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Revolution und Gegenrevolution in Osteuropa seit 1948 | APuZ 37/1969 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 37/1969 Artikel 1 Revolution und Gegenrevolution in Osteuropa seit 1948 Artikel 3

Revolution und Gegenrevolution in Osteuropa seit 1948

Günter Bartsch

9. Die fünfte Phase: 1960 bis Oktober 1964

Abbildung 1

Die neue Etappe brachte den Auseinanderfall des Ostblocks. Er spaltete sich in eine prosowjetische und eine prochinesische Staaten-gruppe. Innerhalb dieses Gegensatzes entstand eine neutralistische Zwischenströmung, in der sich Rumänien, Kuba, Nordvietnam und schließlich auch Nordkorea lose mit Jugoslawien verbanden.

Der internationale Kommunismus geriet ebenfalls in den Sog des Konflikts Moskau— Peking. Zug um Zug wurden fast alle Parteien in ihn hineingezogen, so daß sich parallele Gruppierungen wie im kommunistischen Herrschaftsbereich bildeten. Zugleich gewann der westeuropäische Kommunismus eine eigenständige Kontur. Die Weltkonferenz vom November 1960 war außerstande, eine neue Internationale zu schaffen und die Differenzen zu überwinden.

Moskau verwickelte sich auch in Konflikte mit Tirana und Bukarest. Es konnte nicht einmal seinen osteuropäischen Einflußbereich sichern. Zog die Kuba-Krise die Aufrichtigkeit seiner Koexistenz-Politik im Westen in Zweifel, so lädierte der Raketenabzug aus Kuba — obwohl im Interesse des Friedens — das sowjetische Prestige innerhalb der kommunistischen Staatengruppe noch mehr. Das Atomteststoppabkommen zwischen den USA und der UdSSR vom 25. Juli 1963 galt bei vielen Kommunisten schon mehr als ein Zeichen der Schwäche statt der Stärke Moskaus. Chruschtschows Plan einer ökonomischen Gegenrevolution in Osteuropa mit Hilfe des Comecon scheiterte überraschend schnell. Jedoch trieb Chruschtschow durch den XXII. Parteitag der KPdSU die Entstalinisierung zunächst wieder voran. Stalins Entfernung aus dem Mausoleum war eine Weltsensation. Die Publizierung der Reformideen Professor Libermans öffnete das Tor für Wirtschaftsreformen oder zumindest für entsprechende Pläne in einer ganzen Reihe kommunistischer Länder. Es war unmöglich geworden, die Mängel einer behördenmäßig und zentralistisch gelenkten Industrie noch länger zu verschleiern.

Neben diesen verkleideten Formen der osteuropäischen Revolution traten auch wieder offene auf. Das stärkste Wachstum der Revolution war in der Tschechoslowakei zu verzeichnen, wo es zu einer schweren Krise kam.

Der Konflikt Moskau—Peking Im Jahre 1960 traten sich die beiden kommunistischen Großmächte gegenüber. Ihre brüderlichen Bande zerrissen. Dieser Gegensatz bestimmte die letzten vier Jahre der kurzen Ära Chruschtschow. Er färbte alle Erscheinungen sowohl der sowjetischen als auch der chinesischen Politik.

Der Konflikt zwischen Moskau und Peking hat eine lange Vorgeschichte, die schon in den zwanziger Jahren begann. Obgleich sie eigentlich nicht in dieses Kapitel gehört, ist ihre Kenntnis unerläßlich, um den Charakter der Kontroverse und ihre Folgen zu verstehen. Der erst 1960 aufgebrochene Gegensatz reifte unter der Oberfläche wie ein Eiterherd.

Das zaristische Rußland war ebenso wie Deutschland an der Niederschlagung des chinesischen Boxeraufstands beteiligt gewesen. Dann kam Lenins Partei an die Macht. Der Rat der Volkskommissare richtete am 26. Juli 1919 eine Note an die nationalchinesische Regierung Sun Yat-sens, worin er auf alle Entschädigungen verzichtete, die aus Anlaß des Boxeraufstands an Rußland noch zu zahlen waren. In der Note stand die feierliche Verpflichtung, das chinesische Volk in Zukunft als völlig gleichberechtigt zu behandeln. Sie versprach die Rückgabe der mandschurischen Eisenbahn an China, aber schon wenig später war dieses Versprechen vergessen. Die Tschangschun-Bahn blieb bis 1935 in russischem Besitz. In diesem Jahr erzwangen die Japaner, die 1931/32 die Mandschurei besetzt hatten, ihren Verkauf.

Die im Juli 1921 gebildete Kommunistische Partei Chinas trat auf Anweisung der Komintern Anfang 1924 bedingungslos in die Kuomintang ein. Entsprechend ihren russischen Beratern verzichtete sie damit auf eine eigenständige Politik im eigenen Land.

Selbstverständlich konnte das nicht im Sinne vieler Mitglieder sein. Doch die Sowjetregierung wollte das nationalchinesische China freundlich stimmen und mit seiner Hilfe ihre exterritorialen Privilegien in der Mandschurei aufrechterhalten. Anfang 1926 wurde die Kuomintang als einzige nichtkommunistische Partei in die Komintern ausgenommen.

Tschiang Kai-schek stieg sogar zum Ehrenmitglied des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale auf. Die KPCh war indessen an Händen und Füßen gefesselt. Vergebens bat sie in Moskau zweimal um Erlaubnis für den Austritt aus der Kuomintang. Nach dem Generalstreik von Kanton im Jahre 1925 fürchtete Tschiang Kai-schek den wachsenden kommunistischen Einfluß. Am 20. März 1926 ließ er alle chinesischen Kommunisten aus seinem Hauptquartier entfernen, die sowjetischen Berater wie Borodin und Blücher durften jedoch bleiben. Der damalige chinesische KP-Führer Tschen Tu-hsiu bat vergebens um russische Hilfe bei der Aufstellung kommunistischer Truppen für den Fall eines Bürgerkriegs mit der Kuomintang.

