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Die attische Demokratie im politischen Unterricht | APuZ 11/1970 | bpb.de

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APuZ 11/1970 „Gesamtdeutsche Erziehung" in Schulbüchern der DDR und BRD Der Beitrag des Geschichtsunterrichts zur Politischen Bildung Die attische Demokratie im politischen Unterricht

Die attische Demokratie im politischen Unterricht

Dieter Schmidt-Sinns

/ 28 Minuten zu lesen

Die beste Methode dürfte hier wie bei anderen Problemen sein, daß man die Gegenstände veriolgt, wie sie sich von Anfang an entwickeln.

Aristoteles, Politik

I. Didaktische Überlegungen zur Themenwahl

INHALT I. Didaktische Überlegungen zur Themenwahl II. Geographische, ökonomische und soziale Voraussetzungen III. Solon — Die Schaffung einer verfassungsmäßigen Ordnung IV. Die Peisistratiden — Die Tyrannis und ihre sozialen Folgen V. Exkurs: Der Abbau aristokratischer Strukturen durch die NS-Herrschaft VI. Kleisthenes — Das Entstehen der Demokratie VII. Perikies und seine Epigonen — Die radikale Demokratie und deren Scheitern

VIII. Schlußbemerkungen

Ebenso alt wie die sogenannte Gemeinschaftskunde ist der Streit um die Rolle der Geschichte in dem neuen Sachbereich; im Grunde ist es eine müßige Auseinandersetzung. Gemeinschaftskunde will ja gerade das Fachdenken sprengen; nicht Fächergrenzen sollen zur Norm für die Wirklichkeit werden, sondern „das konkrete Problem wird zum Sammelpunkt für die zuständigen Disziplinen" Bleibt zu entscheiden, welche Fragen für die politische Bildung relevant sind. Verfechter des neuen Faches neigen dazu, die Kenntnis der Moderne (seit etwa 1770) „als historisch relevant genug für die Bewältigung der Gegenwart zu halten" „Thukydides und Tacitus können uns zwar zeigen, wie es in der pragmatischen Geschichte zugeht. Aber die Welt vor der Renaissance und vor den europäischen Revolutionen kannte die Probleme noch nicht, die uns bewegen und für alles Tun und Denken der Gegenwart und Zukunft fundamental sind" (W. Flitner). Doch können wir auch lesen, die Gemeinschaftskunde „will ja gar nicht, daß etwas von den Bildungsgütern der Geschichte aufgegeben werde"

Niemand wird bestreiten wollen, daß es Geschichtsepochen gibt, deren Kenntnis jedem Schüler vermittelt werden sollte. Wenn junge Amerikaner sich heute in Kursen der „social studies" mit der Gesellschaft der Kalahari-bewohner oder revolutionären Veränderungen in der Jarmo-Kultur befassen dann sind solche Studien als exemplarisches Lernen si-eher nützlich, obwohl jene Kulturen historisch recht unbedeutend sind. Um so wertvoller muß aber die Beschäftigung mit Gesellschaft und Politik derjenigen Völker sein, die weltgeschichtliche Bedeutung gewonnen haben, deren Leistungen für unsere Weltkultur relevant sind. Der Durchgang durch die Geschichte in der Sekundarstufe ist besonders unbefriedigend für die Antike, weil die Altersstufe der 11-bis 13jährigen nur sehr bedingt dazu fähig ist, die verfassungspolitischen Fragen der attischen oder der römischen Geschichte zu begreifen, so daß der Unterricht sich überwiegend mit Kriegen und Revolutionen zu befassen hat. Daher sollte man auf eine Beschäftigung mit der Antike auf der Oberstufe keinesfalls verzichten. Methodisch-didaktische Handbücher für den politischen Unterricht dürfen über diese Situation nicht hinwegsehen.

