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Unsere Demokratie ist leistungs-und reformfähig Eine Erwiderung auf den Beitrag von Walter Euchner: „Zum Demokratieverständnis der Neuen Linken" | APuZ 32/1969 | bpb.de

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APuZ 32/1969 Zum Demokratieverständnis der Neuen Linken Unsere Demokratie ist leistungs-und reformfähig Eine Erwiderung auf den Beitrag von Walter Euchner: „Zum Demokratieverständnis der Neuen Linken"

Unsere Demokratie ist leistungs-und reformfähig Eine Erwiderung auf den Beitrag von Walter Euchner: „Zum Demokratieverständnis der Neuen Linken"

Klaus-Peter Schulz

Unsere moderne Gesellschaft, gekennzeichnet durch einen wahren Sturmlauf der Wissenschaft zu immer neuen, gestern noch unfaßbar anmutenden Zielen und einer damit zusammenhängenden technologischen Dynamik, steht möglicherweise vor der erstaunlichsten Mutation menschlichen Wesens und menschlichen Lebens, die sich jemals vollzogen hat, seit Geschichte überliefert wird. So verfrüht es ist, dieses Phänomen im Bausch und Bogen als „Fortschritt" zu bezeichnen, so eindeutig steht fest, daß uns eine Aufgabe so umfassender, tief-greifender und vor allem schneller Anpassung aufgegeben worden ist, daß vor ihr ebenfalls alle Vergleiche verblassen. Die Rationalisierung der Wirtschaft wird dem Menschen in naher Zukunft durch die zeitlich immer stärkere Einschränkung gesellschaftlich notwendiger Arbeit und der damit verbundenen Abhängigkeiten grundsätzlich beispiellose Chancen für die Entfaltung seiner eigenen Persönlich keit eröffnen. Bereits seit langem hat unsere Wißbegier den Erdball und sein Gravitationsfeld verlassen, um im Kosmos neue Beobachtungen und Erkenntnisse zu sammeln; diesen Erdball selbst in seiner Gesamtheit zu überqueren und sich die nötige Kenntnis von dem anzueignen, was wir in naiver Selbstüberschätzung der einzigen von Menschen belebten Sphäre „Welt" nennen, bereitet längst keine Schwierigkeiten mehr. Die Errungenschaften der Medizin haben ihrerseits entscheidend zu jener einleitend erwähnten Mutation beigetragen, in dem sie die durchschnittliche Lebenserwartung in erstaunlich kurzer Zeit um rund das Doppelte verlängerten und sicher auch bei diesem Ziel nicht stehen bleiben dürften. Eine Fülle lästiger, zeitraubender, meist notgedrungen schmutziger und infolgedessen als bedrük-kend, wenn nicht entwürdigend empfundener Verrichtungen hat uns die Technik abgenommen und erspart uns insofern weitere Zeit. Unversehens eröffnet sich einem seit Jahrtausenden durch ein unentrinnbar anmutendes Schicksal von Armut, Hunger, Krankheit und Mühsal geprägten Geschlecht eine Perspektive des Überflusses; als selbstverständlich hingenommene Zwänge von einst unterliegen mehr und mehr der freien Entscheidung oder gar der Willkür. Fiele diese reiche Auswahl noch vor kurzem ungeahnter materieller und psychologischer Möglichkeiten mit dem zusammen, was sich objektiv einigermaßen zulänglich als Glück definieren läßt, stünden wir tatsächlich auf der Schwelle des irdischen Paradieses. Unsere tägliche Anschauung belehrt uns darüber, daß dem nicht so ist. Die Menschen, die das Überangebot individueller Güter dazu ausnutzen könnten, auch ihre sozialen Beziehungen unbefangener, vernünftiger, toleranter, kurz, um diese problematische Vokabel einmal bewußt zu verwenden, „iortschrittlicher“ zu gestalten, neigen dazu, das genaue Gegenteil davon zu tun. Die besorgte Frage, die von nachdenklichen Kulturkritikern schon zu Beginn der ersten industriellen Revolution aufgeworfen und inzwischen vielstimmig wiederholt wurde, hat vielleicht erstmalig eine so bestürzende, so absolut handgreifliche Aktualität gewonnen: Halten unsere Ratio sowohl wie unser ethisches Vermögen einigermaßen Schritt mit den stürmischen Umwälzungen in Natur, Technik und Wirtschaft, die doch schließlich auch das überlieferte gesellschaftliche Gefüge nicht unversehrt lassen können? Behalten wir die notwendige Zeit, um den illes überwalzenden Prozeß der permanenten rweiterung unserer Erkenntnisse sozusagen iufzuhalten, um die bisher fehlende geistige md moralische Anpassung nachzuvollziehen? Daß wir dazu bei noch so gutem Willen weit-yehend unfähig sind oder es doch wenigstens : u sein scheinen, begründet wohl am ehesten las weitverbreitete gesellschaftliche Unbehajen, die Enttäuschung über die mangelhafte Funktionsfähigkeit vorgefundener Strukturen md die Sehnsucht nach einer vollständigen Umgestaltung, die sich entweder zu der Forierung nach radikalen Reformen oder zu lern Schrei nach Revolution verdichtet. Ausweichen können wir dieser Schicksalsfrage richt, wenigstens nicht mehr: Dazu ist die Diskrepanz zwischen erreichbaren Chancen md mangelnder Gestaltungsfähigkeit oder, mders ausgedrückt, die Unfähigkeit zu fugenloser Anpassung an die neuen Realitä-ten zu groß geworden. Die damit verbunlenen Phänomene lassen sich auch kaum isolieren, abgrenzen und auf bestimmte Kontinente oder Nationen beschränken. Bei aller lotwendigen Differenzierung stehen die universalen Momente beherrschend im Vordergrund, die sich auch nur dann einigermaßen richtig beurteilen und einschätzen lassen, wenn man keine spezielle, sondern eine weitgehend allgemeine Motivation vermutet.

Indessen ist es verständlich und legitim, gesellschaftskritische Untersuchungen bei dem Bekannten, Naheliegenden, im eigenen Bereich und in der vertrauten Umwelt zu beginnen. Engt man beispielsweise die globale gesellschaftliche Unruhe auf eine Untersuchung des Demokratieverständnisses ein, so wäre es in der Tat absurd, damit etwa im kommunistischen Machtbereich oder in den Entwicklungsländern zu beginnen, weil hier wie dort demokratische Traditionen im westlichen Sinne entweder überhaupt nicht oder doch so gut wie gar nicht existieren. Uber die Zukunft der Demokratie wird zweifellos dort entschieden werden, wo sie am längsten Wurzeln geschlagen hat und wo ihre Spielregeln mit hinlänglicher Glaubwürdigkeit praktiziert werden.

Vielleicht sollte man um des initialen Einverständnisses willen besser formulieren „praktiziert wurden“: denn die eigentliche Beschwerde all jener Gruppierungen, die sich selbst als Linke oder Neue Linke bezeichnen, gegen die existierenden gesellschaftlichen Verhältnisse und politische Herrschaftsformen besteht ja gerade darin, daß die Demokratie im Gegensatz zu ihrer früheren Funktionsfähigkeit zu einer entleerten Form geworden sei, mit ihren Apparaturen autoritäre oder gar „faschistische" Ansprüche nur aufs notdürftigste tarne und, selbst Gegenstand zahlreicher Manipulationen, dem schnöden Spiel der Manipulation an sich überall Tür und Tor öffne.

