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Revolution und Gegenrevolution in Osteuropa seit 1948 | APuZ 9/1970 | bpb.de

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APuZ 9/1970 Revolution und Gegenrevolution in Osteuropa seit 1948

Revolution und Gegenrevolution in Osteuropa seit 1948

Günter Bartsch

/ 195 Minuten zu lesen

10. Die sechste Phase: 15. Oktober 1964 bis 21. August 1968

Inhalt

Die Breschnew-Ära begann mit der Grundlegung einer neuen Doktrin, welche den „Gulaschkommunismus" Chruschtschows verwarf. Sie konnte jedoch den Abgrund zwischen Moskau und Peking nicht mehr überbrücken. Obwohl die Spaltung der Kommunistischen Bewegungen also fortschritt, war sie nicht das entscheidende Merkmal dieser Etappe.

Wichtiger erscheint uns die Wendung zum offenen Marxismus zu sein, die in Jugoslawien, in der Tschechoslowakei und in einer Reihe Kommunistischer Parteien des Westens um sich griff. Nur ein offener Marxismus könnte zu einer offenen Gesellschaft führen. In Rumänien vollzog sich zunächst der Über-gang zum Nationalkommunismus. Ceausescu stellte zwölf Jahre nach Chruschtschow die Frage: „Wie konnte es geschehen?"

Interessant war auch die wachsende Rolle der Militärs und der Armeen schlechthin. Dies gilt besonders für die Sowjetunion, wo die Generäle im Februar 1965 ganz offen ein gößeres Mitspracherecht in politischen Fragen verlangten, und für China, das sich in den bürgerkriegsartigen Wirren der Kulturrevolution auf eine provisorische Militärdiktatur zubewegte. Es gilt aber zum Beispiel auch für Bulgarien.

In mehreren kommunistischen Ländern kam es zu Schriftstellerprozessen, die zu Wellen der geistigen Unruhe und zu rechtsstaatlichen Kampagnen führten. In der Sowjetunion zirkulierte das Memorandum Sacharows.

Havanna wurde zu einem neuen Zentrum des Kommunismus. Der Fidelismus griff sogar auf den europäischen Kontinent über.

Die osteuropäische Revolution begann mit der internationalen Studentenbewegung zu verschmelzen, die 1956 hier entstand und auf dem Umweg über den Westen nach Osteuropa zurückkehrte. In Polen, Jugoslawien und der CSSR kam es zu ernsten Studentenrevolten.

Die Tschechoslowakei machte eine politische Revolution durch, deren dramatischer Verlauf den Blick der ganzen Welt auf sich zog.

Zwischen Stalin und Chruschtschow (Sowjetunion) Die neue Führung begann — wie schon Malenkow und nach ihm auch Chruschtschow — mit Konzessionen: für die Studenten Abschaffung der Pflichtarbeit in der Industrie, für die Schüler Einschränkung des polytechnischen Unterrichts, für die Kolchosniki Vergrößerung der privaten Hofwirtschaft, für die nationalen Minderheiten Auflösung des mittelasiatischen Volkswirtschaftsrats (der Verfassungsrechte mehrer Unionsrepubliken überspielte) und so fort. Aber dabei blieb es nicht.

Der neue Kurs Chruschtschow war nicht von einer . partei-feindlichen Fraktion', sondern von seinen engsten Mitarbeitern abgesetzt worden. Daher vermutete man, das neue Triumvirat Breschnew-Kossygin-Mikojan werde einen „Chruschtschowismus ohne Chruschtschow" betreiben. Aber davon war ungeachtet der eiligen Versicherung, daß die Generallinie der Partei unverändert bleiben würde, wenig zu merken. Vielmehr wurden fast alle Reformen der Jahre 1956— 1964 entweder rückgängig gemacht, eingeschränkt oder zumindest kritisiert. Chruschtschow sank zur Unperson ab, über die man nicht mehr sprach. Sein Versuch, sich als „Ratgeber" einzuschmeicheln, fand kein Gehör.

Die Hauptzüge des neuen Kurses traten im Frühjahr 1965 hervor. Sie waren in Beiträgen der neuen Kreml-Ideologen Fedosejew und Stepanow enthalten.

Fedosejews Rede vom 7. April 1965 (auf einer Konferenz über Gegenwartsprobleme der materialistischen Dialektik) rückte von Chruschtschows parlamentarischem Weg zum Sozialismus ab und bezeichnete den revolutionären Umsturz als eine Gesetzmäßigkeit. Sie wandte sich aber auch gegen die Revolutionskriegstheorie Mao Tse-tungs. Der Kampf für den Frieden sei ein integraler Bestandteil der Weltrevolution. Kriege könnten dem Gegner als Mittel dienen, um den Ausbruch von Revolu-tionen zu verzögern. Obwohl Fedosejew gleich Chruschtschow von einer friedlichen Form des Übergangs zum Sozialismus sprach, bedeutete „friedlich" in seiner Sicht weniger die Vermeidung von Gewalt als vielmehr das Umgehen eines neuen Weltkriegs, was eine bedeutsame Akzentverlagerung ist. „Bis vor kurzer Zeit haben sich die sozialistischen Revolutionen unter Kriegsbedingungen vollzogen oder sind durch Kriege beschleunigt worden. Man kann jedoch nicht mit konkreten Wahrheiten der Vergangenheit operieren, ohne das Risiko einzugehen, in Dogmatismus zu verfallen. Aus den Erfahrungen der Vergangenheit folgt keineswegs, daß auch in der Gegenwart die Revolution nur unter Kriegs-und nicht unter Friedensbedingungen zu siegen vermag."

Die Gegensätze innerhalb der kommunistischen Welt werden nicht länger vertuscht, sondern auf verschiedene Stadien der Entwicklung, unterschiedliche Auffassungen und persönliche Charakterzüge .der Führungskräfte zurückgeführt. Fedosejew bestritt aber den Polyzentrismus und die Verlagerung des weltrevolutionären Zentrums nach Peking. Dieses Zentrum bildet nach seiner Rede jetzt das sozialistische Weltsystem als ein Ganzes.

Auch Togliatti erhielt eine Abfuhr. Die Konzeption der strukturellen Reformen wurde, ohne sie beim Namen zu nennen, für falsch erklärt (was logischerweise schon deshalb not-wenig war, weil sie auf der Voraussetzung des parlamentarischen Weges beruht). Für Fedosejew ist der Kampf für Reformen nur eine Vorstufe der Revolution.

Zur sowjetischen Innenpolitik führte er aus, daß der Beweis für die Funktionsfähigkeit des Systems nur erbracht werden könne, wenn man sowohl die übertriebene Zentralisation der Planung als auch die Dezentralisierung (Chruschtschows regionale Volkswirtschaftsräte) überwinde.

Die Koexistenz gilt nur noch als eine Form des Klassenkampfes, aber nicht mehr als eine Form der Zusammenarbeit gegensätzlicher Systeme.

Fedosejew schien allerdings nicht zu merken, daß er sich in einigen Punkten selbst widersprach. Die Bedingungen für die kommunistische Revolution sind überall „äußerst günstig", aber Lenins Lehre von den Merkmalen der revolutionären Situation soll beachtet werden: Anerkennung der Formenvielfalt in den kommunistischen Ländern, aber ihre Eingrenzung in den Rahmen eines „einheitlichen Inhalts", der nicht überschritten werden dürfe. Ablehnung der Theorie von der zweiten industriellen Revolution, doch ihre Einverleibung in die neue Weltdialektik, wobei vergebens versucht wird, die wissenschaftlich-technische Revolution der kommunistischen unterzuordnen. Respektierung verschiedener Stadien der Entwicklung kommunistischer Staaten, doch Verneinung einer ungleichmäßigen Evolution. In allen Fällen dürfte dem logischen Widerspruch ein objektiver zugrunde liegen. Es gibt mit anderen Worten Probleme, für die eine Lösung noch nicht gefunden ist.

Stepanow warf Chruschtschow „primitive Vorstellungen und Gedanken über den Kommunismus" vor. Zum einen habe er ihn als ein Schlaraffenland ausgemalt, zum anderen das Parteileben den Bedürfnissen der Wirtschaft untergeordnet. Der Kommunismus könne weder darin bestehen, den Magen zu füllen, noch dürfe sich die Partei in Einzelheiten der Wirtschaftslenkung verlieren. Sie müsse sich vor allem mit der Erziehung des Menschen befassen. Niemals dürfe die Kommunistische Partei ihre höchsten Ideale aus den Augen verlieren. Um dieser Ideale willen müsse man auch auf persönliche Bequemlichkeiten verzichten können. Dies war die Absage an Chruschtschows Primat der Ökonomie, das angeblich von Lenin stammte. Kurze Zeit nach Stepanows Artikel vom Mai 1965 machte es die KPdSU allen ihren Mitgliedern zur Pflicht, wöchentlich zwei Stunden politische Schulung zu absolvieren.

Breschnew führte keineswegs nur einen nüchternen und betont ruhigen Arbeitsstil ein, der die Abkehr von der Hektik Chruschtschows demonstrieren und die wachsende Unruhe der Bevölkerung besänftigen sollte. Er begründete auch eine neue Politik, die auf fast allen Gebieten einen Mittelweg zwischen Stalin und Chruschtschow, aber auch zwischen diesem und Mao beschritt.

Die von Fedosejew und Stepanow dargelegten Grundzüge des neuen Kurses wurden auf dem XXIII. Parteitag der KPdSU (29. 3. — 8. 4. 1966) bestätigt und dadurch vertieft, daß alles, was in den vergangenen Jahren dem Beispiel Jugoslawiens entnommen worden war — die Idee der gesellschaftlichen Selbstverwaltung, das Rotationsprinzip, die Dezentralisierung der Wirtschaft —, aus den Reden und Resolutionen verschwand. Das Rotationsprinzip, die periodische Erneuerung zumindest eines Teils der Funktionäre, wurde aus dem Parteistatut mit der Begründung entfernt, es habe sich nicht bewährt. Damit entfiel ein erst im Oktober 1961 eingebauter Mechanismus, der den gleitenden Übergang der Generationen innerhalb der Kommunistischen Partei hätte sicherstellen können, ja, der geeignet war, eine Kontinuität des Machtwechsels zu ermöglichen und abrupte „Säuberungen" zu vermeiden. Als die drei Hauptfeinde, die er zu bekämpfen gedachte, nannte Breschnew auf dem Parteitag den Revisionismus (das heißt Jugoslawien), den Dogmatismus (das heißt China) und den Nationalismus (das heißt Rumänien). Er vertrat den Standpunkt, daß man „auch bei Meinungsverschiedenheiten ein einheitliches Vorgehen der Kommunisten erzielen kann und muß" Die Einheit sollte also notfalls erzwungen werden, und jedermann wußte, daß dies nur durch Beseitigung des Polyzentrismus (der kommunistischen Mehrzentrigkeit) möglich war. Wer sollte denn die Richtung des einheitlichen Vorgehens bestimmen, solange es mehrere ideologische und machtpolitische Zentren gab? Breschnew nahm im Gegensatz zu Chruschtschow die Spaltung des Ostblocks nicht hin. Noch weniger wollte er sich auf die Hegemonie über Osteuropa beschränken, deren Aufrechterhaltung ihm unerläßlich erschien, sondern erhob die Wiederherstellung der Einheit des internationalen Kommunismus zum vorrangigen Ziel. Dieses Ziel ist in der Folgezeit zum Mittelpunkt und Ordnungsprinzip des neuen Kurses geworden.

In personeller Hinsicht war der Umschwung weniger deutlich. Der XXIII. Parteitag wählte nur 37 Mitglieder des Chruschtschowschen Zentralkomitees vom Oktober 1961 ab. Daß jedoch der liberale Kommunist Twardowskij seinen Sitz im Zentralkomitee an den restaurativen Gribatschow abtreten mußte, zeigte die Kursänderung deutlich an.

Der „Parteitag der Apparatschiki" —vonMeissner so genannt, weil die Parteibürokratie als der „eigentliche Träger der totalitären Herrschaft eindeutig überwog" — ließ nicht nur den objektiven Grundkonflikt „zwischen dem ideologisch-organisatorischen Totalitätsanspruch der Partei und den Entwicklungsnot

Wendigkeiten einer modernen Industriegesellschaft" bestehen, er konservierte auch den subjektiven Grundkonflikt zwischen den Versuchen der Partei, einerseits die Vergangenheit zu beschönigen und die ihr entsprechenden Institutionen aufrechtzuerhalten und andererseits den Anspruch auf Wahrheit und Freiheit in immer größeren Teilen der Bevölkerung, insbesondere aber in der Intelligenz, zu erheben.

Schon Max Weber wußte, daß es irrig ist, der modernen Industriegesellschaft eine freiheitliche Tendenz zu unterstellen. Diese ist ihr illegitimes Kind und damit ein Nebenprodukt. Auf Grund der ihr innewohnenden bürokratischen Neigung kann sie sogar eine Herrschaft der Apparatschiks begünstigen. Wo es auf ihrem Boden zu einer freiheitlichen Bewegung kommt, entsteht sie in der Regel aus einer Revolte gegen die Bürokratie oder die Kruste, mit der sie die Gesellschaft umgibt. Die freiheitliche Tendenz ist mit anderen Worten eine Gegentendenz zür Verknöcherung der modernen Industriegesellschaft, entweder um sie flüssig zu halten oder um ihre Verhärtungen aufzubrechen. Der Konflikt zwischen dem Totalitätsanspruch der Partei und den Bedürfnissen der industriellen Gesellschaft wird hauptsächlich zwischen Ideologen und Wissenschaftlern ausgefochten. Der Konflikt zwischen Zwangsinstitutionen und dem Bedürfnis nach einer freien Grundordnung spielt sich auf einer anderen Ebene, von allem zwischen den oft pragmatischen Vertretern des Machtmonopols der Partei und der literarisch-künstlerischen Intelligenz ab. Wir müssen also zwischen zwei Grundkonflikten unterscheiden, obwohl sie miteinander verflochten sind.

Neostalinismus?

Chruschtschows Sturz fiel in etwa mit dem Ende der Nachkriegsepoche zusammen. Mit Breschnews Machtantritt begann ein neuer Geschichtsabschnitt, der alle Probleme eine Wendung machen ließ. Der Anbruch einer neuen Epoche bedeutet, daß alles einen neuen Stellenwert gewinnt und sich von einer anderen Seite als bisher zeigt. Chruschtschow mußte Stalins Autorität zerstören, um seine eigene aufzubauen, Breschnew hatte das nicht mehr nötig. Für ihn war der Stalinismus nur noch ein Glied in der Kette des Wachstums der Sowjetunion — ein angebrochenes Glied, das wieder repariert werden mußte, wenn die Kontinuität wiederhergestellt werden sollte. Nicht mehr die Auswüchse des Stalinismus, sondern die Auswüchse des Chruschtschowismus galt es daher jetzt zu korrigieren. Man hielt an der Verurteilung des Personenkults (als Abweichung vom Prinzip der kollektiven Führung) fest, war aber gleichzeitig darum bemüht, Stalin in das sowjetische Geschichtsbild und — was noch wichtiger ist — in das Selbstbewußtsein der KPdSU wieder einzugliedern.

Die Entstalinisierung sei zu weit gegangen — das war schon die Grundthese eines im Oktober 1965 veröffentlichten „Prawda" -Artikels des ehemaligen Parteihistorikers Trapesnikow. Stalin habe sich unvergängliche Verdienste beim Aufbau des Sozialismus und bei der Vernichtung des Trotzkismus erworben, weshalb mit den „Jammertheoretikern" welche die Vergangenheit verdunkelten, endlich aufgeräumt werden müßte. Trapesnikow zollte sogar der Stalin-Verfassung von 1936 ein Lob, obwohl 1962 eine Kommission zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung eingesetzt worden war.

Offen trat die Absicht zutage, die durch Chruschtschows Enthüllungen aufgerissene Lücke in der Kontinuität des Sowjetkommunismus wieder zu schließen, weil durch diese Lücke Elemente eingedrungen waren, die das System als Ganzes bedrohten. Die Rehabilitierung der Partei, um die Chruschtschow bemüht war, kann jedoch nicht vollständig sein, solange Stalin, der drei Jahrzehnte an der Parteispitze stand, als verbrecherisch gilt. Aber Stalins Rehabilitierung muß nicht notwendig eine Restalinisierung, die Wiederbelebung früherer Herrschaftsmethoden bedeuten. Es geht mehr um die Korrektur der Vergangenheit als um die Bewältigung der Gegenwart. Es geht darum, daß der russische Kommunismus die Last von sich abwälzen muß, dreißig Jahre lang fast einer größenwahnsinnigen blindlings und von Verfolgungswahn befallenden Persönlichkeit gefolgt und ein Exekutivorgan seiner Schreckensherrschaft gewesen zu sein. Daher muß man Stalins „Fehler" und seine „Verdienste" zunächst einmal ausbalancieren. Chruschtschows Enthüllungen wurden jetzt als einseitig hingestellt. Sein Begriff „Periode des Personenkults" sei unmarxistisch gewesen, denn Fehler einer einzigen Person könnten nicht eine ganze Periode ausgefüllt haben. Man unterließ es aber, endlich die von den italienischen Kommunisten schon im Anschluß an den XXII. Parteitag der KPdSU dringend geforderte marxistische Analyse des Stalinismus zu liefern, sondern retuschierte das von Chruschtschow gezeichnete Bild der Vergangenheit. Die Entstalinisierung wurde als abgeschlossen erklärt. Man habe sogar schon Personen rehabilitiert, die es gar nicht verdienten. Nun war die Entchruschtschowisierung aktuell, um ein großes Hindernis auf dem Wege zum Ziel des wiedervereinigten Weltkommunismus wegzuräumen.

Breschnew selbst setzte den Wechsel in Szene, als er am 8. Mai 1965 Stalins Namen erstmals seit langer Zeit ohne Vorbehalt und negativen Zusatz erwähnte. Zwei Tage darauf war Stalins Bild schon wieder im Armee-Museum zu sehen. Kurze Zeit später lief in Moskau ein Film, in dem Stalin auftrat. Es folgten Publikationen — wir nennen von den Autoren nur Konjew und Begramjan —, die die menschlichen Züge Stalins betonten. Schließlich wurden zwei seiner theoretischen Schriften neu aufgelegt.

Es wäre leicht, diese Politik mit dem Etikett des Neo-Stalinismus zu versehen. Ebenso hätte man Chruschtschows Politik Neo-Leninismus nennen können. Doch das beträfe in beiden Fällen nur die rückwärts gewandte Seite ihrer Konzeptionen.

Gefährlich an der Politik Breschnews war aber, daß sie die restaurativen Kräfte ermutigen mußte. Als der neue Parteichef im Oktober 1966 in Tiflis Stalin als großen georgischen Revolutionär rühmte, erntete er minutenlangen Beifall. Es sei daran erinnert, daß in Georgien nach dem XX. Parteitag der KPdSU (1956) mehrere Demonstrationen zugunsten Stalins stattgefunden haben.

Die Wissenschaftler benutzten Chruschtschows Fall, um ihre Forderung nach ideologiefreier Forschung mit noch größerer Vehemenz vorzutragen. Burlatzkij verlangte die Schaffung einer besonderen politischen Wissenschaft, die Fragen der Machttechnik beleuchten soll. Parin wandte sich gegen die Uberbürdung der Gelehrten mit bürokratischer Arbeit und ihren Mißbrauch für Gutachten irgendwelcher Funktionäre. Der Biologie-Diktator von Gnaden der Partei, Lyssenko, wurde im Februar 1965 mit vereinten Kräften gestürzt. Insgesamt schritt die Emanzipation der Wissenschaften von der Ideologie weiter voran. Es zeigte sich aber, daß die Sowjetunion 1967 noch keinen einzigen Lehrstuhl für Soziologie hatte.

Auch die literarisch-künstlerische Intelligenz verknüpfte den Führungswechsel mit der Hoffnung auf größere Liberalität. Zwar ließen die neuen Männer wissen, daß sie die Kontrolle des kulturellen Lebens eher zu stärken als zu lockern gedachten, doch ließen sie einige Schriftsteller frei, die von Chruschtschow in Nervenkliniken oder Irrenanstalten gebracht worden waren. Breschnew und Kossygin lehnten es, ebenso wir ihr Vorgänger, ab, subjektive Werturteile über Werke der Kunst zu fällen. Die neue Mannschaft war an einem Burgfrieden mit der schöpferischen Intelligenz interessiert. Sie mußte zunächst um die Festigung ihrer noch labilen Macht besorgt sein. Jewtuschenko und Wosnessenskij veröffentlichten neue Gedichte. In den Moskauer und Leningrader Gruppen des Schriftsteller-verbandes kamen im Januar 1965 progressive Literaten an die Spitze. Eine Zeitschrift veröffentlichte den in Studentenkreisen spielenden Roman von Solouchin, der die Kulturpolitik Shdanows bloßstellte. Eine ukrainische Zeitung schrieb: „Uber den Personenkult wurde bei uns viel gesprochen, und nicht wenig ist praktisch zu seiner Beseitigung getan worden, aber es ist noch nicht alles geschehen. Die Praxis und die Methoden des Kultes bürgerten sich im Laufe der Jahre im Leben und im Bewußtsein der Menschen ein. Sie wurden zur Gewohnheit, zu einem Teil ihres Wesens. Mit allgemeinen Erklärungen, daß der Kult für immer erledigt sei, ist es allein nicht getan. Die Gewohnheit, die einem in Fleisch und Blut übergegangen ist, kann man nicht wie einen zerbrochenen Bolzen auf den Misthaufen werfen." Das war eine prinzipielle Kritik nicht nur am Stalinismus, sondern auch an Breschnews Konzeption. Indem sie das Erbe der Vergangenheit in einer bestimmten Mentalität verankert sah, die noch in die Zukunft ausgreifen konnte, deckte sie ebenfalls eine Kontinuität auf. Als Heilmittel wurde empfohlen, von der Praxis der Einmann-Entscheidungen abzugehen. Zum Beispiel dürften die Kolchosvorsitzenden nicht in allen Fragen das letzte Wort haben.

Als der XXIII. Parteitag nahte, geschahen seltsame Dinge. Die Schriftsteller Daniel und Sinjawskij wurden zu fünf bzw. sieben Jahren Zwangsarbeit verurteilt; in der „Prawda" und „Iswestija" erschienen Gedenkartikel zu Ehren Shdanows; alle Schauspiele, die sich kritisch mit der Stalin-Ära befaßten, mußten vorübergehend von den Spielplänen der Theater abgesetzt werden. Betroffen warnte die Monatszeitschrift „Fragen der Philosophie" vor einem Rückfall in das Einmann-Regime. Es taten sich außerdem 27 bekannte Schriftsteller, Künstler und Wissenschaftler zusammen, um einen Brief an das Zentralkomitee zu schreiben, das um die Verhinderung einer Restauration des Stalinismus gebeten wurde. Zu den Unterzeichnern gehörten Paustowskij, Twardowskij und Kapiza. Als Breschnew auf dem Parteitag von Abtrünnigen sprach, konnten auch sie damit gemeint sein. Ein Teil der Intelligenz fand sich aber bereit, auch den neuen Herren zu dienen. Die Zeitschriften „Nowyj mir" und „Oktjabr" wurden zu feindlichen Burgen, in denen sich die progressiven und restaurativen Intellektuellen verschanzten. Im Niemandsland zwischen diesen Burgen hielt sich die schwankende Gruppe der Konservativen auf, wie immer bemüht, jede klare Festlegung zu vermeiden, und meistens bereit, sich auf die Seite der stärkeren Bataillone zu schlagen. Unter die Konservativen reihte sich auch der große Schriftsteller Scholochow mit einer Rede gegen die Pressefreiheit ein. Ihm trat der ebenbürtige Solschenizyn gegenüber. Er richtete im Mai 1967 einen offenen Brief an die Delegierten des IV. Schriftstellerkongresses der Sowjetunion.

Solschenizyn protestierte gegen die „auf die Dauer unerträgliche Unterdrückung" der die sowjetische Literatur schon seit Jahrzehnten ausgesetzt sei. Vor allem erhob er seine Stimme gegen die illegale, weil in der Verfassung nicht vorgesehene Zensur, die ungebildeten Personen die Möglichkeit zu willkürlichen Maßnahmen gegen Schriftsteller gebe. Die Zensur als ein Überbleibsel des Mittelalters verunstalte oder verbiete den Ausdruck von Gedanken, die im Volk herangereift seien. Das literarische Gewissen werde erstickt, erst die Toten würden anerkannt. Aber die Literatur sei der Sauerstoff, dessen die Gesellschaft zum Atmen bedürfe. Deshalb dürfe sich der Schriftstellerverband nicht länger die Zensur gefallen lassen. Es sei bedauerlich, daß der Verband jene ihrem Unglück überließ, die rechtzeitig vor gewissen Symptomen der Stalinzeit warnten, und Schriftsteller ausschloß, welche die Zierde der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts bilden (hier spielte Solschenizyn unzweifelhaft auf Pasternak an).

Im gleichen Brief zeigte er die Knebelung seines eigenen Werkes auf: Beschlagnahme des literarischen Archivs, Unterbindung bestimmter Veröffentlichungen, Verbot von Vorträgen. Doch niemand könne den Weg zur Wahrheit versperren. Für diesen Weg sei er bereit, den Tod zu erdulden.

In einem der wenigen Interviews, die Solschenizyn gab, sagte er, daß der Schriftsteller nicht allein der Gesellschaft, sondern ebenso jedem einzelnen Menschen verpflichtet sei: „Die Gemeinschaft steht nicht immer der einzelnen Person bei. Jeder Mensch hat viele Probleme, die zu lösen die Gemeinschaft nicht immer imstande ist. Der Mensch ist bereits eine leibliche und geistige Persönlichkeit, bevor er zum Mitglied der Gesellschaft wird. Der Schriftsteller hat gegenüber der einzelnen Person die gleiche Pflicht zu erfüllen wie gegenüber der Gesellschaft."

Solschenizyns Appell verhallte nicht ungehört. Im Juni 1966 forderten 82 prominente sowjetische Schriftsteller von ihrem Verband eine Diskussion über die literarische Zensur.

Wenig später machte der junge Dichter Wosnessenskij von sich reden. Er war für den 21. Juni 1967 zu einem Kunstfestival in die Vereinigten Staaten eingeladen. Alles schien bestens geregelt zu sein, aber am 16. Juni teilte ihm der Schriftstellerverband ohne nähere Begründung mit, daß die Reise nicht stattfinden könne. Journalisten erhielten die Auskunft, Wosnessenskij sei krank, während der Moskauer Rundfunk bekanntgab, die Ausreise sei genehmigt und der Dichter habe nur versäumt, sich die Flugkarten zu besorgen. Wosnessenskij war fassungslos. Er schrieb einen Protestbrief an die „Prawda", die sich Wahrheit nenne, einen Brief, der niemals in dieser Zeitung veröffentlicht wurde, weil er zum Beispiel folgende Sätze enthielt: „Es ist unerträglich, welche Unwahrheit und Prinzipienlosigkeit hier bei allem an den Tag gelegt wird. .. . Das spricht ja der elementaren Menschenwürde Hohn. Ich bin ein sowjetischer Schriftsteller, ich bin ein lebendiger Mensch aus Fleisch und Blut und keine Marionette, die man am Schnürchen tanzen läßt. . .. Mir lügt man dieses vor, allen anderen jenes. Was soll ich den Leuten denn antworten. ... Warum wird ein sowjetischer Dichter vor Tausenden von Freunden der sowjetischen Dichtung kompromittiert? ... Es geht hier nicht um mich, es geht um das Schicksal der sowjetischen Literatur, ihre ihr in der um Ehre, um Ansehen Welt. Wie lange werden wir uns noch mit Spülicht überschütten? Wie lange noch wird man im Schriftstellerverband mit solchen Methoden arbeiten? Die Leitung des Schriftstellerverbandes betrachtet die Schriftsteller offensichtlich nicht als Menschen. Eine derartige Praxis der Lüge, der Ausflüchte, des Vor-den-Kopf-Stoßens ist allgemein üblich. So wird mit vielen meiner Genossen verfahren. Es kommt vor, daß wir (an uns gerichtete) Briefe gar nicht zu sehen bekommen, sie werden manchmal an unserer Stelle von anderen beantwortet. Von irgendwelchen geradezu flegelhaften Chamäleons. Ringsherum ist nichts als Lüge, Lüge, Lüge, Unverfrorenheit und nochmals Lüge!“

Sogar in Kreisen des Offizierskorps gärte es. Generalmajor Grigorenko, der in Moskau zusammen mit jungen Leuten gegen die Versuche zur Rehabilitierung Stalins demonstrierte, war kein Einzelfall. Das zeigte die Diskussion um das Buch von Professor Nekritsch „Der 22. Juni 1941". Diese Diskussion fand in einer am 16. Februar 1966 durchgeführten internen Sitzung statt, an der etwa 130 hochgestellte Persönlichkeiten teilnahmen. Als Professor Deborin, Assistent am Parteiinstitut für Marxismus-Leninismus, Nekritsch wegen des von ihm verursachten Eindruckes kritisierte, Stalin, Woroschilow, Budjenny und andere hätten von der Unschuld Tuchatschewskis gewußt, ihn aber dennoch hinrichten lassen, rief eine Stimme aus dem Saal: „Natürlich wußten sie es!" Deborin verteidigte Woroschilow und Budjenny, die doch zweifellos Ehre und Gewissen hätten. Nun geriet der ganze Saal in Erregung. Die beiden Marschälle wurden als ehrlose Feiglinge bezeichnet. Deborin mußte unter großem Lärm das Rednerpult räumen. Dem folgte eine aufschlußreiche Debatte, aus der wir wörtliche Auszüge bringen: „Anfilow (Generalstab): Ein gutes Buch. Zunächst aber einige Worte über die Ehre Woroschilows und Budjennys. Sie hatten keine und haben keine Ehre. Viele Materialien, die in unseren Archiven lagern, aber leider jetzt noch nicht veröffentlicht werden dürfen (Stimmen: Genug der Geheimnistuerei! Sagt alles so, wie es ist!) . .., zwingen zu äußerst negativen Schlußfolgerungen hinsichtlich ihrer Tätigkeit.

Daschitschew (Generalstab): Das schlimmste ist, daß die sowjetischen Quellen nicht von jedermann eingesehen werden können. Wann endlich werden alle Quellen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht? ... Stalins größtes Verbrechen bestand darin, daß er die Macht usurpierte und unsere besten Militärkader liquidierte. Obwohl alle unsere Führer über die Weltlage im Bilde waren, fand keiner den Mut, sich dafür einzusetzen, daß Maßnahmen zur Verteidigung des Landes ergriffen wurden. Darin liegt ihre furchtbare Schuld gegenüber der Partei und dem Volk. . . . Jeder Historiker muß den Mut haben, die Wahrheit zu sagen.

Kulisch (Kandidat der Geschichtswissenschaften): Der Frage muß gründlicher nachgegangen werden. Warum kam es zu einer solchen Situation? Wie führte unsere von Stalin geleitete Regierung das Land? Wie schützte sie unser Volk vor Gefahren? War sie ihren Aufgaben gewachsen? Nein! Sie war es nicht.

Sleskin (Kandidat der Geschichtswissenschaften): Von einer bestimmten Stufe an ist der Verzicht auf die Wahrheit um des eigenen Wohlergehens willen ein Verbrechen, und je höher die Stufe ist, um so größer ist das Verbrechen. . . .

Petrowski] (Historiker): Lenin bezeichnete den Faschismus als den Hauptfeind. Stalin mißachtete Lenins Hinweise und erklärte die sozialdemokratische Partei zum Hauptfeind. Seine Theorie erlangte weite Verbreitung und führte zur Spaltung der Arbeiter in der ganzen Welt. Das ermöglichte den Faschisten die Machtübernahme. Stalin war ein Verbrecher . . . (Boltin; , Genosse Petrowskij! In diesem Saal und von dieser Tribüne aus muß man darauf achten, welche Worte man gebraucht! Sind Sie Kommunist?') Ja! (Boltin: „Ich habe nicht gehört, daß es in den für uns beide verbindlichen Direktivbeschlüssen unserer Partei irgendwo heißt, daß Stalin ein Verbrecher gewesen sei. ’) Der XXII. Parteitag beschloß, Stalin wegen seiner Verbrechen gegenüber der Partei aus dem Mausoleum zu entlernen, folglich ist er ein Verbrecher. Man kann Stalin nicht reinwaschen. Das hieße, jeden Diktator vom Typ Mao Tse-tung reinzuwaschen. Damit würde man ihnen sagen: Tu nur, was du willst, man wird dich auf jeden Fall rechtfertigen. . . .

Snegow (Historiker): Stalin hätte erschossen werden müssen, doch statt dessen wird der Versuch gemacht, ihn zu rechtfertigen. Warum wird das Buch Nekritschs, in dem Stalin angegriffen wird, einer solch unverzüglichen Erörterung und sogar Verurteilung für würdig befunden, während das Buch des bekannten Geschichtsfälschers I. Petrow, in dem Stalin gute Taten angedichtet werden, die er nie-mals vollbracht hat, schon jahrelang der Erörterung harrt? Warum hat Deborin versucht, Stalin reinzuwaschen? Als Hitler sich anschickte, Polen anzugreifen, half ihm Stalin. Er ließ alle in der UdSSR lebenden polnischen Kommunisten erschießen und erklärte die polnische Partei für illegal. Warum wird die vierte Teilung Polens als Befreiungsfeldzug bezeichnet? Wie kann man als Kommunist Stalin Gutes nachsagen? Stalin, der die guten Kommunisten verriet und verkaufte, der fast alle Delegierten des XVII. Parteitages und fast alle von diesem Parteitag gewählten ZK-Mitglieder umbringen ließ, der die Spanische Republik, die Kommunisten aller Länder verriet!

Deborin (Schlußwort): Nun einige Worte zu der Rede Snegows. Alles, was uns Snegow über Polen usw. erzählt hat, haben wir schon des öfteren gehört. Nur kam das alles aus einem uns feindlich gesinnten Lager. In dieser Art und Weise sprachen zum Beispiel der Professor Jacobsen aus der Bundesrepublik und seinesgleichen. Es müßte festgestellt werden, zu welchem Lager Genosse Snegow gehört! (Snegow: „Ich komme aus Kolyma!') Das wird man alles nachprüfen müssen,! (Der Saal gerät in Aufruhr. Zurufe: Wieder wie gehabt! Macht ihm die Telefonleitung frei! Deborin kommt nicht zu Wort.)

Snegow: . . . Ich dachte, ich nehme an einer wissenschaftlichen Diskussion teil. Deborin brachte jedoch statt wissenschaftlicher Beweise Argumente in der Art des Jahres 1937 vor. Aber uns jagst du keine Angst ein! Wir lassen uns keine Angst mehr einjagen! Die Zeiten sind vorbei, und die Vergangenheit kehrt nicht zurück! (Beifall im Saal)."

Aber im Juli 1967 wurde Professor Nekritsch wegen der Kritik in seiner Schrift über den 22. Juni 1941 aus der KPdSU ausgeschlossen. Ungeachtet dessen vertauschten immer mehr Männer und Frauen die Sklavensprache mit dem offenen Wort. Hier sei nur noch Swirskij erwähnt, der am 16. Januar 1968 vor der Mitgliederversammlung des Moskauer Schriftstellerverbandes die Gedanken vieler aussprach: „Jene, die mit voller Stimme die Rehabilitierung Stalins fordern, sind in letzter Zeit wieder stärker hervorgetreten. Für Stalin treten alle jene ein, denen ihre persönlichen Privilegien teurer sind als die Interessen der Partei und des Volkes. Diese Leute brauchen eine Ordnung, wie Stalin sie geschaffen hat, ob-wohl sie genau wissen, daß diese Ordnung Millionen ihrer Mitbürger das Leben gekostet hat."

Die Kommunistische Partei war von der Spitze bis zur Basis gespalten. Diese Trennungslinie ließ kaum noch Gespräche zwischen Mitgliedern beider Lager zu, weil die gemeinsame Grundlage des Denkens und Handelns entfiel. Eine neue Art von Kommunisten trat auf, die sich nicht mehr mit der Führung, sondern mit den Interessen des Volkes solidarisierte. Typisch für diese neue Art war der Standpunkt von Professor Kerimow (Prorektor der Leningrader Universität), daß er gerade deshalb für eine grundlegende Reform der noch weitgehend stalinistischen Institutionen eintrete, weil er Kommunist sei. Wo die Parteidisziplin mit moralischen Normen zusammenstieß, die bereits als höherrangig angesehen wurden, verlor sie ihre bindende Kraft. Zu einer solchen Norm erhob sich die Wahrheit und in ihrem Gefolge die Selbstverpflichtung zur Wahrhaftigkeit. In manchen Fällen ging es schon um Leben und Tod. Der Personenwagen des Schriftstellers Dudinzew wurde gleichzeitig von zwei LKWs angefahren, deren Chauffeure spurlos verschwanden. Als Dudinzew von seinen Verletzungen genesen war, warfen ihn zwei Unbekannte aus dem fahrenden Bus. Doch auch dieser zweite Anschlag auf sein Leben mißlang

Andererseits fanden Schriftsteller und Künstler, die dem Boykott der Partei ausgesetzt waren, immer größere Unterstützung in den Betrieben und wissenschaftlichen Institutionen. Der berühmte Physiker Kapiza stellte 1966 die Räume seines Instituts für eine Gemäldeausstellung zur Verfügung. Eine andere Ausstellung in einem Moskauer Arbeiterklub wurde 24 Stunden nach der Eröffnung entdeckt und geschlossen. Die Bannflüche der Partei hatten aber nicht mehr ihre frühere Kraft. Jewtuschenko, dessen Gedicht „Brask" die Zensur gesperrt hatte, wurde im Juni 1965 von 12 000 Hörern einer dreistündigen Rezitation gefeiert.

Die Untergrundliteratur nahm immer größeren Umfang an. Sie bediente sich auch des Tonbands. Besonderes Interesse erregten „Sphinx" (1965) und „Phönix 66". Jewtuschenko steuerte seinen „Brief an Jessenin" bei. Zum Katalysator dieser Literatur wurde die bereits über viele Städte der Sowjetunion verbreitete Smog-Gruppe, die „das kulturelle Erbe Rußlands bewahren und die vorrevolutionäre Tradition in der Kunst fortsetzen" will. Eine bestimmte Strömung knüpft aber an die revolutionäre Tradition der Politik an. So gab der junge Schriftsteller Kuschew nach dem Vorbild der Dekrabisten die illegale Zeitschrift „Das russische Wort" heraus, und zwar als Organ der von ihm gegründeten Jugendorganisation Rylejew-Klub. Isaac Deutscher beobachtete eine wachsende Wißbegier der Intelligenz und der Jugend, „die auf den Zugang zum niedergehaltenen intellektuellen Erbe der Revolution erpicht" sei. Diesem Drang kam die Partei durch die Herausgabe einiger Skizzen Lunatscharskijs (des ersten Volkskommissars für Erziehung und Unterricht) entgegen. Doch war es nach einem Bericht des italienischen Kommunisten Strada in der Sowjetunion weiterhin verboten, die Werke Bogdanows, des engsten Freundes von Lunatscharskij, zu lesen. Dafür gestattete man 1966 die Gründung eines „Klubs junger Wissenschaftler" (Vorsitzender I. Goldmann) und eines „Klubs schöpferischer Jugend" (Vorsitzender D. Markisch) in Moskau — der erste hat sich die Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse und der zweite die sinnvolle Freizeitgestaltung der Jugend zum Ziele gesetzt.

Kurz zuvor kam es auf dem Komsomol-Kongreß des gleichen Jahres zu Ausbrüchen der Ungeduld und Erbitterung, die alle Schranken des Diskussions-Reglements durchbrachen. Eine Komsomolzin, Vera Dennissenko, beklagte unter stürmischem Beifall, daß die Frauen und Mädchen von den sowjetischen Kleidermodellen, die auf internationalen Ausstellungen gezeigt würden, nichts zu sehen bekämen. Selbst in der von der Zensur überarbeiteten Fassung ihrer Diskussionsrede hieß es noch: „Ein paar Worte über unsere Arbeitskleidung. Was für bequeme und schöne Modelle werden uns doch vom Unions-Modehaus offeriert. Dort sieht man Halbkombinationen aus dichtem Stoff, wasserdichte Jacken und Arbeitsanzüge. Wirklich fein! Aber das alles gibt es nur auf dem Papier, und in Wirklichkeit liefert man uns schmutzig-graue Overalls, die bestenfalls einem Riesen passen. Meine Landsleute erteilten mir vor meiner Reise nach Moskau unter anderem den Auftrag zu fragen, wann endlich unsere Arbeitskleidung anders werden wird, nämlich praktisch und schön."

Der scheinbar unpolitische Charakter solcher Ausbrüche konnte die Partei nicht über ihren politischen Hintergrund täuschen. Die Jugendzeitschrift „Junostj" hatte kurz vor dem XXIII. Parteitag der KPdSU ausgerechnet den gröbsten Brief Lenins an Stalin, datiert vom 5. März 1923, offensichtlich in der Absicht veröffentlicht, eine Rehabilitierung Stalins unmöglich zu machen. Außerdem sah sich die Führung erstmals mit dem Problem der Arbeitslosigkeit konfrontiert, die unter den Jugendlichen besonders steil anstieg In diesem Zusammenhang ist zu beachten, daß der Oberste Sowjet am 26. Juli 1966 die Errichtung eines zentralen Polizeiministeriums mit untergeordneten Behörden in allen Unionsrepubliken zum Kampf gegen das Rowdytum beschloß.

Der Schriftstellerprozeß als Wendepunkt Die Verurteilung der Schriftsteller Sinjawskij und Daniel im Februar 1966 bedeutete das Ende der Hoffnung auf eine liberale Kulturpolitik. Man bezeichnete die Angeklagten, die in Wirklichkeit (wie einst Gorkij, Lunatscharskij und Bogdanow) einer neuen „Gottsucher" -Gruppe unter den Kommunisten angehörten, als antisowjetische Elemente. Sinjawskij hatte den Kommunismus in einem 1959 geschriebenen Aufsatz als „strahlendes Licht" bezeichnet und hinzugefügt: „Woher der Mensch auch kommt, sein Erscheinen und sein Schicksal sind untrennbar mit Gott verbunden." Wie Peter Hacks in der DDR fand er nur negative Vergleiche, um zu beschreiben, daß es in der künftigen kommunistischen Gesellschaft „weder Arme noch Reiche, weder Geld noch Kriege, weder Gefängnisse noch Grenzen geben wird. Wie Lenin versprochen hat, werden wir unsere WCs aus purem Gold erzeugen. Der moderne Geist ist unfähig, Schöneres und Erhabeneres zu ersinnen als das kommunistische Ideal. Das Beste, was er tun kann, ist die Wiederbelebung der alten Ideale der christlichen Liebe und der Freiheit der Person. Zur Zeit ist er jedoch nicht imstande, ein neues Ziel anzubieten."

Dieser Aufsatz wurde in Paris und Wien veröffentlicht. Sinjawskij sprach sich lediglich gegen die theologische Natur des Marxismus und dessen Verdrehung durch Stalin aus. Vergebens wies er in seinem Schlußwort vor Gericht auf sein Bekenntnis zur Oktoberrevolution hin. Auch in diesem Gerichtssaal traten sich zwei Arten von Kommunisten gegenüber, jedoch nicht mehr als Genossen, sondern als Feinde. Man redete sich nicht mehr wie früher mit Du, sondern mit Ihr und Wir an. Trotz „Eurer absurden Zitierweise", sagte Sinjawskij, „bleibt das Ergebnis absurd. . . . Ich bleibe bei meinem bisherigen Standpunkt."

Als Scholochow auf dem XXIII. Parteitag die über Daniel und Sinjawskij verhängten Urteile als mild verteidigte, schrieb ihm Lidija Tschukowskaja in einem offenen Brief: „Die Literatur unterliegt nicht der Strafgerichtsbarkeit. Ideen muß man Ideen entgegensetzen, nicht aber Lager und Gefängnisse. Das nämlich hätten Sie Ihren Zuhörern erklären müssen, wenn Sie sich wirklich als Vertreter der sowjetischen Literatur auf die Rednertribüne begeben hätten. Sie hielten Ihre Rede jedoch als Abtrünniger dieser Literatur. Ihre schändliche Rede wird von der Geschichte nicht vergessen werden."

Der Prozeß gegen Sinjawskij und Daniel löste eine rechtsstaatliche Bewegung aus, die sich in zahlreichen Protesten und Anfragen niederschlug. Fünf sowjetische Bürger wiesen Breschnew in einem gemeinsamen Brief darauf hin, daß ein Angeklagter nach den sowjetischen Gesetzen noch kein Schuldiger sei, die Regierungszeitung habe die beiden Schriftsteller jedoch schon im Oktober 1966 als schuldig bezeichnet. Wissenschaftler und Dichter schickten dem Präsidium des XXIII. Parteitags ein Telegramm, in dem sie gegen die Abweisung des einzigen Entlastungszeugen Duwakin protestierten, denn die sowjetische Rechtsprechung sehe Zeugen beider Seiten vor und sei verpflichtet, sich einen lückenlosen Eindruck von den Angeklagten zu verschaffen. Frau Sinjawskij fragte öffentlich an: „Wieviel Narren-freiheit hat denn der Staat?" Ginsburg verfaßte ein Weißbuch über den Prozeß, das dem Vorsitzenden des Obersten Sowjet zugeleitet wurde. Neunzehn bekannte Persönlichkeiten, darunter der Atomforscher Sacharow und der Komponist Schostakowitsch, unter-zeichneten eine Eingabe an den Obersten Sowjet der RSFSR gegen eine Verschärfung der Strafgesetze.

Die Rebellen der jüngsten Generation, deren Sprecher Ginsburg und Galanskow sind, hatten schon am 14. April und am 5. Dezember 1965 kleine Straßendemonstrationen durchgeführt. Am 22. Januar 1967 fand eine dritte Demonstration von etwa 100 Personen auf dem Moskauer Puschkin-Platz statt. Aber die Prozesse gingen weiter. Im September 1967 und im Januar 1968 saß die entschlossenste Generation der Sowjetunion auf der Anklagebank. Der junge Dichter Bukowskij zitierte die sowjetische Verfassung, nach der die Freiheit von Straßenumzügen und Demonstrationen garantiert ist, und fragte die Richter: „Warum hat man einen solchen Artikel ausgenommen? Für die Demonstrationen am 1. Mai und am 7. November? Wir brauchen keine Freiheit , für‘, wenn es keine Freiheit , gegen'gibt. Wir wissen, daß Protestdemonstrationen eine mächtige Waffe in den Händen der Arbeiter sind, das ist ein unabdingbares Recht in allen demokratischen Staaten . . . Wir demonstrieren für die Einhaltung der Gesetze. Wir sind nicht gegen die Gesetze aufgetreten. Wir haben gegen einen verfassungswidrigen Beschluß protestiert. War das wirklich eine antisowjetische Forderung? . . . Rede-und Pressefreiheit bedeuten in erster Linie das Recht auf Kritik. Niemand hat jemals das Lob der Regierung verboten. Wenn es in der Verfassung Artikel über Rede-und Pressefreiheit gibt, dann bringen Sie bitte die Geduld auf, sich die Kritik anzuhören." Bukowskij wurde zu drei Jahren Haft verurteilt, beendete aber sein Schlußwort mit der Erklärung, daß er die von ihm organisierte Demonstration gegen die Verurteilung von Sinjawskij und Daniel nicht bereue; sobald er wieder frei sei, werde er neue Proteste entfachen.