Einem Mißverständnis ist hier vorzubeugen:

Politischer Unterricht soll nicht allein von der Geschichte her betrieben werden, sondern es geht darum zu untersuchen, wie ein Geschichtsunterricht vorzugehen hat, der ein „Beitrag zur politischen Bildung" sein will. Dabei darf man sich nicht auf die letzten beiden Jahrhunderte beschränken, weil die Wurzeln unserer Kultur eben wesentlich weiter zurückreichen, weil nur ein Einblick in die Weltgeschichte das Verständnis unserer Welt-kultur ermöglicht. Für den politischen Unterricht ist ein Bildungswissen Voraussetzung; doch dessen „Werte und Vorstellungskomplexe bleiben so lange abstrakt, ja, haben in Wahrheit gar nicht die Qualität von Vorstellungen, wie sie nicht in Bezug gesetzt werden können zur Realität der gegenwärtigen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Welt" Damit kommt man über die vergleichende Geschichtsbetrachtung zu einer sozialkundlichen Arbeitsweise. Die Gefahr entstellender Anachronismen und damit der Verfälschung antiker Geschichte sollte man nicht gering einschätzen. Der Lehrer muß sich ihrer immer bewußt bleiben und ihr dadurch zu entgehen suchen, daß er in jedem Falle die einzelnen Komponenten des zu Vergleichenden genau betrachtet. Vereinfachungen sind aber — wie häufig im Unterricht — aus didaktischen Gründen unvermeidlich.

Das Folgende stellt einen aus der Unterrichts-praxis in einer gymnasialen Oberstufe entstandenen Versuch zur Diskussion, die Alte Geschichte für den politischen Unterricht fruchtbar zu machen, umgekehrt aber auch durch den in den Unterricht integrierten Vergleich mit unserer politischen Gegenwart zur Erhellung der unseren Schülern so fern liegenden griechischen Antike beizutragen: Die attische Polis als Modell eines demokratischen Versuchs, an dem Einsichten in antike Formen staatlicher Ordnung ebenso wie Erkenntnisse von Eigentümlichkeiten moderner Staatsformen zu gewinnen sein sollten.

Das Thema scheint im wesentlichen den Historiker, allenfalls den Verfassungsrechtler zu betreffen. Die folgenden Überlegungen sollen zeigen, wie dennoch eine Vielzahl von Wissenschaften befragt werden muß, um eine möglichst umfassende Antwort auf unser Unterrichtsvorhaben zu erhalten, auf die Frage nach Wesen und Werden der attischen Demokratie

II. Geographische, ökonomische und soziale Voraussetzungen

Die Unterrichtsreihe sollte ausgehen von den Grundlagen für die eigentümliche Entwicklung Attikas: den geographischen Voraussetzungen und den wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen gegen Ende des 7. Jahrhunderts. Die Reformen Drakons und Solons, auch die späteren des Kleisthenes, werden nur von hier aus verständlich.

Drei unterschiedliche Regionen sind für Attika kennzeichnend: die weite Ebene um Athen, die sich nach Nordosten erstreckt, ein Küstensaum im Südwesten der Halbinsel, schließlich die von der Stadt aus gesehen „jenseits der Berge" gelegenen Bezirke an der Ostküste. Hier sind Kleinbauern in der Überzahl; an der Westküste, hafenreich und in der Nähe der Metropole, widmet man sich überwiegend dem Handel und der Seefahrt; in der fruchtbaren Ebene wird Getreide angebaut.

Noch ist das Gemeinwesen in der Hand der Adligen. Diese, die Eupatriden, die „Söhne edler Väter", sind im Besitz der reichen Äcker in der Ebene, leben aber zumeist in Athen, wo sich auch Handwerker und Händler befinden wie im Küstenbezirk. In den Jahrzehnten vor 600 treten nun zwischen den Großgrundbesitzern, den Handel-und Gewerbetreibenden und den Kleinbauern soziale Spannungen auf: Anstoß zu Verfassungsreformen.

Für diese soziale Krise werden verschiedene Ursachen angeführt, die, mehr oder minder, alle ihren Anteil an den Erschütterungen des Adelsstaates gehabt haben mögen.

Das Münzgeld kommt auf und damit der Geldverleih auf Zins. — Die Kolonisation hatte neue Absatzmärkte erschlossen, und die daraufhin steigende Getreideproduktion wird zum Teil ausgeführt und drückt die Preise. —• Ebenfalls für den Export wird in steigendem Maße Wein und öl gebaut. Alle diese Entwicklungen wirken sich zum Vorteil der Reichen aus: Sie machen Geldgeschäfte und können im großen Stil produzieren, vor allem O 1 und Wein, — Pflanzen, die erst nach Jahren Ertrag bringen und daher langfristige Investitionen erfordern. So gerieten zahlreiche Kleinbauern in wirtschaftliche Not, ja persönliche Gefahr, wenn sie geborgt hatten und nicht zurückzahlen konnten: Sie wurden in die Sklaverei ver23 kauft. Andere Bauern waren Hörige und verpflichtet, dem Herrn ein Sechstel des Ertrages als Abgabe zu leisten (hektemoroi). Auch sie hafteten mit ihrem Leibe

Diese Entwicklung hat aber noch einen weiteren Aspekt. Die wachsende Ausfuhr von öl und Wein erschloß Absatzmärkte auch für andere Erzeugnisse, und diese Tatsache machten sich die attischen Handwerker zunutze (Keramik). Damit wurde die Schicht handel-und gewerbetreibender Bürger gestärkt.