Was soll geschehen, um die Demokratie heutzutage nicht allein in ihrer Praxis wieder glaubwürdig zu machen, sondern vor allem in ihre eigentlichen ideologischen Würden einzusetzen, die ihr tatsächlich schon so bald nach ihrer prinzipiellen Verkündung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts abhanden kamen? Hier scheiden sich, wie Dr. Walter Euchner in seinem Beitrag „Zum Demokratieverständnis der Neuen Linken“ recht überzeugend anschaulich macht, auch im Lager der harten Kritiker der bestehenden Verhältnisse die Geister. Die eine Richtung, von Euchner als „rechter Flügel der heutigen Linken“ definiert, hält die vererbten Strukturen der Parteien, Verbände und vor allem des parlamentarischen Systems noch für reformfähig, wenn diese Reform nur radikal und unzweideutig genug durchgeführt wird. Die extreme Richtung bezeichnet das alles als Versuche am völlig untauglichen oder untauglich gewordenen Objekt, vertritt entschieden die Auffassung des Mephisto, wonach praktisch alles, was bestehe, wert sei, zugrunde zu gehen, und läßt sich allenfalls herbei, die ihr vorschwebende Alternative unter Rückgriff auf die Vorstellungen Rousseaus, die dürftigen Andeutungen des klassischen Marxismus über politische Herrschafts-und Verwaltungsformen, nicht zuletzt unter Berufung auf das historische Beispiel der Pariser Kommune von 1871, als Rätedemokratie zu präzisieren. Nun ist Büchner selbst mit dem Prinzip revolutionärer Gewaltanwendung und totaler Transformation der Gesellschaft offenkundig nicht einverstanden. Mit Recht weist er in seiner Betrachtung mehrfach auf die definitori-sche Schwäche der extremen Linken hin, die schon begrifflich Sozialismus, Demokratie, freie Gesellschaft, anti-autoritäre Zielsetzungen usw. oft recht unbekümmert durcheinander wirft und die Umwelt noch dazu im Zweifel darüber läßt, welche institutioneilen Formen der zur Emanzipation von allen Abhängigkeiten und Vorurteilen fähige, sein Schicksal selbst bestimmende Mensch der Zukunft sich suchen und verwirklichen soll. Euchner rügt die „vage und euphorische" Art, mit der die Theoretiker der Neuen Linken nicht allein die Gestalt der ihnen vorschwebenden freien Assoziationen, sondern auch ihre Absichten hinsichtlich des Weges beschreiben, der zu solchen Assoziationen führen könnte. Er beklagt, wiederum durchaus zutreffend, die Unzulänglichkeit, ja die „Verschwommenheit" der Formeln, die man bei Marx und Engels selbst über diesen Gegenstand antrifft. Er meint schließlich, die Linke habe allen Grund, die Einwände derer ernst zu nehmen, die sich auf historische Erfahrungen stützen und zu der Überzeugung gelangen, die völlige Nivellierung der traditionellen demokratischen Strukturen, anders ausgedrückt, die radikale „Demokratisierung" aller politischen und gesellschaftlichen Prozesse beschwöre unweigerlich die Gefahr eines neuen Totalitarismus heraus.

Das Grundgesetz und seine Möglichkeiten

Der Nachdruck, mit dem sich Euchner auf Wolfgang Abendroth und einige seiner repräsentativen Äußerungen beruft, läßt die Vermutung zu, daß er selbst mit seinem ideologischen Standort in dessen geistiger Nachbarschaft angesiedelt ist. Ein Staat kann demnach nur dann als demokratisch bezeichnet werden, wenn er dapach trachtet, die Identität von Regierenden und Regierten herzustellen. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland habe zwar „das spätkapitalistische Wirtschaitssystem“ mit seinen sozialen Widersprüchen und politischen Gefahren, aber gleichzeitig die Chance garantiert, dieses System durch Mehrheitsentscheidung in eine sozialistische Ordnung zu verwandeln. Sehr charakteristisch für den guten Willen, aber auch für die verblüffende Einäugigkeit, wie sie derartigen, am Beispiel Abendroths zitierten Erwägungen zugrunde liegen, ist ein von Euchner wörtlich wiedergegebener Satz: „AIs politisch muß dabei jede Willensbildung gelten, die sich auf die Tätigkeit der öffentlichen Gewalt bezieht, sei sie nach innen, auf ihr Verhältnis zu den ihr Unterworfenen, sei sie nach außen, auf ihr Verhältnis zu anderen Staaten, gerichtet, oder die die Verfassung der Gesellschaft sei es verändern, sei es durch Machtmißbrauch stabilisieren will." Man beachte vor allem den Schluß dieses Satzes mit seiner falschen, weil unvollständigen Alternative! Es kann schließlich kein Zufall sein, daß von der Möglichkeit eines Machtmißbrauchs nur im Zusammenhang mit einer Stabilisierung der Verfassung, der bestehenden Verhältnisse gesprochen wird. Eine Veränderung der Verfassung jedoch scheint eo ipso keinem Machtmißbrauch zugänglich, also in der Denkweise Abendroths und vermutlich auch Euchners in jeder Beziehung und unter allen nur denkbaren Voraussetzungen immer „fortschrittsgemäß" und insofern einwandfrei legitim zu sein. Wie geflissentlich werden dabei erschütternde und peinliche Erfahrungen gerade der deutschen Geschichte des letzten Jahrhunderts übersehen! Die hundertprozentige Ablehnung all der Elemente des Stabilisierenden, Beharrenden, des Geschichtsbewußten, kurz des Konservativen, das man automatisch und ausschließlich des Machtmißbrauchs verdächtigt, ist ein typisches Merkmal aller heutigen linken Gruppierungen, das die Gemäßigten mit den Extremen gemeinsam haB ben. Käme diese Denkrichtung so lapidar zum Zuge, wie sie sich das selbst erträumt, würde die Zukunft der Menschheit — dieses sei hier schon im Voraus bemerkt —: weder so unbeschwert und problemlos noch so rational und überzeugend aussehen, wie es die Verheißungen der „besseren und schöneren Welt von morgen" glauben machen wollen.

Wenn auch Euchner solchen Verheißungen mißtraut und den eigenen Standpunkt von ihnen abzugrenzen sucht, zeigt er sich doch andererseits immer wieder unwillkürlich von ihnen fasziniert. So verteidigt er die anti-autoritären Theoretiker ausdrücklich gegen den Vorwurf unscharfen Denkens und unzureichender Definitionen. Nach seiner Auffassung könnten Versuche, definitorisch zu bestimmen, was Selbstbestimmung oder Emanzipation bedeuteten, über Tautologien kaum hinausführen. So wenig wie die Neue Linke ein unmittelbar einleuchtendes Modell einer funktionierenden Räteverfassung entwerfen könne, so wenig könne graue Theorie beweisen, daß sich unmöglich ein funktionstüchtiges, substantielle Demokratie weithin realisierendes System herausbilden könne, das auf Räten beruhe und vielleicht mit parlamentarischen Repräsentationsorganen kombiniert sei. In enger geistiger Tuchfühlung mit anderen Verfassern der Linken macht auch Euchner einen deutlichen, qualitativ betonten Unterschied zwischen einer bloß „operationellen“ und einer „transitiven" Demokratie, wobei er nicht verhehlt, wie stark er selbst der weitestmöglichen Verwirklichung eben jener von Rousseau und dessen unmittelbaren geistigen Nachfolgern geforderten transitiven Demokratie zuneigt. Der Abschluß seiner Betrachtung, die hier zum besseren Verständnis noch einmal wörtlich wiedergegeben sei, macht seine Position hinreichend deutlich: „Zum demokratischen Denken scheint notwendig die Idee zu gehören, daß Herrschaft überall, wo dies gefahrlos geschehen kann, zu minimisieren sei; damit ist zugleich gesagt, daß der Spielraum für eigenverantwortliche Selbstbestimmung maximiert werden soll. Zwar haben Ideen wie Emanzipation und Selbstbestimmung in der heutigen politischen Wissenschaft nur geringen Kurswert: doch seitdem sie von den Denkern des sich emanzipierenden Bürgertums formuliert worden sind, sind sie aus dem Gedächtnis der Menschheit nicht mehr geschwunden. Auch heute noch ergreifen sie bisweilen die Massen und werden so zur materiellen Gewalt."