Der Prozeß gegen Ginsburg, Galanskow, Dobrowolski und die Studentin Vera Laschkowa im Januar 1968 wirbelte noch mehr Staub auf. Die Angeklagten wurden zu Haftstrafen zwischen einem und sieben Jahren verurteilt, was 22 Schriftsteller veranlaßte, Partei und Regierung um eine Überprüfung des Falles zu bitten. Der Enkel des einstigen sowjetischen Außenministers Litwinow enthüllte zusammen mit Frau Daniel die Ungesetzlichkeit des Verfahrens und verlangte die Bestrafung der Schuldigen, worauf er seine Stellung verlor. So setzte der Prozeß gegen Daniel und Sinjawskij eine doppelte Kette von Gerichtsverfahren und Protesten in Gang. Die jungen Rebellen, nun ihrer führenden Köpfe beraubt, hatten zuvor die „Bewegung des 5. Dezember" gegründet, um der Demonstration vom 5. Dezember 1965 ein bleibendes Echo zu sichern. Breschnew untergrub den ohnehin nur noch schwachen Glauben an die Reform des Systems, als er außer den zuvor degradierten Generalmajor Grigorenko auch den Schriftsteller-Philosophen Jessenin-Wolpin in eine psychiatrische Anstalt einweisen ließ. Wolpin hatte ein Manuskript ins Ausland geschickt und beigefügt: „In Rußland gibt es keine Pressefreiheit, aber wer wollte behaupten, daß es hier auch keine Gedankenfreiheit gibt?" Die Gedankenfreiheit hatte sich trotz fehlender Pressefreiheit ihre Bahn gebrochen — ein Zeichen für Rußlands geistige Wiedergeburt. Als die Schauspielerin Tatjana Doronina in einem Interview gefragt wurde, wofür und wogegen sie mit ihrer Kunst kämpfe, antwortete sie schlicht: „Sehen Sie, , kämpfen'ist ein sehr großes Wort und paßt nicht hierher. Ich versuche, einfache bekannte Wahrheiten zu bestätigen, etwa den Sinn der Charakterfestigkeit, der Kompromißlosigkeit, der richtig verstandenen Pflicht gegenüber den Menschen und gegen einen selbst." Rußlands geistige Wiedergeburt ist mit der Geburt eines neuen Humanismus, einer tiefen Menschlichkeit verbunden, die, durch Leiden geläutert, alle Waffen der Ideologie stumpf werden läßt. Diese Menschlichkeit schimmerte selbst durch die Presseerklärung der in den Westen geflohenen Tochter Stalins: „In den letzten Jahren haben wir in Rußland angefangen zu denken und zu diskutieren ... Es gibt für mich keine Kommunisten und Kapitalisten, es gibt für mich gute und schlechte, ehrliche und unehrliche Menschen .. . Obwohl ich immer in Moskau gelebt habe, glaube ich, daß man nur dort zu Hause ist, wo man sich frei fühlen kann . .

Aber jene, die nicht fliehen können, sind vor die Frage des Handelns gestellt. Ende 1965 wurde eine Widerstandsorganisation aufgedeckt, die etwa 250 Mitglieder zählte. Sie setzte sich aus Studenten und jungen Wissenschaftlern zusammen, die in Leningrad, Imsk, Nowosibirsk und Iwanowo-Wosnessensk „Zir-kel der Kommunarden" gebildet hatten. Diese Zirkel griffen auf Lenins ursprüngliche, aber schon 1918 aufgegebene Konzeption einer proletarischen Demokratie nach dem Vorbild der Pariser Kommune von 1871 zurück. Als Verbindungs-und Werbeorgan diente die illegale Zeitschrift „Kolokol", die eine Auflage von 1 000 Stück erreichte. Zu Beginn des Jahres 1966 wurden die Leiter der Widerstandsorganisation abgeurteilt. Als ein weibliches Mitglied von den Untersuchungsbeamten nach den Zielen der Kommunarden gefragt wurde, lautete die Antwort: „Die erste Maßnahme ist, Euch zur Arbeit zu schicken!" Wieder dieses „Ihr" und „Euch" — das gemeinsame Band ist zerrissen.

Im Dezember 1967 setzten vier Intellektuelle, die als Verschwörer festgenommen wurden, ihrer Verhaftung bewaffneten Widerstand entgegen. Der eiserne Ring der Angst, die ihre Opfer passiv werden ließ, ist gesprengt. Die Macht hat ihren hypnotischen Effekt eingebüßt; sie befindet sich im Verfall.

Das Memorandum Sacharows Alle Strömungen der legalen und illegalen Opposition liefen auf einen gemeinsamen Mittelpunkt zu. Was ihnen noch fehlte, war ein Programm, das als geistiges Zentrum dienen konnte. Dieses Programm entwarf der Atomforscher Sacharow, aber seinen Problem-rahmen hatten schon zwei andere Wissenschaftler — Mikulinskij und Rodnyj — abgesteckt: „die Abhängigkeit des weiteren wissenschaftlich-technischen Fortschritts von einer vernünftigen (!) Organisation der Gesellschaft" Auch Sacharow selbst hat erklärt, sein Programm sei das Ergebnis von Diskussionen in der wissenschaftlich-technischen Intelligenz und nicht nur seine persönliche Meinung. Es wendet sich gegen Unterdrückung, Dogmatismus und Demagogie. „Die Teilung der Menschheit in zwei Lager bedroht sie mit Zerstörung. Die Zivilisation wird gefährdet: durch einen allgemeinen thermonuklearen Krieg, durch Hungerkatastrophen, durch die Narkose der , Massenkultur'und des bürokratischen Dogmatismus sowie durch eine Verbreitung von Massenlegenden, die ganze Völker und Kontinente unter die Gewalt grausamer und verlogener Diktatoren bringen, und schließlich durch die Zerstörung und Degeneration, welche die raschen Veränderungen der Lebensbedingungen auf unserem Planeten herbeiführen. Angesichts dieser Gefahren ist jede Handlung, die die Teilung der Menschheit fördert, jedes Predigen der Unvereinbarkeit der Weltideologien und der Nationen Irrsinn und ein Verbrechen. Nur allgemeine Zusammenarbeit unter den Bedingungen geistiger Freiheit und die hohen moralischen Ideale des Sozialismus werden zusammen mit dem Versuch, den Dogmatismus und den Druck der geheimen Interessen herrschender Klassen zu beseitigen, die Zivilisation bewahren ..." Sacharow bestreitet qualitative Unterschiede zwischen den Gesellschaftsordnungen der UdSSR und den Vereinigten Staaten. Er sieht sie als verwandte und gleichberechtigte Organisationsformen an, die ihre positiven Erfahrungen austauschen sollten. Bei der Abwendung von Hungerkatastrophen in der Dritten Welt müßten die beiden größten Mächte vorangehen. Das Memorandum schlägt allen Industrie-ländern vor, 15 Jahre lang auf 20 °/o des Nationaleinkommens zugunsten der Entwicklungsländer zu verzichten (bei uns werden 1 bis 3% diskutiert). Sacharow glaubt an eine stufenweise Annäherung und Verschmelzung der verschiedenen politischen Systeme bis zu einer gemeinsamen Weltregierung. Für die kommunistischen Länder sagt er einen sich verschärfenden Kampf zwischen den stalinistisch-maoistischen und realistischen Kräften voraus, der schließlich zum Sieg der Realisten, zur Demokratie und zu ausgedehnter wirtschaftlicher Reform führen werde. Aber zunächst müßten die realistischen Kommunisten der Verschleierung des Stalinismus entgegentreten. Niemand dürfe vergessen, daß er 10 bis 15 Millionen Sowjetbürgern, darunter der Hälfte des Mitgliederbestandes der KPdSU, das Leben gekostet habe. Die Schriftsteller-prozesse, die neuen Zwangsarbeitslager, der Bruch verfassungsmäßig garantierter Bürger-rechte, der wiederauflebende Antisemitismus und die Einschränkung nationaler Minderheiten wie der Krimtataren könnten nur als Symptome eines gefährlichen Neostalinismus aufgefaßt werden. Sie seien eine Schande für die Völker der Sowjetunion.

Sacharow stellt in seinem Programm folgende Forderungen für eine grundlegende Änderung zusammen:

1. Generalamnestie für politische Gefangene, das heißt auch Auflösung der politischen Gefangenenlager und Revision der Schriftstellerprozesse; 2. Veröffentlichung des Archivmaterials des NKWD, des Stalinschen Geheimdienstes, und umfassende Rehabilitierung seiner Opfer; 3. Reale Garantie der Bürgerrechte und der Rechte aller nationalen Minderheiten;

4. Informationsfreiheit, nicht zuletzt im zwischenstaatlichen Verkehr;

5. Verdrängung der Stalinisten und Maoisten aus den wichtigen Positionen in Partei und Regierung;

6. Überwindung des bürokratischen Dogmatismus in der Wirtschaft;

7. Aufhebung der Zensur;

8. Einführung eines Mehrparteiensystems.

Die ersten Forderungen zielen auf eine Reinigung der Atmosphäre, andere auf die Schaffung eines Rechtsstaats und die letzten auf Konstituierung eines demokratischen Kommunismus in der UdSSR. Das Programm umfaßt drei Ebenen einer Strukturreform, die den Bedürfnissen der wissenschaftlich-technischen Revolution ebenso gerecht werden soll wie den Idealen des Sozialismus. Erst der Opposition, nicht Breschnew, gelang diese Verbindung. Sacharow ließ keinen Zweifel daran, daß er kein Antikommunist ist, sondern zu den realistischen Kräften des Kommunismus gehört. An eine Privatisierung der Industrie denkt er nicht. Dafür lobte er das Beispiel der tschechoslowakischen Reformkommunisten, die erkannt hätten, daß eine Neuordnung der sozialistischen Gesellschaft ohne geistige Freiheit unmöglich sei; ihre „kühne Initiative, die für die Zukunft des Sozialismus und der ganzen Menschheit so wichtig ist" sollte von der Sowjetunion unterstützt werden.

Das wurde zu einem Zeitpunkt geschrieben, als die sowjetische Führung anscheinend schon die Besetzung der CSSR erwog, und vermutlich wurde sie durch das Memorandum Sacharows in ihrer Absicht bestärkt. Die Intervention hatte zweifellos auch den Zweck, das Übergreifen der tschechoslowakischen Strukturreformen auf die Sowjetunion zu verhindern. überdies deckt sich Sacharows Neudeutung der Intelligenz mit der von führenden Reform-kommunistenin der ÖSSR. Sein Memorandum sieht ihre Bundesgenossenschaft mit den Arbeitern vor. Die Verwirklichung des Aktionsprogramms übersteige die Kräfte der Intelligenz und liege auch im Interesse aller Gesellschaftsschichten. Man spürt die marxistische Schulung heraus, wenn es heißt, daß die Arbeiterschaft die am besten organisierteste Klasse sei. Aber sie soll nicht mehr die Führung haben, der sie ohnehin niemals teilhaftig war, weil sie als herrschende Klasse stets nur auf dem Papier stand. „Das fortschrittlichste und aktivste internationale Element der Intelligenz ist dem Wesen nach ein Teil der Arbeiterschaft, und der fortschrittlichste, gebildetste, weitherzigste und am stärksten international gesonnene Teil der Arbeiterschaft ist ein Teil der Intelligenz. Diese gesellschaftliche Stellung der Intelligenz macht alle jene lauten Forderungen sinnlos, die da verlangen, daß die Intelligenz ihre Ziele dem Willen und den Interessen der Arbeiterklasse unterordnen müsse (in der Sowjetunion, Polen und anderen sozialistischen Ländern). In Wahrheit bedeutet diese Forderung die Unterordnung unter den Willen der Partei oder, genauer, unter den Parteiapparat und seine Funktionäre."

Sacharow stellt also eine Verschmelzung der progressiven Spitzen von Intelligenz und Arbeiterschaft fest, die gemeinsam das Schicksal ihrer Länder in die Fland nehmen und sie aus den politischen Zwangsjacken herauslösen sollen. Die Partei hatte nur zugegeben, daß die Wissenschaft aus einer mittelbaren zu einer unmittelbaren Produktivkraft geworden ist. Sacharow geht entschieden weiter. Er und sein Kreis betrachten — wie Löbl in der ÖSSR — die Intelligenz jetzt als die führende Kraft der Gesellschaft schlechthin. Sie liefert die Ideen, die Arbeiterschaft aber das organisatorische Gerüst zum Umbau der Gesellschaftsordnung. Der totalitäre Befehlsstrang des sogenannten „demokratischen Zentralismus" soll durch eine wissenschaftlich-demokratische Führungsmethode abgelöst werden. Das Ziel ist nicht mehr nur eine Arbeiterdemokratie, sondern eine Demokratie für alle Schichten des Volkes auf der Grundlage sozialistischer Eigentumsformen. Sacharow kam im Jahre 1968 zu ähnlichen Schlüssen wie Djilas schon im Jahre 1953. Die Sowjetunion hat fünfzehn Jahre länger als Jugoslawien gebraucht, damit dieselben Fragen in ihr aufgeworfen werden konnten, die im Zuge der osteuropäischen Revolution entstanden sind. Doch in der tieferen Erfassung der wissenschaftlich-technischen Revolution, die auch zu einer Triebkraft der osteuropäischen geworden ist, ging Sacharow über Djilas hinaus, um sich mit den Reformern in der ÖSSR zu treffen. So holten die realistischen Kräfte des russischen Kommunismus die Entwicklung doch noch ein. Indem einer ihrer Repräsentanten sein Memorandum nicht nur an die Führung der UdSSR und an alle sowjetischen Bürger, sondern auch an alle Menschen guten Willens in der Welt richtete, wollte er zweifellos zu verstehen geben, daß diese Kräfte ihrer internationalen Verantwortung durchaus bewußt sind, aber auch auf moralische Unterstützung rechnen.

Machen die Krimtataren nur den Anfang?

Die gesellschaftliche Breite des Programms, das Sacharow und seine Freunde in Umlauf setzten, wird erst deutlich, wenn man seinen Hinweis auf die nationalen Minderheiten unter besonderer Berücksichtigung der Krim-tataren beachtet. Mit der national-autonomen Bewegung der Krimtataren entstand ein neuer Zweig der Opposition. Chruschtschow hatte im Februar 1956 von den Völkerschaften, die während des Zweiten Weltkriegs aus ihren Wohngebieten in entlegene Gegenden deportiert worden waren, wohl die Karatschaijer, Kalmücken, Tschetschenen, Inguschen und Balkaren genannt, die Wolgadeutschen und die Krimtataren hingegen unerwähnt gelassen. Während die erstgenannten fünf Völker zu seiner Zeit aus der Verbannung heimkehren durften und ihr autonomes Gebiet zurück-erhielten, wurden die Krimtataren und die Wolgadeutschen erst nach seinem Sturz offiziell rehabilitiert — mit dem scheinbar liberalen Zusatz, daß sie sich nach freier Ortswahl ansiedeln könnten. In Wirklichkeit schränkte dieser Zusatz die Rehabilitierung ganz beträchtlich ein. Von den Wolgadeutschen und Krimtataren ist nur die Anklage der Kollektivschuld genommen, sie sollen jedoch in ihren Verbannungsgebieten bleiben oder dürfen sich bestenfalls über die Sowjetunion verstreuen. Die Wiedererrichtung der Wolga-deutschen Republik und des autonomen Gebiets der Krimtataren ist nicht vorgesehen.

Während die Wolgadeutschen schweigen, fordern die Krimtataren, daß man ihnen die Heimkehr gestatte und gebührend viel Sitze im neu zu begründenden Krimsowjet gebe.

Selbst in den usbekischen Steppen, in die sie 1944 deportiert worden waren, konnte ihr Zusammenhalt nicht gebrochen werden. Es scheint sogar ein Organisationskomitee entstanden zu sein. Die Tataren suchten bei den Behörden um Genehmigung für eine Lenin-Gedenkfeier nach, die sie am 21. April 1968 in der usbekischen Stadt Tschirtschik durchführen und mit dem Ruf nach Wiederherstellung ihrer gesetzlichen Minderheitsrechte verbinden wollten. Doch die Veranstaltung wurde verboten. Sicherheitstruppen aus Taschkent besetzten den vorgesehenen Versammlungsplatz und sperrten sogar die Zufahrtswege der Stadt. Dennoch fanden die Tataren zusammen. Sie wichen in einen Park aus, wo sie ein Volksfest veranstalteten. Nachdem sie auch hier unter Einsatz von Wasserwerfern vertrieben worden waren, zogen die erregten Krimtataren in einem Demonstrationszug vor das Gebäude des Parteikomitees, wo sie mit der Polizei und Sicherheitstruppen zusammen-stießen. Nach einem Bericht „wogte der Kampf bis tief in die Nacht" wobei 300 Demonstranten verhaftet wurden.

Die Tataren gaben sich jedoch nicht geschlagen, sondern schickten eine 16köpfige Delegation nach Moskau, um gegen das Verbot der Lenin-Feier im Lande Lenins und die ihnen zuteil gewordene Behandlung bei den höchsten Partei-, Staats-und Justizbehörden zu protestieren. Sie verlangten die Freilassung der Verhafteten und die Bildung einer Untersuchungskommission. Auch in Moskau selbst fand eine Versammlung der Krim-tataren statt, auf der die Wiederherstellung der nationalen Autonomie gefordert wurde. Die Redner beriefen sich auf die auch in der UdSSR-Verfassung garantierten Rechte der Rede-und Versammlungsfreiheit. Dieses Beispiel könnte Schule machen, etwa bei den Ukrainern und bei den baltischen Völkern.

Die neue Wirtschaftsreform Das Sacharowsche Memorandum sieht eine weitgespannte Wirtschaftsreform vor, die alle Dogmen beiseite schieben und von Plan-zu Marktpreisen übergehen soll. Es hat neue Maßstäbe auch auf diesem Gebiet gesetzt, im Vergleich zu denen die Gedanken Libermans dürftig wirken.

Aber Breschnews neue Linie — moralische Anreize statt materielle Interessiertheit in den Vordergrund zu schieben — stimmte noch weniger als Chruschtschows Politik selbst mit den Gedanken Libermans überein. Verschiedene Direktoren großer Betriebe drängten jetzt in der Moskauer Presse auf die Verwirklichung seiner Reformpläne, denn nur selbständige Betriebe könnten Initiative entfalten. Indes brach die „Iswestija" diese Diskussion schon im November 1964 plötzlich ab. Gleichwohl beschloß das Zentralkomitee im September 1965 eine neue Wirtschaftsreform, die sich anscheinend nicht mehr länger umgehen ließ.

Die Reform sollte eine straffere Planung von oben mit größerer Flexibilität unten kombinieren, verfolgte also den Zweck, „im Rahmen des zentralisierten (!) staatlichen Plans der Initiative jeder Belegschaft möglichst große Entfaltung zu sichern" In Wahrheit erhielt nur das Management einen größeren Spielraum. Das war der Kompromiß zwischen Stalins Superzentralismus und Chruschtschows dosiertem Regionalismus, zwischen Befehls-wirtschaft und betrieblicher Autonomie, vielleicht auch zwischen den Meinungen Breschnews und Kossygins. Die Volkswirtschaftsräte wurden wieder aufgelöst und die Betriebe branchenmäßig zusammengefaßt. Direktor Sobolew vom Gluchowskower Baumwollkombinat zeigte Anfang 1966 als ein Ergebnis auf, daß die Planungsbehörden 92 °/o aller Direktbestellungen seines Wirtschaftskomplexes für das erste Quartal des Jahres annulliert und durch altbekannte Auflagen ersetzt hatten. Ob dergleichen im Sinne der Partei lag, mag bezweifelt werden. Das Betriebsgesetz vom 20. Oktober 1965 gab den Direktoren selbständigere Rechte auf den Gebieten des Absatzes, des Lohns und der Gewinnverteilung. Es ist durchaus möglich, daß die staatliche Wirtschaftsbürokratie „ihre Felle wegschwimmen sah" und daher eine Sabotage der neuen Wirtschaftsreform versuchte.

Aber anstelle einer Kennziffer (Rentabilität) wurden den Betrieben acht diktiert. Von Libermans ursprünglichem Konzept blieb nicht mehr viel übrig. Sein Name verschwand allmählich aus der Presse. Bis August 1968 sind 25 000 Betriebe nach dem Branchen-statt nach dem Rentabilitätsprinzip umgestellt worden. Die neue Wirtschaftsreform hielt sich in noch engeren Grenzen als das „neue ökonomische System" der DDR. Doch der stellvertretende Ministerpräsident Baibakow mußte feststellen, daß Betriebsleiter, die gewohnt sind, nur nach Direktiven von oben zu arbeiten, ihre Rolle ausgespielt haben. Von Arbeiterräten war freilich überhaupt keine Rede mehr.

Die Disproportion von Industrie und Landwirtschaft blieb weiterhin ein ungelöstes Problem. Als Poljanskij (stellvertretender Ministerpräsident und Mitglied des Politbüros) am 14. Oktober 1967 vorschlug, den Vorrang der Schwerindustrie zugunsten einer gleichrangigen Entwicklung von Industrie und Landwirtschaft abzubauen, antwortete ihm Breschnew in einer Rede zum 50. Jahrestag der Oktoberrevolution, das Primat der Schwerindustrie sei nach wie vor nötig. Die alten, schon chronisch gewordenen Widersprüche der sowjetischen Wirklichkeit spielen immer neue Kräfte gegeneinander aus.

Verhältnis zu Osteuropa Sacharows Memorandum war auch gegen die Politik der Einflußsphären gerichtet. Es forderte eine Revision der Außenpolitik, die das Selbstbestimmungsrecht aller Völker achten solle.

Dem Buchstaben nach erkannte auch Breschnew dieses Recht an. Er suchte, das Verhältnis zu Osteuropa zu normalisieren. In einem Kommentar zur kommunistischen Konsultativkonferenz vom März 1965, der Rumänien fernblieb, wurde beschwichtigend versichert: „Jede Kommunistische Partei ist völlig unabhängig und selbständig. Nur sie kann Entscheidungen treffen, die für sie bindend sind." Im Mai des gleichen Jahres würdigte Breschnew die Aufstände in der Tschechoslowakei, in Bulgarien, Rumänien, Albanien und Jugoslawien gegen die deutsche Besatzung. Damit zog er die Behauptung zurück, daß die europäischen Volksdemokratien ihre Existenz allein der Sowjetunion verdanken. Der sowjetische Generalsekretär des Comecon, Fadejew, bestritt im Februar 1965 auf einer Pressekonferenz in Prag jede Absicht zur Bildung einer supranationalen kommunistischen Gesellschaft.

Aber die Koordinierung der Volkswirtschaftspläne und die Spezialisierung der Produktion wurden weiterbetrieben. Nur vorübergehend erkannte man die Prinzipien der Multilateralität und Bilateralität als gleichberechtigt an. Moskau pries die Vorzüge der sozialistischen Arbeitsteilung, die es ermöglicht habe, daß Bulgarien, Rumänien, Polen, Ungarn und die Mongolei ihren Agrarstatus überwinden konnten. So schob sich an die Stelle der militä-rischen Befreiungslegende — ohne Rote Armee keine Volksdemokratien -— die ökonomische: Ohne selbstlose Wirtschaftshilfe der Sowjetunion lägen viele Länder Osteuropas noch in den Fesseln der Agrargesellschaft. Man zog sogar das Beispiel der DDR heran, um die Comecon-Verflechtung schmackhaft zu machen: „Unter anderen ist der Spezialisierung und Kooperierung die hohe industrielle Wachstumsrate der DDR zuzuschreiben, die, obwohl sie nur ein Viertel des Territoriums Westdeutschlands umfaßt, heute das Volumen der Industrieproduktion ganz Deutschlands des Jahres 1936 erreicht hat."

Indes kam die Schaffung eines wirtschaftlichen Großraums kaum voran. Das Zentrum der hegemonialen Integration verlagerte sich aus dem Comecon in den Warschauer Pakt. Marschall Gretschko, der zweimal nach Bukarest flog (November 1964 und Mai 1965), sprach von einer „gemeinsamen Atomstreitmacht des War-schauer Paktes" Breschnew sagte, daß nunmehr die „Vervollkommnung der Warschauer-Pakt-Organisation auf der Tagesordnung" stünde. Aber Rumänien legte auch diesen Plänen Hindernisse in den Weg. Nach einer persönlichen Information, die Wolfe erhielt, hat Rumänien sich schon im Sommer 1965 geweigert, „Truppen für zusätzliche gemeinsame Aktivitäten außerhalb des Landes zu senden" Vielleicht hing der bulgarische Putschversuch vom April 1965, zu dessen Anführern General Anew gehörte, ebenfalls mit Breschnews militärischen Integrationsplänen zusammen.

Das Scheitern des Ausgleichs mit China Das Memorandum Sacharows verglich Stalin mit Hitler, aber auch Mao mit Stalin; es ging von ihrer engen Geistesverwandtschaft aus. Die offizielle sowjetische Kritik am heutigen China gilt dem Kreis um Sacharow als enthüllende Selbstkritik, die unbewußt auch die neuralgischen Punkte des politischen Systems der UdSSR aufdeckt.

Was die neue Kreml-Mannschaft betrifft, so bemühte sie sich sogleich um einen Brücken-schlag nach Peking. Sie stellte die öffentliche Polemik gegen den Maoismus ein und verschob die für den 15. Dezember 1964 vorgesehene kommunistische Weltkonferenz. Die chinesische Partei erhielt eine Einladung zu den Revolutionsfeiern in Moskau; Kossygin reiste nach Peking; Breschnews Ideologen distanzierten sich vom „Gulaschkommunismus" zugunsten des Primats der Ideologie und hoben die Verdienste Stalins wieder hervor. Der Begriff des Wettbewerbs der Systeme wurde mit der Formel von der Verschärfung des Klassenkampfes zwischen Sozialismus und Kapitalismus vertauscht. Ähnlich wie in China hieß es jetzt auch in der Sowjetunion, der Aufbau des Kommunismus werde nicht durch „Überfluß an materiellen Gütern, sondern durch kommunistische Gesellschaftsbeziehungen gelöst"

Das mußten verlockende Töne in den Ohren Maos sein, der Tschu En-lai mit Segenswünschen für die „heilige monolithische Einheit" des Weltkommunismus nach Moskau entsandte, wo er für die „schrittweise" Beilegung des Konflikts mit Moskau eintrat. Aber die beiden kommunistischen Großmächte folgten verschiedenartigen Methoden zur Bewältigung der osteuropäischen Revolution, die nicht mehr harmonisiert werden konnten; es standen sich die Methode der Kulturrevolution und die Methode der hegemonialen ökonomisch-militärischen Verflechtung gegenüber. Letzten Endes ist es wohl dieser Widerstreit gewesen, der die Annäherung wieder zerschlug. Der kurzfristig stillgelegte Konflikt steigerte sich sogar erst in der BreschnewÄra bis zum Exzess, obwohl die Stalinfrage als Streitpunkt fast vollständig wegfiel.

Die Moskauer Konsultativkonferenz vom 1. bis 5. März 1965 wurde durch Ausschreitungen von Studenten gegen die amerikanische Botschaft gestört, unter denen sich auffallend viele Chinesen und Vietnamesen befanden, die in der Sowjetunion studierten. Die Teilnahme von Chinesen und Vietnamesen an der Demonstration am 4. März war zweifellos wohlüberlegt; das gewaltsame Vorgehen der Moskauer Polizei lieferte neue Beweggründe für Peking, die vor allem nach der sowjetischen Protestdemonstration vor der chinesischen Botschaft dazu beitrugen, den Konflikt zu verschärfen. In einem Kommentar der chinesischen Parteiführung zur Konsultativkonferenz (bei der sieben eingeladene KP's fehlten) hieß es, die KPdSU gehe „weiterhin mit Chruschtschows Trödelkram hausieren" und schwinge erneut den Be-fehlsstab einer eingebildeten Vaterpartei. Peking erklärte, daß es die Polemik notfalls auch noch 10 000 Jahre fortführen wolle. Tirana hatte schon im Januar 1965 gesagt, die neue sowjetische Führung müsse „durch eine mutige Operation der revolutionären Kommunisten wie ein Geschwür entfernt werden"

Das war offenbar eine von Mao selbst vorgezeichnete Taktik, die zur Spaltung des russischen Kommunismus führen sollte. Im November 1966 berichtete Peking von einer aus 25 Arbeitern, Intellektuellen und Technikern zusammengesetzten sowjetischen Widerstandsgruppe, die sich den Sturz der „bürokratisch-kapitalistischen Klasse" zum Ziel gesetzt habe. Eine Note des chinesischen Außenministeriums forderte zur bewaffneten Erhebung in der Sowjetunion auf. Im Mai 1968 war wiederum von einer revolutionären Mao-Gruppe in Moskau die Rede.

China stachelte die Ukrainer gegen die Russifizierung auf und brachte in London unter dem Titel „Der russische Kolonialismus in der Ukraine" ein Buch heraus. In den russischen Sendungen von Radio Peking wurden die sowjetischen Hörer Sibiriens und des Fernen Ostens als „Bürger der zeitweilig besetzten Gebiete" angesprochen.

Die Sowjetunion protestierte ihrerseits gegen die Unterdrückung der nationalen Minderheiten in China (und brachte damit die Frage der chinesischen Nationalitätenpolitik ins Spiel). Die Tibetaner habe man auseinander gerissen (aber was war mit den sowjetischen Turkestanern geschehen?). Unter die aufgeputschten Roten Garden werde das Gift des Antiintellektualismus gestreut; die „Verfolgung von Intellektuellen" sei schon „immer ein Merkmal kleinbürgerlicher Entartung gewesen. Breschnew reiste persönlich bis nach Wladiwostok, wo die dort lebenden Chinesen das Stadtgebiet verlassen mußten.

Mao ließ die sowjetische Botschaft in Peking belagern, so daß osteuropäische Diplomaten das Botschaftspersonal durch die Hintertür mit Lebensmitteln versorgen mußten. Obwohl sowjetische Staatsbürger, die zum Flugplatz wollten, tätlich belästigt wurden, kam es nicht zum erwarteten Abbruch der diplomatischen Beziehungen. China und die Sowjetunion be-schuldigten sich gegenseitig des Übergangs zum Faschismus.

Die neue Moskauer Führung schrieb China aber nicht ab, sondern bezeichnete den Maoismus als eine vorübergehende Etappe der Entwicklung. Laut Breschnew kämpfen „die besten Söhne der Kommunistischen Partei Chinas, die fortschrittlichen Kräfte des chinesischen Volkes um die Erhaltung der Errungenschaften des Sozialismus" Er forderte die chinesischen Kommunisten auf, keine andere Generallinie als die vom VIII. Parteitag der KPCh (1956) ausgearbeitete anzuerkennen, das heißt, Mao Tse-tung den Gehorsam zu verweigern und ihn abzusetzen. In Maos Augen führte Breschnew die von Chruschtschow eingeleitete kapitalistische Restauration der Sowjetunion fort, wenn auch etwas geschickter.

Die Wendung zum offenen Marxismus (Westkommunismus)

Für die Kommunistischen Parteien des Westens war Chruschtschows Absetzung eine, böse Überraschung, denn die von ihm eingeräumte Möglichkeit eines parlamentarischen Weges zum Sozialismus hatte ihre Handlungsfreiheit erweitert. Ein führender Funktionär der Kommunistischen Partei Italiens hatte die Konsequenz gezogen, daß die Leninsche Staatstheorie überholt sei Der österreichische Parteiideologe Marek erklärte erleichtert, daß die Konzeption des bewaffneten Aufstands ohnehin den Verhältnissen Westeuropas widerspreche: „Ihre Propagierung würde die Kommunistischen Parteien dort, wo sie klein sind, zu lächerlichen, dort wo sie groß sind, zu abenteuerlichen Sekten machen." Der Chruschtschowismus führte in bedeutenden Teilen des Westkommunismus zur Preisgabe der antiparlamentarischen Haltung. Seine Revision konnte viele der Kommunistischen Parteien erneut in die Isolierung treiben.

Auch die Staatsstreichmethode, deren Opfer Chruschtschow wurde, löste in den westlichen KP-Zentralen Unbehagen aus, stach sie doch scharf von dem reibungslosen Regierungswechsel in Großbritannien ab. Außerdem konnten die westlichen Kommunisten am wenigsten der offiziellen Moskauer Verlautbarung glauben, daß Chruschtschow „im Hin-blick auf sein hohes Alter und die Verschlechterung seines Gesundheitszustands" selbst um seine Ablösung gebeten hätte. Zahlreiche Kommunistische Parteien entsandten Delegationen nach Moskau, um Auskunft und Rechenschaft zu verlangen. Beleidigt, daß man Chruschtschow über ihren Kopf hinweg abgesetzt hatte, meldeten sie ein indirektes Mitspracherecht in Fragen des internationalen Kommunismus an. Der Autoritätsverlust der KPdSU trat damit deutlich zutage.

Während Breschnew mit der Entchruschtschowisierung begann, führten mehrere westliche KP's die Entstalinisierung weiter. Die Kommunistische Partei Italiens verabschiedete eine Grundsatzerklärung, die sich für „eine Pluralität von politischen Kräften (und) für eine freie Konfrontation der Ideen" aussprach. In der Zeitschrift der österreichischen KP wurde empfohlen: „Wir müssen uns zum Respekt der parlamentarischen Traditionen, des Mehrparteiensystems, der Möglichkeit von organisierten Oppositionen und zur Möglichkeit bekennen, eine Regierung entsprechend dem Willen des Volkes durch eine andere zu ersetzen" Auch die Kommunistische Partei Schwedens legte ein Bekenntnis zum Mehrparteiensystem ab; auf ihrem XXL Kongreß im November 1967 sprach sie sich für eine sozialistische Gesellschaft schwedischen Typs, gegen die Zensur der Kunst, für eine Arbeiterselbstverwaltung in den Betrieben, gegen das monolithische Parteiprinzip Stalins und für die Verankerung des Parlamentarismus in der Verfassung aus Den XVIII. Parteitag der französischen Kommunisten im Januar 1967 umrahmte eine Ausstellung moderner Kunst, in der unter anderem Bilder des in Moskau noch immer verfemten Picasso ausgestellt waren. In der finnischen KP brachte die Opposition ihren Kandidaten Salomaa auf dem Posten des stellvertretenden Parteivorsitzenden durch.

Auf schwere Bedenken stieß der Moskauer Prozeß gegen die Schriftsteller Sinjawskij und Daniel. Der französische Kommunist Aragon schrieb: „Es ist zu befürchten, daß dadurch die Vorstellung aufkommt, ein solches Verfahren sei der Natur des Kommunismus eigentümlich." Die Zeitung der italienischen

Kommunisten sprach von einer Entartung, die der dänischen KP von einem unbegreiflichen Urteil. Am entschiedendsten distanzierte sich der schwedische Parteichef Hermansson. Der österreichische Kommunist Ernst Fischer unterschrieb gemeinsam mit Ernst Bloch, Herbert Marcuse und anderen Intellektuellen eine Protesterklärung; er rief zur Vereinigung der kritischen Intellektuellen aller Länder gegen die Bürokratie und Technokratie auf.

Zwei hohe Funktionäre der italienischen Partei, Amendola und Radice, machten in aller Welt von sich reden. Amendola als rechter Flügelmann des italienischen Kommunismus trat für die Wiedervereinigung der Kommunisten, Sozialisten und Sozialdemokraten seines Landes im Rahmen einer neuen Partei ein, die ideologisch offen sein sollte: „Weder die sozialdemokratische noch die kommunistische Lösung hat sich bisher als fähig erwiesen, eine sozialistische Umformung'der Gesellschaft, eine Änderung des Systems herbeizuführen. . . Eine politische Organisation, die ihre Ziele in fünfzig Jahren mit wenigstens drei Generationen von Aktivisten nicht zu erreichen vermochte, muß nach den Gründen dieses Mißerfolgs suchen und sich zu verwandeln verstehen." Das italienische Zentralkomitee konnte sich zwar nur für eine Verschmelzung mit den Sozialisten Nennis und nicht mit den Sozialdemokraten Saragats erwärmen, nahm aber in seine Grundsatzerklärung vom Juni 1965 den Passus auf, daß der Eintritt in die Kommunistische Partei in Zukunft „unabhängig von philosophischen und religiösen Überzeugungen" ist.

Zur Begründung sagte Professor Radice im westdeutschen Fernsehen, die KPI sei keine philosophische, sondern eine politische Partei, weshalb man den Marxismus als Philosophie von der Politik trennen müsse. Er benutzte hierbei den Begriff des offenen Marxismus, der eigentlich aus dem jugoslawischen Kreis der demokratischen Kommunisten stammt. Offener oder geöffneter Marxismus bedeutet, daß sich auf dem Boden der Kommunistischen Partei Vertreter verschiedener Weltanschauungen vereinigen können, womit es zu einer innerparteilichen Koexistenz der Ideen käme. Die Praktizierung dieses neuen Grundsatzes wäre von unermeßlicher Bedeutung. Sie würde die kommunistische Bewegung strukturell verändern. Zum Vergleich sei an einen analogen Vorgang in der Sozialdemokratie erinnert. Kurt Schumacher prägte 1946 den Satz, daß man nicht mehr nur über die ökonomische Lehre von Marx, sondern auch durch eine rationale Philosophie oder aus dem Geist der Berg-predigt zur SPD kommen könne. Er wollte seine Partei aus einer Arbeiter-zu einer Volkspartei machen und sie auf diesem Wege vom Ballast des Marxismus befreien. Schumachers Formel von 1946 war der Ausgangspunkt des Godesberger Programms von 1959. Viele Sozialdemokraten scheuten vor dem „ungeheuren Wagnis" der Entthronung von Marx zurück; sie fürchteten um die Einheit und den Bestand ihrer Partei.

Auch dieses Wagnis scheinen die Kommunisten wiederholen zu müssen, nachdem sie schon gezwungen waren, gewisse Erkenntnisse von Bernstein zu akzeptieren. Die anhebende Wandlung zu einem offenen Marxismus wurde aber erst politisch relevant, als es zur Ablösung des Novotny-Regimes in der ÖSSR kam. Mehr als ein Dutzend westliche Kommunistische Parteien begrüßten enthusiastisch den Amtsantritt Dubceks. Dubceks Politik verlieh den Kommunisten einer ganzen Reihe demokratischer Länder beträchtlichen Auftrieb. Endlich schien der Beweis erbracht, daß Kommunismus und Freiheit nicht mehr unvereinbar sind.

Aber in Spanien, Italien, Schweden und Österreich sprossen neue Mao-Parteien. Ihrem Argument, daß nach Chruschtschow auch alle KP-Führer abtreten müßten, die auf ihn ein-geschworen waren, haftete eine verführerische Logik an, die der österreichische Maoist Strobl nicht ohne Eleganz zu formulieren wußte: „Rastlos haben diese Verschworenen Chruschtschows jedes Abenteuer, jede Dummheit und jeden Verrat ihres Meisters beklatscht, haben ihn sklavisch kopiert, ihn zum klügsten und besten Kommunisten aller Zeiten aufzublasen versucht und einen Kult mit ihm getrieben, der keinen Widerspruch duldete. . . . Sie haben sich lange genug gedreht und gewendet. Weder eine Führung durch Papageien noch eine durch Wetterfahnen kann sich eine Kommunistische Partei gefallen lassen. Chruschtschow ist verjagt, seine Statthalter müssen folgen." In Belgien und Österreich stellten die Gefolgsleute Pekings bei den Wahlen eigene Kandidaten auf. Prochinesisehe Gruppen oder Fraktionen gab es jetzt in fast allen Kommunistischen Parteien des Westens. Indem die Maoisten Meinungsfreiheit verlangten, förderten sie die Demokratisierung des Kommunismus; indem sie auf dem Recht der Minderheit gegen die Mehrheit bestanden, propagierten sie einen Grundsatz, der in China selbst keine Anwendung fand.

Die ursprüngliche Mao-Partei der Schweiz, inzwischen durch eine andere ersetzt, ging allerdings 1965 zu Castro über. Sie rief zur Bildung einer revolutionären Internationale auf. Diese Keimzelle eines europäischen Fidelismus knüpfte Verbindungen mit Gleichgesinnten in Belgien, Frankreich und in der Bundesrepublik an. Darauf etablierte sich in Vevey (Schweiz) ein Generalsekretariat der neuen (fidelistischen) Internationale. Der Westkommunismus stand der Gefahr einer weiteren Zersplitterung gegenüber. Das Zentralorgan der französischen Kommunisten nahm die Herausforderung an, bezeichnete verschiedene Sprecher fidelistischer Gruppen in Lateinamerika als „Antikommunisten" und unterstellte ihnen Pekinger Thesen. Castro schlug ironisch zurück: „Das ist großartig. Sie haben im eigenen Land keine Revolution zustande gebracht und wollen uns jetzt belehren, wie man es machen muß." Auf seine Art bekannte sich auch Castro zu einem offenen Marxismus: „Wir sind nicht mehr bereit, irgendwelche offenbarte Wahrheiten zu akzeptieren. Offenbarte Wahrheiten sind der bürgerlichen Philosophie vorbehalten. Dazu gehört eine Reihe alter Klischees, die man über Bord werfen sollte. Die ganze marxistische Literatur, die ganze revolutionäre politische Literatur muß verjüngt werden, denn durch das Wiederkäuen von Klischees, Sentenzen und Schlagworten, die seit 25 Jahren wiederholt worden sind, ist nichts zu erobern, ist nichts zu gewinnen."

Man beachte die prinzipielle Übereinstimmung mit Amendola. Der linke und der rechte Kommunist sind von entgegengesetzten Standorten her bezüglich des Marxismus zu den gleichen Schlüssen gekommen. Aber die Fidelisten deuten ihn einfach als Aufruf zur revolutionären Aktion. Es gelang ihnen auf der ersten lateinamerikanischen Solidaritätskonferenz im August 1967, eine kontinentale Organisation mit einem Kubaner als Generalsekretär ins Le-ben zu rufen, die Linkssozialisten und Links-peronisten einschließt. Diese Konferenz wählte Guevara zum Ehrenpräsidenten, distanzierte sich von Moskau und Peking, erklärte die Pflicht zur Revolution und nahm die Prinzipien des Fidelismus an: Guerillakrieg, Vereinigung des militärischen und politischen Oberbefehls, Verlegung der politischen Kader aus den Städten in die Berge, bedingungslose Unterstützung Kubas, vereinigte Aktionen für eine lateinamerikanische Revolution.

Damit war Havanna zu einem weiteren Zentrum des Kommunismus geworden, das sich als fähig erwies, einen Teil der europäischen Jugend anzusprechen, nämlich jenen Teil, der mit sozialistischen Ideen sympathisierte, aber weder mit der Sozialdemokratie noch mit dem traditionellen Kommunismus etwas zu tun haben wollte. Castro und Guevara, die selbst einmal Studentenführer waren, wurden zu Bindegliedern zwischen dem Kommunismus und der Studentenbewegung. In der französischen Mai-Revolution 1968 gehörten die jungen Fidelisten zu den Sturmtrupps der von Cohn-Bendit gegründeten „Bewegung des 22. März". Sie umfaßte auch Maoisten, Trotzkisten und Anarchisten, deren revolutionärer Elan zahlreiche Jungkommunisten und ganze KP-Zellen mitriß. Um der „Bewegung des 22. März" entgegenzutreten, verwandelte sich die Kommunistische Partei in einen staatserhaltenden Ordnungsfaktor. Es gelang ihr, wie eine große Zeitung der Bundesrepublik feststellen konnte, „die zum politischen Aufstand von Millionen Streikender gewordene Herausforderung des gaullistischen Systems auf eine freilich gewaltige Sozialbewegung zu reduzieren" Waldeck Röchet als Retter de Gaulles! Wer hätte solche Folgen des inneren Zerwürfnisses der Kommunisten für möglich gehalten, die von Osteuropa ausgehend die Kommunistischen Parteien der ganzen Welt beeinflußten. Auch der Fidelismus wurde zu einem insgeheimen Bundesgenossen der osteuropäischen Revolution, obwohl er ganz andere Ziele als diese verfolgt. Sogar in Belgrad führten die jugoslawischen Studenten, als sie Pfingsten 1968 gegen die „rote Bourgeoisie" demonstrierten, ein Porträt Che Guevaras mit. Milovan Djilas nannte die Belgrader Studentenunruhen vom 2. Juni 1968 „das erste bewußte und organisierte Auftreten der Massen im heutigen Jugoslawien" es habe die Uber-

Zeugung bestärkt, daß Denkfreiheit und eine gerechtere Gesellschaft erkämpft werden könnten.

Für eine Reform des Warschauer Paktes (Rumänien)

Die personellen Umbesetzungen im Kreml brachten eine Entspannung im Konflikt zwischen Moskau und Bukarest. Sie hielt jedoch nur wenige Monate an. . Schuld'daran war Karl Marx. Die rumänische Partei hatte im Juli 1964, als eine militärische Intervention der UdSSR drohte, einen ihrer Professoren zum Amsterdamer Institut für Sozialgeschichte geschickt, er Marxschen Handschriften wo die durchsah. Hierbei fand sich (wie zufällig) ein bislang (gewiß nicht zufällig) unveröffentlichtes Manuskript über die Besetzung Bessarabiens durch zaristische Truppen im Jahre 1806. Diese 1812 Rußland angegliederte rumänische Provinz kam zwar 1920 zum Mutterland zurück, wurde aber im Juni 1940 — wie die Nordbukowina — erneut besetzt und der Sowjetunion einverleibt.

Für Breschnew mußte die Veröffentlichung der Marxschen Handschrift durch den rumänischen Staatsverlag im Dezember 1964 um so peinlicher sein, als er selbst die Russifizierung Bessarabiens durchgeführt hatte. Von Stalin 1950 zum Ersten Sekretär der Kommunistischen Partei Moldavaniens gemacht, zwang er den Rumänen in seinem Herrschaftsgebiet das kyrillische Alphabet auf. Nach diesem Vorbild wurde 1954 auch in Rumänien selbst eine Orthographiereform eingeleitet. Bukarest rächte sich nun für die in keinem anderen Land soweit getriebene Bolschewisierung, die bis zur Russifizierung der Sprache führte, indem es eine Landkarte veröffentlichte, in der alle russischen Ortsnamen Bessarabiens wieder durch rumänische ersetzt worden waren. Wie betroffen Moskau über die Veröffentlichung des Manuskriptes von Marx war, ging daraus hervor, daß es mit einer Umsiedlung der Moldauer Rumänen in andere Gebiete der Sowjetunion begann. Schon im Januar 1965 erschienen dreimal hintereinander Aufrufe eines „Generaldirektoriums für die Anwerbung und Umsiedlung von Arbeitern", die auf eine freiwillige Binnenwanderung (anscheinend nach Kasachstan) drängten, wobei, wie es heißt, junge und noch nationalbewußte Bessarabier besonders unter Druck gesetzt worden sind In Rumänien trat Ceausescu am 22. März 1965 die Nachfolge des drei Tage zuvor verstorbenen Georghiu-Dej an. Er setzte die Politik der Nadelstiche in der Gebietsfrage fort. Der neue Parteichef konnte einen Brief von Friedrich Engels vorlegen, der 1888 geschrieben hatte, daß „Bessarabien zweimal annektiert und Rumänien unzählige Male (von Rußland) überfallen wurde, als wäre das Land nichts anderes als ein Korridor für die Russen auf ihrem Weg zum Bosporus" Ceausescu erwähnte diesen Brief vor dem IV. Kongreß seiner Partei im Juli 1965; er forderte zwar die Delegierten auf, den vollen Wortlaut zu studieren, war aber so diplomatisch, nur ein Lob der rumänischen Sozialisten durch Engels zu zitieren. Kurz nach einem Besuch Breschnews im Mai 1966 reiste der rumänische Parteichef vier Tage in den Osten seines Landes, wo er daran erinnerte, daß die Bukowiner einen wertvollen Beitrag zur Schaffung des rumänischen Nationalstaats geleistet hätten, und wo er in einem Museum empfahl, alle Beweisstücke über das Verhalten der Großmächte gegen das kleine Rumänien sorgsam aufzubewahren. Ceausescu verlangte zwar keine Grenzrevision, ließ aber erkennen, daß Bessarabien und die Nordbukowina nicht vergessen sind. Im Gegensatz zu früheren Beschönigungen schrieb die theoretische Zeitschrift der rumänischen Kommunisten jetzt unverblümt:

„Am 28. Juni 1940 gingen infolge der von der rumänischen Regierung angenommenen ultimativen Forderung der Sowjetregierung Bessarabien und die Nordbukowina in dem Staats-verband der UdSSR auf."