Auch unter den reichen Grundbesitzern müssen Umschichtungen eingetreten sein. Die Stellung der Eupatriden hatte vor allem darauf beruht, daß sie im Besitz des besten Landes waren. Die anspruchslosen Oliven und Weinstöcke sind aber auch auf den kärgeren Böden des Berglandes mit Erfolg anzubauen, so daß hier eine neue Gruppe von Landwirten emporgekommen sein wird. Sie standen den Eupatriden bald an Wirtschaftskraft nicht nach und konnten deren alleinige Vorherrschaft in Frage stellen.

Veränderungen im Kriegswesen liefern einen weiteren Beitrag zur Sozialgeschichte jener Zeit. Die Umstellung des Heeres von adligen Einzelkämpfern auf die Phalanx der Hopliten um 700 hatte zu einer Ausdehnung des Kriegs-dienstesauf weite Kreise der Bürgerschaft geführt, und es war selbstverständlich, daß diese Leistung für das Gemeinwesen auf lange Sicht einen gewissen Einfluß der Hopliten auf die Staatsgeschäfte, zumindest als Forderung, zur Folge haben mußte.

Der knappe Abriß der Voraussetzungen für die Entwicklung Athens im 7. und 6. Jahrhundert sollte zeigen, wie Wirtschaftsgeographie, Sozial-und Militärgeschichte Beiträge zu einem noch vor kurzer Zeit in der Schule rein von der allgemeinen Geschichte her behandelten Thema leisten können. Diese enge Betrachtungsweise herrscht noch in manchen Schulbüchern vor, die sich darauf beschränken, die wirtschaftliche Not und die daraus entstehende Schuldknechtschaft der attischen Kleinbauern als Grund für die Reformen Drakons und Solons anzugeben. Dabei ist es gär nicht sicher, inwieweit die Not der Kleinbauern oder die sich verbessernde Position der Hopliten, der Handwerker, Händler und der durch den Export emporgekommenen Gruppe der Landwirte das auslösende Moment für die Reformen war Revolutionen werden in der Regel nicht von verelendeten Massen, sondern von sozialen Gruppen inszeniert, die einen ökonomischen Status erreicht haben, der ihren politischen Entfaltungsmöglichkeiten nicht entspricht.

III. Solon — Die Schaffung einer verfassungsmäßigen Ordnung

Der Unterricht wird Drakon nur kurz erwähnen. Wir wissen nicht viel über ihn. Schon die Annahme, er habe seine Gesetze „unter dem Druck des aufsteigenden Mittelstandes" erlassen, erscheint nicht gesichert. Man sollte aber herausstellen, daß an der Schwelle verfassungsmäßiger Ordnung in Athen dieser Versuch zur Rechtsstaatlichkeit stand, wie „drakonisch" die Strafen auch immer gewesen sein mochten.

Didaktische Überlegungen zur solonischen Verfassung haben in Betracht zu ziehen, daß die Literatur kein einhelliges Urteil über Solons politischen Standpunkt bietet. Solon war adliger Herkunft, doch als Kaufmann tätig.

Er selbst stellt sich in seinen Gedichten als diallaktes, als „Versöhner", dar. Dagegen erscheint er bei Forrest als Revolutionär: „Es besteht . . . kein Grund zu der Annahme, daß Solon nach den Begriffen seiner Zeit kein Extremist gewesen sei ..." Oder Sterling: „Solon vertrat die Interessen der aufsteigenden Handelsklasse."