Lassen wir das Finale des abgewandelten Marx-Zitats einstweilen auf sich beruhen! Bisher gibt es wenige Anhaltspunkte dafür, daß die von der Neuen Linken vertretenen und von Euchner in einer wohlwollend kritischen Distanz interpretierten Forderungen die Massen wirklich ergreifen und zur materiellen Gewalt werden könnten. Materielle Gewalt, wie sie heute im Bereich der westlichen Industriegesellschaft, sei es gegen Sachen, sei es gegen Personen, konsequent und provokativ ausgeübt wird, ist noch immer einer vergleichsweise winzigen Minderheit anheimgegeben, die sich hauptsächlich aus studierenden Jugendlichen rekrutiert und allenfalls als handfeste Form materieller Gegengewalt den Schlagstock der Polizei auf den Plan ruft. Von dem einen wie dem anderen Phänomen bleibt die Masse in einem erstaunlichen, um nicht zu sagen, erschreckenden Maße unberührt. Indessen vermag niemand vorauszusagen, wie schnell sich dieser Zustand ändern wird, sei es — was als wahrscheinlich unterstellt werden darf — durch eine weitere mehr schleichende und unauffällige Erosion der Gesetzlichkeit, sei es, was keineswegs auszuschließen ist, durch eine plötzliche Explosion oder, schlimmer noch, Gegen-explosion unterschwellig angestauter Affekte. Analysiert man die Lage rebus sic stantibus und geht man dabei von der unserer Betrachtung am zugänglichsten erscheinenden deutschen Wirklichkeit aus, kristallisieren sich nur zwei Erscheinungen mit annähernder empirischer Sicherheit heraus. Auf der einen Seite verbuchen die zu terroristischen Aktionen und Provokationen geneigten Minderheiten immer eindeutigere Erfolge. Es erübrigt sich in diesem Zusammenhang näher zu beschreiben, wieviele unserer wissenschaftlichen und Fach-21 hochschulen seit Jahr und Tag in ihrem Forschungs-und Lehrbetrieb mehr oder minder lahmgelegt sind oder planmäßig lahmgelegt werden. Mittlerweile ist durch lautstarke Zwischenfälle aller Art auch die Grenze dessen längst überschritten, was die Bundesrepublik als demokratischer Staat und offene Gesellschaft nach außen an Unruhe vertreten und rechtfertigen kann. Die Tumulte, die sich unlängst bei der Eröffnung der Kieler Woche abspielten, oder das Niederschreien des israelischen Botschafters, der sich sowohl in Frankfurt wie in Hamburg harten Diskussionen stellen wollte, dem aber eine geistige Auseinandersetzung in zivilisierten Formen planmäßig unmöglich gemacht wurde, sind Symptome dafür, daß das vielberufene „Establishment" der Bundesrepublik solche Ausschreitungen entweder objektiv nicht mehr verhindern kann oder subjektiv nicht mehr verhindern will.

Sogkraft der Extreme — Unsicherheit der Verantwortlichen

Mit der Behauptung, daß das zweite wahrscheinlicher ist, kommen wir zur anderen Seite des derzeitig Feststellbaren. Die anti-autoritären Bestrebungen eines Teils der akademischen Jugend, die Auflehnung gegen das Herkommen, gegen als hierarchisch empfundene Strukturen, gegen eine Politik, die in ihrem praktischen Vollzug oft genug die Kunst des Möglichen mit der Kunst des Mogelns verwechselt, sich solches aber leider meist nur im stillen Kämmerlein eingesteht, sind vielleicht in ihrer Heftigkeit und Aggressivität ungewöhnlich, von ihrer Motivation her jedoch sowohl erklärbar als auch historisch vergleichbar. Ein sehr viel merkwürdigeres und beunruhigenderes Phänomen spiegelt sich in der Haltung der öffentlich Verantwortlichen wider. Um von den Opponierenden wenigstens noch für einigermaßen fortschrittlich gehalten zu werden, versetzen sich die Gesetzgeber, die Regierenden und die Publizisten mehrheitlich selbst kräftige Fußtritte, verkleinern oder, wenn das neuerdings besser klingt, „minimisieren" mit einer befremdenden Untergangsseligkeit die eigenen individuellen wie kollektiven Leistungen und lassen es in der Regel völlig an jenem gesunden Selbstbewußtsein fehlen, wie es ihre Gegner in ungesundem Maße täglich und stündlich zur Schau tragen, ohne ihrerseits mit nachprüfbaren Leistungen aufzuwarten. Auch das sogenannte Establishment stimmt mehr und mehr in den Chor derjenigen ein, die einen annähernd totalen Abbau von Traditionen, Autorität und planmäßiger Führung fordern. Hierbei wird nur selten bedacht, wieweit dieses Abbauverlangen legitim ist, wieweit es also in allen konkreten Einzelheiten jener Notwendigkeit der Anpassung an eine spektakuläre Mutation, von der einleitend die Rede war, entspricht und wieweit es andererseits mit gewissen psychologischen Urrealitäten im Widerspruch steht, die nach menschlicher Voraussicht von keiner gesellschaftlichen Umwälzung außer Kraft gesetzt werden dürften.

Gewiß ist Euchner grundsätzlich beizupflichten, wenn er meint, zum demokratischen Denken scheine notwendig die Idee zu gehören, die Herrschaft überall, wo dies gefahrlos geschehen könne, zu minimisieren: Ohne unzumutbare Risiken wird aber ein solcher Abbau von Herrschaft nur dort bewerkstelligt werden können, wo Einsicht und die Fähigkeit zu echter „Eigenverantwortung" organisch nachwachsen. Auch für ein Kollektiv gelten mutatis mutandis die Gesetzmäßigkeiten der individuellen Entwicklung. Einem mündigen Bürger die Selbstbestimmung vorzuenthalten, wäre barbarische Willkür; wollte man sie einem Kleinkind gewähren, würde aus Vernunft Unsinn und aus Wohltat Plage. Wenn Euchner ferner beklagt, Emanzipation und Selbstbestimmung hätten in der heutigen politischen Wissenschaft nur geringen Kurswert, dann liegt das hauptsächlich daran, daß die derzeiti-ten Institutionen dieser Wissenschaft in einem geradezu katastrophalen Umfang vor der Aufgabe versagt haben, dem Nachwuchs auf den Universitäten auf eine faire und anständige Weise zu verdeutlichen, wieviel von der maßlos verlästerten praktischen Politik auf dem Wege der Gesetzgebung und durch das Anbieten immer neuer Chancen gerade für die Werte von Emanzipation und Selbstbestimmung getan wird. Richtig ist, daß diese Chancen bisher von der breiten Masse beschämend wenig genutzt werden. Man mag hoffen, und das wird jeder aufrichtige Gesellschaftsreformer tun, daß die Episode des Wohlstands echte und unverzichtbare politische Bedürfnisse und ein damit zusammenhängendes Engagement für die Gestaltung des Gemeinwesens nicht endgültig verschüttet haben möge. Diese Hoffnung und die dauernde, oft unflätige Beschimpfung des typischen Wohlstandsbürgers, dem in der totalitären Epoche unserer Geschichte das Recht auf ein Privatleben immerhin weitgehend verwehrt war, sind sachlich und psychologisch zwei grundverschiedene Dinge.

Inhalte und Techniken der Gesetzgebung, der Regierung und Verwaltung, des industriellen Managements, der Mitbestimmung der Arbeitnehmer, der Vermögensbildung, wahrscheinlich nicht zuletzt der Erziehung und Ausbildung müssen dringend mit der Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklung in Übereinstimmung gebracht und insofern, wo immer das möglich erscheint, am Morgen noch stärker orientiert sein als am Heute. Wenn es jemals das Bedürfnis nach zielbewußter und methodischer Planung gegeben hat, dann im Hinblick auf notwendige und teilweise überfällige Re-

, fa%' e j formen. So verkehrt es aber wäre, an solche Reformen ausschließlich mit den Maßstäben überlieferter Erfahrung heranzugehen, die vielfach nicht mehr tauglich, weil nicht mehr erneuerungsfähig sind, so aberwitzig mutet andererseits das Bestreben an, alle Erfahrung schleunigst über Bord zu werfen, weil man sie aus ideologischen Vorurteilen für veraltet, unwirksam und „reaktionär" hält, weil sie angeblich aus dem trüben Dunkel jener „mensch- liehen Vorgeschichte", die vermeintlich bis zum heutigen Tage gedauert hat, stamme.