Während Breschnew im Sommer 1965 das Grab der Kommunistischen Internationale mit frischen Blumen schmückte und ihre Verdienste hervorheben ließ, deckte Ceausescu im Mai 1966 die Schattenseiten der Komintern auf. Sie habe schon die Zusammensetzung des ersten rumänischen Zentralkomitees zu bestimmen versucht und laufend Direktiven erteilt, die von erschütternder Unkenntnis der nationalen Verhältnisse zeugten. Die rumänische Partei wurde sogar angewiesen, für die Lostrennung einiger Gebiete von Rumänien einzutreten. Man setzte ungarische und bulgarische Generalsekretäre über sie ein. 1940 wurde der Partei befohlen, auf die Verteidigung der nationalen Unabhängigkeit zu verzichten, wodurch man „das faschistische Deutschland willkürlich an die Seite der

Sowjetunion stellte" Dies alles ungeachtet dessen, daß die Fremdherrschaft über die Walachei, die Moldau und Transsylvanien Rumänien um mehr als ein Jahrhundert hinter anderen Ländern zurückbleiben ließ. Ähnlich wie Mao Tse-tung bewies auch Ceausescu, daß die Übernahme ausländischer Thesen unermeßlichen Schaden brachte; sie habe den rumänischen Kommunismus 1929 bis an den Rand der Auflösung getrieben und 1940 abermals große Verwirrung in ihm geschaffen. Deshalb müsse man jedem Versuch zur Gründung einer neuen Internationale Widerstand leisten. Schon die Neuauflage in Gestalt des Kominform habe lediglich zu der Anmaßung geführt, diese oder jene Partei aus der Kommunistischen Bewegung auszuschließen — hier spielte Ceausescu ganz unmißverständlich auf den Konflikt Moskau-Belgrad an. Die Gepflogenheit, jede neue Meinung als Abweichung zu stempeln, sei unzulässig; sie hemme auch den schöpferischen Marxismus und das Voranschreiten der Arbeiterbewegung.

Auf dem Parteitag von 1965 wurde die errungene nationale Autonomie durch eine organisatorische Entbolschewisierung verankert. Die rumänische Partei schuf als neue Institution das (zwischen dem Präsidium und dem Zentralkomitee stehende) Exekutivkomitee. Außerdem beschloß sie die Trennung der hohen Partei-und Staatsfunktionen. Hierbei blieb es freilich nicht. Ende 1967 ließ sich Ceausescu auch zum Staatspräsidenten wählen, und das Zentralkomitee machte die Personalunion von maßgeblichen Partei-und Staatsämtern sogar zu einem Prinzip. Aber selbst in dieser Regelung könnte man ein Zeichen nationaler Eigenwilligkeit sehen.

In der neuen rumänischen Verfassung wird (sicher in Erinnerung an den berüchtigten Walew-Plan) die Unteilbarkeit und Unveräußerlichkeit des Territoriums betont. Neu sind auch die Einführung des Appellationsrechts im Fall staatlicher Übergriffe und die Habeas-corpus-Klausel, daß niemand länger als 24 Stunden ohne Haftbefehl festgehalten werden darf. An diesen Bestimmungen läßt sich der Einfluß der osteuropäischen Reformbewegung erkennen.

Die stärkere Fixierung der Bürgerrechte blieb nicht ohne Folgen. Ceausescu toleriert eine „Vielfalt der Stilarten in der Kunst" und Literatur. Intellektuelle dürfen öfter zu Tagungen ins Ausland reisen, die Störung westlicher Rundfunksender ist eingestellt worden, Rumänien öffnete sich der modernen Kunst. Das neue Wahlrecht sieht in jedem Wahlkreis die Aufstellung mehrerer Kandidaten vor. Ende 1967 kritisierte Ceausescu das Einmann-Management in den Betrieben, und im April 1968 wurde die Bildung von Verwaltungskomitees beschlossen. Das ist zwar keine Arbeiterselbstverwaltung wie in Jugoslawien, denn den Verwaltungskomitees gehören nur wenige von der Belegschaft gewählte Mitglieder an, aber auch kein System der Staats-direktoren mehr, wie es von der Sowjetunion übernommen worden war.

Einige dieser Reformen wurden anscheinend erst durch die Zurückdrängung des Staatssicherheitsdienstes ermöglicht. Im Mai 1967 wandte sich Ceausescu plötzlich gegen Funktionäre, die Partei-und Staatsgeheimnisse verraten hatten. Er warf die Frage auf, „ob es einem Parteimitglied gestattet ist, ohne das Einverständnis der Leitung und indem es sich über sie hinwegsetzt, Verbindungen mit Vertretern einer anderen Partei aufzunehmen" Der Generalsekretär erinnerte an die Fraktionskämpfe der Vergangenheit und an das Recht jeder Partei, ihre politische Linie selbst zu bestimmen. Wer auch immer über die Leitung des Zentralkomitees hinweg Beziehungen zu ihren Mitgliedern anknüpfe und diese zu Aktionen gegen die eigene Partei veranlasse, mache sich einer groben Einmischung schuldig. Damit konnte sowohl Moskau als auch Peking gemeint sein. Da sich Ceausescu aber wiederum gegen Versuche aussprach, die Tätigkeit der Kommunistischen Parteien zu koordinieren und noch im gleichen Jahr die Sowjetunion des wirtschaftlichen Drucks auf Rumänien beschuldigte, dürfte eher die KPdSU gemeint gewesen sein.

Ceausescu kritisierte auch das Parteiaktiv des Innenministeriums, das in der Vergangenheit „einige Übergriffe verübt und die sozialistische Legalität verletzt" habe, was lange Zeit bagatellisiert worden sei. Jetzt wurde enthüllt, daß es in der Stalinzeit selbst für die Parteiführung kaum möglich war, den Staatssicherheitsdienst zu kontrollieren, der vielmehr auch sie selbst überprüfte. Das (sowjetisch kontrollierte) Innenministerium mischte sich selbstherrlich in das innere Leben der Partei ein. Es wurde zu einem Staate im Staat. Aus den Andeutungen Ceausescus ließ sich entnehmen, daß einige Funktionäre des Staatssicherheitsdienstes im Einvernehmen mit der KPdSU nunmehr gegen ihn konspirierten.

Man beachte den analogen jugoslawischen Fall; offenbar hat Breschnew über die Restbestände des sowjetischen Einflusses im rumänischen und jugoslawischen Innenministerium sowohl in Rumänien als auch in Jugoslawien eine Umbesetzung der Parteispitze angestrebt. Ceausescu sprach von einer „Aktion zur Sprengung der Einheit (seiner) Partei" Die Geheimpolizei wurde personell reduziert und einem Staatssicherheitsrat unterstellt. Parteimitglieder dürfen ohne vorherige Konsultation der Parteiorgane nicht mehr verhaftet werden.

Im April 1968 folgte die Rehabilitierung der nationalkommunistischen Gruppe um den ehemaligen Justizminister Patrascanu. Er war 1948 verhaftet und 1954 hingerichtet worden, obwohl keinerlei Beweise für die erhobenen Anschuldigungen gefunden werden konnten. Da Stalin zu diesem Zeitpunkt schon tot war, mußte die Erschießung Patrascanus (und Koflers) von der rumänischen Parteiführung selbst befohlen worden sein. Als Hauptverantwortlicher wurde der angebliche Nationalkommunist und wirkliche Nationalstalinist Georghiu-Dej festgestellt. Eine Sonderkommission hatte ergründet, daß er „— in jener Zeit Erster Sekretär des Zentralkomitees der Rumänischen Arbeiterpartei — im Gegensatz zu den Partei-normen in den Gang der Untersuchung eingegriffen, Anweisungen für deren Ablauf gegeben, die Vernehmungsprotokolle mit richtung-gebenden Randbemerkungen versehen und angewiesen hat, welche Art von Geständnissen (!) von dem einen oder anderen der Verhörten zu erzielen seien und wer noch verhaftet werden soll" Patrascanus Gebeine wurden beim Denkmal der Helden des Kampfes für die Freiheit des Volkes beigesetzt. Die gegen ihn erhobenen Beschuldigungen hatten sich als grobe Fälschungen erwiesen. Der Justizminister war sogar gefoltert worden, damit er nicht begangene Verbrechen eingestand. Man stellte fest, daß Georghiu-Dej auch für die Tötung des Generalsekretärs der Partei, Stefan Foris (im Sommer 1946), verantwortlich war. Ceausescu ließ ferner Miron Constantinescu rehabilitieren, der im Juni 1957 wegen seines Eintretens für eine echte Entstalinisierung aus dem Zentralkomitee ausscheiden mußte. Das rumänische Volk erfuhr nun auch, daß in den Jahren von 1936 bis 1938 nicht weniger als 19 rumänische Parteifunktionäre in der Sowjetunion den Tod gefunden hatten. Nur einige von ihnen waren bereits durch Gerichte der UdSSR rehabilitiert worden.

Dies mußte vorausgeschickt werden, um den Hintergrund für den Beschluß vom April 1968 deutlich zu machen, durch den der stellvertretende Ministerpräsident Draghici abgesetzt und aller Parteifunktionen enthoben wurde. Wer die internen Gepflogenheiten der Kommunistischen Parteien kennt, dem ist ohne weiteres klar, daß der Grund nicht in der Mitschuld Draghicis am Tode Patrascanus zu suchen ist, denn sonst hätten alle Mitglieder der Parteiführung aus den Jahren 1948 bis 1954 abtreten müssen. Vielmehr war er höchstwahrscheinlich jener Mann, der die prosowjetische Fraktion gegen Ceausescu führte, die Parteieinheit gefährdete und Moskau mit Informationen versorgte. Da Draghici den höchsten Parteigremien angehörte — Zentralkomitee, Präsidium und Exekutivkomitee —, wußte er über alle Partei-und Staatsgeheimnisse Bescheid. Die Rehabilitierung bestimmter Opfer Stalins und Georghiu-Dejs war nur die Kehrseite der Entmachtung des Mannes, der von Moskau als potentieller Nachfolger Ceausescus aufgebaut wurde. Andernfalls fiele es schwer zu erklären, warum die Ermordung einer ganzen Reihe von Funktionären erst 1968 öffentlich bekannt gegeben wurde, obwohl man schon lange von ihr wußte.

Erst mit Ceausescu trat Rumänien in die Periode des Nationalkommunismus ein, für die Georghiu-Dej nur einige Voraussetzungen ge•schaffen hatte. Ein Nationalkommunismus ohne Rehabilitierung der getöteten Nationalkommunisten ist ebenso undenkbar wie der Verzicht auf einen . eigenen Weg'zum Kommunismus, der sich nicht in außenpolitischen Deklarationen erschöpft, sondern bestimmte Modifizierungen oder Umgestaltungen des politischen Systems mit sich bringt. Rumäniens eigener Weg begann mit der organisatorischen Entbolschewisierung und den betrieblichen Verwaltungskomitees. Ceausescu entwickelte auch die Theorie des Nationalkommunismus, indem er ihn vom Nationalismus als „Ideologie der Unterdrückung anderer Völker" unterschied und seine allgemeine Bedeutung als neue Daseinsform des Kommunismus hervorhob, der nicht abstrakt existiert, sondern „vom Lebens-saft der nationalen Wirklichkeiten genährt"

wird. Für den rumänischen Generalsekretär stellt die Nation nach wie vor eine Triebkraft der historischen Entwicklung dar, was natürlich der marxistischen Klassenkampfthese zuwiderläuft. Ceausescus Theorie entpuppte sich . als eine Mischung von Chruschtschowismus und Titoismus: Chruschtschowistisch ist sein Einspruch gegen ein Nebeneinander verschiedener Weltanschauungen und seine Behauptung von der ständig steigenden Rolle der Partei, titoistisch ist seine Tendenz zur Selbstverwaltung und seine Deutung der Koexistenz im Sinne einer Weltbefriedigung durch Blockfreiheit.

Der letzte Aspekt erlangte ganz besondere Bedeutung. Im Mai 1967 sagte der rumänische Parteichef: „Eine der Hürden der Zusammenarbeit zwischen den Völkern bilden die Militärblöcke, das Bestehen von Militärstützpunkten und die Stationierung der Streitkräfte einiger Staaten auf den Territorien anderer Staaten. Das Bestehen der Blöcke und die Entsendung von Truppen in andere Länder sind ein Anachronismus, der mit der nationalen Unabhängigkeit und Souveränität der Völker, mit normalen zwischenstaatlichen Beziehungen unvereinbar ist." Schon zwei Wochen später wurde bekannt, daß Rumänien eine Reform des Warschauer Paktes vorgeschlagen hatte. In einem Rundschreiben, das die Moskauer Botschafter aller komunistischen Länder erhielten, soll „Einstimmigkeit beim Einsatz von Nuklearwaffen, größere Mitsprache der Mitgliedstaaten bei der taktischen und strategischen Planung, Rotation des Oberkommandos (und) Stationierung sowjetischer Truppen in fremden Ländern einzig auf Grund zweiseitiger Abkommen" verlangt worden sein. Zum letzten Punkt hat es geheißen, daß Regierungen (wie die DDR), welche die Anwesenheit sowjetischer Truppen auf ihrem Territorium wünschen, auch selbst die Stationierungskosten tragen müßten, statt andere Länder (wie Rumänien) mitzubelasten. Der Vorschlag, das aus Jugoslawien stammende Rotationssystem vom politischen auf den militärischen Bereich zu übertragen, richtete sich unzweideutig gegen einen ständigen sowjetischen Oberbefehl über den Warschauer Pakt. Die Einzelheiten der rumänischen Reform-wünsche vom Mai 1966 sind durch gezielte indiskrete Informationen rumänischer Diplomaten bekanntgeworden. Aber die Richtung der Bukarester Militärpolitik wurde schon Ende 1964 klar. Während die UdSSR ihr Militärbudget erhöhte, setzte Rumänien die Dienstzeit in der Armee von 24 auf 16 Monate herab. Der rumänische Außenminister Manescu zweifelte in der UNO die Berechtigung der Beistandspakte angesichts wachsender Koexistenz an. Für Rumänien macht die Beendigung des Kalten Krieges auch den Abbau seiner Institutionen nötig, weil er sonst latent in ihnen überlebt und jederzeit wieder aufflackern kann. In den Augen Ceausescus sind der War-schauer Pakt und die NATO hegemoniale Organisationen im Interesse der beiden Weltmächte, die eine Reihe kleiner Staaten im Schatten ihres Atomschilds der vollen Souveränität berauben. Er glaubt jedoch, daß ein neues Moment der Weltpolitik in der „immer intensiveren Beteiligung der kleinen und mittleren Länder an der Lösung der Fragen des internationalen Lebens" besteht, weshalb das Schicksal der Menschheit nicht mehr ausschließlich in den Händen der großen Mächte liege. Diese Auffassung fand eine gewisse Resonanz auch in Bulgarien und Ungarn. Der bulgarische Außenminister Baschew hat ebenfalls ernsthafte Reformen des Warschauer Paktes für möglich erachtet, und der ungarische Ministerpräsident Kallei sprach sich für den „Abzug der Armeen hinter die nationalen Grenzen" aus. Diese weitgehend synchronen Äußerungen lassen vermuten, daß Rumänien bei der Diskussion seiner Reformwünsche in den Gremien des Warschauer Paktes nicht ganz allein stand.

Noch alarmierender für Moskau war das sich 1968 anbahnende Dreieck Belgrad-Bukarest-Prag. Es entstand aus dem Versuch, die Tschechoslowakei gegen einen sowjetische Intervention abzuschirmen. Weder Tito noch Ceausescu dürften mit Dubcek völlig übereingestimmt haben — sie sind ja Hüter des Parteimonopols, während in der SSR auch die Parteilosen informelle Organisationen bilden konnten -—, aber es mußte ihnen sehr daran gelegen sein, einen kommunistischen Industriestaat als Verbündeten gegen den sowjetischen Hegemonieanspruch zu gewinnen.

Nach Ceausescu ist ein sozialistisches Welt-system, , das ausnahmslos alle kommunistischen Staaten und Parteien umfaßt, nur auf der Grundlage ihrer Autonomie und beim Fehlen irgendwelcher Führungszentren möglich. Sein neutralistisches Konzept — so nationalistisch es wirkt — wäre vielleicht noch am ehesten geeignet, die Gegensätze zwischen den kommunistischen Staaten und Parteien zu relativieren.

Rumänien hat seine Autonomie durch das Fernbleiben von der Karlsbader Europakonferenz der Kommunistischen Parteien (April 1967), durch die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der Bundesrepublik (Februar 1968) und durch das Verlassen der Budapester Vorkonferenz (März 1968) demonstriert. Innenpolitisch war aber nach Beginn der tschechoslowakischen Reformen wieder eine gewisse Straffung der Zügel zu verzeichnen, da sich rumänische Philosophen, durch die Diskussionsfreiheit in Prag ermutigt, für einen Pluralismus der Ideen und philosophischen Systeme ausgesprochen hatten

Bulgariens zweiter Putsch Das überraschendste Ereignis des Jahres 1965 war ein zweiter Staatsstreichversuch national-gesinnter Kommunisten, die ihr Land aus einem Satelliten zu einem gleichberechtigten Partner der Sowjetunion machen wollten. Wiederum beteiligten sich hohe Militärs, so daß man im Westen vielfach von einem „GeneralsPutsch" sprach. Zwei Generäle, Dikoff und Wotsaroff, sollen sogleich erschossen worden sein. Auch ein Staatssekretär, das ZK-Mitglied Todoroff, der als das Haupt der Verschwörung galt, überlebte das Mißlingen der Verschwörung, die am 6. /7. April 1965 nach der Macht greifen wollte, nur um wenige Stunden; er soll* Selbstmord begangen haben. Seine engsten Vertrauten waren der Stadtkommandant von Sofia, General Aneff, und der stellvertretende Verteidigungsminister, Generaloberst Transki, dem man nachsagt, schon in die erste Militärrevolte vom März 1961 verstrickt gewesen zu sein. Alle drei haben während des Zweiten Weltkriegs als Partisanen und Partisanenführer gekämpft, was ebenfalls auf die innere Kontinuität der beiden Staatsstreiche hinweist. Eine gewisse Parallele zu den Vorgängen in Polen ist offensichtlich, nur daß die polnischen Partisanen erfolgreicher und friedlicher ihren politischen Einfluß durchsetzen konnten. Nach albanischen Presseberichten sind etwa 500 Personen verhaftet-worden. Im Juni 1965 tauchte der sowjetische Chefideologe Suslow in Sofia auf, um alle bulgarischen Kommunisten vor „nationalem Egoismus" zu warnen.

Etwa zum gleichen Zeitpunkt griff die partei-gebundene Philosophiezeitschrift die Revisionisten an den Universitäten Bulgariens an, von denen sich zwei, Shelew und Polikarow, sogar erlaubt hätten, Lenins Materiebegriff in Zweifel zu ziehen. Dieser „Geist der Verderbtheit" könne zu einem ideologischen Chaos führen, wenn über die Grundsätze des Marxismus frei diskutiert werden dürfte. Die Entfernung Shelews von der Universität löste heftige Proteste aus.

Angesichts dieser Gärungen in der Armee und an den Universitäten gab auch Schiwkoff im September 1965— gemeinsam mit dem rumänischen Parteiführer Ceausescu — die Erklärung ab, daß jede Kommunistische Partei das Recht besitze, ihre politische Linie selbst zu bestimmen (statt von irgendeiner Zentrale bestimmen zu lassen). Im folgenden Jahr lebte der Geist des Großbulgarentums wieder auf. Die Zeitschrift der kommunistischen Jugend erlaubte sich eine aufsehenerregende und zweifellos mit der Parteiführung abgestimmte Kritik. Man habe versäumt, dem Volk bewußt zu machen, daß Bulgarien einst eine Großmacht und ein kulturelles Zentrum der mittelalterlichen Welt war. „Kiew-Rußland, ebenfalls eines der Zentren der slawischen Zivilisation, verblaßt gegenüber Bulgarien, was Glanz und Größe und seinen Beitrag zur Weltkultur betrifft, und auch in jeder anderen Beziehung. Doch heute dominiert im Bewußtsein des Volkes Kiew-Rußland, obgleich dies irreführend ist."

In Bulgarien wurden die Reformen sorgsam auf das ökonomische Gebiet begrenzt. Das neue System der wirtschaftlichen Lenkung soll nur eine Auflockerung der zentralen Planwirtschaft bringen, ohne ihre Grundstruktur zu gefährden. Allerdings führte man auch eine gewisse Gewinnbeteiligung der Arbeiter ein. Bis dahin war nur das leitende Betriebspersonal am Gewinn beteiligt gewesen. Zu den Neuerungen gehörten auch Kooperationsverträge mit den französischen Renault-und den italienischen Fiat-Werken zwecks Schaffung einer bulgarischen Automobilindustrie. Diese Verzahnung der osteuropäischen mit der westeuropäischen Wirtschaft hätte bei den meisten Kommunisten noch vor wenigen Jahren großes Entsetzen ausgelöst. In Sofia hieß es nun, das spannungsgeladene Verhältnis der Koexistenz sei gegenüber Frankreich zugunsten einer Zusammenarbeit überwunden worden.

Zwischen Moskau und Prag (Ungarn)

Chruschtschows Sturz löste in Ungarn große Beunruhigung aus; man befürchtete die Rückkehr zu den Methoden Rakosis und hoffte auf Kadar, der das abzuwenden vermöge. Das Ansehen seiner Partei wurde jedoch durch Korruptions-und Sittenskandale, in die selbst Minister und ZK-Mitglieder verwickelt waren, geschädigt. Als am 1. Januar 1966 drastische Preiserhöhungen in Kraft traten, nahm die Erregung rasch zu. Studenten und Arbeiter des Industriezentrums Szepel führten eine gemeinsame Protestdemonstration durch. Daraufhin setzte eine Verhaftungswelle ein. Zwölf Jugendliche wurden für schuldig befunden, die Gründung einer bewaffneten Organisation zum Sturz der Regierung geplant zu haben. Unter den Verhafteten befand sich auch der ehemalige Pressechef Imre Nagys. Kadar ging wie Gomulka abwechselnd gegen Stalinisten und liberale Kommunisten vor, übertraf den polnischen Parteiführer aber noch in der Doppeldeutigkeit seiner Haltung.

In Ungarn blieb es immerhin möglich, daß die zornige literarische Jugend eine eigene Zeitschrift — Uj iräs — herausgab. Im April 1965 feierte sie die Verdienste von Georg Lukacs bei der Zerstörung philosophischer Mythen. Lukacs wurde im Oktober 1967 rehabilitiert und wieder in die Kommunistische Partei ausgenommen. Er ließ unter seinen Freunden einen „Privatbrief über den Stalinismus" zirkulieren und veröffentlichte in Prag ein Plädoyer für freie Kunst. In diesem Interview wie auch in einem Gespräch mit zwei Redakteuren des ungarischen KP-Organs setzte er sich für die Erneuerung des Marxismus ein, weil dessen stalinistisches Zerrbild die Fragen der Gegenwart nicht beantworten könne.

Der Umschwung in der Tschechoslowakei stieß in Ungarn auf unverhohlene, wenn auch gedämpfte Sympathie. Selbst die Parteipresse vermied monatelang jede Polemik. Im Sommer 1968 reiste Kadar insgeheim zu Breschnew nach Jalta, um ihm, wie es in Budapest hieß, von einer Intervention in der CSSR abzuraten.

Die SED als Unterführer der KPdSU (DDR)

Nach Chruschtschows Sturz machte die SED eine Periode der Unsicherheit durch, in der sie sich nach allen Seiten abgrenzte — auch gegenüber den liberalen Regungen in der UdSSR. Sogar die Übersetzung von Büchern liberal eingestellter sowjetischer Autoren wurde in der DDR nicht erlaubt. Im Dezember 1965 distanzierten sich Ulbricht und seine Leute auf einer Sitzung des Zentralkomitees von den „massiven revisionistischen Tendenzen bei unseren Bundesgenossen im kommunistischen und sozialistischen Lager" Das „Neue Deutschland" kritisierte führende Kommunisten Italiens und Österreichs, die einen demokratischen Kommunismus empfahlen, sehr scharf. Ebenso legte sich die SED mit der Kommunistischen Partei Rumäniens an, weil sie den Klassenstandpunkt verlasse. Um so weniger konnte sie Andersdenkende und Reformer in ihren eigenen Grenzen dulden.

Der Fall Apel Der Ursprung dieser Affäre reicht bis in den Juli 1961 zurück. Damals beschloß das Zentralkomitee der SED, die Wirtschaft der DDR hinsichtlich der Bundesrepublik „störfrei" zu machen. Alle Abhängigkeiten von westdeutschen Rohstoffen und Fertigwaren sollten binnen kurzer Zeit beseitigt werden (was eine merkliche Schrumpfung des Interzonenhandels mit sich brachte). Dafür sei eine enge Wirtschaftsgemeinschaft mit der UdSSR herzustellen. Die DDR müsse sich fest in die osteuropäische Arbeitsteilung des Comecon einfügen, aber vor allem mit der sowjetischen Volkswirtschaft kooperieren. Das war der Versuch einer endgültigen Ostorientierung, die zwar gewissen politischen Interessen entgegenkommen mochte, den wirtschaftlichen Interessen der DDR aber nur Schaden zufügen konnte. Die politischen und wirtschaftlichen Belange der SED begannen also, auseinander zu laufen, folglich auch die Gesichtspunkte ihrer politischen und wirtschaftlichen Führung. Dieser Widerstreit entlud sich später in dem Konflikt zwischen Ulbricht und Apel.

Ulbricht versuchte, gemeinsam mit der Sowjetunion den Prozeß der Entstalinisierung in Osteuropa aufzuhalten. Apel als Leiter der staatlichen Plankommission konnte andererseits seiner Veranwortung für die Wirtschaft der DDR nur genügen, wenn er sie vor einseitiger Bindung an die UdSSR bewahrte. Bis 1964 war von der Wirtschaftsgemeinschaft nur wenig zu spüren. Die Handelsbeziehungen der beiden Partner gingen sogar etwas zurück, denn die DDR kam ihren Lieferverpflichtungen nicht vollständig nach, weil Apel einen Teil der für die UdSSR bestimmten Erzeugnisse in westliche Länder exportierte, um Devisen zu beschaffen. Das führte im Herbst 1965 in Moskau zu Auseinandersetzungen. Bei den Vorgesprächen über einen neuen Handelsvertrag zwischen den beiden Ländern ließ Ulbricht seinen Planungschef im Stich. Apel weigerte sich, diesen Handelsvertrag zu unterschreiben, weil er ihm ungünstig und preismäßig diskriminierend erschien. Aber das Politbüro der SED hatte den Beschluß gefaßt, ihn auf jeden Fall abzuschließen. Bis zum 2. Dezember 1965 widerstand Apel allen Drohungen. Am nächsten Morgen erschoß er sich in seinem Büro nach einem BesuchAIfred Neumanns, des Vertrauten von Ulbricht. Unzweifelhaft sah er keine andere Möglichkeit des Protestes mehr. Apel hat anscheinend für die DDR eine ähnliche Autonomie angestrebt, wie sie Polen durch den „polnischen Oktober" erreichte. Offenbar wollte er das System, dem er diente, von der Sowjetunion als gleichberechtigten Partner behandelt wissen, dem man weder überhöhte Weltmarktpreise noch einseitige Bindungen aufzwingen dürfe. Das ließ sich aus einigen Randnotizen schließen, die er auf ihm vorgelegte Dokumente machte.

Apel hatte ähnlich wie Harich in Ost-Berlin einen Freundeskreis um sich gesammelt, mit dem er zu zwanglosen Diskussionen zusammentraf. In diesem Kreis sprach er über seine Sorgen. Nach seinem Tode sind bei einigen Mitgliedern dieses Kreises Haussuchungen durchgeführt worden. Doch der Selbstmord wurde vertuscht. Apel erhielt ein Staatsbegräbnis. Seinem Gesprächskreis soll übrigens auch Robert Havemann angehört haben.

Der Fall Havemann Der aus der SED ausgeschlossene Wissenschaftler erhielt Einladungen von vier westdeutschen Universitäten, durfte jedoch nicht kommen. Für April 1965 wurde er von der internationalen Paulusgesellschaft zu einem Treffen von Marxisten und Christen nach Salzburg eingeladen. Auch in diesem Falle erhielt er keine Ausreisegenehmigung. Er übersandte jedoch eine schriftliche Ausarbeitung des ihm zugedachten Referats. In diesem Referat setzte sich Havemann für die Formulierung einer marxistischen Anthropologie ein, deren Fehlen mitverantwortlich für die tragische Fehlentwicklung zum Stalinismus gewesen sei. Mit der Individualität werde das Individuum seiner Menschlichkeit entkleidet. Viele der Formen der bürgerlichen Demokratie seien unersetzbare Errungenschaften und dennoch in den kommunistischen Ländern abgeschafft worden. „Mit dem gleichen Rechte hätte man auch die Wissenschaft über Bord werfen können." Alle Antagonismen, auch die Klassenkämpfe, gingen aus dem tiefsten aller Widersprüche, dem Gegensatz zwischen Individuum und Gesell-schäft, hervor.

Als Havemann von der FDJ-Zeitschrift „Forum" beschuldigt wurde, noch 1951/52 selber ein Stalinist gewesen zu sein und daher kein Recht zur Kritik zu haben, räumte er freimütig ein, daß er die Partei und Stalin damals für unfehlbar gehalten habe, es wäre jedoch gut, wenn man ein Bekenntnis zu früher begangenen Fehlern nicht allein von ihm erwarten würde. Als das „Forum" die Veröffentlichung seiner Antwort, die wieder von oppositionellen Zirkeln hektographiert worden ist, verweigerte, stellte er Strafantrag gegen den Chefredakteur, der indessen auf Grund der parteilichen Rechtsprechung von vornherein sicher sein konnte, unbehelligt zu bleiben.

Im Dezember 1965 brachte der „Spiegel" einen Artikel aus Havemanns Feder, der die Gründung einer völlig neuen KPD empfahl. Sie (müsse die praktische Konseguenz aus der Überwindung des Stalinismus sein, indem sie sich auf den Boden des Grundgesetzes der Bundesrepublik stelle, die Bildung oppositioneller Fraktionen gestatte, die Parteidisziplin in Meinungs-und überzeugungsfragen aufhebe, auf die Beinflussung der Funktionärs-wahlen von oben verzichte und sich nicht länger nach dem russischen Modell orientiere.

Havemann schrieb, die unausweichlich auf der Tagesordnung stehende Erneuerung des deutschen Kommunismus solle sich „besonders auf Rosa Luxemburg gründen, deren Schriften von den Stalinisten seit Jahrzehnten unterdrückt worden sind. Sie wurden unterdrückt, weil Rosa Luxemburg mit prophetischer Klarheit bereits die ersten gefährlichen Schritte zur Beseitigung der innerparteilichen Demokratie, die später zum Stalinismus führten, erkannt und schärfstens kritisiert hatte." Die neue Partei müsse frei, demokratisch, selbständig und möglichst auch pazifistisch sein. Eine solcherart erneuerte KPD würde auch auf die DDR zurückwirken, die folgender Strukturreformen bedürfe: 1. Beseitigung der Einheitslisten bei den Wahlen, 2. Zulassung einer parlamentarischen Opposition, 3. Übergang von totalitärer Planwirtschaft zu demokratischer Wirtschaftsplanung, 4. Wiedergewährung des Streikrechts, 5. Einführung einer Arbeiterselbstverwaltung in dem Sinn, daß die Arbeiter bevollmächtigt werden, unfähige Betriebsleiter selbst abzusetzen, 6. Aufgabe des „sozialistischen Realismus"

als obligatorisches Stilprinzip für Kunst und Literatur.

Havemanns Plädoyer für eine neue KPD hat unzweifelhaft die Erneuerung des Kommunismus in ganz Deutschland bezweckt. Er empfahl freie Wahlen, in denen das deutsche Volk selbst entscheiden soll, welche Gesellschaftsordnung es für die bessere hält.

Der italienische Kommunist Professor Radice, Mitglied des Zentralkomitees, nannte Havemann einen „Marxisten vom Format eines Galilei" Er scheint auch die Einladung vermittelt zu haben, die der Wissenschaftler vom Gramsci-Institut der Kommunistischen Partei Italiens zum Gramsci-Kongreß im April 1967 erhielt. Wiederum wurde ihm die Reise unmöglich gemacht. Dabei hat Havemann zu erkennen gegeben, daß er nicht daran denkt, die DDR zu verlassen.

Die politische Revolution in der Tschechoslowakei begrüßte er als eine Bestätigung seiner Hoffnungen und seines eigenen politischen Weges. Für die Prager Zeitschrift „Welt in Bildern" schrieb er einen Artikel, dem wir folgende Sätze entnehmen: „Soziali-sten und Kommunisten in aller Welt verfolgen heute mit wärmster Sympathie und von großen Hoffnungen erfüllt die politische Entwicklung in der SSR. Was hier geschieht, wird nicht nur für die Zukunft dieses Landes von entscheidender Bedeutung sein, sondern es wird weltweite Rückwirkungen zeitigen und tut dies heute schon. Zum erstenmal wird hier der Versuch gemacht, Sozialismus und Demokratie in Übereinstimmung zu bringen. Bisher gab es in sozialistischen Ländern wohl verschiedene Ansätze, den Teufelskreis des Stalinismus durch eine Art schleichender Demokratisierung zu durchbrechen. Aber das Bleigewicht der Parteibürokratie hat die wenigen hoffnungsvollen Versuche stets wieder gelähmt und zum Stillstand gebracht. In der SSR erleben wir heute den grandiosen Versuch eines radikalen und kompromißlosen Durchbruchs zur sozialistischen Demokratie. Gelingt dieser Versuch, so wird dieser Erfolg von einer historischen Tragweite sein, die sich nur mit der russischen Oktoberrevolution vergleichen läßt."

Bei dieser Gelegenheit erweiterte Havemann sein „Spiegel" -Programm eines demokratischen Kommunismus um zwei weitere Punkte: Unabhängigkeit der Richter und Schaffung von Verwaltungsgerichteri zum Schutz der Bürger gegen behördliche Willkür. Außerdem unterstrich er noch einmal die Notwendigkeit freier und geheimer Wahlen, jetzt nicht mehr nur für die DDR, sondern für die Volksvertretungen aller kommunistischer Länder. Havemann ging noch weiter als der österreichische Kommunist Ernst Fischer, der ebenfalls ein demokratischer Kommunist ist, aber eine gewisse Einschränkung der Freiheit zulassen will, um die Verherrlichung des Krieges, den Antisemitismus, faschistische Tendenzen und die Verbreitung von Theorien des Völkerhasses zu unterbinden. Solchen Einschränkungen hielt der deutsche Kommunist entgegen: „Ich glaube, diese Rudimente einer barbarischen Ideologie haben samt und sonders in einem sozialistischen Lande keine Wurzeln mehr.

Ihre Ablehnung ist daher weniger eine Aufgabe staatlicher Anordnungen. Sie ist einfach Wesensbestandteil der sozialistischen Gesellschaftsmoral. Leute, die diesen Ideen noch anhängen, sind eigentlich nicht mehr Objekte der Gerichte, sondern gehören vor den Psychiater . . . Wie leicht könnte sonst eine partielle Einschränkung der Freiheit zum Vorwand genommen werden, immer mehr demokratische Freiheiten schrittweise wieder aufzuheben, nachdem man sie im Grundsatz deklariert hat." Offenbar hatte Havemann das Schicksal vieler Bestimmungen der DDR-Verfassung vor Augen.

Vertiefung des Separatkommunismus Im Januar 1967 bezeichnete der Kultusminister der DDR die einheitliche deutsche Kultur als eine Phrase; eine solche Kultur existiere nicht mehr. Im Februar 1967 wurde unter Bruch der eigenen Verfassung eine besondere Staatsangehörigkeit für die Bürger der DDR eingeführt, die nun ihr eigenes „Staatsvolk" hat. Im März 1967 erklärte der Sekretär des Zentralkomitees Grüneberg: „Die Illusionen in der Bevölkerung über eine Wiedervereinigung müssen verschwinden." Sogar das Wort „gesamtdeutsch" sollte ausgemerzt werden. Die Politik des Separatkommunismus verfestigte sich immer mehr und nahm missionarische Züge an. Auf einem Kongreß kommunistischer Philosophen, der vom 22. bis 24. April 1965 in Ost-Berlin tagte, hatten die Referenten der DDR bereits die neue Theorie verkündet, daß in Ländern mit kommunistischer Regierung nicht mehr das gesellschaftliche Bewußtsein durch das gesellschaftliche Sein bestimmt wird, sondern das gesellschaftliche Sein durch den Bewußtseinsgrad und das aktive Handeln der Kommunisten. Sie verlangten, den Marxismus-Leninismus durch eine Wissenschaft von der Leitung der Gesellschaft zu ergänzen, an der in der DDR bereits gearbeitet werde. Die SED-Referenten integrierten auch halbwegs die technische Revolution in die kommunistische Ideologie. Sie wurde einerseits noch parteilich als bewußte Aktion der werktätigen Massen unter kommunistischer Führung, andererseits sachlich als Entstehen einer neuen Produktivkraft der Wissenschaft charakterisiert, die von jetzt an entscheidend für die Wirtschaft sei.

Beauftragte der SED führten in der Bundesrepublik Versammlungen und Seminare durch. Sie beteiligten sich auch an einem internationalen Colloquium zum 100. Jahrestag des . Kapital'in Frankfurt/Main. Hierbei verkündete Professor Reinhold, Direktor des Instituts für Gesellschaftswissenschaften in Ost-Berlin, wiederum eine neue Theorie, die den Marxismus-Leninismus zugunsten einer besonderen Rolle der SED korrigierte. Bis dahin hatte der Sozialismus nur als eine Übergangsphase zum Kommunismus gegolten, nun wurde er als eine „selbständige ökonomische Gesellschaftsformation" bezeichnet, deren Wirtschaftsordnung das neue ökonomische System der DDR sei. Hier bescheinigte sich die SED ihre eigene Vorbildlichkeit, denn aus den Gedankengängen Reinholds ergibt sich, daß alle kommunistischen Länder mit Ausnahme der UdSSR, die schon über den Sozialismus hinaus sei, die Wirtschaftsordnung der DDR übernehmen sollen. Aber auch die sowjetischen Theoretiker wurden indirekt belehrt. Im Anschluß an Lenin hätten die Marxisten der DDR die Theorie des sozialistischen Systems entwikkelt. Hier klang der Vorwurf eines Versäumnisses an die Adresse der russischen Marxisten auf. Er versteifte sich bis zu einer programmatischen Korrektur. Nach dem Programm der KPdSU von 1961 ist der staats-monopolistische Kapitalismus die allerletzte Phase der westlichen Gesellschaft, in der sie sich hoffnungslos zersetzt; nach Reinhold hingegen stellt er nicht den Abstieg und entwicklungsmäßigen Endpunkt, sondern die volle Entfaltung des Monopolkapitals dar, dessen steigender Macht nur durch die Aktionseinheit der Kommunistischen Parteien begegnet werden könne. Hier war auch eine Unzufriedenheit über den Konflikt Moskau-Peking herauszuhören; die SED-Führung hat sich anscheinend nicht vorbehaltlos auf die Seite Moskaus gestellt. Ulbricht hatte im April 1965 sogar auf innenpolitische Widersprüche der Sowjetunion und anderer kommunistischer Länder hingewiesen, die sich auf die DDR ungünstig auswirkten und ihren wirtschaftlichen Fortschritt hemmen würden. Die Zusammenarbeit habe auch negative Seiten.

So äußerte sich ein erstaunlich gewachsenes Selbstbewußtsein, das die Unsicherheit nach Chruschtschows Sturz kompensierte und darauf aus ist, sich von den politischen Schwankungen der sowjetischen Führung unabhängig zu machen. Dieses fast übersteigerte Selbstbewußtsein paßte nicht mehr in die Zwangsjacke eines Satelliten. Die SED schwang sich zum Unterführer der KPdSU in Osteuropa wie auch gegenüber den Kommunistischen Parteien des Westens auf. Für den Bereich des konservativen Kommunismus zog sie sogar die theoretische Initiative an sich. Neue Gedanken waren seit Chruschtschows Abgang nicht mehr in Moskau, sondern in Ost-Berlin zu hören. Hier ging man zum Revisionismus von oben über, um den von unten abzufangen und um die ideologischen Bremsen der wirtschaftlichen Entwicklung zu lockern, soweit das mit dem Machtmonopol der Partei zu vereinbaren ist, Im Oktober 1967 rief Ulbricht nach unbequemen Mahnern, die ihm rückhaltlos sagen sollten, wo die DDR gegenwärtig steht. Ihre Kritik sollte sich aber auf ökonomische Mängel beschränken.

Drohungen gegenüber der CSSR Die Angriffe auf die neue Führung der ÖSSR begannen im März 1968 mit der ausdrücklichen Ablehnung einer politischen Opposition für die DDR, über die der Fernsehkommentator von Schnitzler sagte, die SED setze sich mit ihr nicht an der Wahlurne oder in der Volkskammer, sondern vor den Gerichten der Justiz auseinander. Besonders gereizt reagierte man in Ost-Berlin auf Anzeichen eines Wiederauflebens der Sozialdemokratischen Partei, deren Neukonstituierung in der ÖSSR auch die schon von Havemann aufgeworfene Frage einer Wiederzulassung der SPD in der DDR aktuell gemacht hatte. Von da an war klar, daß die Ulbricht-Führung Prag als einen Zersetzungsherd ansah, der auch ihr eigenes Regime gefährdete. Tschechische und slowakische Zeitungen wurden den Abonnenten in der DDR nicht mehr zugestellt. Das „Neue Deutschland" schrieb im Juli 1968, in der ÖSSR vollziehe sich eine Aushöhlung der sozialistischen Ordnung. Im gleichen Monat droht der Ost-Berliner „Sonntag", da der Sozialismus in der Tschechoslowakei gefährdet sei, rufe das die Bruder-parteien und Bruderstaaten auf den Plan. Niemand könne gleichgültig zuschauen, wenn die Konterrevolution in der ÖSSR triumphiere. Anfang August 1968 sperrten die Behörden der DDR Orte, die in der Nähe der tschechoslowakischen Grenze lagen, für Reisende ab. Es ist sehr wohl möglich, daß Ulbricht in Moskau auf eine Intervention gedrängt hat.

Die permanente Provokation (Albanien)

Nach Chruschtschows Sturz verlangte die Führung der albanischen Kommunisten von Breschnew, der Person und dem Werk Stalins wieder ihren gebührenden Platz einzuräumen. Dies sei jetzt fraglos das Wichtigste und dürfe nicht verzögert werden. Ein Jahr später wurde die neue Kreml-Mannschaft von Tirana „noch viel verschlagener und dämonischer als Chruschtschow" genannt. Albanien war nicht bereit, sich mit einer Teilrehabilitierung Stalins zufriedenzugeben.

Als es im Januar 1965 — von Warschau, nicht von Moskau! — zu einem Treffen der Mitglieder des Warschauer Paktes eingeladen wurde, lehnte Tirana die Teilnahme ab, da die Sowjetunion alle Vereinbarungen — auch die über die Ausrüstung der albanischen Armee — gebrochen habe und zunächst Schadenersatz leisten müsse. Albanien betrachte sich aber nach wie vor als vollberechtigtes Mitglied des Warschauer Paktes und bestehe darauf, nicht nur eingeladen, sondern vor jedem Treffen konsultiert zu werden. Eine albanische Armeereform brachte 1966 die Wiedereinführung der politischen Kommissare, die Kontrolle der militärischen Institutionen durch Parteikomitees und die Abschaffung der militärischen Ränge. Sie folgte also dem chinesischen Beispiel; Peking stellte 200 militärische Instrukteure zur Verfügung. Nach italienischen und schwedischen Informationen hat China die Albaner auch bei der Errichtung von Raketenbasen unterstützt. Gleich Mao stellte Hodscha revisionistisch-bürgerliche Tendenzen in der Literatur, das Nachlassen des revolutionären Elans bei den Kadern und indifferentes Verhalten der Massen fest. Die Bildung Roter Garden zum Sturm auf die Festungen der Bürokratie wurde aber vermieden. Anders als in China bediente man sich in Albanien der stalinistischen Methode des administrativen Eingriffs von oben, um personelle Umbesetzungen zu erreichen, die eine „Wiederholung der tragischen Ereignisse in der Sowjetunion" — das heißt die „Usurpierung der Macht durch die Revisionisten" — unmöglich machen sollten. Der versippte und verschwägerte Führungskreis blieb jedoch von diesen Veränderungen so gut wie unberührt; im allgemeinen schickte man nur Funktionäre der zweiten und dritten Garnitur in die Wüste. Lediglich in einem Punkt ging Albanien weiter als China: Hodscha befahl die Schließung und Zerstörung aller Kirchen beziehungsweise Moscheen.

Die albanische Partei sah sich jedoch wachsenden ökonomischen Schwierigkeiten bei nachlassender chinesischer Wirtschaftshilfe gegenüber. Daher wurde eine Dezentralisierung der Wirtschaft eingeleitet, die vom Pekinger Konzept abwich.

Gleichzeitig machte sich eine gewisse Verlagerung der außenpolitischen Gewichte bemerkbar. Jugoslawien wurde immer milder, die Sowjetunion jedoch immer schroffer behandelt. Auf dem V. Kongreß seiner Partei Ende 1966 verlangte Hodscha noch einmal „die vollständige Rehabilitierung Stalins" in der UdSSR, wo an die Stelle der Diktatur des Proletariats die Diktatur des Revisionismus getreten sei.

Diese ständige und höhnische Herausforderung Moskaus gipfelte im Ausbau Tiranas zum Treffpunkt der Maoisten aller Länder.

Schon im November 1964 fand eine erste internationale Konferenz der Anhänger Mao Tse-tungs statt, auf der sieben Kommunistische Parteien (China, Nordkorea, Nordvietnam, Indonesien, Japan, Neuseeland, Albanien) und sieben prochinesische Gruppen (aus Australien, Belgien, England, Frankreich, Italien, Spanien und Österreich) vertreten waren. Im November 1966, anläßlich des V.

albanischen Parteitags, stellten sich sogar Abgesandte aus 29 Kommunistischen Parteien und prochinesischen Gruppen in Tirana ein, darunter aus Chile, Kolumbien, Ägypten, den USA und dem Sudan.

Man bedenke, die Maoisten und jene, die mit Peking sympathisierten, versammelten sich ausgerechnet in Osteuropa, das die Sowjetunion als ihren festen Einflußbereich ansah.

Mao Tse-tung bezeichnete Albanien als einen „hochragenden Berg" im Vergleich zum „Kehrichthaufen" der Sowjetunion. Tirana sollte das Zentrum des Maoismus in Westund Osteuropa sein. Es verfolgte aber nebenbei auch seine eigene Politik. In Italien zum Beispiel bildeten sich zwei dem Togliatti-Kurs feindliche kommunistische Gruppen, von denen nur eine auf Peking, die andere aber auf Tirana schwor.

Die proletarische Kulturrevolution (China)

Die russische Oktoberrevolution war eine politische Umwälzung, der eine soziale folgte.

Sie legte jedoch nicht das Fundament einer neuen Kultur. Der Kommunismus sollte seine Überlegenheit über den Kapitalismus durch eine höhere Arbeitsproduktivität beweisen.

Das war ein nur quantitativer Unterschied.