Betrachten wir Solons politische Maßnahmen: die Befreiung der Bauern aus Schuldknechtschaft und Zinspflicht, die Einrichtung von Volksgerichten und des Rates der 400, die Zuordnung politischer Rechte und Pflichten an die vier Klassen der Bevölkerung. „Wem brachte die neue Klasseneinteilung politischen Vorteil?" könnte im Unterricht gefragt werden. Kaum den Theten (Lohnarbeiter), die wahrscheinlich keinen Zugang zu Volksversammlung und Volksgericht erhielten, weil sie keinen Grundbesitz, hatten Wenig auch den Zeugiten (dritte Vermögens-klasse), die zwar de jure alle ihre Stimme abgeben konnten, aber de facto wie auch die Theten aus wirtschaftlichen Gründen selten in der Lage gewesen sein mochten, an den Versammlungen in der Stadt teilzunehmen. Die alte Schicht der Eupatriden, die wir größtenteils unter den pentakosimedimnoi („Fünfhundertscheffler", erste Vermögensklasse) zu suchen haben werden, hatte nur zu verlieren, sie mußte die Macht nun teilen. Damit bleiben übrig als Hauptnutznießer von Solons Neuerungen jene reichen, doch nichtadligen attischen Bürger, denen die Reform zu politischem Einfluß verhalf, die den Besitz und die militärische Leistung für das Gemeinwesen an die Stelle der Abstammung setzte. Wir werden diese Leute in den ersten beiden Vermögens-klassen zu suchen haben. über die Befugnisse des Rats der 400 wissen wir wenig. Der dem Adelsrat (Areopag) gegenübergestellte Volksrat schmälerte jedenfalls dessen Gewicht, denn die Volksversammlung war nun in der Lage, sich selbst zu dirigieren — für die zukünftige Verfassungsentwicklung eine schwerwiegende Tatsache

Die Einrichtung von Volksgerichten schien Aristoteles von solcher Bedeutung, daß er sagt, das Recht, an den Volksgerichtshof zu appellieren, habe die Macht des Volkes am meisten gestärkt. Dort sei das Volk Herr in den Abstimmungen, so werde es auch Herr über den Staat Man darf diese sicher zutreffende Bemerkung des Aristoteles nicht mißverstehen und Solon zum Demokraten um-stilisieren. Auch kann man Aristoteles keinesfalls wörtlich nehmen, wenn er für diese Zeit von „Verschwörungen zum Sturze der Demokratie" spricht Wir sollten uns nicht „in Phantasien über einen .demokratischen'Solon verlieren" Seine Zeit kannte weder die Sache noch den Begriff.

Man müßte den Schülern aber recht anschaulich vorstellen, was die hehaia (das Volks-gericht) bedeutete: Hier sprach nicht eine begrenzte Anzahl von Aristokraten Recht, wie im Areopag, sondern Tausende, ursprünglich vielleicht das Volk in seiner Gesamtheit, urteilten als Berufungsinstanz über Richter-sprüche der höchsten Beamten. Hier kann man mit Aristoteles und auch im modernen Sinne doch von einer durchgreifenden Demokratisierung des Gerichtswesens sprechen.

Ausgangspunkt für Solons Schlichtung der sozialen Gegensätze war die Befreiung der Bauern. Man sah, „daß zwischen den herabgesunkenen Kleinbauern, denen zugleich alle politischen Rechte verlorengingen, und Sklaven kaum noch ein Unterschied bestand; man erkannte Freiheit als eigenen Wert, man begriff, daß das Schicksal der Sklaverei nicht nur Stammfremde und Rechtlose, sondern jeden Bürger treffen konnte." Sieht man diese Maßnahme im Zusammenhang mit den Rechten und Pflichten der Bürger in den vier Vermögensklassen, so kann man mit Max Pohlenz sagen: „Es ist der Begriff der sozialen Gerechtigkeit, den Solon als erster Abendländer klar erfaßt und zum Maßstab seines Handelns als Staatsmann gemacht hat."

Kann man Solons Wirken danach revolutionär nennen? Man wird zu dem Schluß kommen müssen, daß er sich als Reformer im wahren Sinn des Wortes erweist, indem er die alten Rechte der Bauern wiederherstellt und die Eunomie, die gerechte Ordnung, eine aristokratische Ordnung, wieder einzurichten sucht Seine Klasseneinteilung ist nur eine Abwandlung der schon bestehenden, und dem revolutionären Drängen nach einer Bodenreform gibt er nicht statt. Man wird andererseits die Schüler die zukunftsweisenden Elemente dieser Verfassung herausfinden lassen; neben den schon genannten sollte die Bedeutung der Beamtenwahlen durch das Volk, überhaupt die Abstimmung mit Stimmenzäh-Jung, unsere Beachtung finden. Diese Grundlage demokratischen Verfahrens erhielt das Volk durch Solon