An der Haltung des Establishments bestätigt sich augenfällig die alte Erkenntnis, daß jahrelang unternommene konzentrische Angriffe, Schmähungen und Verdächtigungen den gewünschten Effekt der „Verunsicherung“ in einem geradezu erstaunlichen Maße haben. Auch der Politiker, der im Hinblick auf die eigene Vergangenheit eine weiße Weste hat, zur Durchführung seiner öffentlichen Aufgaben viele Opfer bringen und auf ein Familienleben in der Regel verzichten muß, fängt an, seinem guten Willen zu mißtrauen. Experten, die seit dem Bestehen der Bundesrepublik und vielleicht gerade in den letzten Jahren den Nachweis für ihre jeweilige Qualifikation in vorbildlicher Weise erbracht haben, sind geneigt, wie hypnotisiert mit dem Kopf zu nicken, wenn man ihnen ihren totalen Mangel an Fähigkeit brutal genug vorhält. Für die unmittelbaren Zukunftsaussichten ist dieser Zustand sehr mißlich. In einem Augenblick, da die Demokratie selbst mehr als je zuvor verteidigt werden müßte, sowohl gegen diejenigen, die ihre überlieferten Strukturen durch eine nivellierende Demokratisierung aushöhlen und ad absurdum führen möchten, wie gegen diejenigen, die von demokratischen Freiheiten ohnedies wenig halten und sie lieber heute als morgen durch autoritäre Systeme mit den althergebrachten Inhalten von Zucht, Ordnung und Gehorsam ablösen wollen, lassen sich die Repräsentanten der Demokratie lieber in uferlose und in der Regel mehr als verschwommene Reformdebatten verwickeln. Daß man über die permanente Reformbedürftigkeit gegebener Institutionen nur unter überzeugten und entschlossenen Demokraten sachlich und fruchtbar diskutieren kann, ist eine Erkenntnis, die unserem öffentlichen Leben immer spürbarer verloren geht. Statt dessen verschwendet man seine Zeit auf Auseinandersetzungen mit denjenigen, die von vorneherein keinen Zweifel darüber lassen, daß sie durch kein Argument zu überzeugen sind, weil sie meinen, alles besser zu wissen. Das Motiv der Etablierten für solche unerquicklichen und strapazierenden Begegnungen ist freilich in der Mehrzahl der Fälle durchaus ehrenwert. Man glaubt, man könne nur auf diese Weise eine Solidarisierung der größtenteils noch indifferenten oder mindestens noch ruhigen Schichten der jungen Generation mit den ultra-radikalen Aposteln angeblich neuer Heilslehren verhindern und leiste gerade dadurch einen beachtlichen, sogar häufig selbst-verleugnerischen Beitrag zur Verteidigung der bedrohten Demokratie. Das Ergebnis solcher Verhaltensweisen wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit genau umgekehrt sein. Wer noch schwankt, wer die eigene Weltanschauung erst formt, wer seine Position im beruflichen und gesellschaftlichen Leben noch nicht bestimmt hat, der wird, vor gewisse Alternativen gestellt, verständlicherweise dazu neigen, sich nach der Seite hin zu orientieren, von der die stärkere Sogkraft ausgeht. In dem einen Lager findet der Schwankende die radikalen Erneuerer, die von subjektiven Gewißheiten durchdrungen sind, die das faszinierende Erlebnis einer völligen revolutionären Umwälzung verheißen, mit Emanzipation von jeder politischen und sozialen Entfremdung, mit der praktischen Identität von Regierenden und Regierten, mit der effektiven Selbstbestimmung jedes einzelnen Bürgers. Daneben leuchtet die Botschaft Herbert Marcuses von einer befriedeten Zukunft auf, von einer Zusammenarbeit zwischen Ost und West — wie diese mit leichter Hand bewerkstelligt werden soll, bleibt in der Marcuseschen Perspektive eine offene Frage —, vom Ziel des Glücks, der Schönheit und der von keinerlei Skrupeln mehr belasteten Daseinserfüllung. Im anderen Lager trifft der noch Unentschlossene die verlegenen Verteidiger einer in ihren jeweiligen Wirklichkeiten tatsächlich immer sehr angreifbaren und unzureichenden politischen und gesellschaftlichen Ordnung. Diese haben keine Verheißungen anzubieten, sondern nur Fragmente, keine definitiven und bleibenden Lösungen, weil sie wissen, daß solche nicht möglich sind, sondern allenfalls ratenweise Verbesserungen des Bestehenden, keine Aggressionen, sondern Entschuldigungen für das ihnen angedichtete eigene Versagen. Hand aufs Herz: mit welchem der beiden Lager soll ein junger Mensch, der der praktischen Erfahrungen notgedrungen ermangelt, die mannigfachen Widersprüche des politischen Lebens dagegen immer kritischer wahrnimmt, aber mit den Älteren deren einmaliges und erschütterndes Freiheitserlebnis nicht teilt, sein Wollen und seine Bestrebungen wirklich solidarisieren, wo ist der stärkere Sog, welcher Richtung kann und darf man eher glauben? Unter den geschilderten und wohl durchaus der Realität entsprechenden psychologischen Voraussetzungen kann die Entscheidung nicht schwer fallen. Die Relation zugunsten der Extremen würde sich vor einem kritischen, aber noch gutwilligen Publikum erst dann umkehren, wenn die Etablierten ihren Stolz und ihre Selbstsicherheit zurückgewinnen und sich zu den demokratischen Realitäten unter Einschluß respektabler eigener Leistungen genauso entschieden bekennen würden wie ihre Widersacher zu luftigen Spekulationen oder gar Utopien.

Einäugige Publizisten

Hinzu kommt ein anderes, sehr typisches Mißverhältnis unserer Epoche, das speziell am Beispiel der Bundesrepublik deutlich wird. Ein künftiger Chronist, der einmal die deutsche Entwicklung in den letzten Jahren beschreiben will, wird bei der Durchsicht zeitgenössischer Quellen, etwa in der Tagespresse und in den Kommentaren von Rundfunk und Fernsehen, ein überaus verzerrtes Bild serviert bekommen. Die Leistungsbilanz erscheint fast total negativ, die Verantwortlichen nehmen sich durchweg aus wie Ignoranten, Schwachköpfe oder profitsüchtige Volksverführer. Die unvermeidliche Mühsal der meist langatmigen, beB schwerlichen und ernüchternden demokratischen Prozeduren, ein Thema, mit dem sich offenbar auch die Vermittler der Politischen Wissenschaften an unseren Universitäten nur höchst ungern beschäftigen, wird der breiten Öffentlichkeit von den Massenmedien unserer Zeit ebenfalls kaum noch erklärt. Dafür verwandelt sich die berechtigte kritische Distanz zu bestimmten Gegebenheiten, Maßnahmen und Gesetzesentwürfen aus journalistischer Sicht unvermittelt und unter Reproduktion einer recht verhängnisvollen Symptomatik der Weimarer Republik in eine Diskriminierung des „Systems“ schlechthin, von dessen Unzulänglichkeit sich das eigene Erkenntnisvermögen um so leuchtender abhebt oder doch wenigstens abheben soll.