Zu dieser Zeit tobte noch ein Bürgerkrieg zwischen dem nationalchinesischen Süden und der Regierung Tschang Tso-lins im Norden. Am 26. Juli 1926 gab Tschiang Kai-schek den Befehl zum Vormarsch. Sein Weg führte ihn auch über Schanghai. Noch bevor er es erreichte, erhoben die Arbeiter Schanghais sich im März 1927 unter kommunistischer Führung, stürzten die Behörden Tschang Tso-lins und errichteten eine revolutionäre Kommune, die der Keim einer kommunistischen Regierung für ganz China werden konnte. Doch Moskau befahl, die Stadt der Kuomintang zu übergeben und die Waffen niederzulegen. Tschiang Kaischek zog als Triumphator ein und veranstaltete in Schanghai eine Kommunistenverfolgung, der Tausende zum Opfer fielen, wobei die Hinrichtungen teilweise auf offener Straße erfolgten. Wie die Pariser Kommune von 1871 ging auch die Schanghaier von 1927 unter — sie wurde mit indirekter Unterstützung der Sowjetunion ausgelöscht. Am 13. Juli 1927 wurde dann die Kommunistische Partei verboten. Vielleicht, um den Eindruck seiner Mitschuld zu verwischen, schickte Stalin den deutschen Kommunisten Heinz Neumann zusammen mit dem Komsomol-Sekretär Lominadse nach China. Uber den Kopf Tschen Tu-hsius hinweg, den sie für alle Fehlschläge der Vergangenheit verantwortlich machten, organisierten sie in Kanton einen bewaffneten Aufstand, der mißlang und große Opfer forderte. Auch eine durch die KPCh selbst inszenierte Erhebung in Natschang brach zusammen. Nach diesen drei Katastrophen reduzierte sich die Zahl der chinesischen Kommunisten um etwa die Hälfte.

Mao begriff, daß man in China einen anderen Weg als in Rußland gehen müsse: nicht von der Machtergreifung in den Großstädten auf die Dörfer, sondern von der Eroberung des Dorfes in die Städte. Die Kommunistische Partei könnte nur über eine Bauernrevolution zur Herrschaft gelangen, und diese bedürfe als ihres militärischen Kerns einer Roten Armee. Wegen dieser Konzeption wurde Mao Tse-tung von einem erheblichen Teil seiner Genossen als „Bauernphilosoph" verspottet. Obwohl seit 1923 Mitglied des Zentralkomitees, verweigerte man ihm auf dem VI. Parteitag im Jahre 1927 das Wort. Die Mehrheit der chinesischen Kommunisten dachte noch in den marxistischen Kategorien des Industrie-proletariats und nach der russischen Schablone. Hinter der Spöttelei über den Bauern-oder gar „Kulakenphilosophen" verbarg sich der gefährliche Doppelvorwurf einer Revision des Marxismus und des Abweichens vom sowjetischen Vorbild. überraschend war es aber gerade Mao, der, nachdem er Ende 1927 den Guerilla-Krieg entfesselt hatte, die Gründung chinesischer Sowjets unternahm. Dem stand Stalin ablehnend gegenüber, weil er die chinesische Revolution für eine bürgerliche hielt. Ungeachtet dessen bildete Mao 1930 im Kiangsi-Gebiet eine Sowjetregierung, die seit Dezember 1931 „Nationale Sowjetregierung" mit dem Anspruch auf ganz China hieß, über drei Millionen Einwohner gebot, eine Rote Armee von 200 000 Mann besaß und Japan im April 1932 den Krieg erklärte. Tschiang Kai-schek versuchte viermal vergeblich die Vernichtung dieses kommunistischen Miniaturstaats. Erst Ende 1934 gab Mao seine Sowjetrepublik auf, die in Moskau beflissen übersehen worden war.

Im Januar 1935 zum neuen Generalsekretär der Partei gewählt, verdrängte er den Stalin-Günstling Mang Wing, der nach Moskau floh, wo man ihn demonstrativ in das Präsidium der Komintern aufnahm. Mao galt im Kreml jetzt als Trotzkist. Sämtliche Mitglieder der chinesischen Delegation zum VII. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale im Sommer 1935 gingen in der blutigen Welle der stalinistischen Trotzkistenverfolgung unter. Auf einer Parteikonferenz im Oktober 1938 zog Mao die Folgerungen. Mit den Schablonen aus Moskau müsse endlich Schluß gemacht werden. Sie hätten den chinesischen Kommunisten nichts als Schaden gebracht. Die Kommunistische Partei könne nur siegen, wenn sie einen der chinesischen Eigenart entsprechenden Stil entwickele und dem Kommunismus eine nationale Form gebe. Das war die theoretische Geburt des Nationalkommunismus.

Während des Zweiten Weltkriegs befanden sich bei der Roten Armee Mao Tse-tungs, die gemeinsam mit der Kuomintang-Armee gegen die Japaner kämpfte, zwar einige amerikanische, aber keine sowjetischen Offiziere. 1945 beherrschten die chinesischen Kommunisten bereits ein Gebiet mit 100 Millionen Menschen in sieben Provinzen. Trotzdem erklärte Stalin auf der Potsdamer Konferenz des gleichen Jahres, nur die Kuomintang könne China regie-Inhaltder Ausgabe B 47/68 Die neue Opposition in der SED Rumänische Revolten Auch Bulgarien zitterte Die neue Unruhe in der Tschechoslowakei Albanische Kommentare Ubersprung auf Asien Ausläufer im Westkommunismus 8. Die vierte Phase:

1957— 1959 Chruschtschow zwischen Molotow und Dudinzew Die dritte Kommunismusform (China)

Gomulka oder Kolakowski?

Unter den Trümmern der Revolution Die „neue Klasse" und das Laibacher Programm Ulbricht restabilisiert seine Macht Andere Länder (Bulgarien, Tschechoslowakei, Rumänien)

Der Westkommunismus Inhalt dieser Ausgabe 9. Die fünfte Phase: 1960 bis Oktober 1964 Der Konflikt Moskau—Peking Der Maoismus (China)

Der Konflikt Moskau—Tirana (Albanien)

Die Chruschtschow-Doktrin und der Konflikt mit Bukarest (Rumänien)

Die zweite Welle der Entstalinisierung (Sowjetunion)

Erster Staatsstreichversuch (Bulgarien)

„Wer nicht gegen uns ist, ist mit uns"

(Ungarn)

Die Gegenrevolution marschiert (DDR)

Freiheit so wichtig wie Brot (Polen)

Burgfriede und Ausbau der Selbstverwaltung (Jugoslawien)

Der „Frühling im Herbst" (Tschechoslowakei)

Togliattis Idee der Einheit in Vielfalt (Westeuropa) ren. Noch am 14. August 1945 wurde ein Vertrag zwischen Moskau und der nationalchinesischen Regierung in Tschungking abgeschlossen, in dem die Sowjetunion versprach, allein der Kuomintang moralische und materielle Unterstützung zu gewähren.