Solon wäre somit darzustellen als Reformer einer aristokratischen Staatsordnung, der diese auf eine rationale verfassungsmäßige Basis stellt, Herkunft durch Vermögen ersetzt und sie damit offen und entwicklungsfähig für die Zukunft macht. Dabei führt er zur rechtlichen Verankerung Verfahrensweisen ein, die später zur Grundlage dr Demokratie werden. „Solon von Athen steht nach Willen und Werk an jener Grenzscheide, die das nahende Ende der aristokratischen Ära markiert und Neues ahnen läßt."

Abschließend mag die Frage aufgeworfen werden, ob diese Timokratie (Herrschaft nach Besitz) eine gerechte, das heißt Athen im frühen 6. Jahrhundert angemessene Ordnung war. Der Unterricht kann dabei zur Klärung der ideologisierenden und daher unzutreffenden Auffassung beitragen, daß eine demokratische Verfassung für alle Zeiten und an jedem Ort die einzig richtige sei. Es muß darauf hingewiesen werden, daß eine gewisse Homogenität der gesellschaftlichen Struktur und ein relativ hoher Bildungsstand der Mehrheit der Bevölkerung hierzu Voraussetzung sind

IV. Die Peisistratiden — Die Tyrannis und ihre sozialen Folgen

Bei der Beschäftigung mit der Tyrannis hat der Unterricht zunächst einmal die Vorstellungen abzubauen, die sich aus dem modernen Sprachgebrauch des Wortes ergeben. Das Wirken des Peisistratos bietet dazu das geeignete Modell: Vor allem die Vertreter der älteren Tyrannis (im 7. und 6. Jahrhundert) sind vorerst ganz neutral als Alleinherrscher anzusehen, die, gestützt auf ihre Anhängerschaft, an der Spitze der Polis stehen. Tyrannen (Grundbedeutung des Wortes: „Herr") treten wohl zuerst im ionischen Kleinasien auf, sie sind meist adliger Abkunft, und man muß ihr Erscheinen mit dem Verfall aristokratischer Lebensformen im Zusammenhang sehen. Auch für die Art und Weise, wie sie zur Herrschaft gelangten, ist Peisistratos typisch. Entweder auf mehr oder minder legale Weise, nämlich durch Abstimmung des Volkes (das Peisistratos vor seinem ersten Staatsstreich eine Leibwache zubilligte, mit der er die Akropolis besetzte), durch List (indem er sich nach seiner ersten Vertreibung durch ein hübsches Mädchen, das als Athene verkleidet war, zurückführen ließ) oder mit Gewalt (nach Anwerben von Söldnern und einem entscheidenden Gefecht, 546). Bei allen diesen Machtwechseln spielten Adelsfehden eine Rolle, denen Peisistratos schließlich ein Ende setzte, wobei er hauptsächlich von seiner Anhängerschaft der

Partei „Jenseits der Berge", also von den Kleinbauern, aber auch von Handwerkern und Kaufleuten unterstützt wurde. Interessant ist nun, daß Peisistratos die Solonsche Verfassung beibehielt, ja deren Organe durch den Bau von Amtsgebäuden förderte Seine Herrschaft wurde also offensichtlich von der überwiegenden Mehrheit des Volkes begrüßt und gefördert.

Entsprechend fällt das Urteil antiker wie moderner Autoren über das Wirken des Tyrannen aus: Er regierte „eher demokratisch als tyrannisch", er war „volkstümlich und menschenfreundlich" und „wollte sich in allen Dingen an die Gesetze halten" (Aristoteles) Athen nahm politisch und wirtschaftlich einen solchen Aufschwung, „daß die Athener später auf die Herrschaft des Peisistratos als ein goldenes Zeitalter zurückblickten" (Forrest) Peisistratos war kein Einzelfall: „Herrscherliehe Verantwortlichkeit dürfte . . . häufiger gewesen sein, als es unsere tyrannenfeindlichen Quellen wahrhaben wollen" (Berve) So „hat die griechische Tyrannis einen ausgesprochen liberalen, man möchte fast sagen bürgerlichen Zug" (Hallgarten) Auch das Verbot, Waffen zu tragen, und die Bodenertragsteuer von zehn Prozent können dieses Bild nicht trüben.