Obwohl Lenin von der Oktoberrevolution stets als einer proletarischen sprach, lehnte er eine proletarische Kultur entschieden ab.

Er distanzierte sich damit von seinem inner-parteilichen Gegenspieler Bogdanow, der die Idee einer proletarischen Kultur schon seit 1909 propagierte, da nach seiner Meinung die Elemente des Kapitalismus auch nach einer Revolution weiterwirken und zumindest das Unterbewußtsein der Arbeiterschaft mitbestimmen würden. Auf Bogdanow ging die Gründung „proletarischer Universitäten" nach der Oktoberrevolution zurück. Seine Idee einer „Kulturrevolution" führte zur Institution des „Prolet-Kults", der keineswegs die Pflege primitiver proletarischer Manieren beabsichtigte, sondern „neben der Eroberung der politischen und wirtschaftlichen Macht (auch) die geistige Macht von den Arbeitern erobert haben" wollte.

Bogdanow wurde jedoch angefeindet und zog sich zurück. Stalin und Chruschtschow orientierten die Sowjetunion auf das Überholen der USA in der Pro-Kopf-Produktion und im Verbrauch. Damit fügten sie dem Leninschen Modell nur noch die Dimension des Konsums zu. Das . östliche'Ziel eines disziplinierten Arbeitsstaats verschmolz mit dem , westlichen'Ideal einer Wohlstandsgesellschaft. Das Ergebnis dieser Synthese war der Chruschtschowsche . Gulaschkommunismus'; in den Augen Mao Tse-tungs nur noch ein Pseudokommunismus, der mit Hilfe Libermans den Mechanismus der Marktwirtschaft neu installierte und die UdSSR wieder in eine bürgerliche Gesellschaftsform zurückführte. Nach seiner Ansicht hat man in Rußland versäumt, die Oktoberrevolution zu Ende zu führen.

Maos Idee der Kulturrevolution ist der von Bogdanow ähnlich, was jedoch nur beweist, daß die Vision einer proletarischen Kultur schon im russischen Kommunismus entstanden war. Es gibt aber keinen Grund für die Behauptung, Mao wäre ein Bogdanowist — wahrscheinlich sind ihm dessen Schriften völlig unbekannt. Immerhin verdient es unser Interesse, daß Ansätze, die in der Sowjetunion verkümmerten, in China erneuert werden.

Auftakt Die chinesische Kulturrevolution hatte jedoch aktuelle Ausgangspunkte. Im Juni 1964 warnte Mao die chinesischen Schriftsteller und Künstler vor der Bildung eines Petöfi-Klubs in China nach dem Muster der ungarischen Revolution. Einen Monat später sprach er von der „ernsten Gefahr einer Restauration des Kapitalismus in der Sowjetunion" Die Kulturrevolution ging von den Kernfragen aus, wie die Entstehung eines revolutionären Petöfi-Klubs in China verhindert werden könne und welche Lehren aus dem Triumph des Chruschtschowschen Revisionismus in der Sowjetunion zu ziehen seien. Wie lautete die Antwort? „Massenbewegungen großen Umfangs ins Leben rufen" und sich gleichzeitig auf die Sicherheitsorgane stützen, insbesondere auf die Armee. Das Programm und die Taktik der Kulturrevolution waren schon im Neunten Kommentar zum Offenen Brief der KPdSU vom 14. Juli 1964 enthalten.

Im Januar 1965 überschnitten sich zwei Ereignisse: zum einen die Wiederwahl von Liu Schao-tschi zum Staatspräsidenten, zum anderen die Absetzung des Kultusministers Mao Tun und drei seiner Stellvertreter. Jeder der beiden Rivalen — Liu und Mao — zeigte seine Macht. Doch die Autorität Mao Tsetungs sank bedrohlich. Im Sommer 1965 gestand er dem französischen Schriftsteller Malraux: „Ich bin allein mit den Massen und warte." Die große Mehrheit der Mitglieder des Politbüros und des zentralen Sekretariats der Kommunistischen Partei erklärte seine Ideen für überholt. Selbst Verteidigungsminister Lin Piao scheint zeitweise geschwankt zu haben, wie aus Maos Rede vom 31. August 1967 zu entnehmen ist, wonach er zu Beginn der Kulturrevolution in manchen Fragen ganz allein stand.

In dieser für ihn gefährlichen Situation löste der greise Parteichef zunächst die Armee aus dem Korsett des sowjetischen Reglements, in das sie 1955 eingeschnürt worden war. Die 14 Dienstränge und unterschiedlichen Verpflegungssätze für Offiziere und Mannschaften fielen im Sommer 1965 wieder fort. Es gibt nur noch die Unterscheidung zwischen Kämpfern, Kommandeuren und Kommissaren. Zweifellos hat das die einfachen Soldaten erfreut. Mao warb, indem er die soziale Gleichheit innerhalb der Armee nach dem Vorbild der Partisanen-und Bürgerkriegszeit erneuerte, um ihre Unterstützung in dem kommenden Konflikt. Der Preis war die Feindschaft jener Teile des Offizierkorps, die den Verlust ihrer Privilegien nicht verschmerzten oder in der Armeereform einen Rückfall in überholte Strukturen sahen. Mit dem Rückhalt der Masse der Soldaten eröffnete Mao Tse-tung im September 1965 die rücksichtslose Kritik der literarischen und künstlerischen Intelligenz. Sie beschuldigte ihn indirekt schon seit mehreren Jahren, den Tyrannenweg beschritten zu haben. Mao griff sich jedoch speziell den Historiker Wu Han heraus, dessen Drama „Hai Jui wird seines Amtes enthoben" auf die Absetzung des ehemaligen Verteidigungsministers Peng Thehuai im Jahre 1959 angespielt hatte. Wu Han war stellvertretender Vorsitzender der Gesellschaft für chinesisch-sowjetische Freundschaft. Mit seiner Entlassung glaubte Mao offenbar, den sowjetischen Revisionismus und den chinesischen Individualismus zu treffen.

Klaus Mehnert hat sieben Vorwürfe zusammengestellt, die der oppositionellen Intellektuellengruppe gemacht worden sind. Erstens waren sie gegen den Großen Sprung zu den Volkskommunen. Zweitens sprachen sie sich nicht gegen die Sowjetunion aus. Drittens galten sie als Anhänger einer friedlichen Evolution zur bürgerlichen Demokratie. Viertens setzten sie sich für eine begrenzte Wiederherstellung des Privateigentums im Handel, in der kleinen Industrie und in der Landwirtschaft ein. Fünftens wollten sie statt einer proletarischen Kunst eine Kunst des ganzen Volkes. Sechstens traten sie für die Gewährung und Respektierung einer Privatsphäre ein. „Siebentens verteidigten sie die chinesische Vergangenheit — Konfuzius, die klassische Oper, die klassische Literatur, die Werte der Literatur an sich."

Alle diese Vorwürfe liefen in der Anklage zusammen, Revisionisten und Chruschtschowissen, Anhänger einer schwarzen, prokapitalistischen Linie und folglich schwarze Banditen zu sein.

Doch Wu Han und seine Freunde bekleideten hohe Funktionen in der Hauptstadt. Sie konnten außerdem auf mächtige Gönner in der Partei-und Staatsspitze rechnen. Daher übten sie nur zahme Selbstkritik. Deng To verteidigte im Dezember 1956 das angefeindete Drama öffentlich vor Studenten und Parteifunktionären; er setzte sich gleichzeitig für eine größere Freiheit der Intelligenz ein.

Zu diesem Zeitpunkt hatte Mao die Hauptstadt offenbar fluchtartig verlassen. Neun Monate, vom Herbst 1965 bis Sommer 1966, hielt er sich in Schanghai auf. Sein Sprachrohr wurde nun die Zeitung der Armee, die in ihrem Leitartikel vom 18. April 1966 erklärte: „Unsere Streitkräfte sind das Hauptinstrument der Diktatur des Proletariats." In allen anderen kommunistischen Ländern gilt als Hauptinstrument die Partei. Die Redaktion des Zentral-organs der Armee bezeichnete den Maoismus als den höchsten Gipfel der marxistisch-leninistischen Weltanschauung. Sie wies den Schriftstellern die Aufgabe zu, heroische Arbeiter-, Bauern-und Soldatengestalten zu schaffen, statt der Theorie zu folgen, daß man die Wahrheit schreiben und sich an reale Personen halten müsse. So wurde der Sozialistische Realismus für die chinesische Literatur und Kunst verbindlich gemacht.

Die Macht in China begann sich zwischen Peking und Schanghai Zu teilen. Es entstanden zwei konkurrierende Zentren, die fast eine Doppelherrschaft von Partei und Armee bedeuteten. Mao wollte den gegen ihn opponierenden Machtapparat der Parteibürokratie durch eine neue, vitalere und ihn unbedingt ergebene Führungsschicht ersetzen. Deshalb bezeichnete er die Kulturrevolution als einen politischen Umsturz. Er wandte sich insoweit gegen die von ihm selbst mitgeschaffene Partei, als sie seiner Ansicht nach bürokratisch, revisionistisch und bürgerlich entartet war, jedoch mit der Absicht ihrer Erneuerung von der Spitze wie von der Basis her. Als Keimzellen der Erneuerung dienten die kommunistischen Zellen der Armee.

Neben dem Politbüro und dem Sekretariat des Zentralkomitees, in denen Mao Tse-tung nur noch als Vertreter einer Minderheit galt, bildete er eine besondere Gruppe für die zentrale Leitung der Kulturrevolution. Sie faßte die wichtigsten Stellen aus seinen Schriften in einem kleinen Handbuch zusammen, das in 35 Millionen Exemplaren gedruckt und mit Flugzeugen in alle Teile Chinas transportiert wurde. Diese , Mao-Bibel'sollte zur geistigen Grundnahrung aller Chinesen werden und ihr Bewußtsein revolutionieren. Mao hatte sein Volk als ein noch unbeschriebenes Blatt bezeichnet, das mit den schönsten Schriftzeichen bemalt werden könne. Doch das Handbuch war vor allem zur Verteilung unter der Jugend bestimmt. Die zentrale Gruppe für die Leitung der Kulturrevolution diente als Instrument zur Erneuerung der Kommunistischen Partei von der Spitze, die Roten Garden sollten das Werkzeug zur Erneuerung der Partei von der Basis her sein.

Rote Garden und Große Demokratie Nachdem Mao die Armee an sich gebunden und ein eigenes Führungsorgan in Gestalt der Zentralinstanz für die Kulturrevoltstion geschaffen hatte, nachdem er auch sicher war, in Verteidigungsminister Lin Piao den besten Interpreten seiner Ideen und geeignetsten Nachfolger gefunden zu haben, wandte er sich der Mobilisierung des jugendlichen Potentials zu. Scheinbar wie durch ein Zauberwort rief er eine Massenbewegung größten Stils ins Leben. Doch die Genesis der Roten Garden war komplizierter. Sie erinnerte an die planmäßige Vorbereitung des Aufbaus einer Miliz.

Schon das erste Auftreten der Roten Garden am 5. Mai 1966 in Peking deutete auf Planung hin. Man knüpfte bewußt an die revolutionäre Tradition der chinesischen Studentenunruhen an, die am 4. Mai 1919 eingesetzt hatten. Nach Mehnert sind die ersten Gruppen der Roten Garden mit Hilfe der Armee aufgestellt worden. Frank Thieß als Augenzeuge gewann sogar den Eindruck, daß nicht Mao Tse-tung, sondern Verteidigungsminister Lin Piao die organisatorische Leitung innehatte und „den Gegen-schlag führte” auf den chinesischen Revisionismus russischer Färbung. Gleichwohl kam die Mobilisierung der Jugend zunächst nur mühsam voran. Noch war die Erinnerung an die Zwangsdeportationen nach dem Hundert-Blumen-Frühling von 1957 nicht verblaßt. Nach einem Bericht des Kommunistischen Jugendverbandes sind damals 40 Millionen junger Leute aus den Städten in entlegene Dörfer deportiert worden Speziell die 1957'58 besonders betroffenen Studenten und Schüler scheinen gefürchtet zu haben, es könnte ihnen abermals so ergehen.

In diese Situation des Zögerns griffen Mao und seine engsten Anhänger mit wohlgezielten Initiativen ein. Sie suggerierten der Jugend, die Avantgarde bei der Überwindung sämtlicher alten Ideen, Sitten, Bräuche und Traditionen zugunsten einer neuen Kultur zu sein. Sie diskredierten den Staat, indem sie den Staatspräsidenten Liu Schao-tschi als „chinesischen Chruschtschow" titulierten und damit eine lebendige Zielscheibe schufen. Sie stellten den Parteiapparat bloß, indem sie ihn als bourgeois versumpft bezeichneten und die Eröffnung der Polemik auf seine Stäbe empfahlen. Sie griffen zugunsten jener Studentengruppe in der Pekinger Universität ein, die den Rektor und den Parteisekretär am 25. Mai 1966 in einer großen Wandzeitung als „üble Revisionisten" angeprangert hatte, worauf es zu schweren Zusammenstößen auf dem Universitätsgelände kam; Mao bezeichnete ihre Wandzeitung als das „Manifest der Pekinger Volkskommune der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts" und setzte . sich für die Rückkehr jener relegierten Studenten ein — man sprach von 6000 —, die vom Parteikomitee der Universität in die Provinz abgeschoben worden waren. Gleichzeitig hieß es, für die Deportationen der Jahre 1957/58 sei vor allem der Generalsekretär der Partei, Teng Hsiao-ping, verantwortlich, während Mao Tse-tung damals die Politik der 100 Blumen fortsetzen wollte.

Die Mittelschulen, höheren Schulen und Universitäten wurden für ein halbes Jahr geschlossen, so daß die plötzlich beschäftigungslosen Studenten und Schüler, wenn sie nicht als asoziale Müßiggänger angesehen werden wollten, ihre Existenzberechtigung nur noch durch politische Aktivität unter Beweis stellen konnten. Mao setzte darüber hinaus im August 1966 die Auflösung des Kommunistischen Jugendverbandes durch und ließ eine Ausstellung über dessen „Verbrechen" inszenieren, wodurch für alle Teile der Jugend ein organisatorisches Vakuum entstand. Den Ausschlag für die Mobilisierung von 13 Millionen Jugendlichen scheint aber erst das Versprechen der Großen Demokratie gegeben zu haben. Die junge Generation sollte alles ungestraft kritisieren können, sie sollte von sich aus neue Massenorganisationen gründen und die kommunistische Revolution im Sinne der Umbildung Chinas zu einer einzigen Volkskommune auf eigene Faust vollenden, ohne sich von irgendwelchen Würdenträgern einschüchtern zu lassen. Selbst die zentrale Gruppe für die Kulturrevolution wollte ihr nur „Ratschläge" geben, ohne sich einzumischen. Sie rief dazu auf, keine Angst vor Unruhen und Wirren zu haben.

Im Jahre 1957 hatte es für etwa sechs Wochen Diskussionsfreiheit für alle gegeben. Im Jahre 1966 wurde der Jugend Diskussions-und Organisationsfreiheit eingeräumt. Mao feuerte sie an, eine neue Revolution zu machen. In dem „kochenden Bad" dieser Revolution soll-ten alle Wurzeln des sowjetischen Revisionismus, der westlichen Dekadenz und der chinesischen Mandarin-Tradition verdorren, auch in den Köpfen der Jugend, soweit sie bereits angesteckt war. Die Kulturrevolution war als ihre Prüfung gedacht. Diesmal sollten keine hundert Gedankenschulen blühen, sondern nur die Ideen Mao Tse-tungs, während alle anderen marxistisch-leninistischen Schulen als giftige Unkräuter galten. Es ging um die Aufrichtung des geistigen Monopols nicht einmal einer Partei, sondern eines einzigen Mannes, der sich über seine Partei erhoben hatte. In einem Flugblatt der Roten Garden hieß es: „Die ruhmreichen Gedanken Mao Tse-tungs sind die Wurzel unseres Lebens." Ein Kantoner Flugblatt veröffentlichte den Schwur, „immer und ewig die Werke des Vorsitzenden Mao (zu) lesen"

Innerhalb der Roten Garden machten sich von vornherein drei Strömungen bemerkbar. Da war zunächst eine nationalistische Strömung, in der die fremdenfeindliche Stimmung des Boxeraufstandes wiederauflebte. Auf die Nationalisten entfielen auch die Exzesse vor der sowjetischen Botschaft in Peking. In der portugiesischen Kolonie Macao an der Grenze der chinesischen Volksrepublik rasten die dort ebenfalls gebildeten Roten Garden mit dem Ruf „Tötet die Ausländer!" umher. Aus Zentralchina nach Tibet geschickte Rotgardisten vernichteten Kultgegenstände in den lamaistischen Klöstern. In Schanghai wurde das Puschkin-Denkmal zerstört.

Die zweite Strömung war idealistisch, internationalistisch und antibürokratisch. Ihr ging es nicht um China, sondern um die Weltrevolution. Sie nahm Mao wörtlich und führte die Sturmtrupps gegen die Parteibüros. Beispielsweise wurde das Stadt-und Regionalkomitee der Kommunistischen Partei in Futschou von 1600 Mitgliedern der Roten Garden gestürmt. Sie verhafteten die Funktionäre und demolierten ihre Wagen als Symbole des Privilegs einer herrschenden Klasse. In Peking übernahmen Studenten die Leitung besetzter Ministerien. Die dritte Strömung bestand aus Rowdys, die sich einfach austoben wollten und deren Agressionsgelüste ideologisch angeheizt wurden. In der Kulturrevolution war zunächst alles erlaubt. Ihre Manager dirigierten die Rowdys zu bestimmten Wohnungen und Ge95) schäften, deren Inhaber man auf die Straße zerrte und größtenteils aus den Städten vertrieb. In Schanghai waren das alle „kapitalistischen Elemente" einschließlich der noch selbständigen Handwerker. Zu Akten der Zerstörung, die keine Regie erkennen ließen, kam es jedoch auch an den Universitäten. In Peking fielen ihnen, unter anderem das Institut für Architektur und die Tanzakademie zum Opfer.

Neben diesen drei Gruppierungen bildeten sich auch soziale Scheidelinien heraus. Außer den schnell entstehenden Reibereien zwischen den verschiedenen Strömungen machte sich eine Spaltung der Roten Garden dadurch bemerkbar, daß die Frage nach der sozialen Herkunft ihrer Mitglieder aufgeworfen wurde. Als vollwertige Revolutionäre galten eigentlich nur Sprößlinge von Arbeiter-und Bauernfamilien. Wer hingegen „bürgerlicher Herkunft" war, mußte sich oft genug als „wurmstichiger Abkömmling schwarzer Elemente" verdächtigen lassen, dem man nicht über den Weg trauen könne. Sie sollten als Beweis für ihre Treue zur Revolution und zum großen Führer Mao im bildlichen Sinne „ihre Knochen wechseln" und sich von ihren Familien trennen. Diesen Weg gingen ein Sohn und eine Tochter des Staatspräsidenten, nachdem dieser als Anhänger des abgesetzten ehemaligen Verteidigungsministers Peng Teh-huai, der mit Hilfe Chruschtschows Maos Sturz versucht hatte, angegriffen worden war. Auch die Kinder von Revisionisten hatten natürlich eine bourgeoise Wurzel, von der sie sich „abschneiden" mußten.

So bildeten sich innerhalb der Roten Garden noch weitere drei Gruppen: Arbeiter-und Bauernjugend, Studenten und Schüler proletarisch-bäuerlicher Herkunft, Schüler und Studenten aus „schwarzen Familien". Diese Scheidung wurde aber durch Maos Klassenkampflinie von außen in die junge Generation hineingetragen, was freilich nicht weniger verhängnisvoll wirkte. Schwere Zerwürfnisse konnten schon vorausgesehen werden, als der im Juni 1966 an der Pekinger Universität geschaffene Rebellenausschuß ausschließlich aus Studenten zusammengesetzt wurde, die einen proletarischen oder bäuerlichen Abstammungsnachweis beibringen konnten. Maos Klassenlinie mußte unweigerlich zum Klassenkampf zwischen den Rotgardisten führen. Sie entfesselte Wirren, die kaum weniger konvulsivisch als die Bilderstürme waren. Innerhalb der Roten Garden überschnitten sich schon 1966 insgesamt sechs verschiedene Gruppen. Das hatte die Gründung konkurrierender Verbände zur Folge, die sich gegenseitig bekämpften und auch ihrerseits zersplitterten.

Nach Klaus Mehnert „kamen und gingen in China Hunderte und Tausende von Jugendorganisationen" während der Kulturrevolution. Wären sie nur lokalen Ursprungs gewesen, hätten sich ihre Kämpfe nicht erklären lassen. Durch die Vielzahl ihrer Organisationen entglitten die Roten Garden allmählich der Kontrolle Mao Tse-tungs und seiner Anhänger. War das erste Stadium der Kulturrevolution noch dirigiert, so nahm das zweite immer spontaneren Charakter an. Millionen junger Leute, die vom Angebot der freien Fahrt durch ganz China regen Gebrauch machten, durchzogen das Land, zehrten die kargen Lebensmittelreserven auf, verstopften die Züge und die Straßen der Städte, drangen in die Betriebe ein, demolierten Behörden, demütigten alte Bürgerkriegskämpfer, zerschlugen Altäre und Ahnentafeln — in China schienen sich alle Pforten der Anarchie und des zügellosen Terrors zu öffnen, den niemand mehr zu übersehen, geschweige noch zu lenken vermochte. Zwar machten die Roten Garden ihrerseits bereits den Versuch, dem provozierten Massenaufbruch der Jugend eine organisierte Form zu geben. Dieses mußte aber auf Grund ihrer nicht vorausgesehenen Zersplitterung scheitern.

Die Rebellion der Jugend wurde nun auch für Mao Tse-tung zu einer Gefahr. Er unterschied zunächst zwischen rechten und linken Massen und empfahl, sich allein auf die linken zu stützen. Diese Differenzierung erlaubte bereits eine gewisse Wieder-annäherung zwischen ihm und der alten Funktionärsschicht, da sie einen Teil -der Roten Garden preisgab. Im August 1966 beschloß das Zentralkomitee, sich fest auf die revolutionären Linken zu stützen, so daß am Ende der Kulturrevolution die Einheit von mehr als 95 0/0 der Funktionäre und der Massen erreicht werden könne. Dabei sollten doch ursprünglich die meisten Funktionäre davongejagt und durch „frisches Blut" ersetzt werden, übrigens wurde ein Ziel der Kulturrevolution, die Revolutionierung des menschlichen Bewußtseins, unter dem pragmatischen Gesichtspunkt größerer Arbeitsleistung relativiert. Das waren die ersten Zeichen des Rückzugs und des Kompromisses, denen wiederholte und immer dringendere Aufrufe an die Roten Garden folgten, die Städte zu verlassen, an ihre Heimatorte zurückzukehren und sich in die Produktion einzureihen. Vom Januar 1967 an setzte Mao die Armee als Ordnungsfaktor ein, während sie ihm bis dahin als Unruhestifterin diente. Freilich war inzwischen eine erhebliche Umschichtung im Partei-und Staatsapparat — vor allem in der Hauptstadt — vor sich gegangen.

Ungarische und titoistische Tendenzen?

Anfang 1967 tauchten in der Pekinger Presse Berichte über eine Verschwörung gegen Mao Tse-tung auf. Sie beschuldigten drei gestürzte Spitzenfunktionäre, mit Hilfe prominenter Gesinnungsgenossen, die noch verantwortliche Posten bekleideten, auf einen Umsturz nach dem Muster der ungarischen Revolution hin-gearbeitet zu haben. Einer der „Hochverräter", Jang Schang-kun, ließ die Gespräche Mao Tsetungs durch Abhörgeräte belauschen und übergab einem ausländischen Botschafter — man ließ durchblicken, daß es der sowjetische war — zehn vertrauliche Dokumente.

Gleichzeitig trafen alarmierende Meldungen aus allen Teilen des Landes ein. In Kanton waren Plakate angeschlagen worden, die Mao mit Hitler verglichen; Reisende berichteten, daß eine Puppe, die ihn darstellen sollte, unter dem Beifall der Menge verbrannt worden sei.

In Schanghai traten die Arbeiter in einen Generalstreik, teils als Demonstration gegen die Roten Garden, die ihre Produktion störten und ihnen Schwüre auf Mao abverlangten, teils als Protest gegen die am 27. Dezember 1966 erfolgte Auflösung des Allchinesischen Gewerkschaftsbundes. Streiks flackerten auch in den meisten anderen Industriezentren auf. In vielen Betrieben setzten die Arbeiter den Staatsdirektor ab und übernahmen selbst die Leitung. Es bildeten sich Anfänge einer Arbeiterselbstverwaltung ähnlich der jugoslawischen, doch auf revolutionäre Art wie 1956 in Polen und Ungarn. Streikende Arbeiter in Schenjang (früher Mudken) verlangten höhere Löhne und beschlossen einen Demonstrationsmarsch bis nach Peking. In einer Reihe von Städten gründeten die Arbeiter zur Verteidigung ihrer Interessen und ihres Lebens eigene Milizen, die teilweise mit Waffen aus den Beständen der Armee ausgerüstet wurden. Tschu En-lai gab sogar Operationen einer unabhängigen „Arbeiter-und Bauernarmee der Roten Fahne" zu. Radio Peking berichtete von Bauernunruhen in der Provinz Kweitschon.

Die Parteirebellen und die selbstbewußt gewordene Arbeiterschaft schienen ihre stärkste Basis in Schanghai zu haben, wo sich nunmehr auch das Stadtkomitee der Partei Maos Direktiven widersetzte. Die Zentralinstanz der Kulturrevolution setzte daher alle Machtmittel in Bewegung, um das Stadtkomitee und die Stadtverwaltung von Schanghai zu stürzen. Am 5. Februar 1967 trat eine Kommune an ihre Stelle, deren stellvertretende Leitung einer der wichtigsten Gefolgsleute Maos übernahm. Aber schon am Ende des gleichen Monats verstummte das Loblied auf die Kommune von Schanghai. Aus ihr war eine neue Kraft hervorgetreten, die so bedrohlich erschien, daß Mao eine Dreierallianz von Armee, alten Parteifunktionären und ihm treu ergebenen Rotgardisten anstrebte, die gemeinsam Revolutionsausschüsse — statt Kommunen — als neue Ordnungsmacht bilden sollten und sogleich damit begannen. In Peking wurde ein Sonderausschuß zur Rehabilitierung und Rückführung verfemter Parteifunktionäre geschaffen. Seine Beratung übernahm Ministerpräsident Tschu En-lai, der zwischen den kämpfenden Parteifraktionen vermittelte und am nachdrücklichsten für die Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung eintrat. Gleichzeitig verfügte ein Sicherheitskomitee die unverzügliche Auflösung von zehn Organisationen der Jugend.

Trotzdem kam es im August 1967 zu noch schwereren Unruhen als im Januar, ja in vielen Teilen des Landes zu blutigen Kämpfen, wobei auch Maschinengewehre und Geschütze eingesetzt wurden. Es wurden sogar Kasernen gestürmt. Die Armee hielt im großen und ganzen Mao die Treue, jedoch gab es Gerüchte über zwei Putschversuche der Luftwaffe und den Übertritt einiger Garnisonen auf die Seite der Aufständischen. In den Gebieten nationaler Minderheiten machten sich separatistische Tendenzen bemerkbar. Einige Offiziere flohen in die Sowjetunion. Nach sowjetischen Berichten betrug die Zahl der Flüchtlinge aus der chinesischen Grenzprovinz Sinkiang rund 60 000 Personen. Das wurde indirekt in Peking bestätigt.

Die Neue Linke Aus der Schanghaier Kommune entwickelte sich die Neue Linke, wie sie zuerst in Osteuropa aufgetreten und später auch in westlichen Ländern aktiv geworden war.

Selbst wenn es zutrifft, daß die Gründung von Organisationen der Neuen Linken in China nicht vor dem zweiten Halbjahr 1967 erfolgte, so lassen sich aber schon im Januar und Februar dieses Jahres Hinweise auf ihr Entstehen unzweideutig aus offiziellen Berichten entnehmen. In einem der vielsprachigen Hefte über die Kulturrevolution ist beispielsweise zu lesen, daß, nachdem das Schanghaier Stadtkomitee der Kommunistischen Partei schon „niedergeschlagen" war, plötzlich „extrem linke Losungen" verbreitet wurden. Eine dieser Losungen war der Appell an die Massen, in konfiszierte Häuser der Kapitalisten einzuziehen, eine andere rief dazu auf, „öffentliche Gebäude in private Wohnhäuser umzuwandeln" Das ließ weder die Mentalität der alten Machtstruktur noch die der maoblinden Rotgardisten zu. Die Neue Linke war gegen Partei-und Staatsapparat, jedoch schwerlich dafür, „die individuellen Interessen auszuschalten und jene der Allgemeinheit zu fördern, ausgehend von den Gesamtinteressen des Staates(!)" Sie wollte vielmehr eine gleichzeitige Befreiung des Individuums und der Gesellschaft aus den Fesseln der Staatsräson. Ihre Mitglieder wandten sich gegen jede sklavische Haltung, spotteten über die Arbeitsdisziplin, gehorchten lediglich solchen Direktiven, die ihnen paßten, und wollten nur tun, was ihnen Spaß machte.

Die chinesische Neue Linke vereinigte also den politischen Ernst der jungen Polen und Ungarn mit dem spielerischen Lebensstil der amerikanischen Hippies. Sie betrachtete die Kulturrevolution sowohl als Mittel zum Sturz einer verhaßten Oberschicht wie auch als eine Möglichkeit zur individuellen Selbstbefreiung.

Der Neuen Linken Frankreichs könnte sie 1968 während der Mai-Revolution Vorbild gewesen sein. Auf diese Analogie wird man auch durch den Vorwurf hingewiesen, daß die betreffenden Rebellen in China imstande waren, selbst über Nichtigkeiten stundenlang zu diskutieren. Konnten sie mit einer Studienreform einverstanden sein, die sie zu Gebetsmühlen der Sprüche Maos machte und dazu zwingen wollte, jeden Tag zur Hälfte in einer Fabrik oder auf dem Feld zu arbeiten, während die Selbstbestimmung des Studiuminhalts — wie auf dem Medizinischen College Chungshan — als konterrevolutionär galt? Gegen die Neue Linke dürfte bereits jener Pekinger Leitartikel vom Januar 1967 gerichtet gewesen sein, nach dem die Große Demokratie nichts mit extremer Demokratisierung zu tun hat Vermutlich ist ihr Kern schon unter jenen zehn Organisationen zu suchen, die im Februar 1967 in Peking aufgelöst wurden. Ein Jahr später hieß es, die Ultra-Linke habe den strategischen Plan Mao Tse-tungs durcheinandergebracht. Es kann angenommen werden, daß sie letztlich der entscheidende Grund für die „große Allianz" mit den alten Funktionären in den Revolutionskomitees war, die nur noch dem Namen nach revolutionär sind.

Der Neuen Linken gehörten vor allem Studenten und Schüler an, in geringerem Maße auch junge Arbeiter und Soldaten. Wie im Westen verkörpert sie eine neue Jugend-bewegung. Soweit wir informiert sind, rekrutierte sie sich hauptsächlich aus der idealistischen internationalistischen und antibürokratischen Strömung innerhalb der Roten Garden, die nach ihrer Absicht dem „Hund-beißt-HundKampf" zwischen verschiedenen Fraktionen der Kommunistischen Partei entzogen werden sollten. Wo die Neue Linke Parteibüros oder Amtsgebäude des Staatssicherheitsdienstes stürmte, vergaß sie niemals, die Schwarzen Listen der politisch Verdächtigen zu vernichten. Als erste ihrer Organisationen, deren vorübergehende Existenz belegt ist, entstand am 3. August 1967 in Peking das „Corps des 16. Mai". Es bezog sich mit diesem Datum auf die Umbildung der zentralen Gruppe für die Kulturrevolution. Sie wurde so interpretiert, daß Mao den Willen bekundete, die alte Machtstruktur, wie sie sich zwischen 1949 und 1966 herausgebildet hatte, allen Widerständen zum Trotz zu vernichten und durch ein wahrhaft kommunistisches System zu ersetzen. Hierzu, glaubt das Corps, sei der Sturz Tschu En-lais als des Hauptrepräsentanten der Bürokratie unerläßlich. Die in Peking gegen Tschu En-lai verbreiteten Flugblätter sind sicherlich von der Neuen Linken herausgegeben worden. Näheres wissen wir bedauerlicherweise nur vom „Scheng-wu-lien", einem Bündniskomitee von etwa zwanzig Organisationen, deren Dokumente Klaus Mehnert veröffentlicht hat. Es entstand am 11. Oktober 1967 in Maos Heimatprovinz Hunan. Ob die einzelnen Mitgliedsverbände nicht lange vor diesem Komitee gegründet worden sind, ist nicht bekannt.

Auch das „Scheng-wu-lien" trat gegen Tschu En-lai und für Mao Tse-tung auf, aber aus seinem Programm, seinen Resolutionen und seiner Situationsanalyse tritt uns ein sehr kritischer Maoismus entgegen. Der Ansatzpunkt ist China als Zentrum der kommunistischen Weltrevolution. Aber während die Kulturrevolution nach Mao den überbau der sozialistischen Basis anpassen soll, sieht die wirtschaftliche Basis Chinas für das „Scheng-wu-lien" nur sozialistisch aus. Die Kulturrevolution soll daher Basis und überbau zugleich umwälzen. Das „Scheng-wu-lien" stürzte sich auf Maos Vision, ganz China in eine Volkskommune zu verwandeln. Das muß nach seiner Ansicht eine bürokratiefreie Gesellschaft ergeben. Die Neue Linke wagte es, Mao daran zu erinnern, daß die Revolutionskomitees nur Übergangsorgane zur Kommune sein sollten. Sie fand es daher „schwer verständlich", daß er plötzlich gegen die Volkskommune Schanghai aufgetreten war und fatale Kompromisse mit der Bürokratie geschlossen hatte. Jedoch suchte sie die Ursache nicht allein in seinem Opportunismus, sondern auch im politischen Geschick der „roten Bourgeoisie", in den „reaktionären sozialen Gewohnheiten des Volkes" und in ihrer eigenen Unreife, das heißt in der noch bestehenden Unfähigkeit, große Massen in Bewegung zu setzen. Ihre Dokumente haben daher zweifellos auch der Selbstverständigung gedient, zumal in ihnen ausdrücklich betont worden ist, daß es darauf ankomme, den spontanen Charakter der Revolution auf eine theoretisch bewußte Stufe zu heben.

Die Situationsanalyse unterscheidet sich zwischen der Januar-und August-Erhebung des Jahres 1967. Beide zusammen ergaben nach Meinung der Führungsgruppe des „Schengwu-lien" die bisher „größte Revolution in der Geschichte" der Menschheit.

Im Januar sammelte sich das Volk zum Sturm, besetzte die städtischen Verwaltungsbehörden, verjagte einen großen Teil der Funktionäre und übernahm die Aufgaben von Partei und Regierung. Die Arbeiter ergriffen Besitz von der Industrie und richteten in den Betrieben ihre eigenen Machtorgane ein. „Das Volk hatte plötzlich entdeckt, daß es ohne die Bürokraten nicht nur weiterlebte, sondern sogar besser lebte. . . Das Kohleministerium brach zusammen, aber die Kohleproduktion lief wie gewöhnlich. Das Eisenbahnministerium brach zusammen, aber der Verkehr funktionierte wie gewöhnlich. Alle Abteilungen der Parteikomitees in den Provinzen brachen zusammen, aber die Arbeit ging weiter wie gewöhnlich. Zudem war die Arbeiterklasse in ihrer Begeisterung und ihrer Produktionsinitiative wesentlich freier geworden. Daß die Arbeiter die Fabriken im Januar selbst leiten konnten, war sehr erregend. . . Zum erstenmal hatten sie das Gefühl, für sich selbst zu produzieren. . . Die Gesellschaft befand sich in einer Situation der Massendiktatur’ ähnlich jener der Pariser Kommune."

Aber eine Gegenströmung der Bürokratie im Februar 1967 entwand dem Volk wieder die Produktionsmittel und die Macht. Viele Revolutionäre wurden verhaftet. Tschu En-lai ließ schleunigst im ganzen Land . Revolutionsausschüsse'bilden, um die Restauration zu tarnen und zu konsolidieren.

Die August-Erhebung führte zu kriegsartigen revolutionären Unruhen in vielen Teilen des Landes. Diesmal bewaffnete sich das Volk auf Kosten und teils auch mit Hilfe der Armee. Es kam zu einer umfangreichen Waffenraub-Bewegung und zum Revolutionskrieg gegen die privilegierte Oberschicht. Das Volk stellte eine eigene bewaffnete Macht neben der Armee auf. Im gesamten Militärbezirk von Kanton brach die bürokratische Herrschaft zusammen. Vorübergehend gerieten auch die Städte wieder unter eine Massendiktatur. „Nie zuvor war das revolutionäre Volk auf der Bühne der Geschichte so als Herr der Weltgeschichte aufgetreten wie im August. Elementarschüler wirkten von sich aus im Verbindungs-und Sicherheitswesen, auch als Verkehrspolizisten, und der Stolz, mit dem Massenorganisationen wie , Sturm über dem Hsieng-Fluß’ und . Roter Mittelausschuß unmittelbar die finanzielle und wirtschaftliche Macht ausübten, machte auf das Volk einen unvergeßlichen Eindruck."

Aber im September kam es zum Rückschlag. Abermals bemächtigte sich die rote Bourgeoisie der Früchte des Sieges. Doch die zurückgeschlagenen Massen weigerten sich, ihre Waffen abzugeben. Im ganzen Lande entwickelte sich eine „Versteckt-die-Waffen-Bewegung".

Das Scheng-wu-lien faßte das Ergebnis dieser denkwürdigen Analyse, die freilich gewisse Übertreibungen des Erfolgs der Aufständischen zu enthalten scheint, in einem Programm zusammen, das folgende Punkte fixierte: 1. Völlige Zerstörung der alten Staats-maschine, die den Revolutionskomitees als Rückhalt dient; 2. Zerschlagung auch der Revolutionskomitees zugunsten der Errichtung von Kommunen;

3. Abschüttelung der von opportunistischen Ideen korrumpierten Führer (womit auch Mao Tse-tung gemeint sein kann); 4. Verwirklichung der Großen Demokratie (womit vor allem freie Diskussion und die Bildung von Räteorganen, einschließlich einer Arbeiterselbstverwaltung in den Betrieben, gemeint waren); 5. Beseitigung des Gegensatzes zwischen Armee und Volk, vor allem durch Schließung oder Sozialisierung der Kasernen und der Durchdringung der Armee von unten her; 6. Schaffung einer neuen Kommunistischen Partei, in der niemand privilegiert ist und entsprechend hohe Gehälter empfängt; 7. pausenlose Fortführung der Kulturrevolution bis zur Errichtung einer bürokratie-losen Gesellschaft, um das Werk der Januar-August-Erhebungen zu erneuern und zu vollenden.

Wie ernst die Gefahr der Neuen Linken angesehen wurde, ergab sich daraus, daß die Mao-Zentrale im Januar 1968 in der Hauptstadt Hunans eine dreitägige Massenschulung von 100 000 Personen gegen das „Scheng-wu-lien" durchführte, auf der vier ihrer fünf Mitglieder sprachen.

Uber das Schicksal der Studenten und Schüler ist nichts bekannt. Wir wissen nur, daß einer von ihnen, Yang Hsi-kuang, die Verbindung zwischen dem „Scheng-wu-lien" und dem Pekinger „Corps des 16. Mai" hergestellt hat. Eine andere Organisatorin der Neuen Linken mit dem Nachnamen Hsie, damals eine 18jährige Schülerin, bestieg am 18. August 1966 beim Vorbeimarsch der Roten Garden an Mao Tse-tung eigenmächtig die Tribüne, kam im Februar 1967 ins Gefängnis und entfachte kurz nach ihrer Freilassung schon wieder eine Demonstration. Der 22jährige Kunstschüler Tschiang Tschia-tscheng wurde beschuldigt, die Ablieferung seiner Waffen verweigert, Premierminister Tschu En-lai verleumdet, den Vorsitzenden Mao angegriffen und die Weisungen des Verteidigungsminister Lin Piao mißachtet zu haben. Da 1968 viele „Konterrevolutionäre" öffentlich hingerichtet worden sind, muß angenommen werden, daß die führende Gruppe der Neuen Linken nicht mehr lebt und ihre Anhänger deportiert worden sind.

Vermutlich sind an der Gründung des „Schengwu-lien" und des „Corps des 16. Mai" Deportierte aus den Jahren 1957/58 beteiligt gewesen, die in den Wirren der Kulturrevolution aus ihren Verbannungsorten flohen. Hierfür spricht das „dringende Zirkular" der Mao-Zentrale vom 8. Oktober 1967, das verlangte, alle auf eigene Faust aus den Bergen und Dörfern in die Städte gekommenen jungen Intellektuellen sofort zurückzuschicken und „die Organisationen und Verbindungspunkte, die die jungen Intellektuellen und andere zur Arbeit im Dorf und in den Bergen entsandten Leute in den Städten gebildet haben, unverzüglich aufzulösen" Aber noch im Februar 1968 klagten verschiedene Zeitungen über eine Woge der Anarchie.

Die chinesische Neue Linke — im Untergrund besteht sie zweifelsohne weiter — war keine Anhängerin der Gewaltlosigkeit, sondern im Gegenteil von der Überzeugung durchdrungen, daß dauerhafte und strukturelle Veränderungen der Gesellschaftsordnung allein durch Gewaltanwendung erreicht werden können. Selbst Mao erschien ihr in dieser Hinsicht zu zaghaft. Sie versuchte daher eine Revolution innerhalb der Kulturrevolution, um diese über ihre relativen Ziele hinauszutreiben. Insofern stand sie links von Mao Tse-tung, auf dessen Sprüche und Direktiven sie sich mit großer Geschicklichkeit stützte. Im Januar und August 1967 scheint ihr die Verbindung mit revolutionären Kreisen innerhalb des Volkes gelungen zu sein. Der Höhepunkt ihres Wirkens fiel vermutlich in diese Monate, als sich innerhalb vieler Städte, in denen die Partei-und Staats-behörden zerschlagen, aber noch keine Revolutionskomitees im Sinne der offiziellen Dreierallianz gebildet waren, neue Ordnungsorgane kristallisierten, die in Maos Augen konterrevolutionären Charakter besaßen. Offenbar hat er es nur der Armee zu verdanken, daß er damals nicht gestürzt worden ist.

Das Dilemma Mao Tse-tungs Man kann die Kulturrevolution nicht verstehen, ohne die geradezu panische Angst Mao Tse-tungs vor einer Revolution wie in Ungarn zu berücksichtigen, deren Wurzeln seiner Ansicht nach in den jugoslawischen Reformen liegen, die auch die Sowjetunion infizierten und auf den Weg des „spießerischen Gulasch-kommunismus" führten. Indessen legte die Kulturrevolution noch mehr als die Hundert-Blumen-Diskussion von 1957 Bestrebungen frei, die in dieselbe Richtung wie in Jugoslawien, Ungarn und zum Teil auch in der Sowjetunion wiesen. Die Jugendlichen, insbesondere die Studenten und Schüler, haben nach Mao Tse-tung ihre Prüfung nicht bestanden. In seiner Rede vom 31. August 1967 erklärte er, daß es eine fast „hoffnungslose" Aufgabe zu sein scheine, Nachfolger der Revolution unter den Intellektuellen heranzuziehen, die, einschließlich der Studenten und Schüler, „im Grunde eine bourgeoise Weltanschauung" hätten. Mit Ausnahme der Wissenschaftler und Techniker, deren man bedarf, um Chinas Groß-machtstellung zu sichern, wurde die Intelligenz insgesamt auf die Liste der „schwarzen Elemente" gesetzt, was in der Geschichte des Kommunismus ohne Beispiel ist.

Im Juli und August 1968 haben maoistische Propagandatrupps die Universitäten und höheren Schulen besetzt, deren Verwaltung sie auf unbegrenzte Zeit übernehmen sollen. In diesen Propogandatrupps sind vor allem Arbeiter tätig, um, wie es heißt, die Führungsrolle des Proletariats in der Kulturrevolution zu garantieren. Aber denselben Arbeitern wird die Selbstverwaltung ihrer Betriebe vorenthalten, die sie im Januar und August 1967 gekostet haben. Außerdem werden sie von Kommandeuren und Kommissaren der Armee „beraten". Doch auch die Armee wird gesäubert.

Wem traut Mao Tse-tung überhaupt noch? Ist er nicht wieder allein, diesmal ohne die Massen? Sein Bündnis mit einem Teil der alten Funktionäre zwingt ihn, auf die ursprünglichen Ziele der Kulturrevolution zu verzichten oder sie zumindest auf unbegrenzte Zeit zurückzustellen. Das kann zu einem nochmaligen Durchbruch der Neuen Linken führen, die Djilas Begriff der „neuen Klasse" ausgenommen und wie eine Bombe gegen die neue Machtstruktur der Revolutionskomitees geschleudert hat, in der sie nur einen Abklatsch der alten kommunistischen Bürokratie sieht.

Für und wider den Monopolsozialismus (Polen)

Die Krise des Gomulka-Regimes, das sowohl die Altstalinisten als auch die demokratischen Kommunisten bekämpfte, hielt an und vertiefte sich. Hierbei wurde die noch von Chruschtschow geprägte Linie des Zweifrontenkampfes gegen Dogmatiker und Revisionisten verfolgt. Gomulka gelang es, seine Rolle als außenpolitischer Berater des Kreml auch bei Breschnew beizubehalten. Das war für ihn um so wichtiger, als ein anderer Mann, Gierek, bei den Sejm-Wahlen Mitte 1965 mehr Stimmen als er selbst erhielt, darüber hinaus auch eine eigene Fraktion in der Partei aufzubauen begann. Doch nicht nur Gomulkas Popularität schwand, auch seine innerparteiliche Autorität bröckelte ab. Sein Vorschlag erhöhter Investitionen für die Schwerindustrie wurde auf einer Sitzung des Zentralkomitees Ende November 1964 zugunsten großzügigerer Förderung der Landwirtschaft verworfen. Der 1957 gebildete Wirtschaftsrat löste sich wegen schwerwiegender Differenzen seiner Mitglieder auf. Polen gab als erstes kommunistisches Land eine größere Zahl von Arbeitslosen zu, obwohl die Planwirtschaft Arbeitslosigkeit vollständig ausschließen sollte.

Machtzuwachs der Partisanen Die polnische Politik geriet immer mehr in das Fahrwasser der Partisanen, jener Fraktion der ehemaligen Heimatkommunisten, die anfangs Gomulka unterstützt hatte und ihn nun zu verdrängen versuchte. Moczar, der Führer der Partisanen, stieg im Dezember 1964 zum Innenminister auf. Im Juli 1968 ist er Kandidat des Politbüros und Sekretär des Zentralkomitees geworden. Die Delegierten des kommunistischen Jugendkongresses vom Januar 1968 begrüßten ihn mit langanhaltendem Beifall. Auch Strzelecki, der sich Moczar aus dem Kreis der Altstalinisten angeschlossen hatte, wurde freundlich begrüßt; er war vom Kandidaten zum Vollmitglied des Politbüros aufgerückt und leitete nun die Personalabteilung der Parteizentrale. Offenbar hatten die Partisanen einen beträchtlichen Teil zumindest des Funktionärskorps der kommunistischen Jugend hinter sich gebracht. Sie stellten sich als dynamische „Erneuerer" vor und schürten den Generationskonflikt durch den versteckten Hinweis, daß die alte Garde der Gomulkisten den Aufstieg der Jungen blockiere. Jedoch gaben die Partisanen auch zu verstehen, daß ein Personenwechsel längst nicht genügt, um der Aufweichung des Systems zu begegnen. Moczar stellte sich an die Spitze der polnischen Gegenrevolution. Seine Macht stieg im gleichen Maße, wie sein Ansehen in der Bevölkerung sank. Schon 1965 rutschte er im Kielcer Wahlkreis der Stimmenzahl nach auf den letzten Platz ab. Diese Niederlage schien jedoch seine Neigung zu Zwangsmitteln noch zu verstärken. Bereits der Prozeß gegen den Schriftsteller Wankowicz Ende 1964 ließ das Ziel erkennen, die demokratisch gesinnte Intelligenz aus dem öffentlichen Leben zu verdrängen und'die polnische Gesellschaft erneut einer absoluten Kontrolle zu unterwerfen. In die gleiche Richtung wies der Prozeß gegen den Literaturkritiker und Musiker Szpotanski, der eine von ihm verfaßte Operette „Die Stillen und die Schnatterer" lediglich in einem privaten Kreis vorgeführt hatte. Es ging die ominöse Anklage antipolnischer Tätigkeit um.