Ein Schulbeispiel hierfür liefert der bekannte Publizist Helmut Lindemann, der sich kürzlich recht apodiktisch mit unserer „Unfähigkeit zur Reform" befaßte. Gewiß ist ihm beizupflichten, wenn er ausführt, wir hätten gar nicht mehr die Wahl, uns zwischen Fortschritt und Beharrung zu entscheiden, wenn auch der wertfreiere Begriff „Entwicklung“ hier besser gepaßt hätte als der ausgesprochen wertbetonte und diffuse Erwartungen beschwörende Begriff des „Fortschritts": „Vielmehr müssen wir entweder den Fortschritt meistern, indem wir uns zu ihm bekennen und ihn in den Griff bekommen — oder wir müssen untergehen." So weit, so gut, oder — wenn man will — so schlecht. Leider hat sich aber Lindemann bei seiner Betrachtung des Fortschritts ausschließlich darauf beschränkt, sich zu ihm zu bekennen; wie man ihn, durchaus wörtlich gemeint, in den Griff bekommt, ob zu diesem Zweck Selbstbewußtsein, nüchterne Skepsis und womöglich sogar gewisse konservative Tugenden erforderlich sind, hat er seinen Lesern gänzlich vorenthalten. Aus seiner weiteren Beweisführung ist freilich zu entnehmen, daß er von den hier angedeuteten Notwendigkeiten selbst durchaus nicht durchdrungen ist. Wir erkennen vielmehr, Lindemann zufolge, die Zusammenhänge nicht, wobei es nach seiner Meinung absurd wäre, die Ursache (oder gar die Schuld) bei der kleinen Minderheit rebellierender Junger zu suchen als vielmehr in der objektiven Unangepaßtheit unserer Ordnungen an die rapide Entwicklung von Wissenschaft und Technik. Auch hierin könnte man mit dem Verfasser noch bis zu einer bestimmten Grenze einig gehen. Entschiedener Widerspruch muß allerdings laut werden, wenn er fortfährt: „Was hier für die Bundesrepublik Deutschland gesagt wird, gilt auf ähnliche V/eise für viele Staaten der kapitalistisch-liberal geprägten westlichen Welt. (Die kommunistischen Staaten Europas einschließlich der Sowjetunion sind, was immer sonst dort Kritik verdient, dank der Oktoberrevolution und ihrer Folgen bei der Überwindung veralteter Strukturen dem Westen ein gutes Stück voraus.") 2) Schade wiederum, daß die „Überwindung veralteter Strukturen“, insbesondere in der Sowjetunion, nicht näher präzisiert wird. Soll hier auf den allmählichen Abbau der nach dem bloßen Volumen orientierten und zentralistisch gelenkten Planwirtschaft zugunsten gewisser Anreiz-und Konkurrenzmomente aus dem sonst doch so reformunfähigen „kapitalistisch-liberalen" Westen angespielt werden? Oder ist etwa das starre offizielle Festhalten an einer längst durchlöcherten und tausendfach widerlegten Unfehlbarkeitsideologie, das Existenzproblem des Kommunismus überhaupt, ein besonders imponierendes Beispiel für die „Überwindung veralteter Strukturen“ ^ Wie eine Weltmacht, die im vergangenen Jahr durch ihr Vorgehen gegen die Tschechoslowakei ihre Einstellung zu dem doch gewiß nicht veralteten Selbstbestimmungsrecht der Völker charakteristisch genug dokumentierte, im Vergleich zum Westen eine so auffallend positive Zensur verdienen konnte, bleibt vollends unerfindlich.

Im übrigen beschränkt sich Lindemann auf einige westdeutsche Beispiele, um die angebliche Unfähigkeit zur Reform demokratisch verfaßter und regierter Staaten zu belegen. Er erwähnt hintereinander die Finanzreform, die Parlamentsreform, die Bildungsreform und schließlich die Wirtschaftsund Agrarreform. Zu fast allen diesen wichtigen Komplexen läßt sich ohne Zweifel viel Kritisches sagen, aber eben, wenn man gerecht und sachlich bleiben will, nicht nur Kritisches. Bedauerlicherweise vermengt Lindemann in seinem Katalog beharrlich Apfel mit Birnen, Richtiges mit Falschem. Die konservative Hartnäckigkeit unserer Landwirtschaft muß in der Tat, von wenigen rühmlichen Ausnahmen abgesehen, in den unerbittlichen Brennpunkt öffentlicher Kritik gerückt werden, wenn man in der Bundesrepublik und darüber hinaus in Europa überhaupt vorankommen will. Man braucht kein Anhänger der Mitbestimmungskonzeption der Gewerkschaften zu sein, um mit Lindemann zu beklagen, wie wenig, bisher jedenfalls, die Unternehmer bereit sind, unsere Wirtschaftsverfassung für eine echte und vertretbare Demokratisierung zu öffnen. Wer sich mit der schleppenden Bildungsreform auseinander-setzt, sollte allerdings billigerweise nicht unerwähnt lassen, daß die Bundesrepublik zum erstenmal seit Jahrzehnten in diesem Land — von der Initiative einiger Besatzungsmächte unmittelbar nach dem Kriege abgesehen — eine ganze Anzahl von Universitäten und Hochschulen neu gegründet hat. Wer den Bildungsnotstand zur Bildungskatastrophe hinaufdramatisiert, wie Lindemann das tut, dürfte ferner nicht übersehen, daß man weder Bund noch Länder pauschal mit Unterlassungssünden belasten kann, die weit in die Vergangenheit, zum Teil bis ins Kaiserreich, zurückgehen.

Das in der 5. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages verwirklichte Teilstück der Finanzreform muß demjenigen höchst unbefriedigend erscheinen, der von idealen Zielsetzungen ausgeht und nicht in Betracht zieht, daß das jeweils Erreichbare in einem zugegeben verwickelten Verfassungssystem immer nur als Kompromiß das Licht der Welt erblicken kann: wie denn der traditionelle Nachteil einer stets auf Arrangement und Ausgleich der Interessen bedachten Demokratie eine spektakuläre Politik wirklich großer Schritte nur selten ermöglicht. Wenn man solche Nachteile für unerträglich und unzumutbar hält, dann soll man folgerichtig für eine Abschaffung dieses politischen Systems eintreten, nicht aber anregen, daß es sich durch einen permanenten, fast hysterisch anmutenden Prozeß allmählich selbst zu Tode reformiert. Eine „Mißgeburt“, ein „verstümmeltes Kind der Großen Koalition"

ist die Finanzreform nicht, das letztere um so weniger, wenn man bedenkt, daß die eigentlichen Streitpunkte nicht so sehr zwischen den Koalitionspartnern, sondern zwischen Bund und Ländern ausgetragen wurden. Und wenn Lindemann schließlich auf das Lieblingsthema unserer Zeit, die Parlamentsreform, zu. sprechen kommt und alle bisherigen Versuche und teilweisen Realisierungen auf diesem Gebiet als „Mätzchen" abtut, mit denen „auch wenig informierte Mitbürger nicht mehr hinters Licht“ geführt werden können, dann hätte er wenigstens Andeutungen darüber machen sollen, wie er sich denn eine große und wirksame Parlamentsreform vorstellt. Konkrete Vorschläge hierzu bleiben jedoch ebenso vollständig aus wie zu allen anderen in dem Linde-

mannschen Aufsatz erwähnten Reformthemen.

„Eine echte Parlamentsreiorm erfordert andere Dimensionen des Denkens und Handelns, aber dazu scheint unsere Gesellschaft nicht fähig zu sein." Das ist alles und damit entschieden zu wenig, ganz gewiß für diejenigen, die vör der Öffentlichkeit gern mit der Miene eines Praeceptor Germaniae auftreten. Ein Katalog ähnlicher Argumente und aus zahlreichen illustren Federn ließe sich mühelos aufstellen, aber dies erscheint überflüssig, weil der Lindemannsche Aufsatz so ziemlich alles enthält, was man an der gängigen Berichterstattung über die politischen Verhältnisse in der Bundesrepublik mit ihrer Tendenz zur Eingleisigkeit auszusetzen findet.

Von der Geschichtsblindheit der Neuen Linken

Auch die Betrachtungen, die Walter Büchner gesellschaftskritisch „Zum Demokratieverständnis der Neuen Linken" in die Debatte wirft, sind bei allem Bemühen um Objektivierung der Sachverhalte von einer immanenten Neigung zur Schabionisierung und damit Abwertung des Bestehenden nicht frei. Man muß wohl mindestens unterstellen, daß er mit „linken Beobachtern" in der Meinung übereinstimmt, es sei im Bundestag nicht länger möglich, Alternativen der Demokratisierung zu diskutieren und in Anweisungen an die Regierung durchzusetzen. Er bezweifelt in diesem Zusammenhang, daß die heutige SPD — in ausdrücklich erwähntem Gegensatz zu der Partei Schumachers — noch fähig und bereit sei, die bestehende Demokratisierung weiter zu treiben. Aber die Anpassung „an das auf dem Privateigentum an den Produktionsmitteln beruhende Wirtschaftssystem" hat nach Euchners Überzeugung auch der SPD die Schwingen gelähmt. Alle von ihr angestrebten Reformen dürften die bestehende Wirtschaftsstruktur nicht in Frage stellen. Vor dem Ziel „der Erhaltung des Wirtschaftswachstums auf der Basis privatwirtschaftlicher Gewinnmaximierung" würden andere gesellschaftspolitische Ziele, wie etwa Bildungs-, Verkehrs-und Gesundheitspolitik, zweit-oder drittrangig. Euchner gibt den demokratischen Reformbestrebungen der Sozialdemokraten „über die Manifestation guter Absichten in den Aktionsprogrammen hinaus“ kaum Chancen, weil „die vom ökonomischen Sachzwang der profit-orientierten Wirtschaft erzwungene Konjunkturpflege die Mittel des disponiblen Sozialprodukts ständig aufzuzehren drohe".