Nach dem Tod des Tyrannen setzte sich die Form der Herrschaft unter den Söhnen Hippias und Hipparch über 14 Jahre in ähnlicher Weise fort, und sie hätte ebenso enden können, wenn nicht der historische Zufall in Gestalt einer homoerotischen Liebesaffäre aufgetreten wäre: Harmodios und Aristogiton schmieden aus Rachsucht einen Mordplan gegen Thessalos, einen Peisistratider, töten aus Versehen auch noch den Falschen, nämlich Hipparch — all dies hindert nicht, daß der Mord von der Nachwelt zu einer Heldentat zur Erringung der Freiheit umstilisiert wurde, obwohl „Aristoteles unter den Motiven zum Tyrannenmord zwar allerlei persönliche Kränkungen, nicht aber den Wunsch nach Befreiung der Polis erwähnt"

Hier aber kommt nun die einer unumschränkten Herrschaft immanente Gefahr zum Vorschein, und sie sollten wir die Schüler erkennen lassen: die latente Möglichkeit des Umschlagens selbst gutartiger Alleinherrschaft in Unterdrückung und Gewalt wie unter Hippias nach der Ermordung seines Bruders Damit wird die Erkenntnis des Wesens der Tyrannis möglich. Sie muß ihre Gegner auszuschalten suchen, sie kennt keine Möglichkeiten der politischen Lösung von Konflikten, der Tyrann entscheidet. Aristoteles gibt eine eindrucksvolle Schilderung der Tyrannenherrschaft, auf die der Unterricht nicht verzichten sollte

Die Tyrannis wird gekennzeichnet durch „die Beseitigung der hervorragenden Leute und Niederwerfung aller selbstbewußten Männer, indem man zugleich keinerlei Tischgenossenschaften oder politische Genossenschaften (hetairia) und keinerlei Bildung (paideia) noch irgend etwas derartiges duldet, sondern vielmehr alles zu verhüten sucht, woraus zweierlei zu entspringen pflegt, Selbstgefühl (phrönema) und Vertrauen (pistis), und keinerlei gesellige Vereine (schole) oder gesellige Zusammenkünfte sich bilden läßt und alles dazu tut, daß alle Staatsbürger möglichst einander unbekannt bleiben, weil aus der Bekanntschaft eher ein gewisses wechselseitiges Vertrauen entspringt. Ferner die Sorge dafür, daß die Einwohner des Staates stets in der Öffentlichkeit leben und vor den Türen sich aufhalten, weil so am wenigsten verborgen bleibt, was sie tun, und sie sich so an einen unterwürfigen Sinn gewöhnen, wenn sie dergestalt ununterbrochen wie Sklaven gehalten werden. . . . Ferner gehört es hierher, dahin zu streben, daß ja nichts verborgen bleibe, was irgendein Untertan spricht oder tut, sondern überall Späher ihn belauschen, . . .denn auf diese Weise werden die Leute es sich weniger angewöhnen, freie Reden zu führen, aus Furcht vor dieser Art Menschen, und wo sie es tun, werden sie weniger damit verborgen bleiben. . . . Und was ferner noch in der äußersten Demokratie zu Hause zu sein pflegt, das alles pflegen auch die Tyrannen, Weiberherrschaft in den Häusern, damit die Weiber die Geheimnisse ihrer Männer ausschwatzen, und schlaffe Zucht der Sklaven zu demselben Zweck . . .". Die Bemerkung von Aristoteles über die „äußerste Demokratie" — sie wird von Sterling und Hallgarten nicht zitiert — könnte als provozierender Denkanstoß ein Unterrichtsgespräch einleiten. Der Lehrer müßte dabei die Denkhilfe geben, daß Aristoteles zwischen Demokratie als radikaler Form und der gemäßigten Volksherrschaft „Politie“ unterscheidet. Deshalb darf man interpretierend wohl von der totalen Demokratie sprechen, die Aristoteles ebenso wie die Alleinherrschaft als autoritär kennzeichnet

Wenn die Beschäftigung mit dem Schicksal der Peisistratiden zu der Erkenntnis geführt hat, daß nicht jeder Tyrann bösartig, sondern das Wesen seiner Herrschaft für das politische Leben verderblich ist, da sie notwendigerweise auf Gewalt beruht, auch wenn sie nicht aufgrund von Widerständen in Terror umschlägt, dann hat die Beschäftigung mit antiker Geschichte einen wichtigen Beitrag zur politischen Bildung geleistet.