Unruhen während des Milenniumjahres Als „antipolnisch" galt den Partisanen wegen ihres römischen Zentrums auch die katholische Kirche. Ihr wurde im Milenniumjahr 1966 ein Prozessionsverbot auferlegt, um die öffentliche Verabschiedung der Kopie des Muttergottesbildes von Tschenstochau zu verhindern. Obwohl sich der Klerus dieser Anordnung beugte, demonstrierten die Gläubigen im Juni 1966 vor dem Palais des Kardinals in Warschau. Zunächst riefen sie nur nach dem Primas; aber die Stimmung schlug schnell um, und sie wandte sich drohend gegen das politische Regime und werbend an die schauende Menge. Schon klang die Nationalhymne auf: „Noch ist Polen nicht verloren ..." Dann schrien einzelne Demonstranten: „Es lebe die Freiheit!" Wenig später setzte sich der Zug auf die Hauptstraße zu in Bewegung und riß Hunderte mit. Die Gläubigen schlugen rufend und singend den Weg zum Gebäude des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei ein. Unterwegs durch eine Absperrungskette der Polizei gestoppt, wichen sie zurück, sammelten sich wieder und gingen abermals vor. Nun schlug die Polizei mit Holzknüppeln zu und trieb die Demonstranten auseinander. Niemand leistete Widerstand, aber in der knisternden Atmosphäre blieb ein Funke zurück. Auch in Krakau fand eine Demonstration statt, und die Lubliner Katholiken verzichteten trotz des Verbots nicht auf die Prozession. So enthüllte sich die Labilität des Regimes.

Eine oppositionell-marxistische Denkschrift Am 14. November 1964 wurden die Studenten bzw. Assistenten Kuron, Modzelewski und Hass verhaftet, die alle an der Warschauer Universität studierten oder dort beschäftigt waren, wo als Überbleibsel des „polnischen Oktobers" ein Diskussionsklub bestand, den Modzelewski leitete. Er hatte zusammen mit Kuron eine Studie über die Situation in Polen verfaßt, deren Hauptgedanken, von Hass sekundiert, im Klub diskutiert worden waren. Die Verhaftung diente anscheinend vor allem der Beschlagnahme des Manuskripts. Kuron und Modzelewski kamen nach zwei Tagen wieder frei. Hass, der als angeblicher Trotzkist sechzehn Jahre seines Lebens in Zwangsarbeitslagern und Gefängnissen der Sowjetunion eingebüßt hatte, blieb ein ganzes Jahr inhaftiert; offenbar hielt man ihn für den Initiator der Denkschrift. Deren Inhalt war so aufrührerisch, daß Modzelewski sein Stipendium und Kuron seine Funktion als der polnischen -Vorsitzender Pfadfin der verlor. Beide wurden am 29. November 1964 aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen. Der Staatssicherheitsdienst verfolgte auch vier ihrer Freunde. Man verdächtigte sie der Zusammenarbeit mit dem Westen. Kuron und Modzelewski verfaßten daraufhin zu ihrer Verteidigung einen „offenen Brief an die Partei" als des einzigen Mittels, das ihnen noch um ihren blieb, Standpunkt darzulegen und ihre Haltung zu erklären.

Der „offene Brief" enthielt eine der reifsten marxistischen Analysen, die seit dem Tode von Marx und Engels geschrieben worden sind. Nur Mehring („Die Lessing-Legende ), Trotzki („Geschichte der russischen Revolution"), Djilas („Die neue Klasse") und Kolakowski („Mensch ohne Alternative") haben ähnlichen Scharfsinn bewiesen. Die von den jungen polnischen Marxisten vorgelegte Analyse griff nach den Wurzeln des zeitgenössischen Kommunismus und stellte nicht nur diese oder jene seiner Erscheinungsformen, sondern seine Gesamtheit in Frage.

Nimmt man Kolakowski zum Vergleich, so überbot er die beiden Verfasser zwar durch seine philosophische Tiefgründigkeit, doch blieb er infolge des fragmentarischen Charakters seiner politischen Analysen hinter der Geschlossenheit ihres Konzeptes zurück. Der von Kuron und Modzelewski gegen die polnische Linke erhobene Vorwurf, 1956 die Ausarbeitung eines klaren Programms versäumt zu haben, traf auch ihn; sein Projekt und Aktionsprogramm einer „neuen Linken" war erst im Februar 1957 veröffentlicht worden, als die Flut des „polnischen Oktobers" bereits einer Ebbe wich.

Der „offene Brief" war ein Konzentrat der beschlagnahmten Denkschrift. In ihm wurde der Anspruch des kommunistischen Systems, die Verwirklichung des Marxismus zu sein, mit den realen Gegebenheiten in Polen und anderen Ländern verglichen. Die Verfasser fragten: Was hat sich unter dem marxistischen Gesichtspunkt, daß die jeweiligen Produktionsverhältnisse die Verhältnisse der gesamten Gesellschaft bestimmen und stets der Klassenstruktur entsprechen, im Verlauf der Nachkriegszeit verändert? Ihre Antwort: Das Privateigentum an den meisten Fabriken und Betrieben wurde in Staatseigentum überführt.

Dies noch keinen bedeutete jedoch Sozialismus. „Staatseigentum an Produktionsmitteln ist nur eine spezifische Form des Eigentums.

Es gehört den gesellschaftlichen Gruppen, denen der Staat gehört." Der Staat gehört der Kommunistischen Partei, die ihn zu ihrem Werkzeug gemacht hat, eine Monopolstellung besitzt und andere politische Organisationen nur als ihre Satelliten duldet. Doch sie selbst ist ebenfalls zum Werkzeug geworden, und zwar des Parteiapparats. Er stellt eine hierarchisch aufgebaute und durchorganisierte Bürokratie dar, die alle Macht in ihren Hän-den konzentriert. Im Rahmen dieses Apparats fallen Partei-und Machtelite zusammen. Seine Mitglieder bilden eine politische Monopol-bürokratie, die sich jeder gesellschaftlichen Kontrolle entzieht und nicht bereit ist, ihre Macht zur Diskussion zu stellen: daher der kommunistische Führungsanspruch innerhalb eines formalen Mehrparteiensystems (außer der KP bestehen noch zwei andere Parteien, die zwar organisatorisch selbständig, aber politisch abhängig sind) und die Einheitslisten bei den Sejm-Wahlen.

Auch innerhalb der kommunistischen Organisation gibt es keine Freiheit. Die Delegierten-und Funktionärswahlen in der Kommunistischen Partei sind Farcen, weil sie nicht auf der Grundlage verschiedener Auffassungen und Programme stattfinden, sondern nach monolithischen Prinzipien gelenkt werden. Entscheidungen fallen nur von oben nach unten. Statt einer Diktatur des Proletariats besteht die Diktatur der Monopolbürokratie, deren gesellschaftliche Basis eine privilegierte Schicht von Beamten, Propagandisten und Technokraten ist, die mit dem von der Arbeiterschaft erzeugten Mehrwert gefüttert und korrumpiert wird. Die politische Macht der Monopolbürokratie wurzelt in der kollektiven Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel. In der Arbeiterschaft wittert sie ihren gefährlichsten Feind. Deshalb wurden die Arbeiter aller Mittel zur Selbstverteidigung beraubt. Der Kampf um höhere Löhne gilt als gesetzwidrig und staatsfeindlich. Gleichzeitig ist es der Arbeiterschaft unmöglich gemacht, eigene Parteien zu bilden. Sie darf kein anderes Programm als das der Kommunistischen Partei von der Monopol-bürokratie oktroyierte formulieren, und sobald sie es versucht, geht man mit staatlichen Machtmitteln gegen sie vor. Durch die Kommunistische Partei werden die Arbeiter einerseits zum gehorsamen Dienst für die Monopol-bürokratie organisiert und andererseits in bezug auf die Vertretung ihrer eigenen Interessen desorganisiert. Sie bilden nach wie vor die unterste und eine ausgebeutete Klasse der Gesellschaft.

Auch im scheinbar sozialistischen Polen, nicht nur in dem der Vorkriegszeit, entspricht die Flöhe des Arbeitslohns meist nur dem Existenzminimum. Im Jahre 1952 ist der durchschnittliche Arbeiter ein Drittel des Tages zur Befriedigung seiner elementaren Bedürfnisse und zwei Drittel zur Produktion von Mehrwert tätig gewesen, der ihm hauptsächlich entzogen wurde, um den gewaltigen Funktionärsapparat zu unterhalten und das bestehende Regime abzustützen. Der Arbeiter „produziert das Existenzminimum für sich und unterhält die Staatsmacht gegen sich. Das Produkt seiner Arbeit stellt sich ihm als eine ihm fremde und feindliche Macht entgegen, weil er es zwar erzeugt, es ihm aber nicht gehört." Die Arbeiter sind noch immer gezwungen, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, und die Entfremdung der Produzenten vom Produkt besteht ebenfalls fort.

Die Monopolbürokratie verfolgt das Ziel, die bestehenden Herrschafts-und Produktionsverhältnisse zu konservieren. Sie gerät hierbei in einen unüberbrückbaren Konflikt mit dem größten Teil der Gesellschaft, zumal ihre Produktion um der Produktion willen für die Befriedigung der gesellschaftlichen Bedürfnisse nur Brosamen abfallen läßt. 1956 fand die erste antibürokratische Erhebung in Polen statt. Der „polnische Oktober" brachte jedoch nur eine andere, liberalere Gruppe der Monopolbürokratie an die Macht, und Anfang 1958 waren alle Errungenschaften schon wieder beseitigt. Da die aus Intellektuellen und Arbeiterfunktionären zusammengesetzte Oktober-linke es versäumte, eine eigene Organisation zu bilden und ein klares Programm auszuarbeiten, hat sie ungewollt zur weiteren Aufrechterhaltung des bürokratischen Systems beigetragen. Jetzt ist dieses System in eine allgemeine — ideologische, politische, ökonomische und moralische — Krise geraten, aus der es mit seinen eigenen Mitteln nicht mehr herausfinden kann. Zwangsmaßnahmen dienen als Ersatz für Reformen, für die kein Spielraum mehr besteht, spitzen aber den Konflikt zwischen Monopolbürokratie und Gesellschaft immer mehr zu. Solange die industrielle Basis Polens noch nicht geschaffen war, lag die Politik der forcierten Industrialisierung trotz ihrer erschreckenden Begleitumstände im Interesse des Landes. Nun entspricht das Primat der Schwerindustrie, da es weitgehenden Konsumverzicht aller nichtprivilegierten Schichten bedingt, nur noch dem eigensüchtigen Interesse der Flerrschenden und ihrer Helfer. 1963 war in Polen mit nur 66, 1 °/o der geringste Anteil des individuellen Konsums am Volks-> einkommen seit dem Ende des Zweiten Welt-1 kriegs zu verzeichnen. Die einst solide gesellschaftliche Basis der Monopolbürokratie schmilzt dahin.

Da ihre Politik zu schwerwiegenden Disproportionen in der Wirtschaft geführt hat, kann weder der Konsumanteil noch mehr eingeschränkt werden, ohne eine politische Katastrophe heraufzubeschwören, noch ist die volle Ausnutzung der vorhandenen Produktionskapazität möglich, was wachsende Arbeitslosigkeit bedeutet. Der Widerspruch zwischen dem niedrigen Konsumniveau und dem ausgebauten Industriepotential untergräbt das System und macht den Zusammenbruch der monopolbürokratischen Diktatur unvermeidlich. Die einzige Lösung der Krise besteht in einer Revolution. Die Monopolbürokratie muß gestürzt und durch eine Arbeiterdemokratie ersetzt werden, keinesfalls jedoch durch eine parlamentarische Demokratie, die als Rahmen einer sozialistischen Gesellschaft unbrauchbar ist, weil sie die Legislative von der Exekutive und die Wähler von den Gewählten trennt, überdies auch keine geeigneten Abwehrmittel gegen Diktaturgelüste enthält. Solche Mittel können nur Arbeiterräte sein. Der Arbeiterschaft obliegt die Führung der antibürokratischen Revolution. Doch die politischen Fronten können sich erst in einem fortgeschrittenen Stadium der ökonomischen Krise klären. Das stärkste revolutionäre Element stellt die Jugend dar. Um die Monopolbürokratie zieht sich nicht allein ein waffenstarrender Macht-apparat — der freilich wie in Ungarn binnen weniger Tage zusammenbrechen kann , sie wird auch durch psychische Mauern geschützt, die durch die Autorität der Macht, durch Angst und durch Abfindung mit den bestehenden Verhältnissen gebildet werden. Wenn eine revolutionäre Situation diese Mauern durchbricht, wird das Ende des monopolbürokratischen Systems gekommen sein. Es muß durch die Erhebung der gesellschaftlichen Mehrheit gegen die diktatorische Minderheit hinweggefegt werden. Diese Revolution ist zui unerläßlichen Bedingung für das Fortschreiten Polens geworden. Zur Vermeidung eines Bürgerkriegs sind zwar friedliche Mittel vorzuziehen, aber notfalls muß man zu den Waffen greifen, deren Produzenten die Arbeiter sind.

Hier das Programm von Kuron und Modze lewski, die es innerhalb und außerhalb der Universität zur Diskussion gestellt haben. 1. Zulassung mehrerer Arbeiter-und eventuell auch Bauernparteien;

2. Übergabe der Fabriken an eigenständige Arbeiterräte, denen auch das betriebliche Management unterstellt wird; 3. Ausbau der Arbeiterselbstverwaltung zu einem gesamtnationalen Rätesystem, in dem die Produzenten über die Ziele der Produktion, über den Umfang der Investitionen und über die Verwendung des Nationaleinkommens selbst bestimmen; 4. Fraktions-und Programmfreiheit in den politischen Organisationen;

5. Trennung der Gewerkschaft vom Staat;

Gewährleistung des wirtschaftlichen und politischen Streikrechts; 6. Freiheit für Forschung und Lehre, für Kunst und Literatur;

7. Abschaffung der Zensur;

8. Auflösung des Staatssicherheitsdienstes; 9. Ersetzung der regulären Armee durch eine Volksmiliz mit Ausnahme einiger Spezialeinheiten;

10. Umstellung der wirtschaftlichen Produktion von der abstrakten Planerfüllung auf die konkrete Bedürfnisbefriedigung der Gesellschaft im Rahmen einer sozialistischen Marktwirtschaft.

Das Gesamtziel bestand in der Errichtung einer ausbeutungs-und entfremdungsfreien Selbst-verwaltungsgesellschaft, die ihre stalinistisch-bürokratischen Fesseln gesprengt hat. Aus einer neuen Revolution geboren, sollte sie das Räte-mit dem Mehrparteiensystem verbinden.

Die Entschleierung des scheinsozialistischen Charakters der Regierungsform in Polen und anderen Ländern führte zu der Erkenntnis, daß die bestehende Ordnung in Osteuropa nur insofern sozialistisch oder kommunistisch ist, als Kommunistische Parteien an der Macht sind. An die Stelle der formalmarxistischen soll eine realmarxistische Gesellschaftsform treten. Der ökonomische Hauptunterschied würde darin bestehen, daß die Produktionsmittel nicht mehr verstaatlicht, sondern vergesellschaftet sind. Jedoch lehnten Kuron und Modzelewski eine Nachahmung Jugoslawiens ab, weil die Wirtschaftsordnung dieses Landes in ihren Augen technokratisch ist. Das jugoslawische System sei ein Gemisch von monopolbürokratischer Diktatur und Arbeiterdemokratie, ein Halbsozialismus, in dem sich die Technokra-tie zur herrschenden Klasse aufschwingt. Diese Kritik war ein neues Moment.

Die Verfasser zerstörten zugleich den Mythos vom Arbeiterstaat, da sie an Hand von statistischen Unterlagen nachweisen konnten, daß die polnischen Arbeiter im allgemeinen noch kaum über das Existenzminimum hinausgelangt sind. Ihre bedeutendste theoretische Leistung war aber das Aufzeigen des Doppelcharakters der herrschenden Kommunistischen Parteien. An der Spitze sind sie durchorganisierte Bürokratien, an der Basis Werkzeuge der Desorganisation, um die Mitglieder an der politischen Mitbestimmung zu hindern und ihren Widerstandsgeist zu absorbieren. Je organisierter die Bürokratien und je desorganisierter die Mitglieder sind, desto reibungsloser läuft der Befehlsmechanismus und desto fester steht das Regime. Die Kommunistischen Parteien sollen lautlos laufende Maschinen im Dienste der Monopolbürokratie sein. Deren System unterscheidet sich sowohl von einer Räteverfassung als auch von einer Parteidiktatur. In diesem Sinne hat die UdSSR seit der Oktoberrevolution bereits das dritte Regime. Anfangs entstand ein Rätesystem, dann durch Entmachtung der Räte eine Diktatur der Partei, schließlich durch Entmachtung der Partei eine monopolbürokratische Herrschaft, deren Eigentum an den Produktionsmitteln nicht auf einem Rechts-, sondern auf einem Machttitel fußt. Der Kollektivbesitz festigt den Zusammenhalt der neuen Eigentümerklasse und wirft sogar noch größeren Nutzen als der Privatbesitz ab, weil ihm über die Macht das gesamte öffentliche Vermögen zur Verfügung steht. Hier liegt auch die Erklärung, warum sich die Bürokratie unrentable Betriebe leisten kann. Kuron und Modzelewski ergänzten die Analyse von Djilas, der einer ihrer Vorläufer war. Indem sie untersuchten, was den „polnischen Oktober" nach anfänglichen Erfolgen scheitern ließ, gingen sie ferner über Kolakowski hinaus. In ihrem Dokument spiegelte sich so klar wie noch nirgends das politische Bewußtsein des marxistischen Flügels der osteuropäischen Revolution. Es ließ erkennen, daß seine Verfasser ihre Bemühungen als notwendigen Bestandteil eines weltverändernden Geschehens verstanden.

Erstmals erkannten Marxisten nicht eine ganz bestimmte Klasse, sondern die Jugend aller Bevölkerungsschichten als das revolutionärste Element an. Andererseits hieß es, daß die Arbeiterschaft die Führung der Revolution ausüben müsse. Hier stießen traditionelle Prämissen des Marxismus mit neuen Erkenntnissen zusammen, die in das marxistische Denkschema schon nicht mehr hineinpaßten. Fielen die Grenzen der Analyse sonst mit den Grenzen des Marxismus zusammen, so waren sie an diesem Punkt gleichsam offen. Die Autoren kamen aus der Arbeiterbewegung und fühlten sich mit ihr verbunden, aber sie gehörten auch schon einer neuen Bewegung, der studentischen, an, die noch um ihr Selbstverständnis ringt und es allein aus dem Marxismus nicht zu gewinnen vermag.

Bis dahin hatte die innerkommunistische Opposition gezaudert, ob sie eine eigene Organisation oder gar eine eigene Partei gründen sollte. Ängstlich bemüht, sich nicht dem Vorwurf spalterischer Betätigung auszusetzen, begenügte sie sich meist mit der Bildung lockerer Diskussionsklubs. Kuron und Modzelewski überschritten auch diesen Rubikon. Ihr Programm war als Plattform für die Gründung jener Organisation der Neuen Linken gedacht, auf die man im Oktober 1956 verzichtet hatte. Sie riefen zur Bildung kleiner Gruppen und Zirkel auf, die sich nicht auf Diskussion beschränken, sondern zur politischen Aktion übergehen und allmählich zu einer neuen Partei vereinigen sollten.

Der Parteiausschluß Kolakowskis Nachdem Kuron und Modzelewski Kopien ihres „offenen Briefes" an die Kommunistische Partei und an die Sozialistische Jugendliga der Warschauer Universität geschickt hatten, wurden sie am 19. März 1965 — zusammen mit vier Studenten, die als ihre engsten Anhänger galten — abermals verhaftet. Eine von der physikalischen Fakultät bereits angesetzte Diskussion, an der 300 Studenten teilnehmen wollten, durfte nicht stattfinden. Protestversammlungen in zwei anderen Fakultäten verlangten die Freilassung der Festgenommenen. Die Studenten forderten die Einsetzung einer Kommission zur objektiven Beurteilung des „offenen Briefes", der die Professoren Kolakowski, Baumann und Brus (alle als „Revisionisten" bekannt) angehören müßten. Da eine solche Kommission auch vom Senat der Universität befürwortet wurde, kam sie tatsächlich zustande. Statt sich aber mit dem Inhalt des „offenen Briefes" zu befassen, entschied sie salomonisch, daß dieser Brief jenen zugänglich gemacht werden müsse, an die er adressiert sei, nämlich allen Mitgliedern der Kommunistischen Partei und ihres Jugendverbandes. Er wurde deshalb im Universi-B tätsbüro der Partei ausgelegt. Die Funktionäre machten jedoch die Einsicht von einer schriftlichen Erlaubnis abhängig, die sich jeder Interessent von der Parteiorganisation seiner Fakultät ausstellen lassen mußte. Sie registrierten auch alle Leser, forderten sie zu einer Stellungnahme auf und hielten ihre Ansicht schriftlich fest.

Dennoch oder gerade deshalb belebte sich das kritische Bewußtsein der Studenten. Schon zu Beginn des Prozesses gegen Kuron und Modzelewski, denen man wie Verbrechern Handschellen angelegt hatte, versammelten sich viele von ihnen vor dem Gerichtsgebäude. Einige Studenten durchbrachen die Polizei-kette und umarmten die Angeklagten, die sich Kolakowski und den Schriftsteller Brandys als Vertrauensmänner wählten. Modzelewski erhielt dreieinhalb, Kuron drei Jahre Gefängnis. Nach der Urteilsverkündung sangen ihre Freunde die Internationale. Zugunsten der Frauen der Verurteilten fand eine Geldsammlung statt. Als man in der Universität ein großes Transparent, auf dem die Freilassung der Verhafteten gefordert wurde, entfernte, veranstalteten die Studenten eine Prozession zum Grabe des Vaters von Modzelewski. Ein Teilnehmer schrieb: „Von diesem Tage an konnte man beobachten, daß sich Studenten auf dem Universitätsgelände in einer neuen Art zu grüßen begannen: sie erhoben voreinander die gefalteten Hände, um damit in Handschellen gefesselte Hände zu symbolisieren."

So entstand das Ritual einer neuen Bewegung. Zu dieser Zeit scheinen sich auch jene „geheimen Organisationen" an den Universitäten gebildet zu haben, von denen Ende 1966 die Rede war. Bei der Mai-Parade 1966 skandierten Studenten „Karol-Marx" und „Po prostu-Demokratie". Andere vervielfältigten und verbreiteten Gomulka-Reden aus dem Jahre 1956, die scharfe Anklagen gegen Unterdrückungsmethoden enthielten.

Zum 10. Jahrestag des „polnischen Oktober am 21. Oktober 1966 sprach Kolakowski in der Warschauer Universität. Der Andrang zum Hörsaal und die Menge der ihn dichtgedrängt Erwartenden waren so groß, daß er sich kaum durch die Eingangstür zwängen konnte. Doch seine Rede trug den Stempel der Resignation. „Bezeichnenderweise fehlt hierzulande die echte Demokratie. Es gibt sehr wenig Möglichkeiten, die Führung durch die Allgemeinheit zu wählen. Folglich wird diese Führung, die nicht wirklich gewählt wurde, eingebildet und überheblich. Es gibt keine Opposition, folglich auch keine Konfrontation zwischen jenen an der Macht und jenen ohne Macht. Folglich regieren in unserem politischen System Unfähigkeit und Bürokratismus. Die Regierung fühlt sich der Nation nicht verantwortlich. Es herrscht ein System von Privilegien für einige wenige, die sich außer und über das Gesetz stellen. Der Wortlaut der Verfassung kann verschieden und willkürlich ausgelegt werden; derartige Methoden wurden bisher nicht beseitigt. Es fehlt die öffentliche Kritik. Die Versammlungsfreiheit existiert nicht. Die Zensur ist überaus scharf. In der Literaturkritik, der modernen Soziologie und Zeitgeschichte ist die Situation womöglich noch schlimmer. Die Folgen sind dementsprechend tödlich. ... Es gibt keine Perspektive, keine Hoffnung. Der Staat, die Partei, die Gesellschaft insgesamt werden Opfer dieser Stagnation. Es gibt nichts zu feiern."

In der Diskussion forderte ein Redner die Partei-und Staatsführung unter lautem Beifall zum Rücktritt auf. Ein anderer schlug eine Resolution für die Freilassung von Kuron und Modzelewski vor. Die Versammlung wandte sich gegen die Zensur.

Als offizielle Antwort auf seine vernichtende Bilanz wurde Kolakowski aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen. Fünf Studenten — die aktivsten Diskutanten — mußten die Universität vorübergehend verlassen, ein weiterer — Adam Mischnik — verschwand im Untersuchungsgefängnis. Diese Maßnahmen lösten weitere Proteste aus. 21 Schriftsteller und 14 Professoren protestierten gegen den Ausschluß Kolakowskis, der als marxistischer Theoretiker, Philosoph und Schriftsteller weit über die polnischen Landesgrenzen hinaus einen bedeutenden Ruf erworben habe. Studenten sammelten 1036 Unterschriften für eine Petition zur Einstellung des Disziplinarverfahrens gegen Mischnik. Weitere Ausschlüsse, aber auch demonstrative Austritte (Brandys, Karst) folgten. Die Partei bildete eine Sonderkommission, um alle ihre Mitglieder an der Warschauer Universität zu überprüfen. Das Zentralkomitee wollte Kolakowski auch von seinem Lehrstuhl entfernen, stieß jedoch auf den energischen Widerspruch der wissenschaftlichen Akademie. Im Mai 1967 stellte einer der führenden Parteifunktionäre fest, die Diskussion um den Parteiausschluß des jungen Philosophieprofessors habe eine fast fanatische Opposition im Geiste ständiger Negation aufgedeckt.

Die neue Studentenrevolte Der Henryk des Fall Holland, die Ignorierung gegen die Zensur gerichteten Briefes der 34, mehrere Prozesse gegen Schriftsteller und Komponisten, die Affäre Kuron-Modzelewski und der Ausschluß Kolakowskis hatten eine ständig wachsende Unruhe unter den Studenten hervorgerufen. Diese Unruhe war zwar schon mehrfach aufgeflackert,'erreichte ihren Siedepunkt aber erst im März 1968, als das Nationaldrama „Die Totenfeier" vom Spielplan abgesetzt werden mußte.

Dieses gegen die zaristische Despotie gerichtete Drama des großen polnischen Dichters Adam Mickiewicz hatte Beifall auf offener Szene gefunden und durfte daher, obwohl es nach dem Krieg schon siebzehnmal gespielt worden war, mit Rücksicht auf die Sowjetunion nicht länger aufgeführt werden. Das löste spontanen Protest aus. Dem Ende der letzten Vorstellung folgte eine Demonstration, an der viele Studenten beteiligt waren. Sie sammelten 3000 Unterschriften für die weitere Aufführung des Stückes. Zwei von ihnen wurden relegiert, sechs andere hatten ein Disziplinarverfahren zu erwarten. Hiergegen fand eine Protestversammlung auf dem Flos der Warschauer Universität statt. Als sich die Studenten weigerten auseinanderzugehen — sie lachten, als der Prorektor sagte, daß ihre Versammlung illegal (weil von der Partei nicht genehmigt) sei —, setzte man Polizei gegen sie ein. Eine Studentin mußte mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus gebracht werden. Dies geschah am 8. März 1968.

Am nächsten Tage ging das Gerücht um, die geschlagene Studentin liege im Sterben. Nun griff die Erregung auch auf das Warschauer Polytechnikum über. Die jungen Leute versammelten sich mittags im Auditorium maximum, wo eine Delegation der Warschauer Universität zu ihnen stieß. Demonstrativ wurde wegen falscher Berichterstattung eine Zeitung verbrannt. Dann strömten etwa 3000 Studenten auf die Straße. Sie bildeten einen Demonstrationszug und setzten sich in Richtung auf das Redaktionsgebäude der betreffenden Zeitung in Bewegung. An der Spitze entrollte man eine weißrote Fahne. Sprechchöre riefen „Freiheit — Demokratie — Verfassung — die Presse lügt — Warschauer mit uns — die Armee mit uns!" Außerdem hörte man noch einen anderen Ruf: „Wir grüßen die tschechoslowakischen Studenten!"

Von den Partei-und Staatsfunktionären wurde der Solidaritätsappell an die Armee besonders drohend empfunden. Die Polizei löste den Demonstrationszug unter Einsatz von Tränengas und Gummiknüppeln auf. Viele Studenten riefen „Mörder!" und „Gestapo!". Ein großer Teil kehrte zum Polytechnikum zurück. Am Nachmittag demonstrierten nochmals 200 Studenten. Wiederum hagelten Gummiknüppel auf sie nieder, während die Bevölkerung fassungslos zusah. Die Polizisten und Hilfspolizisten wurden als „Knechte Moczars" geschmäht. Angesichts der Übermacht der Polizei suchten die Studenten in der Heiligkreuzkirche Schutz, die ihre Verfolger nicht zu betreten wagten. Aber kaum hatten die Polizisten vor den Portalen kehrtgemacht, da drangen die Demonstranten wieder vor, um „Demokratie!" und „Gestapo!" zu rufen. So zog sich das Katze-und Mausspiel stundenlang hin. Zehntausende Warschauer säumten die Straßen, um sich nichts von diesem sonderbaren Schauspiel entgehen zu lassen. Es wußten aber nur wenige, worum es eigentlich ging. Irgend jemand sprach ironisch von einer Revolution. Immerhin waren an diesem Tag schon 30 Verletzte zu beklagen. Mehrere Dutzend Demonstranten wurden verhaftet. Drei Studenten wurden in einem Schnellverfahren zu sechs Monaten, ein weiterer zu vier Monaten Gefängnis verurteilt. über das Wochenende breitete sich die Revolte auf Krakau, Lublin, Danzig und Posen aus. In Krakau, wo der Ruf nach Gerechtigkeit ertönte, wurde gegen die Demonstranten ebenfalls Polizei eingesetzt. Auch in Warschau schwelte die Unruhe weiter. Studenten versammelten sich vor der Universität, sangen die Nationalhymne, verbrannten Zeitungen und stimmten Sprechchöre an: „Weg mit Moczar — Zambrowski ins Politbüro!" Die Bevölkerung wurde zur Solidarität aufgerufen. Es bildete sich ein organisatorischer Kern — die Studenten stellten einen Ordnungsdienst auf, der die Seiteneingänge des Universitätsgebäudes kontrollierte. Das verschlossene Haupttor wurde zusätzlich durch einen LKW blokkiert. Dennoch drang die Hilfspolizei ein, während die Studenten noch mit ihren Dekanen diskutierten. Die größte Sympathie fand die Revolte bei den Räten der philosophischen und der soziologischen Fakultät. Aber auch die Professoren der Fakultät für Biochemie und Biophysik unterstützten die Studenten in einer Resolution gegen polizeistaatliche Methoden. An den folgenden Tagen erfaßte die Revolte das gesamte Land. In mehreren Orten kam es zu schweren Zusammenstößen. In Krakau fand ein Vorlesungsstreik statt; in Lodz unterstrichen die Studenten ihre Forderungen durch einen Sitzstreik; in Breslau brandmarkten sie den „Verrat der Ideen des polnischen Oktober"; in Posen versammelten sich 2000 Demonstranten am Mieckiewicz-Denkmal. Auf einer erregten Versammlung im Warschauer Polytechnikum faßten 8000 Studenten eine Ent-ISchließung, worin sie „im Namen des Sozialismus*'Respektierung der Verfassung, Freiheit des Wortes, Freilassung der Verhafteten und Korrektur der tendenziösen Berichterstattung in den Massenmedien verlangten. Transparente mit diesen Forderungen wurden über den Eingangstüren der Hochschule angebracht.

Man beschloß ein Sit-in, um die Veröffentlichung der Resolution in den Zeitungen und ihre Diskussion im Fernsehen durchzusetzen.

Der Warschauer Bevölkerung wurden in einer Botschaft, in der man gegen die „Herrschaft von Wolfsgesetzen" in der polnischen Gesellschaft protestierte, die Ursachen und Ziele dieses Aufbegehrens bekanntgegeben.

Die Studentenschaft machte das Polytechnikum zu ihrem Hauptquartier und richtete eine provisorische Selbstverwaltung ein. Es zeichnete sich eine gewisse Arbeitsteilung zwischen Ordnungsdienst und Agitationstrupps ab. Aus den erleuchteten Fenstern hingen plötzlich bis zu neun Meter lange Plakate: „Weg mit der Zensur! — Wahrheit in der Presse!

Ohne Freiheit kein Brot! — Hört auf, unsere Väter, die Arbeiter und Bauern, zu belügen! — Wir wissen, für wen das Volk ist Sozialismus-Demokratie — Warschauer, wir warten auf Hilfe!“ Den Vorübergehenden wurden Erklärungen zugesteckt. Wo sich Gruppen bildeten, las man ihnen die Forderungen der Studenten vor.

Die ängstliche Zurückhaltung der Bevölkerung, die zwar mit den revoltierenden Studenten symphatisierte, aber nicht den Mut zur öffentlichen Solidarisierung aufbrachte, und auch die Drohung des Rektors, daß eine weitere Besetzung der Universitätsbehörden die Relegie rung zur Folge habe, trug zur Entmutigung eines Teils der Studenten bei. Hingegen verfehlte eine Rede Gomulkas, in der sich der Parteichef bereit erklärte, über die Forderungen der Studenten zu diskutieren, auf Grund des schulmeisterlichen Tons ihre Wirkung.

Die Rebellen hatten ein Koordinierungskomitee gebildet, das die Studenten des Polytechnikums mit denen der Universität verband. Anschläge des sozialistischen Jugendverbandes, der den Behördenstandpunkt vertrat, wurden von den Wandbrettern abgerissen oder zerfetzt. Soweit die Jugendfunktionäre eine ähnliche Rolle wie die FDJ spielten, wagten sie sich entweder kaum noch hervor oder sie traten herausfordernd auf. In den Büros des Verbandes häuften sich Austrittserklärungen und zurückgegebene Mitgliedsbücher. Das studentische Koordinierungskomitee und die Leitung der Jugendorganisation maßen täglich ihre Kräfte.

Die ohnehin schon weitgehend isolierten Studenten hatten sich in dem von der Polizei umstellten Polytechnikum noch selbst abgekapselt. Dazu kam das pausenlose propagandistische Trommelfeuer von Partei, Staat, Presse, und Fernsehen. Ein Ultimatum des Rundfunk Rektors drohte die Schließung der Technischen Hochschule an, falls nicht unverzüglich Ruhe und Ordnung wiederhergestellt würden. Unter diesen Umständen brachen die Rebellen ihren Belagerungsstreik in der Nacht zum 23. März vorzeitig ab, nachdem ein letzter Versuch, die Revolte zum Generalstreik auszudehnen, gescheitert war. Immerhin hatten sie fast drei Tage durchgehalten. Im Morgen-grauen räumten 2000 Studenten das Polytechnikum unter dem Gesang der Internationale. Am 28. März fanden sich einige hundert Rebellen trotz Verbot noch einmal in der War-schauer Universität zusammen, um zu bekräftigen, daß sie nach wie vor zu ihren Forderungen stehen und die Respektierung der verfassungsrechtlich fixierten Freiheiten verlangen. Der Kampf wurde also nur auf einen günstigeren Zeitpunkt vertagt.

Die antizionistische Kampagne Als Inspiratoren der Studentenbewegung galten der Parteipresse zunächst der Liberalkommunist Zambrowski und, der Altstalinist Stachewski. Da diesen Männern aber nichts nachgewiesen werden konnte, griff man auf Modzelewski und Kuron zurück, die wegen guter Führung vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen worden waren. Gemeinsam mit mehreren Studenten wurden sie zum dritten Mal verhafte, jedoch bald mangels Beweisen wieder entlassen. Allein ihre jüdische Herkunft war Beweis genug, um nunmehr „zionistische Kreise" für die Unruhen verantwortlich zu machen, als ob jeder Jude ein Zionist, dem Staat Israel verpflichtet und aus beiden Gründen ein zumindest potentieller Landesverräter sei. Moczar hatte diese antisemitische Doktrin schon zur „Säuberung" des Innenministeriums von allen Juden benutzt. Jetzt richtete er sie gegen alle, die als oppositionell und verdächtig erschienen. Die Partisanen organisierten Tausende Versammlungen in Betrieben und staatlichen Institutionen, die programmgemäß eine harte Bestrafung der polnischen Zionisten verlangten. Selbst der Journalistenverband stimmte in diesen Chor ein. Zambrowski, Sohn eines Rabbiners, wurde aus der Partei verstoßen. Professor Toeplitz, Rektor der polnischen Filmhochschule, wurde entlassen, weil er das Vorgehen der Polizei gegen die Lodzer Studenten mißbilligt hatte. Eine Warschauer Tagung von 3000 Parteiaktivisten brüllte immer wieder: „Zionisten raus!"

Doch nicht alle, die man ausschalten wollte, waren Juden. Auch die „Kollaborateure" der Zionisten sollten davongejagt werden. Das wurde Kolakowski und anderen Professoren zum Verhängnis, von denen bekannt war, daß sie mit den Studenten sympathisiert hatten. Mit der Begründung, der Jugend antisozialistische Ansichten eingeimpft und ihre Lehrstühle in Zentren der politischen Opposition umgewandelt zu haben, wurden vier Professoren und zwei Dozenten (Kolakowski, Baczko, Morawski, Brus, Baumann, Hirszowicz) von der Warschauer Universität verwiesen. Die Fakultäten, in denen sie maßgeblich tätig gewesen waren, stellten ihren Lehrbetrieb ein. Professor Baumann ging daraufhin ins Exil.

Von der antizionistischen Kampagne wurde selbst der Regierungsapparat nicht verschont. Jüdische Minister mußten zurücktreten. Gesundheitsminister Titkow verlor sein Amt, weil sich sein Sohn an den Studentenunruhen beteiligt hatte. Sogar Staatspräsident Ochab mußte weichen, weil eine seiner Töchter ebenfalls in die Studentendemonstrationen verwikkelt war und er außerdem eine jüdische Frau hatte.

In ihrer letzten Konsequenz bedrohte die antizionistische Kampagne, die bis zur Sippen-haftung ging, auch Gomulka und seine jüdische Frau. Hinter der Flagge des Antizionismus breitete sich ein Palastrevolte vor. Die Partisanen griffen nach der Macht. Gomulka versuchte deshalb, auf diese Kampagne mäßigend einzuwirken: Der Zionismus sei keine Gefahr für den Bestand des Sozialismus in Polen. Da Gomulka aber den „jüdischen Nationalisten" empfahl, früher oder später das Land zu verlassen, blies er in das gleiche Horn wie Moczar, wenn auch wesentlich sanfter.

Stalinistische Reaktivierung Angesichts dieser Entwicklung schöpften die Altstalinisten neue Hoffnung. Ihre Aktivität nahm wieder zu. Aber nach der endgültigen Entmachtung Molotows richteten sie ihren Blick auf Tirana und Peking.

Im November 1964 fand in Warschau ein Prozeß gegen sechs Mitglieder der Natolin-Fraktion statt, die der Herausgabe und Verbreitung eines gegen die Parteilinie gerichteten Schriftstücks stalinistisch-maoistischen Inhalts angeklagt waren. Schon bei dieser Gelegenheit wurde ersichtlich, daß sich Peking und Tirana um Stützpunkte in Polen bemühten. Die Natoliner, deren Haftzeit nur kurz gewesen zu sein scheint, hatten die Poionisierung des Maoismus versucht.

Bereits damals wurde der Name Mijal genannt. Im Februar 1966 mußte sich der albanische Botschafter in Warschau als unerwünschte Person bezeichnen lassen, weil er Mijal geholfen hatte, unter Benutzung eines albanischen Diplomatenpasses illegal das Land zu verlassen. Um diese Zeit, verteilten die Stalinisten wieder Manifeste, die in Albanien gedruckt worden waren. Später konnte Peking triumphierend verkünden, daß eine Kommunistische Partei Polens maoistischer Richtung gegründet worden sei, die sich ein eigenes, gomulkafeindliches Zentralkomitee geschaffen habe. So wurde Polen zum ersten Land Ost-europas, in dem zwei Kommunistische Parteien nebeneinander bestehen — zwar im Größenverhältnis eines Elefanten und einer Mücke, aber Mückenstiche sind lästig und manchmal nicht ganz ungefährlich.

Jugoslawiens offener Marxismus Der VIII. Parteitag des jugoslawischen Kommunistenbundes im Dezember 1964 umging den Moskauer Szenenwechsel, übte jedoch scharfe Kritik am chinesischen Standpunkt. Aus verschiedenen Andeutungen ließ sich ein Unbehagen entnehmen. Die jugoslawische Neutralität hatte erst im Schatten des Konflikts Moskau—Peking einen Ruhepunkt gefunden. Chruschtschows Ausscheiden machte die Wiederannäherung Chinas und der Sowjetunion möglich. Wenn aber die Achse Moskau— Belgrad gegen Peking zerbrach und durch eine Achse Moskau—Peking gegen Belgrad abgelöst wurde, konnte sich Jugoslawien nicht länger sicher fühlen. Das Erwägen dieser Gefahr dürfte Titos Verhalten gegenüber Mihajlov mitbestimmt haben. Seines Einflusses auf Chruschtschow konnte er gewiß sein, ob sich " auch Breschnew günstig stimmen ließ, war hingegen zweifelhaft. Tito wollte ihn offenbar nicht unnötig verärgern. Das gab der sowjetischen Botschaft in Belgrad wieder erhöhte Bedeutung. Das wichtigste Referat auf dem VIII. Parteikongreß hielt der Theoretiker Kardelj. Er stellte fest, daß sich die Selbstverwaltung in der jugoslawischen Gesellschaft endgültig durchgesetzt habe, aber im Bereich der Wirtschaft noch von administrativen Fesseln befreit werden müsse. Das Wesen der Planung in einer Selbstverwaltungsgesellschaft könne nicht im Reglementieren der Wirtschaft, sondern nur „in einer wissenschaftlichen Analyse der objektiven Bewegungen und Gesetzmäßigkeiten" bestehen. Das war ein neuer Planungsbegriff. Wenn aber Kardelj „das gesamte wirtschaftliche und politische System gänzlich dem Selbstverwaltungssystem anzupassen'1 empfahl, so gab er damit indirekt das überschneiden zweier Ordnungsmächte in Jugoslawien zu: des Partei-und Staatsapparats mit den Organen der Selbstverwaltung. Da die Partei mit den Behörden verwachsen ist, stehen sich auf diese Weise Staat und Gesellschaft gegenüber. Der Konflikt zwischen dem Prinzip der Staatsräson und dem Prinzip der Selbstregierung wurde jedoch auf dem VIII. Parteitag sorgsam verwischt. Ungeachtet dessen, daß die Partei das Absterben des Staates propagiert, verteidigte sie wiederum seine Fortexistenz. Kardelj behauptete neuerdings, daß der Staat ein unerläßlicher Faktor der Selbstverwaltung und für die Wirtschaft unentbehrlich sei.

DieWirtschaftsreform und ihre Folgen Der Parteikongreß leitete von dem neuen Planungsbegriff aus eine neue Wirtschaftsreform ein, wozu auch die Beunruhigung über einige Streiks beigetragen haben mag. Anfang 1965 stiegen die Preise so rasch und stetig, daß Jugoslawien in der Gefahr einer Inflation stand. Der Vorsitzende des kroatischen Kommunisten-bundes, Bakaric, gab unumwunden zu, daß sich das Wirtschaftssystem wegen „innerer Fäulnis" in voller Auflösung befände. Tito sprach sich für eine revolutionäre Reform aus, die als Übergang von der Verwaltungs-zur Wettbewerbswirtschaft in den Grenzen verstaatlichten und vergesellschafteten Eigentums erfolgte. Diese Grenzen wurden im Februar 1965 zunächst nur für die Wiederbelebung des privaten Gaststättengewerbes — vor allem im Hinblick auf ausländische Touristen — geöffnet. Es ging also nicht um die Entfachung des Wettbewerbes zwischen verschiedenen Eigentumsformen innerhalb des Landes, sondern vielmehr darum, die jugoslawische Wirtschaft auf das Niveau der Konkurrenzfähigkeit mit den westlichen Industrieländern zu heben. Hierfür sprach schon die drastische Senkung der Zölle. Der wirtschaftlichen „Entstaatlichung" sollte der „Einbau in den Weltmarkt" folgen.

Die wichtigsten Schritte der Wirtschaftsreform waren Preisstopp, weitgehende Kreditsperre, Abwertung des Dinars um 66 °/o, Auflösung des zentralen Investitionsfonds, Streichung zahlreicher Subventionen und Schließung einer Reihe „politischer Fabriken", deren Jahresbilanzen schon mehrfach mit Verlust abgeschlossen hatten; 1963 gab es 2600 unrentable Betriebe, die mit einem Verlust von 46 Milliarden Dinar von der ohnehin mageren Substanz des jugoslawischen Wirtschaftskörpers zehrten. Die ökonomischen Resultate dieser Maßnahmen bestanden in einer Entzerrung des Preisgefüges und in einer Autonomie des Industriebetriebs, um die in den anderen kommunistischen Ländern noch vergeblich gerungen wird. Sie hatten aber auch politische Folgen. Zum einen die verstärkte Abwanderung „überzähliger" jugoslawischer Arbeiter und Fachleute in den Westen, wo sie neue Maßstäbe kennenlernten, zum anderen die erweiterte Kompetenz der Arbeiterräte. Sie erhielten das Recht, die Betriebsdirektoren selbst aus den Kandidaten zu wählen, die sich nach öffentlicher Ausschreibung der Stelle bewerben. Allerdings müssen die Bewerber zuvor die Schleuse der meist vom Kommunistenbund beherrschten Gemeindeverwaltung passieren.

Die Erweiterung der Rechte des Arbeiterrats soll offenbar den Aufstieg der Manager bremsen, die nach der Verselbständigung der Betriebe größere Möglichkeiten als vorher haben, ihr Können und Wissen in Macht umzusetzen. Neben den Konflikt zwischen Selbstverwaltung und Parteimonopol trat die Rivalität zwischen Arbeiterräten und Managergruppen. Der Direktor eines großen Industriebetriebs schlug öffentlich vor, die Verwaltungsausschüsse der Arbeiterräte durch Expertenkollegien zu ersetzen, die in einer Reihe von Fabriken insgeheim schon bestehen und als sogenannte „politische Aktivs" tätig sind, obwohl sie eher dem entsprechen, was der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Galbraith die „Technostruktur" genannt hat.

Welche Probleme dieser durch die Wirtschaftsreform endgültig freigesetzte Gegensatz auf-wirft, zeigte sich an neuen Streiks, die gegen den Mißbrauch wirtschaftlicher Macht durch das betriebliche Management gerichtet waren. Beispielsweise legten die Chauffeure und Mechaniker des Busunternehmens „Autotrans" von Rijeka die Arbeit im September 1967 nieder, weil die Direktion trotz eines Defizits ihre eigenen Gehälter erhöhte, aber die Löhne der Mechaniker und Chauffeure senkte. Im Mai 1968 streikte die Belegschaft des Auto-werks „Tomos" in Köper gegen eine Senkung der Löhne und für die Entlassung ihrer Werksleitung. In beiden Fällen fanden auch Straßen-demonstrationen statt.