Im November 1940 hatte die UdSSR mit dem damals noch autonomen Sinkiang einen Vertrag ausgehandelt, der ihr für 50 Jahre das ausschließliche Recht auf Ausbeutung der Zinn-und Buntmetallvorkommen zugestand. Mit der Besetzung dieses Gebiets durch die Truppen Mao Tse-tungs und mit seinem Anschluß an China war die Nutzung der vertraglichen Rechte gefährdet. Sinkiang wurde zu einem Zankapfel zwischen Moskau und Peking. Stalin erklärte sich auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945 nur unter der Bedingung zum Eintritt in den Krieg gegen Japan bereit, daß die Vorrechte der Zaren in China wiederhergestellt würden. Er verlangte den 5O°/oigen Anteil an der mandschurischen Tschangschun-Bahn, die Benutzung von Port Arthur als Kriegshaiten und Sonderrechte im Handelshafen Dairen.

Als die Sowjetunion an Japan den Krieg erklärt und im Zuge der Kriegshandlungen die Mandschurei besetzt hatte, zog sie den Abzug ihrer Truppen solange hinaus, bis ein großer Teil der mandschurischen Schwerindustrie demontiert und nach Rußland abtransportiert worden war. Nur die leeren Fabrikhallen blieben stehen. Die amerikanische Reparationskommission für den Fernen Osten schätzte den Wert der demontierten Industrieanlagen auf 3, 4 und die Neubeschaffungskosten auf 8 Milliarden DM. Wenn man bedenkt, daß die Mandschurei das chinesische Ruhrgebiet ist, so hatte Moskau eine Art Morgenthau-P 4 und die Neubeschaffungskosten auf 8 Milliarden DM. Wenn man bedenkt, daß die Mandschurei das chinesische Ruhrgebiet ist, so hatte Moskau eine Art Morgenthau-Plan durchgeführt. Das kommunistische China mußte ungeheure Mittel aufwenden, um den Schaden wettzumachen, der ihm vom kommunistischen Rußland zugefügt worden war.

Im März 1949 zog Mao Tse-tung in Peking ein. Der Bürgerkrieg war zugunsten der Kommunisten entschieden. Im April floh die nationalchinesische Regierung nach Kanton. Von den ausländischen Diplomaten folgte ihr als Einziger ausgerechnet der sowjetische Botschafter in die neue Residenz 1).

Am 25. Juni 1950 begann der Korea-Krieg. Während das chinesische Expeditionskorps einen hohen Blutzoll entrichtete, beschränkte sich die Sowjetunion, wenn man von ihren militärischen Beratern absieht, auf die Lieferung von Waffen. Peking gab später bekannt, daß die russischen Waffen wie bei einem gewöhnlichen Handelsgeschäft bezahlt werden mußten.

Anläßlich ihres 30. Jahrestags am 30. Juni 1951 erklärte die Kommunistische Partei Chinas in ihrem Zentralorgan, daß die russische Oktoberrevolution nur die klassische Revolution in üen Industriestaaten war, während die chinesische Revolution das klassische Beispiel für die kolonialen und abhängigen Länder sei. Noch zu Lebzeiten Stalins hat also Mao Tsetung drei Viertel der Erde für sich beansprucht. Er äußerte im April, im Oktober und im November 1956 Bedenken über Chruschtschows Form der Kritik an Stalin, weil sie oberflächlich und einseitig wäre. Ende 1956 kritisierte Peking das Verhalten Moskaus in Polen und Ungarn. Es rühmte sich, zur Korrektur gewisser Fehler gegenüber diesen Ländern beigetragen zu haben. Auf der internationalen Konferenz der Kommunistischen Parteien im Jahre 1957 erhob die chinesische Delegation Einwände gegen Chruschtschows These vom friedlichen Übergang zum Sozialismus. Sie erreichte eine Abänderung des sowjetischen Deklarationsentwurfs.

Es entspann sich eine unterschiedliche Politik den Entwicklungsländern gegenüber: Moskau setzte auf ihre wirtschaftliche Durchdringung, Peking auf ihre revolutionäre Mobilisierung.

Der Auftakt war die Differenz in der Algerien-frage. Im Gegensatz zur Sowjetunion hat China die provisorische algerische Regierung schon im Herbst 1958 anerkannt; es war zur Entsendung von Freiwilligen und Jagdbombern bereit, während der Kreml Verhandlungen zwischen Paris und der FLN unterstützte. Als Peking 1958 die der chinesischen Küste vorgelagerte und von nationalchinesischen Truppen besetzte Insel Quemoy täglich mit schweren Granaten zu beschießen begann, schien das ein Vorspiel zur Eroberung Formosas zu sein. Die Sowjetunion sah sich plötzlich der Gefahr ausgesetzt, durch die Politik Maos in einen Krieg mit den Vereinigten Staaten verwickelt zu werden. Sie erklärte, daß sie nur bei einem Angriff der USA oder Formosas auf das chinesische Festland Hilfe leisten würde.

Damals soll die Führung der KPdSU nach Angaben Pekings auch unbillige Forderungen gestellt haben, „um China unter ihre militärische Kontrolle zu bringen" 2). Als diese Forderungen abgelehnt wurden, brach die sowjetische Regierung ihr im Oktober 1957 vertraglich gegebenes Versprechen, „China das Baumuster einer Atombombe und die technischen Daten zu ihrer Herstellung zur Verfügung zu stellen" 3). Die Kündigung des Vertrages erfolgte im Juni 1959.

Im September 1959, als Chruschtschow mit Eisenhower zusammentraf, feierte man auch in Moskau den Geist vom Camp David, einer Zusammenarbeit zwischen den beiden Weltmächten in den wichtigsten Fragen. Mao befürchtete eine Neuverteilung der Welt zwischen Moskau und Washington zuungunsten Pekings, während Chruschtschow die Befürchtung aussprach, daß Peking an einem militärischen Konflikt zwischen den Atommächten interessiert sei.

Es gab geheime Kontakte zwischen der innerchinesischen Parteiopposition um den Verteidigungsminister Peng Teh-huai und Chruschtschow, die sich im Mai 1959 angebahnt hatten. Peng Teh-huai versuchte schon drei Monate später, Mao zu stürzen, wurde aber selbst abgesetzt. Alle Organisationen der chinesischen Partei erhielten eine Information über die Beziehungen zwischen Chruschtschow und Peng, so daß der Eindruck aufkommen mußte, die Initiative zum Parteistreich sei von Moskau ausgegangen oder zumindest mit ihm abgesprochen worden.