Es ist wiederum sehr lehrreich, sich anhand solcher Darlegungen zu vergegenwärtigen, wie sehr bestimmten, aber rational kaum jemals deutlich zu umschreibenden Zukunftserwartungen der Vorzug vor historischen Erfahrungen mit allen daraus resultierenden Vergleichsmöglichkeiten gegeben wird, wenn man mit der unbefriedigenden Gegenwart kritisch rechten will. Eine derartige Stabilität des Wirtschaftswachstums und der Vollbeschäftigung — von Euchner etwas ironisierend als „Konjunkturpflege" bezeichnet — wie seit Bestehen der Bundesrepublik hat es in Deutschland von der frühkapitalistischen Ära an überhaupt noch nicht gegeben. Hierfür zeichnet nicht zuletzt die verfassungsmäßig garantierte Autonomie der Sozialpartner verantwortlich. Es besteht bisher jedenfalls kein Zweifel an der Annahme, daß auch die Unternehmerseite aus den deprimierenden, wenn auch größtenteils selbst-verschuldeten Erfahrungen der Weimarer Republik einiges hinzugelernt hat. Das soge-nannte deutsche Wirtschaftswunder ist ebensowenig zu erklären, wenn man die imponierende Leistung und Bewährung der Gewerkschaften außer Betracht lassen wollte. Als die Weimarer Republik von den ersten Symptomen jener Wirtschaftskrise heimgesucht wurde, die ihr später den Garaus machen sollte, zogen sich die Sozialdemokraten sofort aus der Verantwortung zurück. Als in der Bundesrepublik die Zeichen der Zeit erstmalig auf Sturm standen, bekannten sich dagegen die Söhne und Enkel derer, die im Jahre 1930 in die beliebte Oppositionsrolle auswichen, ihrerseits nach reiflicher Erwägung, aber ohne inneres Schwanken zu der staatspolitischen Notwendigkeit, aus der Opposition heraus in die Verantwortung zu gehen. Ende 1966 kam es der SPD nicht auf die „Manifestation guter Absichten in den Aktionsprogrammen“, wohl aber auf ein höchst konkretes Koalitionsprogramm an, von dem wesentliche Teile in überraschend kurzer Frist in die Wirklichkeit umgesetzt wurden. Es mag reizvoller und vor allem populärer sein, die Schattenseiten des heutigen Parlamentsbetriebes kritisch anzuvisieren, als sich mit den ermüdenden Details eines Komplexes näher zu befassen, der von der vor wenigen Jahren noch für utopisch gehaltenen mittelfristigen Finanzplanung bis zum Lohnfortzahlungsgesetz für Arbeiter im Krankheitsfälle reicht. Wer sich aber auf die damit verbundenen Unbequemlichkeiten nicht einlassen will, sollte den demokratischen Parteien und insbesondere den Sozialdemokraten nicht vorwerfen, sie nähmen in bequemer Anpassung an die schnöde Gegenwart ihre eigentlichen politischen Zielvorstellungen nicht mehr ernst und versuchten nicht, diese im Rahmen des jeweils auf dem Kompromißwege Erreichbaren in Taten zu verwandeln. Gewiß ersetzen seit Goethe die „Teile in der Hand" nicht das „geistige Band", aber auch das geistige Band bleibt rein spekulativ, verschroben, hoffnungslos utopisch, wenn man es nicht an der Summe seiner Teile mißt und diesen vorsätzlich oder fahrlässig keine Beachtung schenkt.

Der bereits erwähnten und von Euchner zitierten Auffassung Abendroths, das Grundgesetz garantiere die Chance, durch eine Majoritätsentscheidung der Wähler eine „spätkapitalistische“ Wirtschaftsverfassung in eine sozialistische Ordnung zu verwandeln, wird jeder zustimmen, der davon überzeugt ist, daß in der Bundesrepublik, wie in jedem demokratischen Gemeinwesen, zwar nach wie vor vieles zu erfüllen bleibt, der aber die Augen nicht vor der Tatsache verschließt, daß dieser Staat trotz aller Anfechtungen und trotz seiner abnormen politischen Lage im Hinblick auf die Spaltung der Nation bislang nicht nur seine Krisen-festigkeit, sondern auch entgegen allen anders-lautenden Unterstellungen seine Reformfähigkeit durchaus erwiesen hat. Reformfähigkeit wozu? Zur Herbeiführung der von Abendroth angestrebten sozialistischen Ordnung? Gewiß auch das. Aber nun ist endgültig der Augenblick gekommen, in dem wir unser Vokabular durchforsten und unsere Definitionen um der Zukunft willen präzisieren müssen. Einmal wäre davon auszugehen, daß alle möglichen Formen einer sozialistischen Ordnung, soweit man die Grundregeln der parlamentarischen Demokratie bejaht, durch den Willen der Wählermehrheit eingeführt, aber auch wieder aufgehoben werden können. Eine Demokratie darf bekanntlich keine bleibenden oder gar „unveräußerlichen" Errungenschaften kennen, von der einen wohltätigen Ausnahme abgesehen, ihre eigenen gesetzgeberischen Inhalte immer wieder abzuändern oder gänzlich in Frage zu stellen, wenn eine legal zustande gekommene Mehrheit das fordert.

Wie aber soll eine sozialistische Ordnung aussehen, wenn der erkennbare Wählerwunsch verlangen sollte, eine solche anzusteuern?

Hier gibt uns Euchner keinen direkten Aufschluß, sondern gesteht vielmehr zu, daß er in dieser Beziehung — mit anderen Autoren, die ihrerseits den Sozialismus nur negativ, als das, was er nicht ist, zu definieren vermögen — relativ unsicher und unschlüssig ist. Da aber, wie zahlreichen Veröffentlichungen zu diesem Thema zu entnehmen ist, der sogenannte Spätkapitalismus — unter Außerachtlassung aller Transformationen des kapitalistischen Systems durch Mitbestimmung, Vermögensbildung, Abschaffung der gesellschaftlichen Armut usw. — an der Fortexistenz des Privateigentums an Produktionsmitteln erkannt werden soll, ergäbe sich daraus die logische Schlußfolgerung, daß nur die Vergesellschaftung der Produktionsmittel im klassischen marxistischen Sinne einen wirklichen Sozialismus herbeiführen kann. Träfe dies zu, würden die Entwicklungsbedingungen und ökonomisch-sozialen Voraussetzungen des 19. Jahrhunderts bedenkenlos auf das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts übertragen. Es fragt sich, ob solches zulässig ist und ob man in der gemeinsam zu bewältigenden Zukunft wesentlich weiterkommt, wenn man statt der bleibenden Erkenntnisse ausgerechnet die Irrtümer und Fehlprognosen des Marxismus verewigen will. Karl Marx selbst kam bekanntlich zeitlebens von der Vorstellung nicht los, daß die totale Verelendung des Proletariats bei Reifung des kapitalistischen Systems ein zwangsläufiger Prozeß sei, ja daß die Stunde der von ihm vorausgesagten sozialen Revolution erst dann schlage, wenn, von der verschwindenden Ausnahme einiger Kapitalmagnaten abgesehen, auch ehemalige mittlere und kleine Produzenten auf das Niveau des Proletariats abgesunken seien. Diese Auffassung ließ bereits der junge Marx als Redakteur der „Neuen Rheinischen Zeitung“ durchblicken An ihr hielt er in einem Referat fest, das er Ende Juni 1865 vor dem Generalrat der „Internationalen Arbeiter-Assoziation“ erstattete. Marx’ apokalyptische Vision von den „ex-propiierten Expropiateurs“ im berühmten 24. Kapitel des 1. Bandes des „Kapital" weist in die gleiche Richtung