Eine weitere Erkenntnis, die sich aus dem Nachdenken über die attischen Tyrannen ergeben sollte, sei hier vorgreifend angeführt; der Unterricht wird sie erst nach der Betrachtung der kleisthenischen Reformen erarbeiten können.

Die demokratische Entwicklung des 5. Jahrhunderts wurde von der Tyrannis vorbereitet und gefördert. Beide Strukturen haben zwar nicht die Freiheit, aber die soziale Gleichheit, zumindest idealtypisch, gemein. Die Tyrannis war bestrebt, aristokratische Lebensformen abzubauen, konkret: mancher Adlige hatte außer Landes gehen müssen; wirtschaftlich: Aufstieg der werkenden und handelnden Stadtbevölkerung und der Kleinbauern; und kulturell: Einführung der Dionysien, der Festlichkeiten für den „unadligen Gott". „Mit der Nivellierung der Bevölkerung durch Entmachtung des Adels und Hebung der niederen oder bisher vom Bürgerrecht ausgeschlossenen Schichten hat die ältere Tyrannis eine gewisse Homogenität der Bevölkerung geschaffen und so die soziale Grundlage der künftigen Polis gelegt." So kann man sagen, daß die attische Demokratie erst nach dem Zwischenspiel einer diktatori-schen Herrschaft von beinahe 50 Jahren auf den Grundlagen des Adelsregimes allmählich zur Entfaltung kam.

Wir sollten uns nicht scheuen, diese Erkenntnis mit der gebotenen Zurückhaltung mit den Erfahrungen unserer Zeit zu vergleichen.

V. Exkurs: Der Abbau aristokratischer Strukturen durch die NS-Herrschaft

Im Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts galt noch immer die Denkweise der vorindustriellen, feudalen Gesellschaft. Der wirtschaftliche Entwicklungsstand war dem zwar voraus, dennoch wurden der Obrigkeitsstaat und dessen autoritäre Ausprägungen noch allgemein akzeptiert. Der politische Umbruch von 1918 war keine soziale Revolution. Es gelang der alten Oberschicht, wichtige politische Machtpositionen zu behaupten, und sie war bestrebt, eine weitere Demokratisierung und den Abbau ihrer sozialen Stellung zu verhindern Nicht zuletzt am Verzicht auf soziale Revolution scheiterte der Versuch der politischen Revolution nach 1918.

Der Einbruch des Nationalsozialismus bedeutete dagegen sozial gesehen eine Wende, den „Triumph des Egalitarismus" Nicht Abkunft oder Vermögen zählten hier, sondern das Bekenntnis; man wurde zumindest von den Machthabern auch sozial danach eingestuft, ob man „überzeugter Nationalsozialist" war, alles andere galt als sekundär. Auch durch die sich ergebenden Möglichkeiten des Auf-oder Abstiegs wurde die Gesellschaft einheitlicher und verhältnismäßig offen. „Zum ersten Mal in meinem Leben", sagte ein Marburger Gymnasiallehrer nach dem Kriege, „stand ich wirklich auf gleichem Fuße mit Menschen, die in der Kaiserzeit und in der Weimarer Zeit immer höheren oder niedrigeren Klassen angehört hatten, Menschen, zu denen man hinaufgeschaut oder auf die man hinabgeschaut, denen man aber nie in die Augen gesehen hatte . . . Der Nationalsozialismus löste diese Klassenunterschiede auf. Die Demokratie — soweit wir eine hatten — brachte das nicht zuwege und bringt es auch heute nicht zuwege."

Dieser Tatbestand erscheint paradox, wenn man sich vergegenwärtigt, daß mit dem Nationalsozialismus eine Gegenrevolution zum Zuge kam, eine kleinbürgerlich-antiproletarische Bewegung, mit deren Hilfe das damalige „Establishment" hoffte, die vermeintlich drohende soziale Revolution zu stoppen Das von daher unerwartete Ergebnis der NS-Herrschaft war aber die Nivellierung der Gesellschaft, die also offenbar nicht bestimmten Intentionen, sondern der Form der Gewaltherrschaft als Ergebnis zuzuschreiben ist. Soziale Widerstände gegen eine Einführung der Demokratie fehlten nach 1945 im Gegensatz zur Zeit nach 1918, und es kann kein Zweifel bestehen, daß Bonn auch deshalb nicht Weimar ist, weil eine Gewaltherrschaft die noch sehr stark aristokratisch bestimmten Denk-und Lebensformen der ersten Republik zerstört hatte.