Die chinesischen Volkskommunen wurden 1958 mit dem Anspruch geschaffen, eine verkürzte und sogar die klassische Form des Übergangs zum Kommunismus gefunden zu haben, im Verhältnis zu der die sowjetischen Kolchosen und Sowchosen rückständig wären. Chruschtschow parierte mit dem Satz, daß gerade die Volkskommunen altmodisch und rückschrittlich seien; derartige Experimente habe man in der Sowjetunion schon lange hinter sich und als fruchtlos aufgegeben. China reformierte zwar die Volkskommunen, behielt sie aber als Grundzellen der künftigen kommunistischen Gesellschaft bei.

Soweit die Vorgeschichte des Konflikts zwischen Moskau und Peking. Aus dem chinesischen Gesichtswinkel sieht sie wie folgt aus: Die Sowjetunion hat das chinesische Nationalbewußtsein und das Selbstbewußtsein der chinesischen Kommunisten verletzt, der KPCh durch die Aufdrängung ihrer politisch-ideologischen Schablonen schweren Schaden zugefügt, Tschiang Kai-schek gegenüber Mao bevorzugt, diesem bei seinem Aufstieg zum Parteiführer Schwierigkeiten bereitet, eigensüchtige wirtschaftliche Interessen in China verfolgt, die Industrialisierung des Landes durch weitgehende Demontage der mandschurischen Industrieanlagen verzögert, den Korea-Krieg zu Waffengeschäften ausgenutzt, eine fehlerhafte Politik gegenüber Osteuropa betrieben, Stalin unsachlich kritisiert, pazifistische und reformistische Illusionen verkündet, den revolutionären Kräften der Entwicklungsländer ihre Unterstützung verweigert, einen Komplott mit den Vereinigten Staaten gegen China geschlossen, diesem ihre Atomwaffe vorenthalten, die chinesischen Revisionisten zur Revolte gegen die maoistische Parteilinie verleitet und die Volkskommunen geschmäht. Aus der sowjetischen Perspektive ergibt sich ein ganz anderes Bild. Die Maoisten haben viele Ratschläge der sowjetischen Bruderpartei mißachtet, durch ihre Bevorzugung der Bauern dem kleinbürgerlichen Element alle Türen geöffnet, die große sowjetische Hilfe beim Aufbau der chinesischen Volksrepublik mit Undank belohnt, mit der These von der nationalen Form des Kommunismus eine Absonderung betrieben, die Notwendigkeit der Koexistenz bestritten, durch militante Aktionen die Sicherheit der Sowjetunion gefährdet, die Atombombe gefordert, unbegründete Kritik am XX. Parteitag der KPdSU geübt, ihre Hände nach Osteuropa ausgestreckt und bewährte sowjetische Institutionen geschmäht. Fast alle Elemente des Konflikts zwischen Moskau und Peking waren schon in seiner Vorgeschichte enthalten. Was später an aktuellen Anlässen hinzukam — Außere Mongolei, Comecon, chinesisch-indischer Grenzkrieg, Kuba-Krise, Atomteststoppabkommen, Vietnamkrieg — wirkte sich eigentlich nur noch zuspitzend aus. Lediglich vier Punkte berührten grundsätzliche neue Fragen: der Führungsanspruch im internationalen Kommunismus, das Problem des Weiterführens der Weltrevolution, das Rassenproblem und die chinesisch-sowjetische Grenze.

Bis Ende 1959 hatten sich die chinesischen Kommunisten immer nur um ein Duumvirat, um ein Mitspracherecht bei allen wichtigen Fragen, um eine gemeinsame Führung des internationalen Kommunismus durch Moskau und Peking bemüht, wobei der KPdSU sogar die führende Rolle eingeräumt wurde. Erst seit 1960 stellen sie den sowjetischen Führungsanspruch in Frage und dem eigenen gegenüber. Malenkow erschien bereit, auf ein Duumvirat einzugehen, Chruschtschow nicht. In den Augen Mao Tse-tungs war die Sowjetunion Chruschtschows eine saturierte, an der Weltrevolution nicht mehr interessierte Macht, die durch ihre Parolen von der Koexistenz, vom friedlichen Weg zum Sozialismus und von der Abrüstung den revolutionären Prozeß bereits hemmte. Für ihn stellen die kommunistischen Staaten nur Stützpunkte der Weltrevolution dar, weshalb sie im Bedarfsfall auch ihre Existenz aufs Spiel setzen müssen. Die Methode der Verhandlungen mit den westlichen Ländern sei durch die Methode des revolutionären Kriegs zu ergänzen, durch revolutionäre Befreiungskriege in möglichst vielen Ländern, um die kommunistische Macht im Laufe der Zeit über die ganze Welt auszudehnen. Ein dritter Weltkrieg soll nach Möglichkeit vermieden werden, doch dürfe man sich vor ihm auch nicht fürchten, weil die Angst lähmend wirke. Es komme nicht auf Abrüstung, sondern if die Bewaffnung der kolonialen und abhängigen Völker an.

Der Maoismus ist ein Kommunismus der farbigen Welt, die sich gegen die weiße empört und ihre Vorherrschaft abschütteln will. Insofern verschmilzt er mit der antikolonialen Revolution. Er trägt das antikoloniale Ressentiment in die kommunistische Bewegung hinein, ohne auf weiße Bundesgenossen gegen Moskau zu verzichten. Die entscheidende These des 25-Punkte-Briefes der KPCh an die KPdSU vom Juni 1963 besagt, daß sich die Sturm-zentren der Weltrevolution heute nicht mehr in den Industriestaaten, sondern in den Entwicklungskontinenten Asien, Afrika und Lateinamerika befinden, weshalb das Schwergewicht der kommunistischen Aktivität in diese Räume verlegt werden müsse. Das Kriterium für einen Kommunisten ist unter diesem Gesichtspunkt nicht mehr — wie unter Stalin — die Unterstützung der Sowjetunion, sondern die Förderung revolutionärer Befreiungskriege und die Beteiligung an ihnen.

Das Problem der „ungleichen Verträge", die dem kaiserlichen China durch das zaristische Rußland aufgezwungen oder abgelistet worden waren, entspricht der traditionellen Rivalität benachbarter Nationalstaaten. Es zeigt, daß auch kommunistische Regierungen untereinander zur friedlichen Beilegung von Grenzstreitigkeiten kaum fähiger als andere sind, obwohl sie sich einer internationalistischen Terminologie bedienen.