Solche Ereignisse erklärten, weshalb der jugoslawische Kommunistenbund nicht mehr gegen jeden Streik ist, sondern zwischen berechtigten und unberechtigten Arbeitsniederlegungen unterscheidet. Diese Anpassung hat auch die Rolle der Gewerkschaften verändert denen eine gewisse Emanzipation von der Staatsräson gelang. Partei und Gewerkschaften treten jedoch gemeinsam gegen die eigentlich urkommunistische Forderung nach gleichen Löhnen für alle auf, die insbesondere von Hilfsarbeitern erhoben wird. Daß die Streikwelle, deren Höhepunkt im September 1967 lag, mit der Wirtschaftsreform zusammenhing, zeigt sich unter anderem an der Arbeitsniederlegung im mazedonischen „Institut zum Schutz von Mutter und Kind"; die Ärzte und Schwestern erhielten nach der Kürzung des Schul-und Kulturbudgets nur noch 30 0/0 ihres früheren Gehaltes.

Der Fall Mihajlov Mihajlov war Universitätsdozent für Slawistik in Zadar. Er hatte schon mehrere Aufsätze über die russische Literatur geschrieben, ohne Aufsehen und Anstoß zu erregen. Anders verhielt es sich mit seinem Reise-und Gesprächs-bericht „Moskauer Sommer 1964", den die Belgrader Literaturzeitschrift „Delo" in zwei Teilen veröffentlichte. In diesem fast 100 Seiten umfassenden Essay machte Mihajlov die Leser der jugoslawischen Zeitschrift mit einigen neuen Büchern der sowjetischen Autoren Gorbatow, Piljahr, Simonow, Scholochow und Zestew bekannt. Er berichtete auch über Gespräche mit dem sowjetischen Schriftsteller Leonow, mit Studenten und anderen Personen, die ihn hinter die Kulissen der offiziellen Entstalinisierung sehen ließen (die Rehabilitierung der Hingerichteten und Umgekommenen beschränkt sich meist auf die Zusendung eines Formulars). Da fast alle russischen Gesprächsteilnehmer darin übereinstimmten, daß die Beseitigung der Ursachen des Stalinismus noch immer eines der dringendsten Probleme der Sowjetunion ist, ging Mihajlov selbst dieser Spur nach. Er deckte vollends auf, was Chruschtschow 1956 schon halbwegs zugegeben hatte: den Versuch des Völkermords an nationalen Minderheiten. Hier eilte Stalin Hitler voraus. Konzentrations-und Vernichtungslager schuf aber schon Lenin. Das erste Todeslager nahm bereits 1921 seine „Arbeit" auf, um die übriggebliebenen Sozialrevolutionäre und Menschewiki zu vernichten. Allein auf der Krim sollen 120 000 Männer und Frauen ohne Gerichtsurteil erschossen worden sein.

Diese Enthüllungen lösten einen Protest des sowjetischen Botschafters in Belgrad bei Tito aus, der die Auflage des „Delo" mit dem Essay beschlagnahmen und den Chefredakteur der Zeitschrift absetzen ließ. Tito rügte auch die jugoslawischen Staatsanwälte, weil sie nicht sofort wegen Verleumdung der russischen Oktoberrevolution eingeschritten waren. Mihajlov wurde verhaftet; man wies auf seine angeblich weißgardistische Herkunft aus einer russischen Emigrantenfamilie hin.

In Wirklichkeit ging es aber sicher um die Verletzung des Lenin-Mythos, von dem auch der jugoslawische Kommunismus zehrt. Aus dem Essay von Mihajlov ergab sich die Vermutung, daß Lenin kaum besser als Stalin war und daher ebenso kritisch beurteilt werden muß. Dies hätte die Revision der organisatorischen Prinzipien des Leninismus bedeutet — vor allem der Regeln des Demokratischen Zentralismus —, nach denen auch der jugoslawische Kommunistenbund aufgebaut ist. Eine solche Revision hatte Djilas schon 1953 verlangt.

Mihajlov, der sich vor dem Bezirksgericht Zadar mit dem Argument verteidigte, daß er nur über historische Tatsachen geschrieben habe, wurde zu zehn Monaten Gefängnis verurteilt. Der Oberste Gerichtshof Kroatiens kürzte je-doch die Strafe um die Hälfte und setzte sie zur Bewährung aus, weil dem Verurteilten keine Verleumdung der Sowjetunion nachgewiesen werden könne und er nur des Verstoßes gegen das Pressegesetz schuldig sei; auch die Entlassung als Dozent wurde für nichtig erklärt.

Mihajlov, durch die Sympathie intellektueller Kreise ermutigt, informierte Tito in einem offenen Brief darüber, daß er eine unabhängige und oppositionelle Zeitschrift zu gründen gedenke. Seine Zeitschrift sollte die Befreiung des Menschen von ideologischen Fesseln erstreben, die geistige Grundlage für eine alle demokratischen Kräfte Jugoslawiens umfassende Bewegung schaffen und den Sammelpunkt einer legalen Oppositionspartei des demokratischen Sozialismus gegen das Macht-monopol des Bundes der Kommunisten bilden. Auch damit trat der Universitätsozent das Erbe von Djilas an, der noch immer im Gefängnis saß. Er machte aus seiner Anhängerschaft auch keinen Hehl. Djilas sei das Symbol der Freiheit in ganz Osteuropa; man müsse sich entweder für oder gegen ihn entscheiden. Solange sich die demokratischen Sozialisten nicht zu einer zweiten Partei vereinigen könnten, bleibe auch die Arbeiterselbstverwaltung lediglich eine Maske der totalitären Macht. Die Entwicklung Jugoslawiens vom Einparteienstaat zu einem demokratischen Mehrparteiensystem „würde ein Sprengsatz und zugleich ein Wegweiser für alle osteuropäischen Länder und natürlich auch für Rußland sein. Vom Schicksal Rußlands aber hängt das Schicksal der ganzen Menschheit ab. Ohne ein freies, demokratisches Rußland wird die Menschheit dem asiatischen, kommunistischen Totalitarismus nicht widerstehen können"

Mihajlov wollte die Demokratisierung Jugoslawiens bis zu dem Punkt treiben, wo ihre Ausstrahlung auch die Sowjetunion beeinflußt und diese befähigt, einen Damm des demokratischen Sozialismus gegen China zu schaffen. Als er erklärte, daß noch das schlechteste Mehrparteiensystem dem besten Einparteienstaat vorzuziehen sei, verwischte er aber die Grenze zwischen dem jugoslawischen Kommunismus-Modell und der parlamentarischen Demokratie. Hatte Mihajlov noch 1965 ein halbes Bekenntnis zum Marxismus abgelegt, so rückte er 1966 entschieden von ihm ab. Damit enthielt sein Programm nur noch vier Forderungen von prinzipieller Bedeutung: Gleichberech-tigung für Privat-und Staatswirtschaft, Trennung von Partei und Staat, Unabhängigkeit der Justiz, Umwandlung Jugoslawiens aus einer Föderation in eine Konföderation.

Die antimarxitistische und dem demokratischen Sozialismus verpflichtete Zeitschrift sollte erstmals im September 1966 erscheinen. Zur Vorbereitung der Herausgabe berief Mihajlov eine dreitägige Konferenz ein, an der er aber nicht teilnehmen konnte, weil die Behörden ihn kurz vor dem Beginn in Schutzhaft nahmen. Trotzdem kamen seine engsten Freunde und Mitarbeiter, ein fünfköpfiges Initiativkomitee, zusammen, um die Zulassung der geplanten Zeitschrift „Freie Stimme" zu beantragen und eine Deklaration zu verfassen. In der Deklaration hieß es, Selbstverwaltung und kommunistisches Parteimonopol schlössen sich aus; zur politischen Unabhängigkeit Jugoslawiens müsse noch die ideologische treten.

Aber auch ein Mitglied des Initiativkomitees wurde verhaftet und ein anderes floh nach Italien ins Asyl. Mihajlov, am 9. September 1966 vorläufig freigelassen, gab sofort bekannt, daß die Zeitschrift trotz alledem erscheinen werde. Diesmal mußte er für ein Jahr ins Gefängnis. Zwei Monate später folgten ihm fünf seiner Gefährten, die tatsächlich die erste Ausgabe der Zeitschrift vorbereitet und ihre Redaktion gebildet hatten. Mihajlov wurde daraufhin auch der Gründung einer staatsfeindlichen Organisation beschuldigt und im April 1967 zu viereinhalb Jahren Gefängnis verurteilt (im Oktober 1967 um ein Jahr ermäßigt).

Der Sturz Rankovics Anders als Mihajlov mußte Rankovic nur eine geringe Strafe verbüßen, obwohl er einen Staatsstreich versucht hatte.

Rankovic galt als vermutlicher Nachfolger Titos, seit er 1963 das Amt des stellvertretenden Staatspräsidenten angetreten hatte. Er war auch einer der drei Sekretäre des kommunistischen Zentralkomitees und wurde noch vom VIII. Parteitag wiederbestätigt. In seinem Referat auf diesem Kongreß hatte er sich gegen „Bestrebungen nach Erlangung von Privilegien unter Mißbrauch der eigenen Stellung" und für die „konsequente Entwicklung der Selbstverwaltung" als wirksamste Methode des Kampfes gegen die Unterdrückung der Kritik ausgesprochen. Seine praktische Tätigkeit widersprach jedoch seinen Worten.

Schon auf einer Sitzung des Zentralkomitees im Februar 1966 wies Tito auf eine regelrechte Sabotage der Wirtschaftsreform hin. Er machte damals den „Klassenfeind" verantwortlich, mußte aber schon wenig später erkennen, daß hohe Funktionäre seiner eigenen Partei am Werk waren. Am Beginn dieser Erkenntnis stand die Entdeckung einer Abhöranlage in seiner eigenen Wohnung. Nachforschungen ergaben, daß auch viele andere Spitzenfunktionäre überwacht wurden. Der Staatssicherheitsdienst hatte über das gesamte Land ein Netz von geheimen Mitarbeitern gezogen. Er mischte sich in die Leitung der Industriebetriebe, entschied über Investitionen, besetzte vakante Posten und traf politische Entscheidungen, als wäre er die oberste Instanz von Partei und Staat, ja beiden übergeordnet. Alle Fäden liefen zu dem einzigen Mann, der auf Grund seiner Vollmachten und Funktionen imstande war, hinter dem Rücken Titos eine solche Gegen-und Uberzentrale aufzubauen: zu Rankovic. Er hatte einen Staat im Staate gebildet und zu einer Festung gemacht, die nur noch durch Überrumpelung genommen werden konnte.

Nun wurde es offenkundig, daß sich konträr zur Dezentralisierung der jugoslawischen Staatsgewalt eine starke Zentralisation vollzogen hatte. Rankovic vereinigte das Amt des Vizepräsidenten mit der Funktion des Organisationschefs der Kommunistischen Partei, dem die Leitung des Zentralsekretariats und die Personalpolitik oblagen. Ihm unterstanden außerdem das Innenministerium, die Justiz und die Geheimpolizei. Sein wichtigster Anhänger, der ehemalige Innenminister Stefanovic, stand gleichzeitig an der Spitze des Staatssicherheitsdienstes und einer Kommission zu dessen Überwachung, darüber hinaus amtierte er noch als Vorsitzender einer Parlamentskommission, die ebenfalls zur Kontrolle der Sicherheitsbehörden gebildet worden war. Unter diesen Umständen konnten alle Beschwerden abgefangen werden. Die politische Verschwörung bereitete sich in einem fast luftdicht abgeschlossenen Raum vor. Erst als man feststellen mußte, daß Rankovic über Gespräche unter vier Augen informiert war, an denen er nicht teilgenommen hatte, tat sich ein Verdacht auf. Die Verschwörer wurden nicht verraten, sie verrieten sich selbst durch ihre nahezu perfekte Information.

Aber ihre Macht war derart groß, daß Tito zögerte und weniger entschlossen als im Jahre 1948 vorging. Er befürchtete dramatische Ereignisse, die ganz Jugoslawien ins Chaos stürzen könnten. Die Befürchtung war nicht unbegründet. Rankovic konnte sich auf fünf Gruppen von Anhängern stützen, die sich zwar in mancherlei Hinsicht überschnitten, aber in ihrer Gesamtheit eine gewaltige Kraft darstellten. Da waren zunächst jene Kommunisten, die in der neuen Wirtschaftsreform eine Bedrohung der Parteimacht sahen; die lokalen Repräsentanten der Behörden sahen ihre Privilegien schwinden; auch die zentrale Partei-bürokratie hatte sich mit wenigen Ausnahmen noch niemals für liberale Reformen erwärmt;

die Generation der Partisanen wollte in der Regel noch immer nicht ihre Plätze räumen-, schließlich war Rankovic der Repräsentant des nationalistischen Großserbentums — einer Vorherrschaft Serbiens innerhalb der jugoslawischen Föderation. Altkommunisten, Lokal-machthaber, Bürokraten, Partisanen und Großserbentümler trafen auf der gemeinsamen Linie zusammen, den Reformern Verrat an den alten Parteiidealen vorzuwerfen. Aber auch der Jugend konnte Tito nicht mehr ganz sicher sein. Waren 1956 von 100 Mitgliedern des Jugendverbandes 23 in den Bund der Kommunisten eingetreten, so entschlossen sich 1966 nur noch 12% datu. Offensichtlich schwand das Vertrauen der Jugend in die Partei.

In dieser Situation, die ihm womöglich noch gefährlicher als der Kominformkonflikt von 1948 erschien, griff Tito auf die Armee zurück. Aber zunächst versetzte er im Frühjahr 1966 drei serbische Generäle in den Ruhestand. Dann wurde eine geheime Untersuchungskommission gegründet, die belastendes Material sammelte; um ihr genügend Zeit zu lassen, wurde die für Mitte Juni vorgesehene Sitzung des Zentralkomitees verschoben. Sie fand nicht wie üblich in Belgrad statt, sondern auf der Insel Brioni, dem Sommersitz Titos, der von Armeeinheiten abgeriegelt worden war. Am 1. Juli, als das Zentralkomitee noch zu Gericht saß, fanden in den Kasernen bereits politische Versammlungen statt, die Resolutionen gegen Rankovic verfaßten. Zu diesem Zeitpunkt war die Öffentlichkeit noch nicht informiert Man vertraute den Konflikt also zunächst der Armee an, um sich ihrer Unterstützung zu versichern. Vorausgegangen waren die Steigerung des Verteidigungsbudgets um 18 % und die Erhöhung des Soldes der Soldaten um 25 %. Was wurde Rankovic, der sich geweigert hatte, vor der Untersuchungskommission zu erscheinen, vorgeworfen? Fraktionelle Tätigkeit und faktische Spaltung der Kommunistischen Partei, Versuch der Machtergreifung mit Hilfe des Polizeiapparats, Sabotage der Wirtschaftsreform, Widerstand gegen die Selbstverwaltung, Einführung stalinistischer Methoden im Geheimdienst, Begünstigung einer korrupten Cliquen-wirtschaft in allen Bereichen, eigenmächtige Umbesetzung hoher Funktionen, mörderische Unterdrückung der albanischen Minderheit, verdächtig enge Beziehungen zur sowjetischen Geheimpolizei. Hoch-und Landesverrat, Parteivergehen und kriminelle Vergehen fielen also zusammen. Dennoch zwang man Rankovic nur zum Rücktritt, ohne ihn zu verhaften und vor Gericht zu stellen. Offenbar wurden Unruhen in Serbien befürchtet. Aber auch Moskau zeigte sich besorgt um das Schicksal des Mannes, der 1948 von Stalin und Molotow als einer der Hauptverantwortlichen für die „Entartung" des jugoslawischen Kommunismus angeprangert worden war. Breschnew kam persönlich nach Belgrad, um mit Tito zu sprechen. Das Ergebnis war eine Amnestie. Obwohl eine Untersuchungskommission die gesetzwidrige und verfassungsfeindliche Tätigkeit von Rankovic und 17 weiteren Personen für einwandfrei erwiesen hielt, benutzte Tito seine Vollmachten als Staatspräsident, um die offizielle Anklage im Dezember 1966 niederzuschlagen. Das geschah sicher auch mit Rücksicht auf das Weiterbestehen des Staatssicherheitsdienstes, dessen leitende Männer nur ausgewechselt wurden. Im November war ein Fernschreiben bei der jugoslawischen Regierung eingegangen, in dem im Falle der Nichtrehabilitierung von Rankovic mit einem Umsturz gedroht wurde. Noch im Dezember 1967 und im Januar 1968 kam es zu Ausschlüssen hoher Funktionäre, die großserbische Agitation im Sinne von Rankovic betrieben hatten und weiterhin auf ihn setzten. Der Hauptverschwörer blieb unangetastet, während viele seiner Anhänger ihre Ämter verloren.

Parteireform Nach dem Sturz von Rankovic am 1. Juli 1966 schlug das Pendel der jugoslawischen Innenpolitik noch stärker nach der liberalen Seite aus. Auch Tito selbst schien jetzt vom nationalen zum demokratischen Kommunismus überzugehen. Er kündigte eine grundlegende Reform der Partei an Haupt und Gliedern an. Zur Ausarbeitung von Vorschlägen für diese Reform wurde eine in fünf Fachgruppen unterteilte Kommission von 40 hohen Funktionären gebildet, die Gespräche mit allen progressiven Kräften und verschiedenen Berufsschichten führen sollten. Sie stand unter der Leitung des Liberalkommunisten Todorovic, nach dessen Meinung die Nervenzentren des Konservatismus auch nach dem Sturz von Rankovic noch ungetroffen waren. Er erklärte schon zu Beginn der Kommissionsarbeit, die jugoslawische Partei sei im Grunde noch ebenso organisiert wie die russische von 1903, hinke daher weit hinter der gesellschaftlichen Entwicklung her und müsse schleunigst entsprechend dem Selbstverwaltungssystem umgebaut werden. Als Ziele der Reform stellte er Demokratisierung, Föderalisierung sowie die Trennung von Partei und Staat heraus. Zunächst gelte es die führenden Gremien, dann auch die unteren Organisationen der Partei zu modernisieren. Todorovic zweifelte an der weiteren Berechtigung des Demokratischen Zentralismus. Er hielt die im Kommunistenbund noch bestehenden Elemente der Autorität für ein Zeichen der Schwäche.

Andere und jüngere Mitglieder der Kommission brachten sogar den Gedanken zur Sprache, ob die Partei nicht eine Art Opposition zur Regierung bilden solle. Der Vorsitzende des mazedonischen Kommunistenbundes, Crvenkovski, empfahl demgegenüber einen Pluralismus innerhalb der Partei, deren jeweilige Führung eine „loyale Opposition" dulden soll, da die monolithische Einheit ohnehin nur eine Fassade sei, hinter der sich Richtungskämpfe abspielen. Tripalo als Sekretär des kroatischen Kommunistenbundes schlug die Anpassung der Partei an das Selbstverwaltungssystem durch die Auflösung der Partei-komitees in den Betrieben vor, um die Eigeninitiative der Arbeiterräte zu heben und diese von einer faktisch übergeordneten Autortiät zu befreien.

Die im Oktober 1966 beschlossene Reform sah anders aus. Zwar erhielten die Parteiorganisationen der jugoslawischen Gliedrepubliken größere Autonomie, auch wurden ihre Zentralen in Exekutivkomitees und Präsidien aufgespalten, um eine erneute Konzentration der Macht zu verhindern, aber die Trennung der Ämter von Partei und Staat blieb auf die Mitglieder der Exekutivkomitees beschränkt, während sich in den großen Präsidien womöglich noch mehr Ämter als vorher ballten. Das alles galt auch für die Bundesorganisation der Partei. Durch die Zweiteilung in Präsidium und Exekutive scheint lediglich die einst für alle Kominternparteien verbindliche Gliederung in Polit-und Organisationsbüros wiederhergestellt worden zu sein. Tito hielt es, nachdem die Bevölkerung gegen einige Angehörige der Geheimpolizei handgreiflich geworden war, bereits wieder an der Zeit, „sich der Stärkung der Staatssicherheit zuzuwenden' Er beschwor die homogene Organisation der Partei und schob damit den Vorschlag einer loyalen Opposition beiseite. In den Betrieben sollten die Kommunisten noch stärker als wegweisende Kraft in Erscheinung treten, statt ihre Komitees aufzulösen. Das realste Ergebnis der Oktobersitzung des Zentralkomitees bestand im Parteiausschluß von Rankovic.

Aber die Diskussion ging weiter. Crvenkovski verlangte im April 1967, daß der Kommunistenbund seine Organisationsstruktur, sein politisches Programm und seine philosophische Konzeption ständig überprüfe, denn bisher sei nur seine dogmatische Hülle gesprengt und es bestünden noch immer Widersprüche zwischen Parteisystem und Selbstverwaltung. Tito legte sich jedoch wieder auf den Lenin-Grundsatz des Demokratischen Zentralismus fest. Er gestand nur zu, daß die Identifizierung von Partei und Staat sowie von Staat und Gesellschaft aufhören muß. Die Partei soll nicht mehr kommandieren, sich aber auch nicht mit Aufklärung, Beratung und Diskussion begnügen.

Die Studentenunruhen regten die Diskussion abermals an. Gleichwohl wurde die Reform an Haupt und Gliedern auf den nächsten Parteitag verschoben.

Die Stimme der „Praxis"

Die entschiedensten Verfechter einer Struktur-reform fanden sich im Redaktions-und Mitarbeiterkreis der Zeitschrift „Praxis" zusammen. Sie erschien erstmals Ende 1964 als Monatsschrift der Philosophischen Gesellschaft Kroatiens, brachte es jedoch binnen kurzer Zeit fertig, alle traditionellen Grenzen der Philosophie zu sprengen und eine Zeitschrift von internationalem Rang zu werden. Neben der jugoslawischen erschien daher bald eine internationale Ausgabe. Die Redaktion zog Mitarbeiter aus Ungarn, Polen, der Tschechoslowakei und der Bundesrepublik, aus Österreich, Frankreich, Italien, den USA und anderen Ländern heran. Sie wurde zum Weltmittelpunkt des intellektuellen und humanistischen Marxismus. Lukacs, Bloch, Kolakowski, Ernst Fischer, Kosik, Svitak und viele andere Marxisten haben Beiträge für die „Praxis" geschrieben. Innerhalb Jugoslawiens traten besonders Petrovic, Vranicki, Markovic und Stojanovic hervor. In ihren Aufsätzen lebte nicht nur der Konflikt zwischen intellektuellem und institutionellem Marxismus wieder auf, er wurde auch weitergeführt und auf zahlreiche neue Themen ausgedehnt.

Für Petrovic ist das Marxsche Prinzip der schonungslosen Kritik alles Bestehenden weder geographisch noch zeitlich zu begrenzen. Es muß auch innerhalb der kommunistischen Länder legitim sein, geht aber weit über eine simple Gegenüberstellung von „Mängeln" und „Leistungen" hinaus. „Kritik besteht darin, zum Wesen einer Erscheinung vorzudringen, ihre wesentlichen Kennzeichen, Entwicklungstendenzen und Möglichkeiten wie auch ihre wesentlichen Beschränkungen und ihre wesentliche Offenheit für die Zukunft aufzudecken . , . Kritik ist eine Tätigkeit, die notwendigerweise auf revolutionäre Tat, auf schöpferische Praxis, auf den freien menschlichen Akt gerichtet ist, durch den der Mensch sich selbst und die Welt schafft." Sie soll alle Entwicklungsmöglichkeiten des Bestehenden prüfen und eine humanistische Vision der wirklich menschlichen Gesellschaft sein. Hingegen wäre es ebenso lächerlich, von ihr stets den Vorschlag praktischer Maßnahmen zu verlangen, so als ob ein Literaturkritiker dem Dichter „konkrete Vorschläge" zur Verbesserung seiner Gedichte machen wollte. Petrovic wies die Unterscheidung zwischen konstruktiver und destruktiver Kritik als irreführend zurück. Für ihn ist der Mensch ein schlechthin kritisches Wesen, das des Zweifels als einer Trieb-kraft des Denkens bedarf. Ohne Kritik gibt es weder Wissenschaft noch Fortschritt.

Auch nach Vranicki ist eine freie öffentliche Meinungsbildung für die weitere Transformation der jugoslawischen Gesellschaft unerläßlich. Als Grundsatz dient „der gegliederte Aufbau der ganzen Gemeinschaft nach dem Selbstverwaltungsprinzip" Die Selbstverwaltung wird als Wesen und Sinn der revolutionären Umgestaltung angesehen, denn politische und technokratische Veränderungen können die Entfremdung des Menschen nicht überwinden. Jede Herrschaft politischer Parteien soll abgeschafft werden. Vranicki verneint die Notwendigkeit einer zweiten Partei, weil sie zur Vermehrung der Politik und der Politiker führen würde. Jedoch muß auch die Bildung einer technokratischen Gesellschaft verhindert werden. In den kommunistischen Ländern seien drei Grundtendenzen festzustellen: eine bürokratisch-etatistische, eine selbstverwaltungshumanistische und eine technokratische. „Die erste und diese dritte Tendenz können sich sehr leicht auf der gleichen Linie finden."

Markovic definierte die Selbstverwaltung noch deutlicher als Abschaffung jeder dem Produzenten fremden Kraft, welche die Macht der Entscheidung über die Arbeit monopolisiert. Die Selbstregulierung der Produktion durch die Produzenten erübrigt den Staat. Indem sich dieser einen bedeutenden Teil des Sozial-produkts aneignet, engt er die materielle Basis der Selbstverwaltung ein. In Jugoslawien sind vorerst nur einzelne Kollektive befreit, während eine freie Gesellschaft als Ganzes noch aussteht. Die weitere Entfaltung der Selbstverwaltung hängt ab „von der Deprofessionalisierung der Politik und der intensiven Entwicklung aller Formen freiwilliger Integration der Produzentenkollektive" Eine weitere Dezentralisierung könnte hingegen zum Auf-splittern der Gesellschaft, zu ihrer Ohnmacht gegenüber den zentralisierten Machtorganen führen. Das Großsystem des Staates ist nur durch ein Großsystem der Selbstverwaltung zu ersetzen. Die Geschichte Griechenlands lehrt, daß ein Beharren auf unmittelbarer Demokratie in kleinem Rahmen hinderlich und gefährlich werden kann. Es geht daher um eine „Synthese von unmittelbarer und vermittelter Demokratie"

Für Stojanovic heißt die Alternative der Gegenwart Etatismus oder Sozialismus. Die Marxsche Optik, auf eine andere Situation ausgerichtet, ist unscharf geworden. Mehr noch: „Die im Namen von Marx unternommene Revolution ist unter dem Druck der gesellschaftlichen Verhältnisse gescheitert." Der Sozialismus hat noch kein eigenes Wirtschaftsmodell gefunden und nur ein Element wirklich menschlicher Gesellschaft — die Selbstverwaltung — hervorgebracht. Jede Kommu-nistische Partei steht nach gelungener Machtergreifung vor der Frage, entweder ihre eigene (zentralisierte, militarisierte und hierarchisch aufgebaute) Organisation oder den Arbeiterrat als Muster für die neue Gesellschaftsordnung zu nehmen. Sozialismus kann jedoch nur aus der Keimzelle des Arbeiterrats wachsen. Das jugoslawische System „stellt eine Mischung von Selbstverwaltung auf unterster Stufe und einer ziemlich festen bürokratischen Struktur darüber dar" Zwar wird auch offiziell zugegeben, daß die Partei der Selbstverwaltung angepaßt werden muß, man beschränkt sich aber auf ihre bloße Reorganisation. Im übrigen ist es falsch, daß jedes kommunistische Land zunächst eine Periode der Bürokratisierung durchlaufen muß, bevor es zur Selbstverwaltung übergehen kann.

Trotz ihrer unterschiedlichen Ansichten in Einzelfragen ließen die vier wichtigsten Mitarbeiter der „Praxis" bedeutungsvolle Gemeinsamkeiten erkennen: Die jugoslawische Revolution dauert noch an, aber die einstige revolutionäre Elite hat sich — mit einer Reihe von Ausnahmen — in eine bürokratische Schicht verwandelt. Daher muß das Marxsche Prinzip der schonungslosen Kritik auch auf das bestehende kommunistische System angewendet werden. Hierbei kommt es auf den Ausbau der gesellschaftlichen Selbstverwaltung und nicht auf die Einführung eines Mehrparteiensystems an. Die Selbstverwaltung ist nicht spezifisch jugoslawisch. Sie stellt die Alternative sowohl zur Bürokratie als auch zur drohenden Technokratie dar. Daher muß sie in allen kommunistischen Ländern eingeführt werden. Selbstverwaltung bedeutet Selbstregierung der Gesellschaft und als solche den Anbruch einer neuen, staatenlosen Epoche. Vor der Aufhebung des Staates ist keine Aufhebung der menschlichen Entfremdung zu erreichen.

Die „Praxis" brach mit allen ideologischen Mythen des traditionellen Kommunismus. Ihre Sprecher konnten auch an die von Marx postulierte revolutionäre Mission des Industrieproletariats kaum noch glauben. Sie vertrauten mehr auf die kritische Mission der Intelligenz. Worin lag der revolutionäre Angelpunkt ihres Denkens? Innerhalb Jugoslawiens stellten sie ein auf die Dauer unvereinbares Nebeneinander von Parteiherrschaft und Selbstverwaltung fest. Wenn die gesellschaftliche Selbstverwal-tung von den Betrieben bis zur Spitze ausgebaut wird, müssen Partei und Staat samt der zu ihnen gehörenden Herrschaftsapparate verschwinden. Theoretisch wird das auch vom Bund der Kommunisten anerkannt, aber praktisch bremst er diese Entwicklung.

Die Perspektive der Ablösung von Staat und Partei durch eine Selbstverwaltung der Gesellschaft hat Djilas als erster vertreten. Auch die „Praxis" übernahm einen Teil seines Erbes und vermehrte es durch neue Gedanken. Hierbei stieß sie ebenso wie Djilas mit der Partei-und Staatsräson zusammen. Schon ihre ersten Hefte wurden stark kritisiert. Die Parteizeitung „Borba" fragte bereits im Januar 1965, wer die Mittel für die Herausgabe einer solchen Zeitschrift bewilligt habe. Im Februar 1965 brachte sie vier „Leserbriefe" — eines Ingenieurs, eines Studenten, eines Drehers und einer Textilarbeiterin —, die ihr in frappierender Einstimmigkeit dankten, daß sie gegen die „reaktionären" und „antiwissenschaftliehen" Auffassungen verschiedener „Praxis" -Mitarbeiter anging. Es stellte sich aber heraus, daß der „Ingenieur" in der Belgrader Ausgabe unter einem anderen Namen als in der Zagreber Ausgabe erschienen und weder in Belgrad noch in Zagreb aufzufinden war. Den „Studenten" gab es ebenfalls nicht. Auch die „Leserbriefe" des Drehers und der Textilarbeiterin waren offenbar fingiert.

Ein Jahr später, am 28. April 1966, wurden zwei „Praxis" -Redakteure als namhafte Wissenschaftler mit Preisen geehrt. Die Behörden empfanden das als eine Herausforderung. Im August 1966 verboten, konnte die Zeitschrift erst Anfang 1967 wieder erscheinen Selbst einer der liberalsten Reformer der Parteiführung, Tripalo, hatte sich für ihre Unterdrükkung eingesetzt. Liberale Reformer müssen nicht unbedingt auch demokratische Kommunisten sein.

Kaum waren drei neue Hefte der „Praxis" veröffentlicht, als die Redaktion den Lesern mitteilen mußte, daß sie kaum noch über finanzielle Mittel verfüge. Nur eine Geldsammlung scheint die Weiterherausgabe gesichert zu haben. Doch im März 1968 mußte die „Praxis" endgültig ihr Erscheinen einstellen. Mehrere Hefte, deren Herausgabe schon vorbereitet worden war, konnten nicht mehr ausgeliefert werden. Als Grund wurde eine weitere Kür122) zung der behördlichen Dotationen angegeben. Die „Praxis" zeigte das Wiedererwachen der Philosophie in Osteuropa an. Sie war eng mit der Sommerschule von Korcula verbunden, einer weiteren Schöpfung der Philosophischen Gesellschaft Kroatiens. Auf den Tagungen dieser philosophischen Sommerschule, die ebenfalls geschlossen werden mußte, haben unter anderem Leszek Kolakowski und Julius Strinka referiert. Es besteht kein Zweifel, daß die in der „Praxis" und in Korcula herangereiften Ideen in den geistigen Stoffwechsel Osteuropas eingegangen sind.

Jugoslawische Studentenrevolte Der institutioneile Kommunismus sah in der unabhängigen philosophischen Zeitschrift, deren Mitarbeiter in vielen Fällen Universitätsprofessoren waren, eine Quelle der Verderbnis besonders für die studentische Jugend. Die Studenten der philosophischen Fakultät in Belgrad hatten sich Anfang 1965 zur Verteidigung der „Praxis" gegen fingierte Leserbriefe protestierend an die Parteizeitung „Borba" gewandt. Auch andere Fäden der Kommunikation zwischen Zeitschrift und studierender Jugend wurden im Licht aktueller Ereignisse sichtbar. Die „Praxis" hat das ohnehin im Wachsen begriffene kritische Denken der Studenten geschärft. Ihr behördlich forciertes Verschwinden verstärkte das Unbehagen an den Universitäten. Es hatte sich schon 1955 durch eine Demonstration Luft gemacht.

In keinem anderen Lande Osteuropas spielten die Studenten eine so große Rolle der Widerstandsbewegung und innerhalb der kommunistischen Revolution wie in Jugoslawien. Laut Ratko Parezanin fiel ihnen sogar die Hauptrolle zu. Der bedeutendste kommunistische Studentenführer war Djilas; sein Schicksal ist bezeichnend. Ein erheblicher Teil der studierenden Jugend wandte sich in den fünfziger Jahren enttäuscht vom Kommunismus ab und verhielt sich politisch passiv. Im Jahre 1956 gehörten von 3000 Philosophiestudenten an der Belgrader Universität nur noch 3 °/o dem Kommunistenbund an Die einstige Begeisterung war verrauscht und hatte einer fast nihilistischen Ernüchterung Platz gemacht. In Jugoslawien traten ungeachtet des schon zwischen 1948 und 1950 vollzogenen Bruches mit dem russischen Kommunismusmodell dieselben Erscheinungen wie an den Hochschulen aller Länder Osteuropas auf. Diese Tatsache beweist, daß Osteuropa ein geschlossener Komplex ist — nicht mehr im Sinne eines Blocks, sondern eher im Sinne eines Nervensystems, an das alle Länder jenseits der Elbe angeschlossen sind. Obwohl Jugoslawien aus dem Ostblock ausgeschieden war, blieb es Bestandteil des Komplexes, beeinflußte dessen Nervensystem mehr denn je, konnte sich aber auch den allgemeinen Regungen nicht entziehen. Tito äußerte 1957: „Die heutige junge Generation fühlt anders, sieht einige Dinge ganz anders und wir müssen ihr einen Impuls geben ..." Aber im Ergebnis schlug er nur vor, die Jugend zu beschäftigen, damit sie keine Zeit zum Grübeln habe. Dieser Vorschlag erinnert an die Verlegenheit des patriarchalischen Regierungsstils vergangener Zeiten und seine Methode, die Langeweile von Soldaten zu vertreiben. Auf die studierende Jugend war er aber nicht anwendbar.

Die jugoslawischen Behörden schränkten die Existenzmöglichkeiten unabhängiger Zeitschriften auf ein Minimum ein, aber hohe Funktionäre des Kommunistenbundes — so Davico — kommentierten die polnischen Studentenunruhen vom März 1968 wohlwollend als berechtigten Protest gegen die Behörden-zensur. Von der Rede-und Versammlungsfreiheit im eigenen Land wollte man noch immer nichts wissen. Die Studenten nahmen sich schließlich diese Freiheit selbst. Sie überführten verfassungsmäßig garantierte Rechte aus der Theorie in die Praxis.

Die Unruhen im Juni 1968 begannen, als einigen Studenten der Zutritt zu einer Folklore-Veranstaltung junger Arbeiter verweigert wurde, obwohl sie in den Räumen der Belgrader Universität stattfand. Es flogen Steine in den Saal. Die Studenten demolierten die Möbel und prügelten sich mit den Arbeitern. Als die Polizei eintraf, leisteten sie Widerstand, der auch durch den Einsatz von Wasserwerfern nicht gebrochen werden konnte. Die Aufruhrstimmung breitete sich wie ein Lauffeuer aus. Mehrere tausend Studenten bildeten einen Demonstrationszug, der bis ins Zentrum der Hauptstadt marschieren wollte, um sich direkt an das Parlament zu wenden. Die Demonstration wurde jedoch unterwegs von der Polizei abgefangen und auseinander-geschlagen. Wiederum setzten sich die Demonstranten zur Wehr. Der Kampf zwischen Studenten und Polizei zog sich vom Sonntag-abend bis zum Montagmorgen hin. Mehrere Autos gingen in Flammen auf. Es fielen auch Schüsse. Etwa 40 bis 60 Menschen wurden verletzt, 20 verhaftet. Noch in der Nacht vom Sonntag zum Montag verhandelte der Prorektor der Universität mit Regierungsvertretern, um die materielle Situation der Studenten zu verbessern und auf diese Weise eine der Ursachen für die Unruhe zu beseitigen.

Die Behörden verboten die Zeitung „Student". Uber Belgrad wurde ein Versammlungs-und Demonstrationsverbot verhängt. Die Studenten besetzten jedoch die Universität und fanden sich auf derem Gelände zu einem Protest gegen das gewalttätige Vorgehen der Polizei und die tendenziöse Berichterstattung des Rundfunks zusammen. Sie verlangten die Freilassung der Verhafteten, wählten ein Aktionskomitee und stellten folgendes Programm auf: 1. Beseitigung der sozialen Ungleichheit und aller bestehenden Privilegien; Verbot aller Monatseinkommen über 400 000 Dinar (1 300 DM), 2. Pressefreiheit und Aufhebung des Verbots der Studentenzeitung, 3. Gedanken-, Rede-, Versammlungs-und Demonstrationsfreiheit, 4. Abschaffung aller bezahlten Parteiämter und Entfernung der unqualifizierten Funktionäre von ihren Posten, 5. Behebung der Arbeitslosigkeit und Sicherung eines Arbeitsplatzes für alle Hochschulabsolventen; höhere Stipendien, die ein Leben über dem Existenzminimum garantieren, 6. Demokratisierung der Kommunistischen Partei, aller anderen Organisationen und der Nachrichtenmedien, 7. Gleichberechtigte Mitbestimmung der Studenten in den Universitäten und Demokratisierung der Lehrkörperwahlen, 8. Selbstverwaltung von unten bis oben, von den Betrieben und Gemeinden bis zur Regierungsebene.

Die meisten dieser Forderungen gingen über den Hochschulrahmen hinaus und vereinigten die Absichten der inneren Parteireformer mit denen der „Praxis", wobei die Grenzen beider überschritten wurden. Ihr Grundzug war egalitär. Die revolutionäre Bedeutung des Programms ergab sich aus der Losung: „Nieder mit der roten Bourgeoisie!" Diese Losung trat an die Stelle des Marxschen Aufrufs zur Vereinigung der Proletarier aller Länder. Auch sie war eine radikale Kritik am Bestehenden.

Die Belgrader Studenten nannten ihre Bildungsstätte in „Rote Karl-Marx-Universität" um. Sie stellten eine große Plakette mit derselben Aufschrift her, die von allen Rebellen als Solidaritätssymbol und Erkennungszeichen getragen wurde. Außerdem wurde ein Ordnungsdienst geschaffen, dessen Angehörige rote Armbinden trugen. Er war eine militante Kampftruppe, die sich vor den Portalen der Universität postierte, die Ausweise der Eintretenden kontrollierte und einen Schutzkordon gegenüber der Polizei bildete. Wie einige Monate vorher in Warschau, so standen sich nun auch in Belgrad studentischer und staatlicher Ordnungsdienst gegenüber.

Innerhalb der besetzten Universität diskutierte man in mehrtägigen Gesprächen über die Verhältnisse im Land und an den Hochschulen. An den erregten Debatten nahmen gelegentlich auch Professoren, Schriftsteller und Parteifunktionäre teil, die als Gäste zugelassen worden waren. In der permanenten Diskussion wurden zusätzliche Forderungen formuliert und beschlossen. Die Studenten verlangten die Abberufung aller hohen Beamten des Innenministeriums, des Parteichefs von Belgrad und des Bürgermeisters der Hauptstadt. Der Senat der Belgrader Universität unterstützte das Programm der Rebellen und ihren Protest gegen das Vorgehen der Polizei. Er empfahl die Einstellung des Lehrbetriebs für die Dauer einer Woche, was als behörden-feindlicher Unterrichtsstreik aufgefaßt werden konnte.

Studenten, Professoren und Regierungsvertreter bildeten einen gemeinsamen Ausschuß, der die Lösung der anstehenden Probleme einleiten sollte. Das Verbot des studentischen Informationsorgans wurde aufgehoben. Das geschah bereits unter dem Druck einer unerwarteten Solidarisierung der meisten Studenten von Zagreb, Novi Sad, Sarajewo und Ljubljana mit den Belgrader Rebellen. In Sarajewo kam es zu Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Miliz; in Zagreb konnten sie vermieden werden, weil das Stadt-komitee des Bundes der Kommunisten eine Delegation der Studenten empfing.

Auch das kommunistische Zentralkomitee sagte eine sorgfältige Prüfung der aufgestellten Forderungen zu. Zwar habe sich in den studentischen Aktionen auch die . politische Unterwelt'bemerkbar gemacht, jedoch davon abgesehen sei die Bewegung ein Bestandteil des Kampfes um die gesellschaftliche Selbstverwaltung, den die Kommunistische Partei schon seit langem führe. Man erkannte die Studentenrevolte als schöpferischen Impuls an, der freilich nur unter Führung des Kommunistenbundes ans Ziel gelangen könne. Sollte sie hingegen in die Hände von Anarchisten fallen, würde ihre antisozialistische Entartung und dementsprechende Bekämpfung unvermeidlich sein.

Tito erklärte in einer Fernsehrede vom 10. Juli 1968 viele Forderungen der Studenten für berechtigt. Er bekannte die Schuld der Kommunistischen Partei, den Universitäten nicht genügend Aufmerksamkeit gewidmet zu haben. Nach Titos Worten gab es immer Einwände und Sonderansichten, gegen die er sich nicht habe durchsetzen können. Er versprach die Absetzung verantwortungsloser und reformunwilliger Funktionäre, ja er bürgte mit seinem eigenen Amt, daß alles getan werde, um die Probleme zu lösen, um derentwillen die Studenten rebellierten.

So band Tito seinen Ruf an ein Versprechen, dessen Reichweite er enscheinend nicht übersah. Er unterschied zwischen gutgesinnten und verführten Studenten; die letzteren klassifizierte er als Anhänger von Djilas, Rankovic und Mao Tse-tung. Bei den studentischen Demonstrationen wurde aber auch das Porträt Guevaras mitgeführt — ein Gegenheld Titos.

Wenn Djilas schreibt, daß die Rebellion der Studenten „isoliert von den Arbeitern" war, so traf das nicht vollständig zu. Gewiß pochten sie vergebens an die Tore vieler Fabriken. Nach Bigler erhielten sie jedoch „Sympathietelegramme der Arbeiterkollektive" zweier Großbetriebe.

Noch wichtiger dürfte die unverhohlene Unterstützung vieler Professoren und Dozenten gewesen sein, von denen die meisten dem Bund der Kommunisten angehörten. Die Parteiorganisationen der Belgrader Fakultäten für Philosophie und Soziologie wurden nach den Unruhen insgesamt aufgelöst, wodurch 241 Professoren, Dozenten und Studenten ihr Mitgliedsbuch verloren. In Zagreb schloß die Partei zwei Professoren und einen Studenten als Haupträdelsführer der Unruhen aus (die Professoren hatten der „Praxis" -Redaktion angehört). Als weitere Nachwirkung wurde eine Doppelnummer der Zeitschrift „Delo" im August 1968 verboten, weil sie positiv über die Studentenrevolte berichtet hatte. Zum gleichen Zeitpunkt erschien die Belgrader Zeitung „Student" im Straßenverkauf. Daneben regte sich ein zweites Blatt unter dem Titel „Vidik". Die Staatsanwaltschaft leitete gegen die verantwortlichen Redakteure beider Studentenorgane Strafverfahren wegen Verbreitung falscher Informationen ein. An den Universitäten war die Unruhe jedoch nach der Fernsehrede Titos abgeflaut. Er erhielt sogar Danktelegramme.

Neue Umrisse eines Dreierbundes Obwohl die jugoslawische Führung gewisse Vorbehalte gegenüber Dubcek zu haben schien, dessen Konzeption in einigen Punkten den Absichten des Mitarbeiterstabs der „Praxis" nahekam, wurde Belgrad zur festesten Stütze Prags nach dem Sturz von Novotny. Alle jugoslawischen Parteizeitungen nahmen die tschechoslowakischen Reformer gegen die Drohungen Breschnews, Gomulkas und Ulbrichts in Schutz. Belgrad nutzte seinen Einfluß innerhalb des westeuropäischen Komnunismus, damit auch dieser Anstalten zur Abschirmung Prags traf.

Der tschechoslowakische Außenminister Hajek revanchierte sich, indem er direkte Kontakte zwischen den Organisationen und Instituten beider Länder anbot. In den Plänen Siks für eine strukturelle Wirtschaftsreform tauchten Elemente der Arbeiterselbstverwaltung auf. Die Gewerkschaftszeitung „Prace" schlug den Abschluß eines Paktes zwischen Prag und Belgrad vor.

Auch aus Rumänien, das der Erneuerung des abgelaufenen Freundschafts-und Bündnisvertrages mit der Sowjetunion auswich, wurde von einer analogen Absicht berichtet. Wie sich 1956 ein Dreierbund Belgrad-Warschau-Budapest angebahnt hatte, so traten Mitte 1968 die Umrisse einer Allianz zwischen Belgrad, Prag und Bukarest hervor.

Daß diese Allianz eine überstaatliche Kristallisation der osteuropäischen Revolution geworden wäre, ließ sich schon aus den unterschiedlichen Empfängen ersehen, die Tito und Ulbricht im August 1968 seitens der Prager Bevölkerung erfuhren. Ovationen für Tito und eisige Ablehnung Ulbrichts zeigten die beiden Pole einer Gewichtsverlagerung in ganz Osteuropa an. Das Kräfteverhältnis zwischen Moskau und Belgrad hatte sich in qualitativer Hinsicht verschoben. Vor Breschnew stand die Frage, wie diese Verschiebung rückgängig gemacht und umgekehrt werden konnte.

Die demokratische Revolution (Tschechoslowakei)

Wie schon nach dem XXII. Parteitag der KPdSU, war die Tschechoslowakei wiederum jenes Land Osteuropas, das von Veränderungen der UdSSR am stärksten mitbewegt wurde. Diese hochgradige Sensibilität verriet einen gefährlichen Stau verschleppter Probleme, die ungestüm auf eine Lösung drängten. Das politische System stagnierte Ende 1964 auf allen Gebieten, und die Reformer hatten ihre Hoffnung noch nicht verloren, denn gerade diese Stagnation verlangte ihre Mitarbeit.

