelegenheit zu sagen: cognosce principia.

Fussnoten

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Andreas von Weiss, Dr. phil., geb. 26. November 1910 in Reval, Studium der allg. Sprachwissenschaft, Germanistik, Philosophie. Veröffentlichungen u. a. speziell auf dem Gebiet der Philosophiegeschichte (Probleme des Nachfolgemarxismus): Leszek Kolakowski und die Entfremdung; Die Diskussion über den Historischen Materialismus in der deutschen Sozialdemokratie. 1891— 1918; Freie Marxisten in den USA. Die Radicals um die Zeitschrift DISSENT; Mitarbeiter an der Enzyklopädie „Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft" mit den Beiträgen: „Definition", „Gesetz — Gesetzmäßigkeit" und „Historischer Materialismus".