Der Konflikt Moskau—Peking spiegelt das Auftauchen von zwei Milliarden farbiger Menschen auf der politischen Bühne, den Aufstieg einer dritten Weltmacht zwischen den USA und der UdSSR, den Gegensatz zwischen Industrie-und Entwicklungsländern sowie die Rivalität zweier Großmächte, deren führende Persönlichkeiten zumindest territorial noch immer in nationalstaatlichen Kategorien denken. Gleichzeitig mit dem Ende Europas als des politischen Mittelpunktes der Erde verschiebt sich das weltrevolutionäre Hauptzentrum von Moskau nach Peking, doch auch das universale Denken Mao Tse-tungs ist nationalistisch geprägt.

Darüber hinaus spielen die unterschiedlichen Erfahrungen der kommunistischen Parteien Chinas und der Sowjetunion eine Rolle. Während die russischen Kommunisten in einer einzigen Nacht die Macht (in Petersburg) erobern konnten, mußten ihre chinesischen Genossen von 1927 bis 1949 einen Bürgerkrieg führen, wobei mehr die Armee als die Partei im Vordergrund stand. Dieses 22jährige Berufssoldatentum der chinesischen Kader prägte ihnen einen anderen Denkstil als den sowjetischen auf. Die Losung „Das Gewehr gebiert die Macht" ist das Resultat einer spezifischen Erfahrung, die von den chinesischen Kommunisten verallgemeinert wird.

Aber auch die eigentümliche Dialektik Mao Tse-tungs wirkt brisant. Er hat schon 1937 philosophisch begründet, daß der Kampf von Widersprüchen das natürlichste und allgemeingültigste Gesetz jeder Entwicklung ist, wobei die innere Seite des Widerspruchs im Unterschied zur äußeren die wichtigste sei. Also darf dem Fraktionskampf innerhalb der kommunistischen Bewegung nicht ausgewichen werden, es muß zu dessen Austragung kommen, um eine Stagnation des Kommunismus zu verhindern. Ferner verkörpert der (sowjetische) Revisionismus im Verhältnis zum (amerikanischen) Imperialismus die größere Gefahr, weil er die innere Seite des Widerspruchs zwischen den Kräften der Revolution und der Reaktion zum Ausdruck bringt, indem er sich mit dem Imperialismus verbündet und die revolutionäre Bewegung zersetzt.

Die philosophischen Prämissen von 1937 bedurften also nur noch der Ergänzung durch eine bestimmte politische Situation, um den internationalen Kommunismus zu sprengen und seine Spaltung ideologisch zu rechtfertigen. Für Peking ist der sowjetische Revisionismus eine Neuauflage der Theorien Bernsteins, gegen die schon Lenin angekämpft hat:

„Dieselbe Spaltung zwischen Revolutionären und Opportunisten in der internationalen Arbeiterbewegung, auf die Lenin hinwies, findet sich heute nicht nur in der Arbeiterbewegung in den kapitalistischen Ländern, sondern auch in den sozialistischen Ländern, wo das Proletariat die Staatsgewalt ausübt. . ."

Das war ein Aufruf zur Gründung neuer kommunistischer Parteien in allen Ländern der Welt, sogar in den kommunistischen Staaten und folglich auch in der Sowjetunion. Peking versuchte, Lenin gegen Chruschtschow auszuspielen, bemächtigte sich des Erbes der russischen Oktoberrevolution und bezeichnete die Sowjetunion als pseudokommunistisch. In ihr habe sich eine privilegierte Schicht gebildet, der es gelungen sei, die Partei, den Staat und die Gesellschaft unter ihre Kontrolle zu bringen. „Diese privilegierte Schicht hat ihre Aufgabe, dem Volke zu dienen, in ein Privileg, über das Volk zu herrschen, umgewandelt und mißbraucht ihr Recht, über die Produktionsund Existenzmittel zu verfügen, in ihrem eigensüchtigen Interesse, dem Interesse eines winzigen Häufleins." So kam Peking zu ähnlichen Folgerungen wie Milovan Djilas in seinem Buch „Die neue Klasse".

Man hat oft darüber gestritten, ob der Konflikt zwischen Moskau und Peking ein machtpolitischer oder ein ideologischer sei. Er ist beides, wobei die Gewichte unterschiedlich verteilt sind. Aurel von Jüchen hat den Begriff „Ideokratie" als Kennzeichnung einer Einheit von Ideologie und Macht geprägt Aber in der Sowjetunion Chruschtschows herrschte eine pragmatische Tendenz vor, während für das China Mao Tse-tungs noch die Ideologie der bestimmende Faktor ist.

Bis 1959 hatten die Lehren Maos auch in Peking nur als ein Beitrag zum Marxismus-Leninismus gegolten. Das sollte sich bald ändern. Schon im Februar 1960 schrieb der Leitartikler einer chinesischen Zeitung, daß künftig „in erster Linie das Denken Mao Tse-tungs" zu studieren sei — darüber hinaus könne man sich auch mit den anderen Klassikern des Marxismus-Leninismus befassen, brauche es aber nicht unbedingt zu tun. Im März 1960 hieß es in einer Sendung von Radio Urumchi bereits, die Ideologie Mao Tse-tungs sei der Kern des Marxismus-Leninismus. Der Maoismus wurde zu einer eigenständigen Ideologie, die sich im Widerspruch zum Chruschtschowismus formte und den Anspruch erhebt, die modernste Version des Marxismus-Leninismus zu sein. Ihre Grundsatzerklärung waren die 25 Thesen vom Juni 1963.

In ihnen stand auch zu lesen, daß die Beziehungen zwischen den kommunistischen Staaten ungeachtet ihrer Größe auf völliger Gleichberechtigung beruhen müssen. Diese Formel kehrt in fast allen Verlautbarungen Pekings wieder. Sie klingt schon so monoton, daß wir kaum noch darauf achten. Mit ihr fördert Mao Tse-tung das Streben der osteuropäischen Länder nach Unabhängigkeit von Moskau. Umgekehrt hat die osteuropäische Revolution entscheidend zum Ausbruch des Konflikts zwischen den beiden kommunistischen Großmächten beigetragen, dessen Auslöser, die Stalin-frage, zum Aufhänger aller Grundsatzprobleme wurde.