Philosophische Modelle Die Theoretiker eines Reformkurses waren seit 1965 drei Philosophen. Julius Strinka, Mitarbeiter und Dozent des philosophischen Instituts der Slowakischen Akademie der Wissenschaften, trat bereits im Sommer 1965 mit der Ansicht hervor, daß der Kommunismus in seinem eigenen Interesse ebenso rückhaltlos kritisiert werden muß wie der Kapitalismus durch Marx. Nur eine solche Kritik würde ihm aus der Stagnation heraushelfen können. Noch im November desselben Jahres sprach Strinka auf einem gemeinsamen jugoslawisch-tschechoslowakischen Symposium über zweierlei Auffassungen der Dialektik.

Die eine Auffassung sei dogmatisch, aber im Vergleich zur Stalinära aufgeklärt. Mißstände werden nunmehr zugegeben, aber strukturelle Widersprüche nach wie vor geleugnet. Die Notwendigkeit von Reformen wird nicht mehr bestritten, sie sollen sich jedoch in den Grenzen der existierenden Form des Kommunismus halten. Der Dogmatismus ist aus einem offenen zu einem versteckten geworden, ohne sein Wesen — die idealisierende Rechtfertigung — zu verändern. Alle Energie wird auf die Erhaltung und Festigung des erreichten Zustandes konzentriert; grundsätzliche Neuerungen gelten als konterrevolutionäre Infiltration, was nicht zuletzt am mangelnden Vertrauen zum Beharrungsvermögen des Kommunismus liegt. Der aufgeklärte Dogmatismus ist also apologetisch, konservativ, mechanistisch und ängstlich. Daher kann er wie ein unfähiger Arzt, der die Krankheitssymptone verschleiert, nur eine vorübergehende Verbesserung der Leistungsfähigkeit des Systems erreichen, das seine Mängel immer wieder reproduziert. Um es zu kurieren, müssen die Grundursachen der Krankheit beseitigt werden. „Den Zauberkreis, in dem die apologetische Theorie des Sozialismus gefangen ist, kann nur die revolutionäre Dialektik sprengen."

Der Antidogmatismus muß kritisch, progressiv, dialektisch und mutig sein. Er kann sich nicht mit quantitativen Veränderungen begnügen, sondern hat die strukturellen Widersprüche des Systems aufzudecken und zu überwinden. Die Lösung liegt im Fortschreiten vom geschlossenen zu einem offenen System, das alles Positive der Menschheit in sich aufnimmt. Erste Voraussetzung hierfür ist die Schaffung eines institutionell geschützten Korrektivs der Macht. Vorerst steht der geballten Macht noch eine zersplitterte Kritik gegenüber. Ohne wirksame Kritik gibt es jedoch kein Verantwortungsgefühl der Herrschenden, was zum moralischen Verfall der gesamten Gesellschaft führt. Das Fehlen eines Gleichgewichts von Macht und Kritik ist ein Struktur-fehler des Kommunismus, der noch bei einer negativen Kopie des Kapitalismus verharrt. Zur positiven Überwindung des Kapitalismus gehört auch die Negation dieses Umkehrbildes, die Ablösung des bestehenden durch ein adäquateres Kommunismusmodell. Das bisher Erreichte kann nur als Ausgangspunkt dienen.

Eine zweite Voraussetzung des offenen Systems besteht darin, den Menschen als eine freie und authentische Persönlichkeit zu betrachten, die sich mittels ihrer Projekte über die bestehenden Bedingungen erheben und sie umwälzen kann. Diese Auffassung des Menschen muß zum Bestandteil einer neuen und didaktischen Theorie des Sozialismus gemacht werden. Mit dem Versuch zur Schaffung einer marxistischen Anthropologie hat zwar eine kopernikanische Wende begonnen, die den gesamten Bau der marxistischen Philosophie verändern wird; er kann jedoch ebenfalls nur ein Ausgangspunkt für die Neuordnung der Gesellschaft sein.

Die Erfüllung beider Voraussetzungen soll solche institutioneile Formen schaffen, „in denen die schöpferische Energie des Volkes, seine kritisch-praktische Aktivität der Ver128) änderung, sich im Höchstmaße befreien kann. Das wird jedoch nicht von selbst kommen, es kann nur das Werk eines zielbewußten Kampfes sein, eines Kampfes der progressiven, revolutionären Kräfte unter den Fittichen der sozialistischen Gesellschaft selbst. Und gerade dieses Zielbewußtsein soll diesen Kräften die kritisch-revolutionäre marxistische Theorie bieten."

In Strinkas Referat war schon alles enthalten, was in den folgenden Jahren geschah. Es enthielt auch eine Bilanz der ChruschtschowÄra mit dem Tenor, daß Reformen ä la Chruschtschow nichts mehr nützen, da sie nur die Oberfläche und Peripherie des kommunistischen Systems verändern können. Strukturelle Widersprüche unterscheiden sich von den anderen dadurch, daß sie die Tendenz zur Über-windung des bestehenden Modells verkörpern. Gleich Kuro. n und Modzelewski in Polen begriff auch Strinka, daß sich die strukturellen Systemmängel im Rahmen der gegebenen Ordnung, die jedoch nur eine unter vielen möglichen ist, nicht mehr lösen lassen. Der qualitative Wandel wird durch einen Wechsel des . Gesellschaftsmodells charakterisiert. Dieser Wechsel hängt von legalisierter Fundamentalkritik und einer neuen Sozialismus-theorie ab, die anstelle materieller Verhältnisse den Menschen zum Mittelpunkt macht.

Sind diese beiden Bedingungen geschaffen, so können sich alle latenten Möglichkeiten der sozialistischen Gesellschaft entfalten. Es wird dann möglich, einen neuen Prototyp des Kommunismus herauszubilden, der für alle Völker anziehend wäre. Beschränkt man sich jedoch auf Teilreformen, so droht das Neue eines Tages vom Alten wieder verschluckt zu werden. Strinka glaubte an die Fähigkeit des Kommunismus, jene Kräfte aus sich selbst hervorzubringen, die ihn über seine derzeitigen institutionellen Grenzen hinausführen werden. Er rief die Gesellschaft auf, diese Struktur-reformer in den unausweichlich bevorstehenden Kämpfen zu schützen. Sein Referat beinhaltete eine Theorie der permanenten Evolution, die das demokratische Gegenstück zu Maos Variante der permanenten Revolution ist: Jedes System des Kommunismus erschöpfe im Laufe der Zeit die Quellen seines extensiven Wachstums. Um einer revolutionären Explosion vorzubeugen, müssen die regierenden Kommunistischen Par129) teien zu einem besseren Modell übergehen, das neue Wachstumsquellen erschließt. So durchläuft der Kommunismus eine Reihe von Metamorphosen, wobei er sich immer mehr vervollkommnet, ohne daß ein Endzustand abzusehen wäre. Er muß zur periodischen Selbst-negation seiner organisatorischen und institutionellen Formen fähig sein. Das Fortschreiten von einem erschöpften zu einem neuen System wird freilich stets den Kampf der progressiven gegen die konservativen Kommunisten bedingen. Die kommunistische Bewegung ist nur dynamisch um den Preis des inneren Konflikts.

Ihr intensiver Wachstumsprozeß setzt den gleitenden Übergang von einer Regierungsform zur anderen voraus. In jeder Etappe und in jedem Modell gibt es zwei historische Parteien des Kommunismus, die sich in der gemeinsamen politischen Partei überschneiden, aber auch in getrennten Organisationen gegenübertreten können.

Der zweite Philosoph war Evan Svitak. Er hatte bereits 1956 die widerspruchsvolle Verflechtung von apologetischer Propaganda und wissenschaftlichem Sozialismus aufgezeigt. Seitdem als Revisionist abgestempelt, fristete Svitak ein Leben am Rande der Gesellschaft. Man strich ihn von der Mitgliederliste des philosophischen Instituts der wissenschaftlichen Akademie, beschlagnahmte seine Schriften, verhinderte den Druck neuer Manuskripte, verbot ihm Vorlesungen und zog seinen Reisepaß ein. Einer der mächtigsten Männer des Politbüros kündigte an, daß er dem Philosophen jede Möglichkeit zur Arbeit nehmen und ihn sodann wegen sozialen Parasitentums strafrechtlich verfolgen lassen werde. Svitak legte seine verzweifelte Situation brieflich einem anderen Spitzenfunktionär dar, den er um die Rückgabe des Reisepasses bat, damit er seine Studien wenigstens im Ausland fortsetzen könne. Das Gesuch gelangte nach Österreich und wurde im Oktober 1965 von der Zeitschrift „Forum" veröffentlicht — es glich einer Anklageschrift, aber auch einem Hilferuf.

Der Philosoph setzte sich immer energischer für eine strukturelle Umbildung des kommunistischen Systems in der ÖSSR ein. Am 25. April 1967 trug er auf einem literarischen Abend in Prag zehn Grundsätze für das Verhalten in einem totalitären System vor: nicht mit Lumpen zu kollaborieren, jede Mitverantwortung abzulehnen, nicht an Ideologien zu glauben, als Europäer zu denken, sich mutig in die Geschichte zu mengen, die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse als veränderlich zu betrachten, stets kritisch zu sein, für die Menschenrechte zu kämpfen, ohne Besessenheit zu handeln, sich nicht im Interessen-kampf der Machthaber erschießen zu lassen, sondern in der Notwehr selbst zu schießen.

Im Oktober 1966 brachte die slowakische „Pravda" einen Artikel von Miroslov Kusy, der die Ansichten beider Philosophen noch weiterführte. Er sah den Ursprung des Dogmatismus im Funktionswandel der marxistischen Lehre. Solange sie die Ideologie der Unterdrückten und Ausgebeuteten war, konnten sich keine Dogmen bilden. Als jedoch die Kommunistische Partei an die Macht gelangte, wurde der Marxismus zur Ideologie der herrschenden Klasse. Jetzt dient er den Interessen der Macht, während er vorher gegen die Macht gerichtet war. Anfangs auf die Autorität der Vernunft gegründet, stützt sich der Marxismus nun auf die Vernunft der Autorität. Die ideologische Diktatur verfestigte den Marxismus zu einem System unwandelbarer Wahrheiten. Sie ging jedoch nicht unausweichlich aus der politischen Diktatur als deren Ergänzung hervor, sondern mißbrauchte und entstellte die Herrschaft der Arbeiterklasse.

Der dogmatische Marxismus entspricht „nur den Interessen jener Herrscherclique, die außerhalb dieser Klasse und der Gesellschaft steht, die den Anspruch erhebt, über der Gesellschaft zu stehen und unabhängig von ihr Entscheidungen zu treffen" Allein diese Clique bedarf der ideologischen Diktatur, die den Meinungskampf auslöscht. Die sozialen Wurzeln des Dogmatismus bestehen im Wandel der Arbeitermacht zur Führerdiktatur und im Wandel der Theorie zur Apologie. Erst das Ausreißen dieser Machtwurzeln öffnet den Weg zur Erneuerung des Marxismus als einer schöpferischen Lehre. Kusy wollte die marxistische Theorie in eine Ideologie der Unterdrückten und Ausgebeuteten zurückverwandeln, gleichzeitig gab er zu verstehen, daß die Macht der Arbeiter nur wiederhergestellt werden kann, wenn die Macht der herrschenden Funktionärsklasse gebrochen wird.

Sik und die Wirtschaftsreform Am 17. Oktober 1964 stellte das Zentralkomitee einen Wirtschaftsreformplan zur Diskussion, dessen Grundzüge Professor Sik schon 1963 vorgelegt hatte. Noch vor Jahresende mußten 180 unrentable Werkstätten und Fabriken (mit insgesamt 16 000 Arbeitern) schließen. Auch in der Tschechoslowakei sollte die Rentabilität zum Maßstab werden. Sik ging jedoch nicht von Liberman, sondern von den radikaleren Ideen der polnischen Wirtschaftsreformer Lange und Brus aus. Allerdings warf er Professor Lange vor, den dialektischen Zusammenhang von Plan und Markt zu übersehen. Die von ihm vorgeschlagene Bildung zentraler Gleichgewichtspreise „kann nicht die grundsätzlichen Widersprüche zwischen betrieblichen und gesellschaftlichen Interessen, zwischen Interessen der Produzenten ind Konsumenten lösen und muß schließlich logisch in einem administrativen, unökonomischen System enden" Nur die Detailplanung ist mit einem Markt unvereinbar, die Rahmenplanung setzt ihn voraus. Er dient sowohl zur ständigen Korrektur fehlerhafter Planentscheidungen als auch zum Ausgleich der Widersprüche des sozialistischen Wirtschaftssystems. Nur auf dem Markt gleichen sich einerseits die betrieblichen und die gesellschaftlichen Belange, andererseits die unterschiedlichen Interessen der Produzenten und Konsumenten aus. Aber das ist nur möglich, wenn die Betriebe durch relativ freie Preise gezwungen werden, ihre Produktion auf die Nachfrage abzustellen. Starre Preise verhindern auch die flüssige Verteilung der Güter bis ins letzte Dorf.

Es wird sehr vereinfachend behauptet, daß Sik von der zentralen Planung zum Wechselspiel Angebot-Nachfrage übergehen wollte. In Wahrheit strebte er eine gegenseitige Ergänzung von Plan und Markt an. In den statischen Mechanismus des dezentralisierten Plans sollte das dynamische Element des Marktes eingebaut werden. Aber bereits dies verstieß gegen eine eingewurzelte Denkweise, die Sik auf Stalins Theorie der Unvereinbarkeit von Sozialismus und Warenproduktion zurückführte, von der er selbst noch die polnischen Reformer beeinflußt glaubte. Seiner Überzeugung nach genügte es nicht, ein neues Wirtschaftsmodell an die Stelle des alten zu setzen. Ebenso wichtig war, die Denkweise zu verändern. Sik verfaßte daher mehrere Schriften, zuletzt ein umfangreiches Buch über „Plan und Markt im Sozialismus", das eine umfassende Kritik der Stalinschen Wirtschaftstheorie enthielt. Entgegen Liberman machte er auch klar, daß die Sonderinteressen der Betriebe nicht mit den Gesamtinteressen der Gesellschaft gleichgesetzt werden dürfen. Mit seiner Aufdeckung des Widerspruchs zwischen Konsumenten und Produzenten machte er ferner die Einseitigkeit des jugoslawischen Wirtschaftsmodells deutlich, das vom Produzentenstandpunkt her konzipiert worden ist. Sik entnahm jedoch dem jugoslawischen Modell die Idee der Arbeiter-räte.

Sik, dem als Leiter des ökonomischen Instituts der wissenschaftlichen Akademie alle entsprechenden Daten zugänglich waren, war noch besser als Strinka über die Erschöpfung der extensiven Wachstumsquellen orientiert. Da aus finanziellen Gründen die technischen Möglichkeiten für eine bedeutende Erhöhung der Arbeitsproduktivität nicht bestanden, hatte man diese durch gesteigerte Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft zu erzwingen versucht. Wie Strinka betonte, daß wirtschaftliche und politische Reformen einander bedingen, wollte auch Sik die Änderung des Wirtschaftsmodells mit einem strukturellen Wandel des Systems verbinden. Als jedoch das Zentralkomitee im Januar 1965 die stufenweise Einführung des neuen ökonomischen Leitungssystems ankündigte, waren der Markt und die politischen Konsequenzen eliminiert. Sik sah seine Ideen derart verwässert, daß er sich von diesem Konzept distanzierte. Wenn seine Ideen dennoch in ihrer ursprünglichen Gestalt durchdringen sollten, mußte zunächst ein Führungswechsel eingeleitet werden. Sik trat daher für eine möglichst baldige Neuwahl des Zentralkomitees ein. Damit löste er sich endgültig aus der tonangebenden Funktionärsgruppe, deren Mittelpunkt Novotny war. Diese Gruppe tat alles, um die Neuwahl und die fälligen Reformen so weit wie irgend möglich hinauszuschieben oder gar zu verhindern. Zunächst wurde die Wirtschaftsreform verzögert. Sie sollte am 1. Juli 1965 beginnen, trat aber erst am 1. Januar 1966 in Kraft. Bis dahin durften nur 200 Betriebe von der Detail-auf die Rahmenplanung umgestellt werden. Als die Reformer im Januar 1967 das Ergebnis des ersten Jahres überblickten, sah es nicht sehr ermutigend aus. Freilich waren nicht allein konservative Kräfte dafür verantwortlich. Obwohl das stalinistische Wirtschaftssystem zu höchst unerwünschten Folgen führte, kam gerade seine Starrheit dem Bedürfnis von Millionen Menschen nach Stetigkeit und Stabilität entgegen. Einer der entschiedensten Reformer, Selucky, dem der Plankult als ökonomische Variante des Personenkults erschien, stellte fest: «Der Durchschnittsbürger wünscht { Sicherheit. Ein sicherer Arbeitsplatz, ein garantiertes Auskommen und eine Arbeit, die gleich{bleibende Fertigkeiten erfordert, stellen ihn zufrieden. Er möchte das Gefühl haben, daß er Überraschungen, die seine gewohnte Lebens[weise verändern könnten, nicht zu fürchten braucht. Diese Stabilität zieht er der Möglichkeit vor, seinen sozialen Status zu verbessern (oder auch zum Schlechteren zu verändern), da allein die Möglichkeit, seine Lage könnte sich verbessern oder verschlechtern, in Konflikt zu (seinem Streben nach garantierter Sicherheit steht."

Zwar konnten Sik und seine Mitarbeiter feststellen, daß sich als Ergebnis ihrer mehrjährigen Aufklärungsarbeit die Erkenntnis von der Unsinnigkeit des alten Wirtschaftssystems durchgesetzt hatte; aber in der Praxis scheute ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung dennoch vor den Neuerungen zurück, zumal sie die Gefahr der Arbeitslosigkeit beinhalteten. Das Denken hatte sich verändert, doch die Denkstruktur war noch die alte. Das überlebte Wirtschaftsmodell besaß eine psychologische Wurzel, an die mit theoretischen Argumenten kaum heranzukommen war. Die Wirtschaftsreform konnte nur durch eigene Erfolge überzeugen, an denen der zentralen Machtgruppe nichts lag. So wurde die wohlfahrtsstaatliche Mentalität, eher auf eine Verbesserung als auf die gewohnte Lebensweise zu verzichten, zum Verbündeten des konservativen Parteiflügels um Novotny, der in die Betriebe ging, um unter den Arbeitern Stimmung gegen Sik zu machen.

Die Wirtschaftsreformer förderten den Aufstieg Dubceks, um ihn gegen Novotny auszuspielen. Sik gestand später ein, daß Dubcek nur eine „Kompromißlösung" war. Erst nach dem Führungswechsel im Januar 1968 kam die Wirtschaftsreform richtig in Gang.

Sik sagte rückblickend, daß Novotny und dessen Leute vom ersten Tage alle Forderungen aus seinen Vorschlägen entfernt hatten, „in denen von der Notwendigkeit institutioneller Veränderungen, von Änderungen in der Kaderpolitik und des gesamten gesellschaftlichen und politischen Klimas gesprochen wurde

Aber die Zulassung von Arbeiterräten mußte auch Dubcek abgerungen werden. Ihre Wahl setzte erst eine Woche vor der Intervention ein. Am 13. August 1968 wurde in der CSSR bekanntgegeben, daß an die Bildung von Arbeiterräten nach jugoslawischem Muster in allen Betrieben gedacht sei. Ein Preßburger Chemiewerk hatte den Anfang gemacht. Sik schuf aber auch einen Wirtschaftsrat, der im Unterschied zu den bisherigen Planungsorganen das Interesse der Verbraucher wahrnehmen, gegen Preiserhöhungen auftreten, den Abbau von Subventionen fördern und monopolistische Zusammenschlüsse der Betriebe verhindern sollte.

Der konservative Parteiflügel hatte lediglich eine Dezentralisierung der Planung zugelassen, anstelle ökonomischer Verselbständigung der Betriebe aber monopolistische Zusammenschlüsse ganzer Industriezweige unter soge-nannte Fachdirektionen gesetzt. Hiergegen wandte sich vor allem Eugen Löbl, der den Slansky-Prozeß überlebt hatte und seit 1963 Direktor der Staatsbank in Bratislava war. Er entwarf schon im Zuchthaus den Grundriß einer neuen sozialistischen Ordnung, der zu einem Bestandteil des neuen Kommunismus-Modells in der Tschechoslowakei werden sollte. Löbl wies nach, daß der Marxismus auf eine Mangelwirtschaft zugeschnitten und daher im Zeitalter der wissenschaftlich-technischen Revolution, die zur Uberflußgesellschaft hin tendiert, neuer Ideen und Begriffe zur Bewältigung der neuen Wirklichkeiten bedarf. Die Handarbeit verwandelt sich in ein Hemmnis des wirtschaftlichen Fortschritts; ihre Verherrlichung ist reaktionär. Jetzt wird die geistige Arbeit in ihrer wissenschaftlichen Ausdrucksform zur wahren Quelle des Reichtums. Sie besitzt die Eigenschaft der Lukrativität, den Rahmen eines jeden Betriebes zu sprengen und der gesamten Gesellschaft zu nutzen. Während der Übergang zu einer neuen Eigentumsform kaum mehr als eine juristische Änderung ist, ermöglicht es die Ausschöpfung dieser Eigenschaft, eine Gesellschaft des Über-flusses zu schaffen. Sie führt auch zu einer höheren Stufe der Freiheit, zur herrschaftslosen Ordnung, weil die Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft unmenschlich als auch unrentabel und mit Hilfe der Wissenschaft durch eine systematische Ausbeutung der Natur ersetzt wird. Man muß es nur lernen, „eine unermeßliche Menge von Naturkräften in Produktivkräfte umzuwandeln" um die Epoche der Diktatur zu beenden, die auf der geringen Produktivität physischer Arbeit sowie dem daraus folgenden Gegensatz von Herr-schern und Beherrschten beruht. Zur Überwindung dieser Epoche, deren Basis bereits zerfällt, ist jedoch auch das Fortschreiten vom empirischen zum wissenschaftlichen Denkniveau nötig. Außerdem muß der wissenschaftlich-technischen Intelligenz die Leitung der Wirtschaft übertragen werden. Schließlich bedarf es eines gesellschaftlichen Klimas, das die Freiheit der wissenschaftlichen Forschung und die ungehemmte Entfaltung der intellektuellen Fähigkeiten garantiert. Löbl wandte sich scharf gegen die Allmacht des Staates und die Unterdrückung des Individuums durch die Gesellschaft.

Er griff schon Anfang 1965 in die Debatte über die Wirtschaftsreform ein. „Viele Wirtschaftler in unserem Lande scheinen zu glauben, man brauche nur materielle Anreize einzuführen, und schon sei alles in schönster Ordnung." Solche Anreize könnten jedoch nur die Klippe zur Reform sein. Entscheidend seien die geistigen Fähigkeiten der Menschen, insbesondere des leitenden Personals der Betriebe. Löbl verwies auf das Beispiel der Ford-Motor-Companie in den USA, die ihre Rentabilität durch den Übergang von der Diktatur eines einzigen Mannes — des alten Henry Ford — zur gemeinsamen Leitung durch ein Arbeitsteam bedeutend erhöhen konnte. Er schlug die Bildung solcher Führungsstäbe des Managements auch in den großen Industriebetrieben seines Landes vor. Sein Vorschlag richtete sich gegen die Diktatur der Staatsdirektoren, verneinte aber auch die Übergabe der Fabriken in die Verwaltung von Arbeiterräten. Das entsprach seinem geistigen Konzept, nach dem die physische Tätigkeit der Arbeiter durch die intellektuelle Tätigkeit der wissenschaftlich-technischen Intelligenz unaufhaltsam verdrängt wird, enthielt aber eine technokratische Tendenz, die bei einem Teil der Reformer auf Widerstand stieß.

Im Januar 1967 empfahl Löbl, die Wissenschaft zum Chef der Betriebe zu machen. Die Hauptursache für eine gewisse Fehlentwicklung der Wirtschaftsreform sah er darin, daß die Konzentration des Entscheidungs-und Weisungsrechts in der makroökonomischen Zentrale beibehalten worden war. Da die Betriebe nicht selbständig wurden, konnte sich auch kein Wettbewerb zwischen ihnen entfalten. Solange man unrentable Betriebe auf Kosten rentabler unterstützt, ist niemand an rationeller Wirtschaftsführung interessiert. „Das neue System verwirft die Zentralisierung und ersetzt sie durch die Dezentralisierung. Das ist ein bedeutender Wandel, doch das Prinzip bleibt unverändert." Es genügt nicht, bestimmte Teilkompetenzen nach unten zu delegieren. Zwar sind überbetriebliche Organe nötig, sie dürfen jedoch nicht im Interesse des Staates tätig sein, der ein ausgewogenes Verhältnis zwischen der gesamtwirtschaftlichen Makroökonomie und der betriebswirtschaftlichen Mikroökonomie in der Regel nur stört.

Solche Organe wären neu für ganz Osteuropa gewesen. Sie hätten weder den Staatskonzernen noch den westlichen Trusts geglichen. Wie Sik einen Wirtschaftsrat der Konsumenten bildete, so wollte Löbl unabhängige Institutionen der Produzenten.

Das Dubceksdre Aktionsprogramm vom 5. April 1968 hielt sich in seinem ökonomischen Teil etwa in der Mitte zwischen Sik und Löbl. Es legte sich weder auf Arbeiterräte noch auf Managements fest, sondern verblieb in der zweideutigen Empfehlung, „manche Traditionen unserer Betriebsräte aus den Jahren 1945— 1948 den Erfahrungen modernen Unternehmertums nutzbar (zu) machen" Diese Zweideutigkeit ermöglichte ein Bündnis zwischen den Reformern und den Technokraten. Sie wirkte als Ferment zwischen den demokratischen Kommunisten und der wissenschaftlich-technischen Intelligenz.

Gleichzeitig mit der Veröffentlichung des Aktionsprogramms regte die zentrale Partei-zeitung ein Gesetz an, das die Zulassung kleiner Privatbetriebe auf dem Sektor der Dienstleistungen gestatten sollte. Da auch an die Förderung echter Genossenschaften gedacht war, hätte sich im Laufe der Zeit ein Wettbewerb zwischen drei Eigentumsformen — dem staatlichen, dem genossenschaftlichen und dem privaten — entwickeln können.

Die Revolte der Publizisten Im Januar 1966 stellte die literarische Monatsschrift „Tvar" halb unter Zwang, halb freiwillig ihr Erscheinen ein. Der Chefredakteur hatte es abgelehnt, den Kreis seiner Mitarbeiter nach den Vorschlägen der Partei umzubesetzen, und das Redaktionskollegium schlug die angebotene Subvention von 71 000 Kronen als zu geringfügig aus. Im Herbst 1966 etablierte sich eine „Hauptverwaltung für das Pressewesen". Diese Zensurbehörde beobachtete besonders kritisch die Zeitschrift „Literarni Novniy" und hat oft deren für die Veröffentlichung vorgesehene Manuskripte beschlagnahmt. Trotzdem gelang es der Redaktion, ein Interview des Schriftstellers Vaculik durchzuschmuggeln, der die Funktionäre des Kulturministeriums als „wohlgenährte Typen, deren Gesichter die Ausdruckslosigkeit von Hinterteilen haben“ charakterisierte.

Im Juni 1967 trat der Kongreß des tschechoslowakischen Schriftstellerverbandes zusammen. Auch bei dieser Gelegenheit ergriff Vaculik das Wort. Er setzte sich sehr scharf mit dem Novotny-System, einem Regime der negativen Auslese, auseinander: „Bei jeder Auslese schnitten am besten die durchschnittlichen Menschen ab, und von der Bühne verschwanden die komplizierteren Menschen. Und jetzt bedenken wir, daß sich schon seit zwanzig Jahren diejenigen am erfolgreichsten durchsetzen, die den geringsten Widerstand gegen alle demoralisierenden Einflüsse, die die Macht produziert, haben." Der Schriftsteller sah die Gefahr der Restauration des Stalinismus und verlangte Garantien der Bürgerfreiheit. Die Mehrheit der Delegierten sprach sich gegen die Zensur aus. Es kam zu turbulenten Szenen. Der Tagungsleiter ließ unter dem Protest der anwesenden Parteivertreter darüber abstimmen, ob der Brief des sowjetischen Schriftstellers Solschenizyn gegen die Unterdrückung der Literatur verlesen werden sollte. Die Kongreßdelegierten erklärten sich einmütig für die Verlesung. Daraufhin sprang der Parteiideologe Hendrych auf und rief erregt: „In diesem Augenblick habt ihr Schriftsteller es euch verschissen!" er verließ den Saal, um den sowjetischen Botschafter zu informieren. Aus dem kleinen Oppositionskreis um die Zeitschrift „Literarni Noviny war eine große Opposition geworden.

Doch der konservative Parteiflügel, noch immer im Besitz aller Macht, schlug unverzüglich zurück. Im Juli kam es zu einem Prozeß gegen die Schriftsteller Tigrid, Benes und Zemecniki im August verlor Mnacko seine Staatsbürgerschaft, weil er Israel gegen antisemitische Ausfälle in Schutz genommen und die Tschechoslowakei verlassen hatte; im September wur den die Schriftsteller Vaculik, Liehm und Klima aus der Partei verstoßen. Es gelang den Konservativen sogar, den im Oktober 1967 tagenden Journalistenkongreß auf ihre Linie zu zwingen.

Dagegen waren zwei andere Maßnahmen der Konservativen ohne Erfolg. Als die Zeitschrift „Literarni Noviny" in die Regie des Kultusministeriums überging und die Zeitschrift „Host do domu" in die Hände einer Untersuchungskommission fiel, erklärten sich viele Leser mit den scheidenden Redakteuren solidarisch. Beispielsweise erschien eine Stahlarbeiterdelegation aus Kladno in Prag, um den abgesetzten Redakteuren der „Literarni Noviny" materielle und moralische Unterstützung anzubieten. Nachdem die Zeitschrift unter einem neuen Chefredakteur mit dem Impressum des Kultusministeriums erschien, kündigten 100 000 von 120 000 Abonnenten. Was „Host do domu" betrifft, so übernahm der Reformer Spacek als Parteisekretär die gesamte Redaktion in jene Untersuchungskommission, die die Zeitschrift auflösen sollte. Hendrych erklärte die faktische Auflösung des Schriftstellerverbandes, an dessen Stelle ein parteitreues Schriftstelleraktiv treten sollte. Der Verband bildete jedoch zur provisorischen Weiterführung seiner Geschäfte einen eigenen leitenden Ausschuß, der den parteitreuen Hajek als Chefredakteur der „Plamen" wegen seiner Unterstützung Hendrychs entließ. Erst drei Wochen nach Novotnys Sturz als Parteichef konnte die Organisation der Schriftsteller wiederhergestellt werden. Ende Januar 1968 wählte sie Professor Goldstücker zu ihrem Präsidenten. Der reorganisierte Verband forderte Novotny auf, auch als Staatspräsident zurückzutreten und sich wenigstens durch den freiwilligen Verzicht auf dieses Amt als Kommunist zu erweisen.

Mit dem Parteivorsitzenden trat zwar eine ganze Reihe von belasteten Funktionären ab, doch die meisten beharrten auf ihrem Posten und nutzten ihn zur Bremsung der angelaufenen Reformen.

Am bedenklichsten war eine antisemitische Welle. Wie in Polen, so wurde auch in der Tschechoslowakei nach . zionistischen Drahtziehern'der Unruhe gesucht. In anonymen Flugblättern lebte Hitlers jüdische Weltverschwörung wieder auf. Viele Reformer, an erster Stelle Sik, Goldstücker, Kriegel und Pavel, erhielten Drohbriefe. Professor Goldstücker wurde als , Agent des Westens'und als . zionistische Hyäne'bezeichnet, den gemeinsam mit Slansky zu hängen leider versäumt worden sei. Einige Verfasser von Droh-und Schmähbriefen bedauerten, daß Hitler zur restlosen Vernichtung der Juden nicht genügend Zeit gehabt hatte. Reformer jüdischer Herkunft galten meist auch als Jugoslawische Agenten'. Diese beiden Züge der Situation waren der Hintergrund des Manifestes der zweitausend Worte vom 27. Juni 1968, das der Schriftsteller Vaculik verfaßte-Er war indes nur der Sprecher einer Gruppe von 67 demokratischen Kommunisten, die den Appell unterzeichneten. Das Manifest schilderte zunächst die innenpolitische Entwicklung der letzten 20 Jahre seit der kommunistischen Machtübernahme im Februar 1948. Das Volk hatte dem Sozialismus hoffnungsvoll entgegengesehen, doch die Regierung geriet in falsche Hände und die Kommunistische Partei tauschte das in sie gesetzte Vertrauen gegen Ämter ein. Alle Macht konzentrierte sich bei einer kleinen Clique, die sich für auserwählt hielt. Nicht einmal die kommunistischen Organisationen gehörten mehr ihren Mitgliedern. Der größte Betrug bestand jedoch darin, daß die herrschende Gruppe ihren Willen für den der Arbeiterschaft ausgab. Viele Kommunisten kämpften erfolglos gegen diese Entartung an, und nun ist die letzte Gelegenheit gekommen, das Unrecht wiedergutzumachen. Die seelische Gesundheit und der Charakter des Volkes sind bedroht, aber der Erneuerungsprozeß konnte nirgends anders als in der Kommunistischen Partei selbst beginnen. Eine Erneuerung ohne oder gar gegen die Kommunisten wird es nicht geben. Es kommt darauf an, den progressiven Flügel ihrer Partei zu unterstützen gegen jenen großen Teil der Funktionäre, der sich gegen alle Änderungen stemmt. Vorerst besteht nur die Freiheit des Wortes, und sie muß als Hebel für weitere Fortschritte dienen. Niemand sollte Illusionen hegen, daß die Wahrheit von selbst siegt. Entscheidend wird sein, was in der Wirtschaft und mit den Fabriken geschieht. An der Spitze zeigt sich ein gewisses Ermatten der dynamischen Bewegung, daher sollte die Aktivität in die Bezirke, Kreise und Gemeinden verlagert werden.

Das Manifest empfahl die Aufgliederung des Aktionsprogramms der Partei: Die Kommunisten müßten mit lokalen Programmen vor die Öffentlichkeit treten. Aber die Parteimitglieder dürfen nicht auf Weisungen warten. Es ist vielmehr nötig, daß sie schon jetzt die richtigen Delegierten für den bevorstehenden 14. Parteitag auswählen. Ebenso müssen qualifizierte Wirtschaftler gesucht und an die geeigneten Stellen gesetzt werden. Die Betriebsdirektoren sollen der Bevölkerung Rechenschaft geben, was sie zu produzieren und zu welchen Preisen sie die Waren zu verkaufen gedenken. Die Arbeiter müssen in den Kampf zwischen Demokratie und Futtertrögen eingreifen, indem sie nur Leute ihres Vertrauens ohne Rücksicht auf Parteizugehörigkeit in die Betriebsverwaltungen und Betriebsräte wählen. Obwohl die Zeit der berauschenden Proklamationen bereits vorüber ist, hat sich der Kampf nur unter die Oberfläche verzogen, ohne schon gänzlich entschieden zu sein. „Wir fordern den Rücktritt jener Leute, die ihre Macht mißbraucht haben, die das öffentliche Eigentum geschädigt haben, die ehrlos und grausam gehandelt haben. Es ist jetzt möglich, Methoden zu entwickeln, um sie zum Rücktritt zu zwingen. Zum Beispiel: öffentliche Kritik, Resolutionen, Demonstrationen, demonstrierende Arbeitseinsätze, Geldgeschenksammlungen für sie, um sie mit einer Rente abzufinden, Streik und Boykott. Es müssen aber Aktionen verhindert werden, die nach dem Gesetz nicht erlaubt, die unanständig und grob sind, sonst könnten sie zur Beeinflussung Alexander Dubceks mißbraucht werden . . . Beleben wir die Tätigkeit der Nationalen Front. Verlangen wir öffentliche Sitzungen der Nationalausschüsse. Zu den offenstehenden Fragen, die niemand beantworten will, wollen wir eigene Bürger-ausschüsse und Kommissionen bilden. Es ist das sehr einfach: Es treten einige Leute zusammen, sie wählen sich einen Vorsitzenden, sie führen ein Protokoll, sie veröffentlichen ihr Anliegen, verlangen dessen Lösung und lassen sich nicht niederschreien. Die Bezirks-und lokale Presse, die in ihrer Mehrheit zu einer amtlichen Trompete degeneriert ist, müssen wir in eine Tribüne aller positiven politischen Kräfte verwandeln. Verlangen wir die Gründung von Redaktionsräten aus Vertretern der Nationalen Front. Öder gründen wir neue Zeitungen, begründen wir Ausschüsse zur Verteidigung der Freiheit des Wortes. Organisieren wir bei unseren Zusammenkünften einen besonderen Ordnungsdienst . . . Lassen wir uns nicht zu politischen Denunziationen verführen, aber entlarven wir die Spitzel!"

Das Manifest der zweitausend Worte war kein antisozialistisches Pamphlet, sondern eine Proklamation des demokratischen Kommunismus, freilich dessen entschiedenere Spielart, die über die gemäßigte Dubceks hinausging. Es zeigte sich, daß auch der demokratische Kommunismus einen rechten und einen linken Flügel hatte. Aber selbst Dubcek fragte in einer öffentlichen Rede, wie man jene loswerden könne, die sich an ihre Posten klammerten, obwohl sie das Vertrauen des Volkes und selbst des größten Teils der Parteimitgliedschaft längst verloren hätten. Im Vergleich zu seinem gemäßigten Aktionsprogramm war das Manifest radikal. Es scheute vor dem Aufruf zu Demonstrationen und Streiks nicht zurück. Dennoch enthielt es versöhnliche Gesten, beispielsweise die empfohlenen Geldsammlungen zur Pensionierung entlassener Funktionäre. Das Manifest war politisch radikal, doch maßvoll in der Methode, da es die Bevölkerung beschwor, von ungesetzlichen und gewalttätigen Aktionen abzusehen. Nicht die Entfesselung der Leidenschaften, sondern die Entfaltung der Bürgerinitiative lag in seiner Absicht. Sie sollte auch die bedrohte seelische Gesundheit des Volkes retten, es aus einer manipulierten Masse in politisch selbstbewußte Gruppen und zivilcouragierte Individuen gliedern. Deutlich trat der Gedanke hervor, daß sich die Gesellschaft aus eigener Kraft befreien muß, statt auf Befreier zu warten, weil die erzielten Erfolge nur unter dieser Bedingung gefestigt werden können. Das Manifest sollte Dubcek den Rücken stärken, bezeichnete dessen Aktionsprogramm jedoch nur als einen Anfang, um die gröbsten Ungerechtigkeiten wiedergutzumachen. Im Fall einer Intervention wollte man sich notfalls bewaffnet hinter die Regierung stellen. Andererseits gaben die Unterzeichner zu verstehen, daß sie den neuen Männern keine unbegrenzte Frist zur Einarbeitung gewähren könnten und nur solange hinter ihnen stehen würden, als sie dem Mandat des Volkes entsprachen. „Wir haben schon so viel ausgesprochen, und so viele haben sich ausgesprochen, daß wir diesmal mit unserem Entschluß, das alte Regime zu vernichten, bis zum Ende gehen müssen. Sonst fiele die Rache der alten Gewalten grausam aus."

Vaculik irrte insofern, als er vom totalen Zusammenbruch des alten Systems sprach. Es hatte sich lediglich restlos kompromittiert und mußte Stück für Stück abgebaut werden. Das Manifest legte den moralischen Verfall des überlebten Regimes bloß, enthüllte aber auch die moralische Krise der Intelligenz und ihre angestrengte Suche nach neuen Werten. Mit Bestimmtheit setzte es sich nur für die Wiederherstellung der bürgerlichen Freiheiten ein. Wie der neue Sozialismus aussehen sollte, war nicht aus ihm zu entnehmen.

Dessenungeachtet fand das Manifest ein gewaltiges Echo. Die Belegschaften mehrerer hundert Betriebe begrüßten es kollektiv. Bei den Redaktionen der Zeitungen und Zeitschriften, die es veröffentlichten, liefen 40 000 Zustimmungserklärungen von Einzelpersonen ein. Arbeiterversammlungen forderten die Reinigung der Kommunistischen Partei von blutbefleckten Funktionären, andere schickten Briefe nach Prag, um vor Kompromissen zu warnen.

Um so gereizter war das Echo in Moskau. Das Manifest wurde als Beweis für die Aktivität von Konterrevolutionären in der Tschechoslowakei angesehen. Man unterstellte den Unter-zeichnern, sich an die Macht zu drängen und das sozialistische System stürzen zu wollen. Die „Prawda" erinnerte an das Schicksal der ungarischen Revolution und versicherte die Bereitschaft des russischen Volkes, den „gesunden Kräften" in der ÖSSR zur Hilfe zu kommen, um ihr Land vor der Restauration des Kapitalismus zu bewahren.

Das Zentralkomitee der slowakischen Partei sprach zwar nicht von Konterrevolution, doch von Aufwiegelung. Entgegen dem Wortlaut des Manifestes las es den Appell zur Anwendung ungesetzlicher Mittel aus ihm heraus. Angeblich hatte Vaculik die Schaffung neuer Machtorgane vorgeschlagen. So spielte man auf die improvisierten Bürgerausschüsse und den vorgesehenen Ordnungsdienst an.

Auch das tschechoslowakische Parteipräsidium und die Nationalversammlung distanzierten sich vom Manifest als einem unverantwortlichen Pamphlet. Nur Dubcek selbst gab vor Betriebsarbeitern, vielleicht unter dem vorübergehenden Einfluß ihrer Stimmung, ein gewisses Wohlwollen zu erkennen.

Inzwischen hatte der Journalistenverband alles versucht, die im Oktober 1967 erlittene Niederlage wieder wettzumachen. In einem offenen Brief forderte er Novotnys Regierung zum Rücktritt auf; dieser offene Brief hat wesentlich dazu beigetragen, daß der Rücktritt zustande kam. Er verlangte die Abschaffung der Zensur und setzte sie gemeinsam mit anderen Gruppen auch durch. Der Journalistenverband teilte sich in eine tschechische und eine slowa-kische Organisation, womit er die staatliche Föderalisierung vorausnahm. Hier deutete sich allerdings auch die Gefahr einer Zersplitterung an. Im Manifest der zweitausend Worte hieß es daher warnend, daß die Föderalisierung allein, wenn sie nicht mit einer Demokratisierung des ganzen Landes zusammenfällt, das Regime der parteistaatlichen Bürokratie verlängern könnte. Es brauchte sein Schwergewicht nur von Prag nach Preßburg zu verlagern und sich hinter den Sonderrechten der Slowakei zu verschanzen, um wieder einen festen Halt zu gewinnen. Niemand wußte, wie prophetisch diese Ahnung war. Auch der an den sowjetischen Botschafter gerichtete Brief des Parteikollektivs im Schriftstellerverband nahm die Zukunft voraus. Am 9. oder 10. Juli 1968 verfaßt, warnte er die Sowjetunion vor der Stationierung fremder Truppen auf dem Boden der Tschechoslowakei.

Studentenbewegung Unter den Studenten regte es sich schon vor der Publizistenrevolte. Ihr Auftakt trug ein künstlerisches Kostüm. Am 21. Juni 1966 fand in Prag auf Initiative des Philosophiestudenten Brikcius ein Happening statt, das mit nächtlichen Verhören von 70 Teilnehmern endete. Auch Brikcius wurde verhaftet und zunächst zu drei Monaten Gefängnis verurteilt, bis ein Berufungsgericht das Happening als eine neue Form der Kunst anerkannte.

Das künstlerische Kostüm war nur zum Teil eine Verkleidung oppositioneller Motive. Der Antikunst als Versuch, den Abstand zwischen Bühne und Publikum provokativ zu überwinden, entspricht die Antipolitik als Auflehnung gegen jedwede Herrschaft, besonders in ihrer totalitären und autoritären Form. Antikunst und Antipolitik haben zur gemeinsamen Wurzel eine neue Sensibilität, die sich nicht mehr mit den traditionellen Umständen, Ausdrucksformen und Lebensweisen abfinden kann, weil sie in einem erweiterten, politischen Bewußtsein gründet.

Die Studentenbewegung entsprang einer anderen Quelle als die innerparteiliche Opposition. Sie setzte außerhalb der Kommunistischen Partei in den Tiefen der Untergrundkunst ein, die in der SSR schon 1962 in die Öffentlichkeit trat. Ihr Ansatz war kein politischer, sondern ein kultureller, und die künstlerische Unruhe sprang auf sie über.

Dennoch kamen die Studenten nicht umhin, das Kostüm zu wechseln und in die politische Arena zu gehen. Da die Happenings auf das Unverständnis der Bevölkerung stießen, konnte das politische System nur von der politischen Ebene her verändert werden. Hierüber wurde sich eine Gruppe von Studenten offenbar schon im Februar 1967 klar, als sie — mit Hilfe des Philosophen Svitak — über gesellschaftliche Konflikte und ihre möglichen Lösungen diskutierte.

Der Anlaß für die Studentenunruhen waren zunächst die schwerwiegenden Mängel in einem Studentenheim. Erst als mehrere Eingaben und Beschwerden fruchtlos blieben, entschlossen sich die Studenten zum Handeln. Sie versammelten sich am 31. Oktober 1967 vor ihrem Heim, um mit brennenden Kerzen durch die Hauptstadt bis zum Amtssitz des Staats-präsidenten Novotny zu gehen und diesen auf ihre mangelhaften Wohnverhältnisse aufmerksam zu machen. Novotny mobilisierte jedoch die Polizei. Wie vorauszusehen war, wurde • die Protestdemonstration gewaltsam unter Einsatz von Tränengas auseinandergetrieben.

Große Empörung erregte, daß einige Studenten nach ihrer Verhaftung so lange geschlagen wurden, bis sie eine Erklärung unterschrieben, daß sie nicht geschlagen worden seien.

In der Prager Karls-Universität fand eine fünfstündige Protestversammlung statt. Die Studenten hatten Vertreter des Zentralkomitees, des Jugendverbandes und des Unterrichtsministeriums um Teilnahme gebeten. Sie nahmen eine Resolution an, in der die Bestrafung der Schuldigen, das Verbot für die Anwendung von Tränengas, die Kenntlichmachung der Polizeibeamten durch Numerierung und die Berichtigung entstellender Zeitungsberichte verlangt wurde. Die Resolution stellte dem Unterrichtsminister eine Frist bis zum 20. November 1967. Bis zu diesem Datum sollte er Garantien gegen weitere Übergriffe auf Studenten schaffen. Andernfalls, so drohte die Protestversammlung, würde eine neue Demonstration durchgeführt werden.

Zwar waren auf einmal die Mängel im Studentenheim Strahov behoben, aber um diese ging es schon nicht mehr. Ein Beobachter schrieb, daß der Staat selbst den harmlosen Wunsch nach mehr Heizung und Licht „in das brisante (und unersättliche) Begehren nach . . . Freiheit und Sicherheit verwandelt" hatte.

Alle vier Forderungen der Protestversammlung blieben unerfüllt. Die Frist ver-strich, ohne daß der Unterrichtsminister eine befriedigende Erklärung abgab. Er hatte lediglich eine Untersuchungskommission gebildet.

Studenten 20. 1967 Als die am November zu einem Sit-in zusammentrafen, war der vorgesehene Versammlungssaal bereits von Polizisten besetzt. Die Rebellen verlegten ihre Versammlung in einen anderen Saal, wo sich etwa 1000 Mann zusammendrängten. Hier wurde ihnen nach kurzer und erregter Diskussion das elektrische Licht abgedreht. Endlich erklärten sie sich zu den von staatlicher Seite gewünschten Verhandlungen bereit.