Nun hat jedoch die Geschichte der letzten hundert Jahre einen ganz anderen Verlauf genommen, als es Marx vermutete, mindestens was die für unvermeidbar erachtete Vergesellschaftung der Produktionsmittel als Grundbasis einer sozialistischen Ordnung anbetrifft. Wer daher die weitestgehende Verwirklichung sozialistischer Ideen und Impulse für die Gesellschaft von morgen für unerläßlich hält, sollte sich um neue, wenn auch bescheidenere und vielleicht hausbackenere, jedenfalls der Relativität menschlichen Strebens und Vollbringens besser angepaßte Definitionen bemühen. Dem Verfasser dieses Beitrages fällt hierzu, wie er freimütig einräumt, noch immer nichts geeigneteres ein, als er zum Thema Sozialismus vor elf Jahren in einer politischen Streitschrift for-mulierte: „Sozialismus ist nicht die Überwindung aller menschlichen Abhängigkeiten und gesellschaitlichen Widersprüche. Sozialismus ist die Beseitigung solcher Abhängigkeiten und Widersprüche, die mit den begrenzten, aber oft aus Bequemlichkeit unterschätzten Mitteln menschlicher Einsicht abstellbar und durch die unermüdliche Realisierung des menschlichen guten Willens überwindbar sind.... Der Sozialismus überfordert sich und wird zum Henker seiner selbst, sobald er sich mit einer unanfechtbaren und absoluten irdischen Vollkommenheit identifiziert. Der Sozialismus kapituliert, sobald er die potentiell unbegrenzte Entwicklungsfähigkeit des menschlichen Geschlechtes leugnet." Demjenigen, der trotz aller anderslautenden psychologischen und historischen Erfahrungen auch heute noch von vollkommenen und schlechterdings nicht mehr anzweifelbaren Endzuständen gesellschaftlicher Entwicklung ausgeht, wird dieser Versuch einer Definition des Sozialismus als schal und unzureichend, mindestens aber als zu „idealistisch" erscheinen. Der Verfasser meint dessenungeachtet, daß die richtige, das heißt dynamische Auslegung des soeben Zitierten dem Sozialismus unserer Zeit einen entscheidenden Platz in der großen gesellschaftlichen Reformdebatte einräumen würde.

Transitive und operationelle Demokratie

Was hingegen die Neue Linke unter Demokratie versteht, wie sie die Alternative des operationellen und des transitiven Bereichs auffaßt, ist wesentlich leichter zu verstehen und daher als Forderung entsprechend anschaulicher. Büchner weist sehr zutreffend nach, daß es zwei völlig verschiedene geschichtliche Typen des Demokratieverständnisses gibt. Der eine, transitive, ist erstmalig in dieser Eindeutigkeit von Rousseau in seinem „Contrat so- dal“ herausgestellt worden. Er beruft sich auf die „volonte generale“, also auf den Volkswillen, der möglichst unmittelbar und mit nur wenig potenten Zwischeninstanzen ausgeübt werden soll. Die Weiterentwicklung der Rous-seauschen Ideen führt logisch zur Propagierung eines Rätesystems in Staat und Gesellschaft, das das repräsentative System abzulösen hätte. Nur dann kann es wenigstens theoretisch eine annähernde Identität von Regierenden und Regierten geben, genauer gesagt, die Verwaltenden treten an die Stelle der Regierenden, weil die jederzeitige Ablösbarkeit gewählter Funktionäre kaum zulassen dürfte, daß sich in ihrem Bereich ein echter Spielraum von Regierungsbefugnis im traditionellen Sinne und damit von Autorität entwickelt. So viele Vorbehalte Euchner einem solchen System entgegenbringt, so meint er doch andererseits, wie bereits erwähnt, der Beweis dafür, ein funktionstüchtiges, „substantielle Demokratie weithin realisierendes System" könne sich auf Rätebasis unmöglich entwickeln, sei nicht anzutreten. Diese Hypothese ist logisch unbestreitbar, psychologisch aber mit Sicherheit falsch. Demokratie auf der Grundlage totaler Demokratisierung aller Lebensbereiche würde auch die totale Anwesenheit aller mündigen Bürger in den vorgesehenen Beschlußgremien der jeweiligen Kommunen erforderlich machen. In diesen Gremien — die APO hat ja gewisse Vorformen entwickelt, die das beweisen — würde unvermeidlich so viel, so anhaltend und so leidenschaftlich diskutiert, daß man darüber den eigentlichen politischen Vollzug, nämlich die Entscheidung und das praktische Handeln, vergäße. Die von solchem Betrieb Enttäuschten würden es sehr bald vorziehen, wieder in die private Sphäre auszuweichen und sich dem Gemeinwesen zu entfremden. Entweder werden sie auf diese Weise von den anwesenden Beschließenden doch wieder majorisiert oder ihrerseits trotz gegenteiliger Absichten zur dauernden Präsenz verpflichtet, womit durch eine sehr breite Hintertür gerade jene Zwänge wieder eingelassen würden, die man doch durch die Vordertür für ewig als menschenunwürdig verbannen wollte. Es läßt sich schwer einsehen, wie ein solches System Freiheit, echte menschliche Freiheit garantieren könnte, übrigens erweisen sich auch im Falle Rousseaus die Jünger, die Denkmodelle einer vollkommenen Demokratie entwerfen, als viel „vulgärer“ als ihr Vorbild und Meister. Rousseau besaß, wie alle spekulativen Geister, die große Tugend des Genies, sich selbst zu mißtrauen. Anders wäre der Stoßseufzer nicht zu erklären, mit dem er sein Demokratie-Kapitel im „Contrat social“ beschließt und in dem er sich Gedanken darüber macht, warum es unzweckmäßig sei, daß die Gesetzgeber ihre Beschlüsse selber ausführten: „S'il y avait un peuple de dieux, 11 se gouvernerait democratiquement. Un gouvernement si parlait ne convi-ent pas ä des hommes.“

Der andere, operationell-empirische Typ der Demokratie ist überaus unvollkommen, weil die Entscheidungsprozeduren in der Regel langwierig und oft schlicht langweilig sind, relativ unstabil, weil es auf Stimmungen und Vorurteile gewisse Rücksichten zu nehmen gilt, und prinzipiell durchaus unweise, weil die als Instrumentarium erforderlichen Mehrheitsbeschlüsse häufig nicht gerade von höherer Erkenntnis durchwaltet sind; aber er verbürgt allen denen ein Maximum an Freiheit, die sich ihrer wirklich und systematisch bedienen wollen. Die operationell-empirische Demokratie geht ebenfalls vom Prinzip der Volkssouveränität aus, verzichtet aber auf deren unmittelbare Ausübung, schafft eine Reihe auf längere Frist handlungsfähiger Zwischeninstanzen und berücksichtigt vor allem die Notwendigkeit der Gewaltenteilung im staatlichen Leben. Montesquieu, der die Gewaltenteilung als erster theoretisch beschrieb, stützte sich dabei auf Leitmotive, die größtenteils der angelsächsischen Erfahrungspraxis entnommen waren. Diese Form der Demokratie ist zur Herausbildung stabiler Traditionen auf ein unaufhebbares dialektisches Verhältnis von Mißtrauen und Vertrauen angewiesen. Ohne eine derartige fruchtbare Spannung zwischen negativem und positivem Pol ist die Gewaltenteilung als funktionelle Entlastung des einzelnen Bürgers von übermächtigem staatlichen Druck ebenso wenig denkbar wie eine wirksame Garantie individueller und politischer Freiheit über längere Zeiträume hinweg. Das Element des Mißtrauens ist unverzichtbar: Es bewahrt stufenweise den für bestimmte Aufgaben gewählten Funktionär vor jener Selbstverliebtheit, die ihn sonst leichtfertig, übermütig oder gar despotisch machen könnte. Die Begrenzung der Legislatur-und Amtsperioden der Demokratie ist der sichtbarste und legitimste Ausdruck dieses Mißtrauens. Jeder, der Gesetze gibt oder gar als Regierender die Richtlinien der Politik bestimmt, muß und soll in jeder Minute kritisch vor Augen haben, wie unerbittlich die Zeit verrinnt und wie schnell er von seiner Aufgabe wieder abberufen werden kann. Allgemeine Wahlen sind auch heute noch potentielle Weichenstellungen von größter Bedeutung, bei denen das Volk als Souverän sein originäres Recht ausübt. Wer das leugnet, will einfach den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen. Eine geringe Wählermajorität in unserem Nachbarlande Frankreich bei einem noch dazu ursprünglich mehr zufällig anmutenden Plebiszit genügte, um eine historische Ara mit all ihrer Problematik zu beenden.