Ein österreichischer Sozialist schrieb zu Recht: „Die chinesischen Kommunisten leisten unfreiwillige Hilfe bei der Überwindung des Stalinismus. .. ." Auch nach Georg Lukacs bietet der Konflikt „die glänzendste Möglichkeit (und die zwingendste Notwendigkeit) zu einer radikalen Abrechnung auf diesem Gebiet" Die Auseinandersetzung zwischen Peking und Moskau ist zu einer Nebenform der osteuropäischen Revolution und Gegenrevolution geworden. Indem China das Prestige, die Macht und den Einfluß der Sowjetunion nach Kräften untergräbt, erleichtert es die Aktivität der nationalen und demokratischen Kommunisten. Indem Moskau die sozialen und politischen Verhältnisse Chinas einer ätzenden Kritik unterzieht, übt es ungewollt eine Selbstkritik, die weit über die offizielle Entstalinisierung hinausgeht. Als Peking im April 1960 mit dem Grundsatzartikel „Lang lebe der Leninismus!" nach dem Erbe der Oktoberrevolution griff und als Chruschtschow im Juni des gleichen Jahres sein erstes Rundschreiben gegen Mao in Bukarest verteilte, schien nur ein „Familienstreit" auszubrechen. Erst als die Sowjetunion im Juli 1960 ihre Techniker aus China abzog, wurde aller Welt klar, daß etwas Ernsthaftes vorging. Aber bis heute wird meist übersehen, wie eng der Konflikt Moskau—Peking mit der osteuropäischen Revolution und Gegenrevolution verbunden ist.

Der Maoismus (China)

In der Auseinandersetzung zwischen Maoismus und Chruschtschowismus ging es um das Prinzip des Agrar-oder des Industriekommunismus. Mao Tse-tung trat das Erbe der großen Bauernrebellionen an, die China seit Jahrtausenden erschüttert haben. Mit größter Sorgfalt hat er ihre Geschichte und besonders ihre Feldzüge studiert. Die konventionellen Militärtheoretiker unterschieden bis dahin nur zwischen Bewegungs-und Stellungskrieg. Mao fügte den Begriff des Guerillakrieges als dritte Form hinzu Damit zog er das theoretische Fazit der zahlreichen chinesischen Bauernaufstände, die sich spontan der Guerillataktik bedienten. Ihr Höhepunkt war die Taipingrevolte (1850— 1865), der die Eroberung Nankings gelang. Maos Volkskommunen ähneln in verblüffender Weise den landwirtschaftli-chen Gemeinschaften, die im Bodenreformgesetz der Taiping vorgesehen waren.

Der chinesische Kommunismus hat ältere Wurzeln als jeder andere. Er kann sich auf die konfuzianische Idee der Großen Gemeinsamkeit berufen, deren Einfluß vorübergehend auch in der Kuomintang wirksam war, wo sie besonders Sun Yat-sen tief bewegte.

Maos Dialektik ist nicht die von Hegel oder Marx. Sie stammt aus der altchinesischen Philosophie des Universismus, die den unaufhörlichen Kampf zwischen männlichem und weiblichem Prinzip, zwischen den Urkräften des Yang und den Yin als Ursprung aller Schöpfungen und selbst der Elemente gelehrt hat Sogar die rote Fahne scheint aus China zu kommen. Sie war vor rund 2000 Jahren das Symbol der Tschou-Dynastie (1050— 249 v. Chr.). Überdies galt das Rot im Reich der Mitte als ein Zeichen des Glücks. Daher klingt auch der Begriff „Rote Armee" in China anders als etwa in Rußland.

Aus diesen Gründen hat Frank Thiess völlig recht, „daß der chinesische Kommunismus besser aus der geschichtlichen Vergangenheit Chinas zu verstehen ist als aus einer Imitation des Marxismus in leninistischer Deutung" Seine originären Quellen sind nur noch nicht genügend erforscht.

Der Maoismus stellt in der Person seines Schöpfers den gebildeten Kommunismus dar, wenn auch die Rabiatheit der Bauernaufstände immer wieder zum Vorschein kommt. Es erscheint uns bezeichnend, daß Mao Dichter und Theoretiker des revolutionären Krieges in einer Person ist. Als Persönlichkeit war er Chruschtschow in jeder Hinsicht überlegen. Sein Gefühl der Überlegenheit ging soweit, daß er seinen Gegenspieler in Moskau zum negativen Klassiker machte. Sämtliche Reden des sowjetischen Parteichefs wurden in China zu einer Gesamtausgabe zusammengefaßt, um die Widersprüche zwischen dem Schüler Stalins und dem „Entstalinisierer" für alle Zeiten dokumentarisch festzuhalten. Insgesamt sind sechs Bände der „Erklärungen Chruschtschows" in Peking erschienen, obwohl man von einer ernsten Papierknappheit sprach. Mao Tse-tung ließ sich seine Ironie etwas kosten.

Es wäre falsch, das Wesen des Maoismus in einer gelben Gefahr — dieser Begriff scheint vom Boxeraufstand 1900/01 herzurühren— oder in einer spezifisch asiatischen Form des Kommunismus zu sehen. Es besteht vielmehr in einer Verknüpfung der farbigen mit der kommunistischen Weltrevolution. Oswald Spengler hat zwar die Bedeutung beider Revolutionen und sogar ihren Zusammenhang erkannt, sie jedoch aufgrund von Vorurteilen mißdeutet. Es geht nicht um den „Rassenkampf" sondern um die Gleichberechtigung der Rassen, wie es einmal um die Gleichberechtigung der Frauen mit den Männern und der Arbeiter mit den Bürgern ging. Insofern ist der Maoismus eine Fortsetzung der Emanzipation, aus der die Arbeiter-, die Frauen-und die Jugendbewegung hervorgewachsen sind. Diese mit der Französischen Revolution begonnene Emanzipation wird erst vollendet sein, wenn auch die Rassen-schranken fallen. Hierin sieht sich der Maoismus im Einklang mit der , Strömung des geschichtlichen Fortschritts', und das ist die Hauptquelle seiner Vitalität. Der Vorstellung eines Rassenkampfes widersprach übrigens schon die offensichtliche Tatsache, daß sich in der farbigen Weltrevolution mehrere Rassen — die gelbe, braune und schwarze — verbünden, obwohl es auch zwischen ihnen teils offene, teils latente Spannungen gibt.