Während der Verhandlungen prallten die Standpunkte hart aufeinander. Die Studenten verlangten ihre Beteiligung an der Untersuchungskommission und wählten einen Ausschuß, der ihre Wünsche weiterleiten sollte. Einige bestanden auf der geplanten neuen Demonstration und schlugen vor, in die Fabriken zu gehen, um vor den Arbeitern die wahren Gründe ihrer Unzufriedenheit auszubreiten. Sie wurden jedoch auch von dem Pro-rektor der Universität, Professor Goldstücker, beschwichtigt, der wilde Demonstrationen für ein ungeeignetes Mittel hielt, um den nach seiner Ansicht unaufhaltsamen Demokratisierungsprozeß voranzutreiben. Schließlich einigten sich beide Seiten auf einen neuen Termin, den 15. Dezember 1967. Bis zu diesem Zeitpunkt wollten die Universitätsrebellen ihre Protestaktionen vertagen. Sie behielten sich aber vor, alle 30 000 Prager Studenten zur Demonstration aufzurufen, falls diese Frist abermals ungenutzt verstrich. In ihrer Entschließung sprachen sie von der ungesunden Situation des Landes; von einer politischen und wirtschaftlichen Krise, in der auch die Ursache der Geschehnisse vom 31. Oktober 1967 zu suchen sei. In der offiziellen Version waren die Ereignisse des letzten Oktobertages auf westliche Propaganda und verführerische Reden einiger Schriftsteller zurückgeführt worden. Die Studenten konnten jedoch bereits mit der Sympathie Dubceks und seiner Anhänger rechnen. Ihre Opposition vertiefte die Kluft innerhalb der Partei, die ihnen nicht mehr geschlossen gegenüberstand, sondern selbst unschlüssig war, ob man gegenüber den Universitäten die Methode der Unterdrückung oder die Methode der Diskussion anwenden sollte.

Als Novotnys Putschversuch aufgedeckt wurde, traten die spezifischen studentischen Forderungen und Interessen in den Hintergrund, da man erkannte, daß es nicht mehr auf einen bestimmten Termin, sondern auf die grundlegende Umgestaltung des gesamten Systems ankam.

Der neue Parteichef stand den Studenten öffentlich Rede und Antwort. Er trat im März 1968 ohne ein Manuskript und ohne eine Leibgarde vor sie hin, als er von ihnen aufgefordert wurde, auf bestimmte Fragen zu antworten. Dubcek bat die Studenten um Mitarbeit, aber auch um Geduld. Sie wußten selbst, daß nicht alles auf einmal zu haben war. Aber ihr Ziel, „die Freiheit vom Staat und seinem Zwang" ging weit über das von Dubcek hinaus, der wohl den Zwang, aber nicht den Staat abbauen wollte.

Wie die Prager Karls-Universität das geistige Zentrum der CSSR ist, so wurde ihre philosophische Fakultät zum Mittelpunkt der Studentenbewegung. In ihren Räumen schlug der Studentenausschuß sein Hauptquartier auf. Von hier aus knüpfte er Verbindungen zu den anderen Universitäten des Landes, aber auch mit den linken Studentengruppen westlicher Hochschulen an. Als Rudi Dutschke in Prag erschien, wurde im Hörsaal der philosophischen Fakultät mit ihm diskutiert. Die tschechoslowakischen Studenten wollten ihn jedoch nicht als Propheten, sondern nur als Politiker anerkennen, und sie fragten ganz offen, in welcher dieser beiden Eigenschaften er in ihr Land gekommen sei. Es fiel auch auf, daß sie sich im Unterschied zu Dutschke der marxistischen Terminologie kaum noch bedienten. Sie beriefen sich mehr auf Hus und Tito als auf Marx und Marcuse. Dutschke erblickte im tschechoslowakischen Umschwung eine „geschichtlich neue Möglichkeit für die Revolutionierung auch unserer Gesellschaft" war aber mehr vom chinesischen und kubanischen Kommunismus beeindruckt. Gemeinsamkeiten lagen in der Ablehnung des russischen Modells und in einer prinzipiell antiautoritären Gesinnung.

Die studentische Bewegung der Tschechoslowakei wollte weder eine Avantgarde sein noch einen Sonderstrom bilden. Statt dessen ging es ihr um die Organisation einer öffentlichen Kontrolle der Kommunisten sowie um eine Interessenvertretung der Nichtkommunisten. Bemerkenswert viele ihrer Sprecher, so Holicek und Jii Müller, waren parteilos. Alle Sprecher der studentischen Bewegung traten für die Beendigung des Einparteiensystems ein. Eine wichtige Forderung war natürlich die akademische Selbstverwaltung. An der Prager Karls-Universität bildete sich ein „Akademischer Rat" der Studenten unter dem Vorsitz von Vladimir Ditmar, der eine akademische Bannmeile zum Schutz vor staatlich-polizeilichen Eingriffen durchsetzen wollte, aber auch die Aufstellung eigener Kandidaten für die Wahlen zur Nationalversammlung plante.

Die Studentenbewegung verschmolz mit der nationalen und demokratischen Bewegung. Ihr nationaler Impuls wurde deutlich, als am 10. März 1968 dreitausend Studenten am Grabe des ehemaligen Außenministers Masaryk demonstrierten. Der demokratische Impuls äußerte sich besonders im Verlangen nach freien Wahlen.

Tausende von Studenten erfuhren authentisch aus dem Munde der Altkommunistin Marie Swermova, deren Mann umgebracht worden war, was sich in der Novotny-Ära zugetragen hatte. Auch Slanskys Frau berichtete über ihre furchtbaren Erinnerungen.

Die Studentenbewegung hatte großen Anteil an den Massenkundgebungen vom 20. März 1968, deren gewaltiges Echo den Rücktritt Novotnys vom Amt des Staatspräsidenten erzwang. Als am 28. März eine studentische Demonstration den Weg Novotnys kreuzte, verstummten alle Gespräche. Novotnys Gang zu seinem Wagen war von eisigem Schweigen begleitet. Dieselbe Demonstration protestierte vor der DDR-Botschaft gegen die entstellenden Berichte Ost-Berlins über die Reformpolitik in der Tschechoslowakei.

Einen Tag später zogen 2000 Studenten — unter dem Beifall der Bevölkerung — zum Gebäude des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei. Sie wollten erreichen, daß statt des Generals Svoboda der Zivilist und ehemalige Kultusminister Cisar als Kandidat für das Amt des Staatspräsidenten aufgestellt würde. „Svoboda ist ein Soldat. Wir wollen keinen Zaren!" Gleichzeitig erhob sich der Ruf nach dem Rücktritt des Verteidigungsministers Lomsky, der verdächtig war, in den Putschversuch gegen die Reformer verstrickt gewesen zu sein.

Die Demonstration dauerte bis spät in die Nacht; ihr schlossen sich auch viele Jugendliche aus anderen Bevölkerungskreisen an. Der studentische Rebellengeist übertrug sich auf einen großen Teil der Jugend. Daher war die tschechoslowakische Delegation zu den Weltjugendfestspielen in Sofia ausnahmslos aus Anhängern der neuen Politik zusammengesetzt. Zwar wurden 30 der Delegierten an der Grenze als „Gammler" zurückgewiesen — es ging auch ein Teil der Unterlagen auf seltsame Weise verloren und das Musik-podium in die Brüche —, aber die SSR-Delegation veranstaltete während ihres Einzugs in das Wassil-Levski-Stadion ein vielbeachtetes Sit-in mit dem Sprechchor: „Unsere Demokratie ist unsere Angelegenheit!" Sie wurde nicht allein von den Jugoslawen und Rumänen umschwärmt, auch viele ungarische, polnische und selbst sowjetische Delegierte gaben ihr Wohlwollen zu verstehen.

Wiederaufleben der Arbeiterbewegung Den tschechoslowakischen Studenten gelang, woran es der Studentenbewegung in den meisten anderen Ländern noch heute gebricht, nämlich die Verbindung mit der Arbeiterschaft. Ihre Revolte war von einer Regeneration der Arbeiterbewegung begleitet und trug zu deren Wiederaufleben bei.

Der tschechoslowakische Gewerkschaftsbund entledigte sich unter dem anschwellenden Druck seiner Mitglieder zunächst seiner stalinistischen Spitze, des Novotny-Anhängers Pastyrik und zweier mit ihm befreundeter Sekretäre. Doch auch der neue Vorsitzende Polacek stieß auf heftige Kritik, weil er ebenfalls belastet und seine Wahl offenbar dirigiert war. In der Gewerkschaftszentrale trafen Hunderte von Telegramme und Protestresolutionen der Arbeiter ein, die eine Wiederholung der Wahl verlangten. Als diesem Verlangen nicht entsprochen wurde, bildete sich um den Mechaniker Kubek eine Gewerkschaftsopposition, die etwa 70 000 Arbeiter vertreten haben soll. Sie drohte der Zentrale mit Streik und erklärte, daß es mit dem Umbau der Spitze nicht getan sei.

Kubek wollte einen Unterstützungsfonds für streikende Arbeiter schaffen. Aber die Streiks, vor allem um höhere Löhne, setzten auch ohne diesen Fonds ein. Zum Beispiel traten die Belegschaften der Piseker Elektrofirma und der Eisenwerke von Vitkovice in den Ausstand. Im April 1968 ergriff die Streikbewegung das gesamte Land. Die Gewerkschaftszeitung „Prace" verwandelte sich aus einem offiziösen Staats-und Parteiorgan in ein Sprachrohr der öffentlichen Meinung. In einem Beitrag von Radoslav Selucky hieß es: „Es ist ein bewährtes Prinzip jedes demokratischen Systems, daß nach dem Scheitern einer jeweiligen politischen Konzeption alle jene, die als Autoren oder als Vollstrecker mit dieser Konzeption identisch sind, ihre einflußreichen Stellungen aufgeben (oder) ohne viel Aufhebens auf andere, weniger einflußreiche Posten abgeschoben werden In einem anderen Beitrag von Milan Weiner wurden jene Leute unter die Lupe genommen, die plötzlich an Arbeiterkonferenzen teilnähmen, um die Reformpolitik als Wiederherstellung des Kapitalismus zu denunzieren: „Wäre nicht die Frage berechtigt, warum sie sich so stark dem Kapitalismus widersetzen, wenn sie ihren engsten Verwandten und Freunden einen Lebensstandard verschafft haben, dessen sich kein Kapitalist schämen müßte?"

In vielen Betrieben entstanden spontan Arbeiterräte, oft auf dieselbe Weise wie einst Idie russischen Sowjets aus Streikkomitees.

Ihre Gründung wurde von einem Teil der Reformer schon deshalb begrüßt, um der Agitation von Novotny-Anhängern in den Fabriken entgegenzuwirken und jene Schicht von Betriebsfunktionären auszuschalten, die diese Agitatoren unterstützten. Die Reformer arbeiteten einen Gesetzentwurf aus, der eine Arbeitermitverwaltung in der Industrie vorsah und sich von der jugoslawischen Arbeiter-selbstverwaltung durch die größere Berücksichtigung von Fachleuten unterschied. Sie sollten in den Arbeiterrat hineingewählt oder von ihm als Gutachter herangezogen werden.

Außerdem war daran gedacht, die Direktoren zwar von den Betriebsräten bestimmen, sie jedoch „ganz selbständig und auf eigene Verantwortung" walten zu lassen. Der Arbeiterrat sollte die Funktion eines sozialistischen Aufsichtsrates übernehmen, in den auch der Staat und die den Betrieb finanzierende Bank ihre Vertreter entsandten. In den öffentlichen Betrieben (Eisenbahn, Straßenbahn, Wasserwerke und so fort) hätten die Arbeiter, sonst in der Mehrheit, nur eine Minderheit des Rates gestellt, während Staat oder Gemeinde den größeren Teil der Sitze belegten. Man wollte die reine Form des Selbstverwaltungsbetriebes vermeiden, jedoch die Verteilung des Bruttoeinkommens den Betriebsangehörigen überlassen. Die Arbeiter-räte sollten aus geheimen Wahlen der Belegschaften hervorgehen, jedoch ihre Vollmachten bis zu einem gewissen Grade mit den Technikern und Direktoren, mit dem Staat und den Banken teilen. Es ging darum, neue Wachstumsquellen der Wirtschaft zu erschlie-ßen und gleichzeitig dem sozialistischen Ideal einer freien Assoziation der Produzenten näherzukommen. Auf diese Weise wäre eine Teilsozialisierung der Industrie zustande gekommen, eine aus staatlichen und gesellschaftlichen Elementen zusammengesetzte Mischform der Wirtschaft, die etwa in der Mitte zwischen dem russischen und dem jugoslawischen Kommunismusmodell gestanden hätte.

Jedoch die Arbeiter konnten ihre Ungeduld nicht länger zügeln. Sie warteten nicht ab, bis der Gesetzentwurf alle Instanzen passiert hatte. Im August 1968 gingen sie dazu über, die Verwaltung der Industriebetriebe in ihre Hände zu nehmen, wobei die Hürde zwischen Selbst-und Mitverwaltung vielfach umgestoßen wurde. Ein Preßburger Chemiewerk machte den Anfang. Im Schoße der politischen Revolution begann eine Arbeiterrevolution.

Novotnys Putschversuch und Sturz Die Vehemenz der vorstehend skizzierten philosophischen, ökonomischen, kulturellen, studentischen und sozialen Bewegung ist nicht ohne ein Ereignis zu verstehen, das sie stoppen und vernichten sollte.

Am 31. Oktober 1967 prallten auf einer Sitzung des Zentralkomitees die beiden Richtungen um Novotny und Dubcek aufeinander. Dubcek, unterstützt von den Parteisekretären der Kreise Brünn und Mährisch-Ostrau, bezeichnete Novotny als Diktator, beschuldigte ihn der Sabotage des neuen Wirtschaftssystems und verlangte seinen Rücktritt. Er schlug vor, die wirtschaftliche Neuordnung durch ein neues politisches System zu ergänzen. So brach eine unüberbrückbare Kluft auf. Als man hiervon in Moskau erfuhr, kam Breschnew zu einem Blitzbesuch nach Prag. Er versuchte Novotny zu halten, räumte aber schließlich ein, daß die Führungsfrage von der tschechoslowakischen Partei selbst gelöst werden müsse. Breschnew bestand jedoch auf der „Beibehaltung des alten Systems"

Im Laufe der folgenden Wochen und Monate spitzten sich die Gegensätze innerhalb der kommunistischen Parteiführung immer mehr zu. Seit Beginn des Dezember tagte das Parteipräsidium fast permanent. Eine für den 13. Dezember einberufene Sitzung des Zentralkomitees wurde plötzlich auf den 19. Dezember verschoben. In der Zwischenzeit reiste Novotny allein und geheim nach Moskau, wo er sich offenbar des festen Rückhalts der KPdSU bei seinem Kampf gegen den Reform-flügel versichern wollte. Niemand weiß, welchen Erfolg oder Mißerfolg diese Reise hatte. Aber auf dem Dezemberplenum des Zentral-komitees ging es noch viel turbulenter als im Oktober zu. Der Rektor der Karls-Universität rechnete mit dem Polizeistaat ab, wobei er auf das Beispiel der am 31. Oktober 1967 verletzten 13 Studenten verwies. Ein anderer Sprecher fragte, wer eigentlich Breschnew nach Prag eingeladen habe. Sik, der aus dem Krankenhaus herbeigeeilt war, forderte die Umbesetzung des gesamten Parteiapparats und seine Trennung vom Staat. Zum erstenmal wandte sich die Mehrheit des Zentralkomitees gegen Novotny. Er erklärte zwar seine Bereitschaft zum Rücktritt, ordnete jedoch hinter dem Rücken des Zentralkomitees eine Teilmobilisierung der Armee an.

Immerhin stand noch die letzte Möglichkeit offen, daß Novotny im Januar wieder das Vertrauen ausgesprochen erhielt, wofür der Sowjetbotschafter Tscherwonenko und der DDR-Botschafter Florin unter der tschechoslowakischen Prominenz emsig warben. Doch die Sitzung des Zentralkomitees vom 3. bis 5. Januar 1968 verlief anders. Vielleicht unter anderem gerade deshalb, weil Novotny sein Rücktrittsangebot wieder zurückzog, wurde er in geheimer Abstimmung demokratisch abgewählt. Die Entscheidung war gefallen, aber noch am 5. Januar fand eine Geheimkonferenz von Generälen im Ministerium für Verteidigung statt, die sie korrigieren sollte. Wie die tschechoslowakischen Zeitungen „Obrana Ludu" und „Lidova Demokracie" später aufgedeckt haben, beschloß das „Aktiv" ausgewählter Generäle, Teile der Armee einzusetzen, um Novotny an der Macht zu halten. Die Panzer des Generalobersten Janko, der Stellvertretender Verteidigungsminister war, sollten überraschend Prag besetzen, um die gleichzeitig anlaufende Verhaftung der Reformer zu decken und eventuell aufflackernden Widerstand zu unterdrücken. Novotny hatte durch seinen Polizeichef Mamula — nach dem Vorbild des römischen Diktators Sulla und des ungarischen Stalin, Rakosi, — eine Proskriptionsliste mit 1 030 Namen vorbereiten lassen, die er unterzeichnete. An der Spitze standen die Namen Dubcek, Smrkovsky, Sik, Prchlik, Vaculik, Spacek, Boruvka und Liehm. Prchlik als Chef der politischen Hauptverwaltung im Ministerium für Verteidigung erfuhr von diesem Plan und informierte Dubcek sowie das Zentralkomitee.

Sogleich wurden die Schüler der Politischen Akademie „Klement Gottwald" mit Sonder-vollmachten zu allen Truppenteilen gesandt, wodurch es gelang, die Neutralität der Armee im Kampf der Parteiflügel zu erreichen und den Putschplan zu vereiteln. Generaloberst Janko verübte Selbstmord. Ein anderer Militärverschwörer, General Sejna, floh mit seiner Freundin und seinem Sohn in die USA (ohne daß den Putschisten von Seiten Moskaus konterrevolutionäre Umtriebe in Verbindung mit dem amerikanischen Imperialismus vorgeworfen worden wären). Nach seiner Flucht verlangte die Parteigruppe des Oberkommandos der Armee in einem von der Gewerkschaftszeitung „Prace" veröffentlichten Brief an Dubcek, alle Mitwisser der Verschwörung einschließlich der Person des Staatspräsidenten zur Verantwortung zu ziehen. Novotny hatte übrigens auch versucht, die bewaffnete „Volksmiliz" für seinen Putsch zu mobilisieren.

Schon das Putschgerücht rief ungeheure Erregung hervor. Das Aufdecken der Verschwörung, wenngleich es nur andeutungsweise erfolgte, vereinigte alle Strömungen der Erneuerung zu einem einzigen Strom. Es bildete sich eine Allianz zwischen den Parteireformern und der Mehrheit des Volkes. Ihr erster Höhepunkt waren Massenkundgebungen am 20. März 1968 in Prag und Preßburg. Allein im Prager Fucik-Palast kamen fast 16 000 Menschen zusammen, vor denen Sik, Goldstücker, Smrkovsky, Vaculik, Husak, Prochazka sowie ein Student sprachen, der als Teilnehmer an der Protestdemonstration vom 31. Oktober 1967 relegiert und zur Armee gesteckt worden war. Die leidenschaftliche Debatte dauerte vom Abend bis zum nächsten Morgen. Sie durchdrang die Stadt und das gesamte Land, denn die Abrechnung der 16 000 mit der Novotny-Ära wurde ungekürzt vom Rundfunk übertragen. Am 21. März 1968 trat Novotny als Staatspräsident zurück. Es blieb ihm keine andere Wahl mehr. Im Mai verloren er und sechs seiner Gesinnungsgenossen auch die Mitgliedschaft im Zentralkomitee.

Reformen und Pläne Mit der Verdrängung Novotnys war der stärkste Riegel zwischen Reformtheorie und Reformpraxis gesprengt. Es blieben aber die kleinen Riegel der kleinen Novotnys in den Bezirken, Kreisen und Städten. Sie mußten auch noch zurückgeschoben oder aufgebrochen werden. Daher das „Manifest der zweitausend Worte". Der Philosoph Ivan Svitak stellte seine an die Spitze von Partei und Staat aufgerückten Reformgenossen vor die Alternative, „entweder Millionen für ihre Perspektive des demokratischen Sozialismus zu gewinnen oder 100 000 Menschen in ihren Ämtern zu belassen"

Eine Lösung der brennenden Probleme innerhalb des kommunistischen Parteirahmens und ohne Arbeitsgemeinschaft mit den Parteilosen sei unmöglich, daher müsse die Volkssouveränität als Ursprung aller staatlichen Macht anerkannt werden.

Allerdings zerbröckelte das alte Machtsystem überraschend schnell. Sein Zwangsrahmen, die Nationale Front, zerfiel. Die Reste der früheren Katholischen Volkspartei drängten aus ihrer Satellitenrolle heraus, nachdem sie den Expriester Plojhar abgesetzt hatten, der ihnen als kommunistischer Vertrauensmann aufgezwungen worden war. Es entstand auch ein „Vorläufiges Zentralkomitee" zur Regeneration der Sozialdemokratie, deren Neugründung jedoch nach einem Gespräch mit den kommunistischen Reformern unterblieb, um der Sowjetunion keinen Vorwand für den Einmarsch ihrer Truppen zu bieten. Die Friedenspriesterbewegung zerfiel. Auch der kommunistische Jugendverband brach zusammen, während die Boy-Scout-Bewegung der ersten tschechoslowakischen Republik wiedererstand. An einem einzigen Wochenende verließen fünfzig hohe Funktionäre ihre Posten.

Als neue politische und soziale Interessen-organe, wie sie vorher noch in keinem kommunistischen Lande aufgetaucht waren, bildeten sich zahlreiche Klubs. Besonderen Zulauf erhielten die Klubs der „engagierten Parteilosen" und der „nichtengagierten Politiker". Daneben entstanden Vereinigungen politischer Häftlinge und zur Rehabilitierung unschuldig Verurteilter. Es war offenkundig, daß die aufgewühlten, jählings in den Raum der Politik vorgestoßenen Bevölkerungsmassen nach neuen Sammelpunkten und Ausdrucksformen für ihre Ansichten suchten. Das Mißtrauen gegenüber der Kommunistischen Partei begann nach ihrem Führungswechsel zu schmelzen, doch beschränkte sich das Vertrauen auf die Reformer und ihre Repräsentanten, denen praktische Beweise ihres Gesinnungswandels abverlangt wurden. Hierfür war ein Beitrag von Vaclav Havel im Organ des Schriftstellerverbandes bezeichnend. Er forderte „die vollständige Rehabilitierung aller Nichtkommunisten, die jahrelang dafür dulden mußten (und auch heute noch Spuren des Kainszeichens auf der Stirn tragen), daß sie manche Dinge eher wußten als die Kommunisten" Havel trat für ein Zweiparteiensystem ein, bestehend aus einer Demokratischen Partei der Nichtkommunisten und einer Kommunistischen Partei der sozialistischen Kräfte, die gemeinsam eine Ordnung des demokratischen Sozialismus aufrichten sollten. Die Demokratische Partei sollte also den demokratischen, die Kommunistische Parten den sozialistischen Bestandteil des demokratischen Sozialismus formen. Diese bemerkenswerte geistige Konstruktion enthielt eine virtuelle Neubestimmung des Sozialismus, die der von Bernstein ähnlich war, sie jedoch durch das Zweiparteienmodell transzendierte. Havel überschritt auch Djilas'Idee einer zweiten Partei in den kommunistischen Ländern, da Djilas nur an eine sozialistische Oppositionspartei dachte. Übrigens sah Havel ausdrücklich die Zusammenarbeit mit den Kommunisten in Gestalt einer Koalition vor, die eine Koalitionsregierung gleichberechtigter Partner erfordert hätte.

Das Zentralorgan der Kommunistischen Partei druckte einen Aufsatz von Ivan Synek, der den Sowjetkommunismus nur noch als „Urmodell" der sozialistischen Systeme ohne Verbindlichkeit für die Gegenwart gelten lassen wollte: „Es gibt auf der Welt nämlich kein universales, allen entsprechendes Modell des Sozialismus, das man den konkreten Bedingungen jedes einzelnen Landes mit Erfolg auf-pfropfen könnte . .. Insofern es also in der CSSR gegenwärtig Probleme gibt, so handelt es sich vor allem um die Suche nach einem tschechoslowakischen Weg zum Sozialismus, um eine Renaissance des Sozialismus in der Tschechoslowakei. Es war der Schaden dieses Landes und der gesamten Bewegung, daß diese Anstrengungen seinerzeit gewaltsam unterbrochen wurden"

Ähnlich sagte Cisar, einer der Theoretiker des neuen Kurses, der Leninismus sei nur eine von vielen möglichen Interpretationen das Marxismus, jedoch nicht der Marxismus des gegenwärtigen Zeitalters schlechthin.

Der Schriftsteller Alexander Kliment faßte alle eigenen und an ihn herangetragenen Erwartungen in fünf Punkten zusammen: „Freie Wahlen, ein funktionierendes Parlament mit einer Opposition, Wiederherstellung der öffentlichen Meinung, aktive Neutralität, Sozialismus neuen Typs"

Dubcek versprach im März 1968, für die Trennung von Partei und Staat, für geheime Wahlen zur Nationalversammlung und dafür einzutreten, dem Parlament „die höchste Macht im Staate" zu übertragen.

Eine Leserumfrage des kommunistischen Zentralorgans ergab, daß 90 °/o der Parteilosen und 60 °/o der kommunistischen Parteimitglieder ein echtes Mehrparteiensystem wollten.

Wie weit die geistige Demokratisierung ging, zeigte sich daran, daß selbst die Angestellten der Zensurbehörde für die Abschaffung der Zensur und die Parteimitglieder im Justizministerium für künftig unabhängige Richter waren.

Eine erste Klärung der Frage, wie weit die neue Partei-und Staatsführung zu gehen gedachte, brachte das Aktionsprogramm vom 5. April 1968. Es verurteilte das bürokratische System der Vergangenheit, seinen Kult der Durchschnittlichkeit, die Unterdrückung der Kritik und den Mißbrauch der Macht. Die Kommunistische Partei kann weder das Instrument einer proletarischen Diktatur noch ein universeller Verwalter der Gesellschaft sein. Sie muß sich ihre führende Rolle durch Leistungen immer wieder aufs Neue verdienen. Das Aktionsprogramm versprach die Rehabilitierung der unschuldigen Opfer des bürokratischen Systems, die Abschaffung der Vorzensur, die Befreiung der Kunst, Informationsfreiheit, Versammlungs-und Koalitionsfreiheit, die Wiederherstellung der Freizügigkeit aller Bürger, eine gründliche Säuberung des Justiz-und Sicherheitsapparates wie auch die Neuordnung der Nationalitätenrechte.

Von der institutionellen Legalisierung einer Opposition oder von der Zulassung neuer Parteien war hingegen nicht die Rede. Man strebte statt dessen die Neubelebung der Nationalen Front im Sinne echter Partnerschaft und eine Balance der Gewalten innerhalb der Macht an, damit „Fehler und Über-griffe des einen Gliedes beizeiten durch die Tätigkeit eines anderen korrigiert werden können" Außerdem hieß es, daß keine einzige Partei den Staat mit Beschlag belegen und Repressalien gegen eine Minderheit anwenden dürfe. Aber was hatte das praktisch zu bedeuten, solange keine politische Alternative gegeben war, die allein freie Wahlen garantieren konnte?

Der Leitgedanke des Aktionsprogramms trat dort hervor, wo von der Notwendigkeit gesprochen wurde, die Tschechoslowakei in den internationalen Prozeß der technisch-wissenschaftlichen Revolution einzureihen. Man wollte die Eingliederung in diese Revolution mit der Regeneration des tschechoslowakischen Kommunismus verbinden. Die Verfasser hatten begriffen, daß eine gleichzeitige Lösung der beiden Grundaufgaben, vor denen die KPC stand, die Freisetzung bisher unterdrückter Energien und Initiativen des ganzen Volkes verlangte. Daher sollte die Gewährung der Organisationsfreiheit, vermindert um das Recht zur Gründung neuer Parteien, „gesetzlich garantierte Möglichkeiten schaffen, freiwillige Organisationen, Interessengemeinschaften, Verbände und so weiter zu bilden, die den gegebenen Interessen und Erfordernissen der verschiedenen Schichten und Gruppen unserer Bürger entsprechen und die keinen bürokratischen Einschränkungen durch monopolisierte Rechte irgendwelcher Organisationen unterliegen" Das war der größte Schritt des Aktionsprogramms. Zum Teil legalisierte er, was bereits in den Kreisen und Städten geschah, zum Teil eröffnete er neue Möglichkeiten für die Demokratisierung des Landes.

Die KPÖ setzte eine Kommission zur Ausarbeitung eines neuen politischen Systems ein, der so prominente Reformer wie Löbl, Strinka und Prucha angehörten. Ein führendes Mitglied der Kommission, Radovan Richta, hat den Sozialismus mit menschlichem Antlitz, wie er ihm vorschwebte, recht prägnant sowohl negativ als auch positiv umrissen: „Die Entfaltung eines funktionierenden sozialistischen Systems ist nicht auf Grund einer bloßen Negation der kapitalistischen Formen — der bürgerlichen Machtinstitutionen und des Privateigentums an den Produktionsmitteln — möglich. Der Sozialismus in seiner spezifischen Gestalt kann nicht als eine Gesellschaft existieren, in der statt der gestürzten Bourgeoisie Bürokraten herrschen, der Staat an Stelle der Kapitalisten die Industrialisierung verwirklicht und das Land in eine einzige, große, zen157) tral geleitete Fabrik verwandelt, eine Gesellschaft, in der soziale Gerechtigkeit und Sicherheit für alle dadurch gewährleistet werden, daß fast alle Menschen der Möglichkeit beraubt sind, ihre Fähigkeiten und schöpferischen Impulse zu entfalten . . .

Die Kommunisten müssen dem Kommandieren und der Willkür die freie sozialistische Entfaltung der Gesellschaft und des Menschen entgegenstellen, dem machtgierigen Dirigismus den Demokratismus der Selbstverwaltung, dem bürokratischen Stumpfsinn die wissenschaftliche Vernunft, dem Schlendrian ein modernes Tempo, der Verletzung nationaler und menschlicher Werte patriotische und internationale Verantwortlichkeit, dem engstirnigen Parteidenken den Kommunismus als humanistische Bewegung, dem Konservatismus und Kapitulantentum den sozialistischen Aufstieg."

Das war ein geistiger Bruch mit dem russischen Kommunismusmodell, der auch Lenin überwand und mit einer in Jugoslawien aufgenommenen Anleihe — man beachte den Begriff der Selbstverwaltung — einer neuen Form von Kommunismus den Weg zu bahnen versuchte, die Freiheit und Sozialismus zu einer Synthese verschmolz.

Wie sah nun das praktische Ergebnis der kurzen Dubcek-Ära aus? Es wurde die Rehabilitierung von rund 40 000 Opfern des Gottwaldund Novotny-Systems eingeleitet. Der neue Staatspräsident Svoboda amnestierte alle politischen Häftlinge, die zu weniger als drei Jahren verurteilt worden waren. Die Vorzensur fiel weg, jedoch blieb ihre Behörde, die Hauptverwaltung für das Pressewesen, bestehen. Die Nationalversammlung verwandelte sich aus einer Abstimmungsmaschine in eine wirkliche Legislative, der nur noch die Opposition fehlte, um ein echtes Parlament zu werden. Der Staatssicherheitsdienst in Prag und in den Provinzstädten wurde weitgehend personell umbesetzt. Es bildete sich wieder eine öffentliche Meinung unabhängig von Partei und Staat, die eine Art Ersatzopposition zu spielen begann.

Die Intervention:

Vorbereitung und Gründe Im Juni 1968 veröffentlichte Moskau den „Hilferuf" eines Aktivs der tschechoslowaki-sehen Arbeitermiliz mit der Unterschrift von Rudolf Horcig, der jedoch dementierte und von einem Mißbrauch seines Namens sprach. Nun berichtete die Moskauer „Prawda" von mysteriösen Waffenlagern tschechoslowakischer Konterrevolutionäre, die den Einmarsch von Natotruppen und der Bundeswehr begünstigen sollten. Die sofort angestellten Untersuchungen des Prager Verteidigungsministeriums führten allerdings zu der öffentlich geäußerten Vermutung, daß die Waffen in provokatorischer Absicht über die Grenze der DDR gebracht worden sind. Am 15. Juli stellten die Kommunistischen Parteien von fünf Mitgliedsländern des Warschauer Paktes das „Manifest der zweitausend Worte" als „Plattform der Konterrevolution" hin, der sogar von führenden Persönlichkeiten der KP Vorschub geleistet werde. Auf der Warschauer Konferenz der fünf Parteien, die von Konterrevolution sprachen, muß die Intervention schon beschlossen worden sein. Denn kurz darauf sind in ihren Ländern Inserate erschienen, in denen tschechisch und slowakisch sprechende Personen als Dolmetscher gesucht wurden.

Ende Juli 1968 gab der Prager Rundfunk bekannt, daß einige der höchsten Funktionäre des alten Systems auf der Krim zusammen-kämen, um neue Kräfte zu sammeln, wobei die Namen Pastyrik, Chudik und Nemec fielen. Es zeichnete sich die Möglichkeit ab, daß die UdSSR versuchen könnte, auf ihrem Boden eine tschechoslowakische Exilregierung aus abgesetzten Funktionären zu bilden und nach dem Modell der Intervention in Ungarn vorzugehen. Die Parteiorganisation von Prag, 160 000 Mitglieder vertretend, beschloß angesichts dieser Gefahr, auf der Hut zu sein und nunmehr permanent zu tagen. Die Kadars tauchten jedoch aus ihrer eigenen Mitte auf. Am Nachmittag des 15. August wurde der ZK-Sekretär Indra dabei überrascht, wie er sich über den Fernschreiber mit dem Sowjetbotschafter Tscherwonenko in Verbindung setzte. Indra verlangte in der Nacht zum 21. August von Staatspräsident Svoboda, unverzüglich als Ministerpräsident einer „revolutionären Arbeiter-und Bauernregierung" bestätigt zu werden. Aber Svoboda wies ihm und seinem Begleiter Lenart, dem letzten Ministerpräsidenten Novotnys, die Tür. Der Generaldirektor der Nachrichtenagentur, Sulek, wurde von seinen eigenen Mitarbeitern daran gehindert, eine Proklamation über die Machtergreifung der „revolutionären Arbeiter-und Bauern-regierung" in alle Welt auszustrahlen. Als neuer Parteichef war der ZK-Sekretär Kolder vorgesehen; er ließ sich von seinen Anhängern bereits „Genosse Erster Sekretär" nennen. Dubcek sollte schon im Namen der neuen Macht, die in Wahrheit eine Seifenblase war, verhaftet werden. Doch die Wiederholung des Kadar-Modells mißglückte.

Nur die militärische Seite der Intervention lief, soweit wir das beurteilen können, programmgemäß ab. Ihr Stoßtrupp bestand in sowjetischen „Touristen", die sich schon tagelang auf dem Gelände des Prager Flugplatzes aufgehalten hatten und in der Nacht vom 20. — 21. 8. 1968 seine Kontrolle übernahmen. Die Touristen entpuppten sich als Angehörige des Geheimdienstes der UdSSR. Sie waren mit zerlegbaren Maschinenpistolen ausgerüstet. Meines Erachtens hatte die militärische Intervention in der CSSR die folgenden Gründe: Die Furcht der Führung einiger kommunistischer Staaten, insbesondere der Sowjetunion und der DDR, die Ideen und Reformen der Männer um Dubcek könnten auf die eigene Bevölkerung ansteckend wirken. Diese Furcht war nicht ganz unbegründet, wenn man das Memorandum des sowjetischen Atomforschers Sacharow oder den Umstand bedenkt, daß auch 2000 Bürger der DDR den Appell der CSSR-Schriftsteller unterschrieben haben. Die Konkurrenz verschiedenartiger Kommunismus-Modelle, vor allem des russischen und des jugoslawischen, die auf dem Rücken der Tschechen und Slowaken ausgetragen wurde. Die Tschechoslowakei löste sich vom russischen Vorbild und übernahm Elemente des jugoslawischen Systems.

Der Anspruch eines beträchtlichen Teils von Reformern, Beispielhaftes für alle kommunistischen Länder zu tun.

Die Forderung nach einem tschechoslowakischen Weg zum Sozialismus.

Es gab Anzeichen, daß die ÖSSR anstelle der UdSSR zum Leitbild der Kommunistischen Parteien des Westens wurde. Prof. Goldstükker sprach von der Schaffung eines auch für die anspruchsvolle Bevölkerung hochentwikkelter Industriestaaten attraktiven Modells. Die internationale Ausstrahlung der tschechoslowakischen Delegation auf dem Weltjugendfestival in Sofia.

Der für den 9. September 1968 vorgesehene 14. Parteitag der KPÖ konnte zur Entmachtung aller moskautreuen Funktionäre führen und ein neues Zentralkomitee wählen, das ausschließlich aus Anhängern der Reformpolitik bestand. — Selbst im „Hilfeersuchen" an die UdSSR, auf das sich die sowjetische Nachrichtenagentur Tass am 21. August 1968 berief, wurde eingestanden, daß die von Dubcek im Januar 1968 eingeleitete neue Politik auf „fortschrittlichen Ideen" fußte und die fast „einmütige Unterstützung" des Volkes gewann.

Schlußwort Gegenwärtig scheint es, als ob sich das gesamte Gewicht der Osteuropäischen Revolution auf die UdSSR selber verlagert. Wenn das zutrifft, könnte zur Wirklichkeit werden, was estnische Wissenschaftler in ihrer Antwort auf das Memorandum des russischen Atomforschers Sacharow vorausgesagt haben: „Schließlich aber werden wir fordern und handeln. Und dann wird man Panzerdivisionen nicht mehr nach Prag und Bratislava schicken, sondern sie in Moskau und Leningrad einsetzen müssen"

Trotzdem darf, so sehr die Osteuropäische Revolution Teil eines weltumspannenden Prozesses der menschlichen Emanzipation ist, keine Zwangsläufigkeit des Fortschritts vorausgesetzt werden. Aber wenn es auch keine Gesetzmäßigkeit politisch-sozialer Prozesse gibt, so ist doch eine gewisse Kontinuität der Osteuropäischen Revolution und Gegenrevolution unverkennbar.

Diese Kontinuität zeigt sich vor allem in der immer erneuten Reproduktion des Konflikts Moskau—Belgrad im Verhältnis der UdSSR zu anderen kommunistischen Ländern. Die Grundlinien des 1948 ausgebrochenen Konflikts heben sich sogar immer deutlicher ab. Noch einmal, so scheint es, haben Goliath und David die Bühne der Geschichte betreten — Goliath in Gestalt des russischen, David in Gestalt des jugoslawischen Kommunismus. Sollte sich sogar der Ausgang ihres biblischen Kampfes wiederholen?

Indes ist auch die jugoslawische Kommunismusform längst von einem Gegner bedroht, mit dem sie ebensowenig fertig werden kann wie der russische Kommunismus mit ihr. Die erste Personifizierung dieses Gegners war Milovan Djilas, der übrigens den Begriff des demokratischen Kommunismus prägte. Die Begriffe Stalinismus, Titoismus und Dubcekismus sind ebenso unscharf wie Maoismus und Fidelismus. Sie verknüpfen sich jeweils mit einer bestimmten Person, bringen demzufolge nur einen Teil des Gemeinten zum Ausdruck und lassen die Probleme subjektiv verzerrt erscheinen. Man sollte daher besser die folgenden drei Modelle des Kommunismus unterscheiden: das staatskommunistische der UdSSR und anderer Länder, das nationalkommunistische Jugoslawiens und Rumäniens, schließlich das demokratisch-kommunistische, wie es vorübergehend in Ungarn und der Tschechoslowakei, 1957 auch ansatzweise in Polen bestand.

Das staatskommunistische System ist nicht an den Stalinismus gebunden, der nur eine seiner Möglichkeiten war. Auch der Titoismus verkörpert nur eine der Formen, die der Nationalkommunismus annehmen kann — in Rumänien trägt er bereits ein anderes Gesicht. Gleichwohl darf das jugoslawische System als ebenso prototypisch für den Nationalkommunismus gelten, wie das russische der Prototyp aller Staatskommunismen ist. Die 13 Tage der Revolution in Ungarn und die praktischen Ansätze in Polen reichten nicht hin, um ein idealtypisches Modell auszuprägen. Der Prototyp des demokratischen Kommunismus ist erst auf dem Boden der Tschechoslowakei entstanden, wo seine Vertreter fast acht Monate Zeit hatten, ihre Ideen in die Praxis umzusetzen. Einer der ÖSSR-Reformer hat von der „Kommune des 20. Jahrhunderts" gesprochen, die das große Experiment eines menschlichen Sozialismus praktizierte und ebenso unvergeßlich wie die Pariser Kommune von 1871 bleiben werden.

Jenseits von optimistischer oder pessimistischer Einschätzung läßt sich das bisherige Ergebnis der Osteuropäischen Revolution und Gegenrevolution dahin gehend zusammenfassen, daß die staatskommunistischen Systeme auf die Dauer nicht mehr lebensfähig sind, während der demokratische Kommunismus noch nicht lebensfähig ist, weshalb die meisten kommunistischen Länder zum Nationalkommunismus tendieren. Der Staatskommunismus ist noch Faktizität, aber keine Vitalität mehr, der demokratische Kommunismus ist noch keine Faktizität, aber schon Vitalität. Freilich kann man von einem nationalkommunistischen System aus sowohl rückwärts-wie vorwärts-gehen.

Und ein letztes: In dem Geschichtsakt, der 1948 anhob, haben Reformen und revolutionäre Vorgänge die Grenzen ihrer schematischen Trennung übersprungen. Man wird daher nach einem modifizierten Begriff von Revolution suchen müssen, der den neuen Realitäten besser gerecht wird.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Ostprobleme vom 17. 6. 1966, S. 357.

  2. Prawda, 17. 5. 1965.

  3. XXIII. Parteitag der KPdSU 1966, Verlag Presseagentur Nowosty, S. 32.

  4. Ostprobleme vom 6. 5. 1966, S. 258.

  5. Ebenda, S. 260.

  6. Frankfurter Allgemeine, 12. 10. 1965.

  7. Prawda Ukrainy, Kiew 9. 12. 1964.

  8. Le Monde, Paris 31. 5. 1967.

  9. Ostprobleme vom 16. 6. 1967, S. 358.

  10. Possev, Frankfurt/M. 2/27.

  11. Ebenda.

  12. Diese Auszüge sind einer Aufzeichnung entnommen, die „Possev" 2/67 veröffentlicht hat.

  13. Christ und Welt, 7. 6. 1968.

  14. Spiegel 3/68.

  15. C. Gerstenmeier, in: Ostprobleme, 17. 11. 1967, S. 620.

  16. Vorwort zu Lunatscharski, Profile der Revolution, Frankfurt/M. 1968, S. 20.

  17. Sowjetunion heute, 1. 6. 1966, S. 8.

  18. Vgl. B. Lewitzkyj, Das Generationsproblem in der Sowjetgesellschaft, in: Aus Politik und Zeit-geschichte, B 2/67 v. 11. 1. 1967.

  19. Ostprobleme vom 17. 11. 1967, S. 629.

  20. II Giorno, Mailand 24. 2. 1966.

  21. Grani, Frankfurt/M., 62/66.

  22. Frankfurter Allgemeine, 1. 8. 1967.

  23. Spiegel 3/68.

  24. Wesennij list, New York, 1961.

  25. Nedelja, Moskau 23/67.

  26. Osteuropa 5/6, 1967.

  27. G. Hillmann, Selbstkritik des Kommunismus, S. 217.

  28. Woprosy filosofii 5/66.

  29. Frankfurter Allgemeine, 17. 8. 1968.

  30. Ebenda.

  31. Ebenda.

  32. Frankfurter Allgemeine, 1. 6. 1968.

  33. Prof. Birman in: Sowjetunion heute, 16. 10. 1965.

  34. Ostspiegel, 15. 12. 1965.

  35. Prawda, 12. 3. 1965.

  36. Sowjetunion heute, 1. 7. 1965, S. 8.

  37. Radio Moskau, 14. 5. 1965.

  38. Radio Moskau, 14. 9. 1965.

  39. Osteuropa 4/66, S. 221.

  40. Prawda, 5. 7. 1965.

  41. Frankfurter Allgemeine, 5. 5. 1965.

  42. Neue Züricher Zeitung, 23. 1. 1965.

  43. Frankfurter Allgemeine, 16. 11. 1966.

  44. Frankfurter Allgemeine, 9. 10. 1967.

  45. Sowjetunion heute, 16. 3. 1967.

  46. Prawda, 4. 11. 1967.

  47. Ostprobleme vom 13. 11. 1964, S. 663/64.

  48. Weg und Ziel, Wien 1/64.

  49. Frankfurter Allgemeine, 14. 10. 1964.

  50. Rinascita, Rom 12. 6. 1965.

  51. Weg und Ziel, Wien 11/65.

  52. Ostprobleme vom 14. 7. 1967.

  53. L’Humanite, Paris 16. 2. 1966.

  54. Rinascita, Rom 28. 11. 1964.

  55. Ostprobleme vom 10. 9. 1965, S. 565.

  56. Sozialistische Tribüne 2/3-1946

  57. Rote Fahne, Wien 20. 10. 1964.

  58. L'Humanite, Paris 4. 8. 1967.

  59. Radio Havanna, 11. 8. 1967.

  60. Radio Havanna, 10. 10. 1967.

  61. Frankfurter Allgemeine, 12. 6. 1968.

  62. M. Djilas, Die unvollkommene Gesellschaft, Wien 1969, S. 218.

  63. Christ und Welt, 26. 2. 1965.

  64. Ostprobleme vom 13. 8. 1965, S. 502.

  65. Lupta De Clasa, Bukarest Juni 1966.

  66. Frankfurter Allgemeine vom 18. 5. 1966.

  67. Scinteia, Bukarest 20. 5. 1965.

  68. Scinteia, Bukarest 7. 5. 1967.

  69. Scinteia, Bukarest 19. 7. 1967.

  70. Scinteia, Bukarest 7. 5. 1967.

  71. Scinteia, Bukarest 26. 4. 1968.

  72. Scinteia, Bukarest 2. 6. 1968.

  73. Scinteia, Bukarest 2. 6. 1968.

  74. Frankfurter Allgemeine, 18. 5. 1966.

  75. Ebenda, 19. 5. 1966.

  76. Scinteia, Bukarest 25. 7. 1967.

  77. Ostspiegel, 28. 6. 1968.

  78. Vgl. Ostprobleme vom 28. 6. 1968, S. 304— 307.

  79. N. Gentscheff, Jugend und Geschichte, in: MLA-Desch, August 1966.

  80. Frankfurter Allgemeine, 20. 12. 1965.

  81. Vorwärts, 26. 5. 1965.

  82. Spiegel 52/65.

  83. Vorwärts, 20. 4. 1966.

  84. konkret 7/66, S. 32.

  85. konkret 7/66, S. 33.

  86. Vorwärts, 23. 3. 1967.

  87. Kritik der politischen Ökonomie heute 100 Jahre Kapital, Frankfurt/M. 1968, S. 136.

  88. D. Grille, Lenins Rivale, Köln 1966, S. 188.

  89. über den Pseudokommunismus Chruschtschows und die historischen Lehren für die Welt Pekina 1964, S. 67.

  90. Ebenda, S. 72.

  91. K. Mehnert, Maos zweite Revolution, Stuttgart 1966, S. 17.

  92. Die Große Sozialistische Kulturrevolution in China (1), Peking 1966, S. 9.

  93. Vorwärts, 5. 10. 1966.

  94. Tschungkuo Tschingnian, Peking 25. 1

  95. Ostprobleme, 24. 2. 1967, S. 109.

  96. Ebenda, S. 106.

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Günter Bartsch, freier Journalist, geb. 13. 2. 1927 in Neumarkt/Schlesien. Von 1948 bis 1953 in leitenden Positionen der kommunistischen Jugendbewegung. Bruch mit dem Kommunismus nach dem 17. Juni 1953. Veröffentlichungen u. a.: Kommunismus, Sozialismus und Karl Marx, Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Heft 72, Bonn 19683.