Ebenso ist der Politiker in einer repräsentativen Demokratie jedoch auf ein zwar zeitlich begrenztes, aber vorbehaltloses Vertrauen angewiesen, und wenn man dieses Vertrauen seinen Fähigkeiten nicht ohne weiteres entgegenbringt, sollte man doch wenigstens seinem guten Willen einen befristeten Spielraum gestatten. Auch das politische Geschäft bedarf mindestens ebenso sehr wie jedes andere einer Spanne des Anlaufs und der Einarbeitung. Aber selbst wenn diese Spanne verstrichen ist, muß der hauptberufliche Politiker es genauso wie jeder sonstige Bürger als sein Menschenrecht beanspruchen, gute oder schlechte Tage zu haben. Die von den linken Gesellschaftskritikern geforderte ständige Ab-wählbarkeit der Gewählten wäre insofern nicht nur aus sachlichen Gründen wenig ratsam, sondern auch aus menschlichen überaus ungerecht. Wer befindet schließlich darüber, ob ein Gremium, das zu jeder Stunde Gewählte abberufen kann, zu diesem Zweck auch immer seine Ratio allgegenwärtig hat statt irgendwelcher unklarer oder verdrängter Emotionen.

Kein Einsichtiger leugnet, daß fast alle überlieferten Institutionen der repräsentativen, das heißt parlamentarischen Demokratie mehr oder minder anpassungsbedürftig sind, einige von ihnen sogar in höchstem Maße. Das Gleichgewicht zwischen Legislative und Exekutive, das keineswegs, wie manche Kritiker meinen, bereits verlorengegangen ist, wohl aber aus der Balance zu gleiten droht, muß wieder hergestellt, die Informationen über das politische Geschehen müssen in breiteren Strömen fließen und der Öffentlichkeit mit geeigneten Mitteln besser zugänglich gemacht werden. Das Verhältnis von Wähler und Gewähltem bedarf der Intensivierung, wobei auch kritisch zu überprüfen wäre, wieweit die bisherigen, meist anstrengenden und zeitraubenden, aber wenig effektiven Kontaktformen großenteils antiquiert sind. Was man aber auch immer an notwendigen und zweckmäßigen Reformen verwirklichen möchte, es sollte innerhalb eines in Jahrhunderten gezogenen und trotz alledem erstaunlich bewährten Rahmens bewerkstelligt werden. Nicht eine Inflation halb durchdachter, hastig vollzogener und infolgedessen wenig ausgereifter Maßnahmen, sondern gründliches Nachdenken über ein neues gesellschaftliches Zusammenleben, das indessen eine Ordnung haben muß, öffnet den Weg in eine bessere Zukunft. Für die zwischenmenschlichen Beziehungen ist neben Emanzipation, Selbstbestimmung und freier Entfaltung auch die Autorität nicht allein ein Ausdruck der entbehrlichen Herrschaft über andere, sondern ein höchst natürlicher, unserem Wesen angemessener Wert — und wird es bleiben.

Daß die Freiheit ihre Handlungsfähigkeit nicht verliere und daß ihre Institutionen hierfür immer mit der erforderlichen Autorität ausgestattet bleiben mögen, ja daß sie sich zu ihr bekennen und sie notfalls auch einsetzen, ist der wohl heißeste Wunsch aller derjenigen, die es schon einmal erlebten, daß eine zu wenig selbstbewußte Demokratie in Chaos und Anarchie versank, aus denen schließlich das schlimmste totalitäre System der Menschheitsgeschichte entstand. Die mittleren und älteren Jahrgänge sind in dieser Beziehung, wenn man so will, gewitterfühlig, sie haben die tragische Kontrapunktik der damaligen Zeit gewissermaßen noch im Blut. Der jungen Generation fehlt, wie schon einmal angedeutet, diese Erlebnisdimension vollständig. Die Freiheit, die sich ihre Väter in einer Stunde kollektiven Versagens entwinden ließen, um sie nun, bewußt oder unbewußt, als ihren höchsten Wert zu bewahren, gilt den Söhnen allenfalls als selbstverständliche, hier und da sogar schon als problematisch empfundene Daseins-basis, für deren Vorhandensein man nicht dankbar zu sein hat, sondern von der aus es — meist recht unbekümmert — zu operieren gilt, zu immer höheren, immer faszinierenderen Menschheitszielen. Soweit hier lediglich eine Ungeduld sichtbar wird, die auf konkrete Leistungen aus ist und das Vorhandene, wo immer möglich und nötig, verbessern möchte, ist von ihr Gutes, vielleicht sogar Großes zu erwarten. Soweit an der Peripherie aber Arroganz sichtbar geworden ist, die aus der Unfähigkeit eigenen mangelnden Geschichtsbewußtseins stammt und der damit zusammenhängenden Impotenz schöpferischer Phantasie — die allein eine moralische Identifizierung mit allen denen ermöglicht, die von den frühesten Tagen bis zur Hitler-Zeit und in die Gegenwart der Tschechoslowakei hinein für die Freiheit gelitten haben und leiden —, eine Arroganz, die psychologisch unentrinnbar in Intoleranz, ja, in Inhumanität umschlägt, müssen sich die Älteren um ihrer selbst, aber auch um der Heranwachsenden willen entschiedener für eine Sache wehren, die beide Seiten angeht und für beide gleich wichtig ist. Diejenigen, die ihren Vätern oft und gern vorwerfen, diese hätten ein „utopisches Defizit“ hinterlassen, sollten stärker als bisher darum bemüht sein, ihr eigenes ethisches Defizit zu beseitigten.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Helmut Lindemann, Die Unfähigkeit zur Reform, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, hrsg. v. Bundesvorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Heft 6, Köln 1969, S. 357.

  2. Helmut Lindemann (vgl. Anm. 1), S. 358.

  3. Karl Marx, Lohnarbeit und Kapital, nach dem Separatabdruck aus der „Neuen Rheinischen Zeitung" vom Jahre 1849, Schriftenreihe Demokratie und Sozialismus (Sozialistische Dokumente), Heft 16, Offenbach/M. 1947.

  4. Karl Marx, Lohn, Preis und Profit. Vortrag gehalten im Generalrat der „Internationale" am 26. Juni 1865, Schriftenreihe Demokratie und Sozialismus (vgl. Anm. 4), Heft 17, 1947.

  5. Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, hrsg. v. Friedrich Engels, Hamburg 192210, 1. Band, 24. Kapitel: „Die sogenannte ursprüngliche Akkumulation", S. 728.

  6. Klaus-Peter Schulz, Opposition als politisches Schicksal?, Köln 1958, S. 151.

  7. J. -J. Rousseau, Oeuvres Completes. Tome III: Du Contrat Social, ou Principes du Droit Poi’itique. Livre III, Chap. IV: „De la democratie", Frank-furt/M. 1855, S. 318.

Weitere Inhalte

Klaus-Peter Schulz, Dr. med., MdB, Publizist, geb. 2. April 1915 in Berlin. Zahlreiche Veröffentlichungen, u. a.: Sorge um die deutsche Linke, 1954; Luther und Marx, 1956; Opposition als politisches Schicksal?, 1958; Proletarier — Klassenkämpfer — Staatsbürger. 100 Jahre deutsche Arbeiterbewegung, 1963.