Spengler beurteilte das Problem der farbigen Weltrevolution ferner deshalb nicht zutreffend, weil er annahm, daß Rußland nach der Oktoberrevolution seine , weiße Maske'abgeworfen hat und durch den Bolschewismus „wieder eine asiatische, . mongolische'Großmacht geworden ist" Das Gegenteil war der Fall. Lenin leitete die endgültige Europäisierung Rußlands ein, die auch Stalin nicht mehr rückgängig machen wollte. Diese Europäisierung hat schon die Kommunistische Internationale beeinflußt, ihre Konzeption als Weltpartei verzerrt und ihre , farbigen Sektionen'zu Anhängseln des europäischen Kommunismus degradiert. Die diskriminierende Behandlung der chinesischen Kommunisten durch Moskau, von der sich nicht einmal Trotzki vollständig frei machen konnte obwohl er von allen Sowjetführern am kosmopolitischsten dachte, war kein Zufall. Denn die führenden Männer der KPdSU sahen die Kommunistischen Parteien Asiens, Afrikas und Lateinamerikas nur als Hilfskräfte an; sie sollten das Hinterland der Kolonialmächte unsicher machen, diese von ihren Rohstoffbasen abschneiden und den Imperialismus’ derart schwächen, daß der Machtergreifung des Industrieproletariats in ganz Europa kein längerer Widerstand entgegengesetzt werden konnte. Das war eine Konzeption, die ein Parteiführer vom anderen übernahm. Auch Chruschtschow verfolgte sie weiter. Wenn sein Schwiegersohn Adschubey im Jahre 1964 zu Bundeskanzler Erhard sagte, daß Rußland die europäischen Grenzen schon 400 Jahre gegen die Mongolen verteidigte und darin eine historische Aufgabe sehe, so entsprach er zweifellos einem Auftrag, in dem sich die Furcht vor den ungeheuren Menschenmassen Chinas mit einem weißen Dünkel mischte. Peking zielt sehr genau, wenn es den sowjetischen Großmachtchauvinismus angreift, aber es hat auch seine eigene Art dieses Chauvinismus entwickelt, die sich in einer Umkehrung der Rassendiskriminierung äußert. Allerdings sind sowjetische Delegationen von afro-asiatischen Konferenzen gewiß nicht allein deshalb ausgeschlossen worden, weil sie aus . Weißen'bestehen. Moskau ist für Mao nach Belgrad zum Hauptherd des modernen Revisionismus geworden.

Von Lenin bis Chruschtschow war die kommunistische Weltrevolution eine weiße, die sich der , farbigen'Menschenreserven ebenso zu bedienen versuchte wie die Kolonialmächte der Rohstoffreserven ihrer Kolonien. Solange ihr Zentrum in Moskau lag, konnte sich hieran kaum etwas ändern. Innerhalb des internationalen Kommunismus geht etwas Ähnliches vor wie in der UNO, wo sich die , weißen'Delegationen durch die wachsende Majorität der . farbigen'überstimmt fühlen. Während aber in der UNO bereits ein Asiate Generalsekretär ist, wollte die Sowjetunion ihren Führungsanspruch mit. China nicht einmal teilen. Dieser Anspruch wird mit dem Ende des Kolonial-systems untergehen.

Schon der Nationalkommunismus ging aus dem Kampf gegen die sowjetische Hegemonie hervor. Der Maoismus war an seiner theoretischen und praktischen Herausbildung beteiligt. Indem die farbige Weltrevolution alle kolonialen und neokolonialistischen Systeme hinwegfegt, erschüttert sie auch die Grundpfeiler der sowjetischen Hegemonie. Sie ist ein Bundesgenosse der osteuropäischen Revolution. Wenn der Maoismus 1956 die Gegenrevolution in Ungarn gefördert hat, so weist das auf seinen inneren Zwiespalt hin. Als eine Ideologie der farbigen Weltrevolution durchaus konform mit der zeitgeschichtlichen Grundtendenz, kann er als militante Konzeption des bedingungslosen Vollendens der kommunistischen Weltrevolution auch in entgegengesetzter Richtung wirken. Es besteht eine gewisse Spannung zwischen seiner . farbigen'und seiner kommunistischen Tendenz. Aber da er seit dem offenen Ausbruch des Konflikts Moskau—Peking alle Reserven mobilisiert und nebenbei auch zur Avantgarde der osteuropäischen Revolution werden will — mit dem Ziel, in Moskau eine prochinesische Umwälzung herbeizuführen und seinen Konkurrenten auf den Führungsanspruch auszuschalten — ist er wohl oder übel gezwungen, vorerst mehr oder weniger alle Unabhängigkeitsbestrebungen in Osteuropa zu fördern.

Spezifisch asiatisch ist am Maoismus die unbegrenzte Zeitdimension, das Denken in Jahrzehnten und Jahrhunderten, während es Chruschtschow unter dem Einfluß des europäischen Rationalismus niemals schnell genug gehen konnte. Zwar schien auch Mao Tse-tung vorübergehend — anläßlich der Volkskommunen — dieser spezifisch europäischen Hast zu erliegen, er fing sich jedoch erstaunlich schnell.

Was den Maoismus vom europäischen Kommunismus prinzipiell unterscheidet, ist sein rustikaler Impuls. Den in der Industrielandschaft ausgewachsenen europäischen Kommunisten erscheint die Umgestaltung der Gesellschaft vom Dorf her unmöglich. Das gilt auch für die KPdSU. Trotz der äußeren Ähnlichkeit zwischen Maos Volkskommunen und Chruschtschows Agro-Städten liegen ihnen entgegengesetzte Konzeptionen zugrunde. Die Volkskommunen entsprechen der Vision einer Bauernrepublik, die sich auf die Städte ausdehnt, die Agro-Städte entsprechen einem Industrie-System, das die Landwirtschaft nach seinem Bilde gestaltet und die Dörfer auflöst.

Der Agrarkommunist ist ein anderer Typus als der Industriekommunist. Diese beiden Typen gehen bei allen Fragen von entgegengesetzten Standpunkten aus. Der Marxsche Mythos vom Industrieproletariat und Lenins Ideal einer Gesellschaft, die zu einer einzigen Fabrik werden sollte, hatten zur Folge, daß die Sowjetunion den USA als dem modernsten Industriestaat nachzueifern begann. Maos Mythos von der Bauernschaft als revolutionärer Hauptkraft in den zurückgebliebenen, kolonialen und abhängigen Ländern führte zum Versuch einer , neuen Demokratie', die eher dem Vorbild des untergegangenen Taiping-Reiches als einem Industriestaat westlicher Prägung gleichen sollte. In den Bauernrevolten waren immer zwei Ideale nebeneinander hergelaufen: die Zerstörung des Staates und die allgemeine Gütergemeinschaft. Der seiner Sippe verbundene Bauer hat den Staat meist als einen überflüssigen und steueraussaugenden Parasiten empfunden; was aber das Ideal der Gütergemeinschaft betrifft, so ist es ohne Zweifel aus der gemeinsamen Bewirtschaftung des Bodens abgeleitet, von der sich einige Reste aus der Antike und dem Mittelalter bis in die Neuzeit erhielten. Nicht der Industriearbeiter, sondern der Bauernrebell hat die kommunistischen Urideale einer staats-und eigentumslosen Gesellschaft geprägt. Der Maoismus ist zum Gralshüter dieses Erbes geworden, womit er nicht nur die bäuerlichen Elemente der farbigen Weltrevolution, sondern auch die idealgesinnten Elemente der internationalen kommunistischen Bewegung anspricht, zumal sich die letzteren des agrargesellschaftlichen Ursprungs der urkommunistischen Ziele meist nicht bewußt sind. Der Maoismus wirkt auch auf viele Industriekommunisten ein, besonders auf jene, die besorgt erkennen, daß die Sowjetunion in vieler Hinsicht die USA imitiert, ohne eine kommunistische Zivilisation zu begründen. Es könnte allerdings sein, daß eine solche Zivilisation nur in den Rahmen einer Bauernrepublik und keineswegs in den eines Industriestaates paßt, weil sie mehr dem Typus der Agrar-als der Industriegesellschaft zugeordnet ist. Doch darüber, ob sich Kommunismus und Industriesystem vertragen, hat anscheinend noch nicht einmal Mao Tse-tung, geschweige denn Chruschtschow nachgedacht.

Man muß jedoch auf solche Unterschiede achten, daß Mao eine „neue Lebensweise" anstrebt, während Chruschtschow einen „neuen Menschen" wollte. Sicher formt die Industriegesellschaft einen neuen Menschen, der allerdings eher ein technischer als ein kommunistischer ist: Er geht nicht aus der Ideologie hervor, sondern aus den neuen Bedingungen der menschlichen Existenz, deren Keim die erste Maschine war. Demgegenüber ist der Kommunismus in den bäuerlichen Dorfgemeinden keine Idee, sondern zweifelsohne eine Lebensweise gewesen, jedoch auf bestimmte Tätigkeiten wie etwa die gemeinsame Boden-bestellung begrenzt. Für einen Totalkommunismus, der sich auf alle Seiten des menschlichen Lebens erstreckt, findet man in der Geschichte kein einziges Beispiel. Aber gerade dieses von Mao Tse-tung gesteckte Ziel ist ein mächtiger Anreiz für die kommunistische Phantasie, und zwar um so mehr, als die Entwicklung der UdSSR auch viele Kommunisten maßlos enttäuscht hat. Vielleicht, so denken viele von ihnen, wird in Peking ein grundlegend neuer Anfang gemacht, der die sowjetischen Fehler vermeidet.

Es war für Mao ein großer Vorteil, daß Chruschtschow gegenüber Albanien fast alles wiederholte, was Stalin gegenüber Jugoslawien angeordnet hatte. Erst dadurch erregte der Maoismus die Aufmerksamkeit der kommunistischen Parteien. Auf der Moskauer Weltkonferenz von 1960, nur von der albanischen Delegation konsequent unterstützt, war Peking nach dem XXII. Parteitag der KPdSU in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerückt.

Zunächst gelang es ihm, die Mehrheit der asiatischen Parteien für sich zu gewinnen. Ende 1961 erhielt Tirana auch von zwei weiteren kommunistischen Staaten — Nordvietnam und Nordkorea — solidarische Grußtelegramme.

Allerdings gingen diese beiden Länder in den folgenden Jahren schrittweise zu einem neutralen Kurs über.

Ähnlich war es mit Kuba, das sich 1962 Albanien näherte, 1963 wieder mehr zu Moskau neigte und 1964 neutralistisch wurde. Dauerhaftere Einflüsse konnte Peking in anderen Ländern Lateinamerikas erreichen. Der brasilianische Kommunismus spaltete sich nochmals — im Februar 1962 bildete sich die pro-chinesische Kommunistische Partei Brasiliens, der acht Mitglieder des früheren Zentralkomitees angehören und die binnen eines einzigen Jahres „von einigen hundert Mitgliedern aut mehrere tausend angewachsen" sein will.

In Peru eroberten die Maoisten die Mehrheit im Zentralkomitee; kurzerhand schlossen sie die Minderheit aus In Chile entstand die „Revolutionäre kommunistische Bewegung" als Gegenstück zur offiziellen KP; in Kolumbien ein maoistischer Jugendverband.

Die Kommunistische Partei Neuseelands schwenkte als Ganzes auf die Linie Pekings ein, aber auch in Australien formierte sich ein Mao-Flügel.

In Israel ging die antistalinistische „Mazpen" -Fraktion zu Peking über. Die oppositionelle Haltung der chinesischen Vertretung auf der Sitzung des Weltfriedensrates am 16. Dezember 1961 in Stockholm wurde von zwei afrikanischen Delegationen unterstützt. Auch in den KPs des Jemen und des Irak machten sich Sympathienbfeümr eMrkaboar.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Ebenda, (1. Kommentar).

  2. Ebenda, S. 140 (4. Kommentar).

  3. über den Pseudokommunismus Chruschtschows und die historische Lehre für die Welt, Peking 1964, S. 33.

  4. Aurel von Jüchen, Mit dem Kommunismus leben?, Witten 1963, S. 50/51.

  5. Shansi Jih Pao vom 1. 2. 1960.

  6. Josef Hindels, Lebt Stalin in Peking?, Wien 1964, S. 185.

  7. Georg Lukacs, Zur Debatte zwischen China und der Sowjetunion, Forum (Wien), Dezember 1963.

  8. Mao Tse-tung, Theorie des Guerillakrieges, Reinbek 1966, S. 88.

  9. Die nichtchristlichen Religionen, Frankfurt/M. 1967, S. 100.

  10. Frank Thieß, Plädoyer für Peking, Stuttgart 1966, S. 141.

  11. Oswald Spengler, Jahre der Entscheidung, München 1961, S. 191.

  12. Dolf Sternberger, Sehnsucht nach einem besseren Leben, in: Die Welt vom 6. 7. 1963.

  13. Spengler, Jahre der Entscheidung, S. 194.

  14. Isaac Deutscher, Der unbewaffnete Prophet, S. 311.

  15. Antwort an Chruschestschow, Peking 1964, S. 5.

  16. Osteuropa 9/64, S. 658.

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