VI. Kleisthenes — Das Entstehen der Demokratie

Wäre der Sturz der Tyrannis von dem Wunsch nach Freiheit ins Werk gesetzt worden, so hätte der Vertreibung des Hippias zumindest ein Versuch zur Errichtung einer freiheitlicheren Ordnung folgen müssen. Statt dessen ist ein Neubeginn der alten Führungskämpfe des Adels zu bemerken, die schon ein halbes Jahrhundert zuvor Peisistratos emporgebracht hatten. Zwei Parteien kämpften um die Macht im Staat. Als der einen Partei eine Niederlage drohte, nahm deren Führer, Kleisthenes, den Demos in seine Gefolgschaft auf, sagt Herodot Nun erst, zwei Jahre nach dem Ende der Tyrannis, beginnen die bekannten Maß-nahmen, die mit den Begriffen Phylenreiorm und Scherbengericht schlagwortartig bezeichnet seien.

Mit Recht wird dem Lernenden zunächst unverständlich erscheinen, daß Kleisthenes damit die Demokratie geschaffen habe. Die Zweifel werden größer, wenn man bedenkt, daß es umstritten ist, ob das Scherbengericht schon durch Kleisthenes und nicht erst in den Jahren 488/87 eingeführt worden ist.

Bleibt die Phylenreform. Unsere Zeit steht solchen organisatorischen Maßnahmen mit desinteressierter Gelassenheit gegenüber; um so schwerer ist es Jugendlichen klarzumachen, was damals geschehen ist: Der natürliche, gewachsene und hierarchisch gegliederte Verband der alten Phyle (Geschlechterverband) wurde aufgelöst und durch einen Wohnbezirk, man ist versucht zu sagen „Wahlkreis", ersetzt. Kleisthenes schuf, so formuliert ein Handbuch, „die 1. Repräsentativ-Verfassung der Weltgeschichte auf lokaler Grundlage" Wir stehen hier wirklich vor der Erfindung des Wahlkreises, dessen regional getrennte Drittel — sie stimmen nicht mit jenen Parteiungen solonischer Zeit überein — durch Zusammenfassung der Bewohner von Stadt, Küste und Landesinneren in einer Phyle die gewachsenen Hierarchien endgültig zerstören sollte. Die rationale Künstlichkeit des neuen Systems wird dadurch unterstrichen, daß die Trittyes (Drittel) in keiner erkennbaren Beziehung zueinander stehen. Wird hier nicht das Entstehen eines sekundären Systems im Sinne Hans Freyers greifbar? Ein gewisser Rationalismus ist jedenfalls für den Schüler als eine der Vorbedingungen demokratischer Staatsformen zu erkennen.

Ein zweiter Aspekt der Reform wird in den meisten Lehrbüchern kaum beachtet: Es ist die Erweiterung des Bürgerrechts auf alle Theten eine Maßnahme, deren Bedeutung erst klar wird, wenn man bedenkt, daß damit der größte Teil der gewerbetreibenden Städter erfaßt wurde.

Das heißt nicht, daß Athen zu Beginn des 5. Jahrhunderts eine demokratisch regierte Polis gewesen wäre. Der Rat der 500 der Gesetze vorberiet und wichtige Verwaltungsfunktionen übernahm, war den Theten, der zahlenmäßig stärksten Bevölkerungsklasse, verschlossen, wie selbstverständlich alle höheren Ämter. So kann man mit Berechtigung von einer „Hoplitendemokratie" sprechen, mit der Einschränkung, daß zwar nicht mehr adlige Geschlechter, aber doch hervorragende adlige Persönlichkeiten, durch Volkswahl legitimiert, die Geschichte der Polis maßgeblich mitbestimmten. Nicht Demokratie, sondern Isonomie, rechtliche Gleichstellung, war für die Athener der diesen Zustand bezeichnende Begriff.

Bis zum Jahre 462 entwickelt sich die Verfassung Athens im demokratischen Sinn. Das wahrscheinlich 488 eingeführte Scherbengericht (Aristoteles schreibt es dem Kleisthenes zu) war eine Maßnahme gegen die Tyrannis, sicher auch ein demokratisches Verfahren zum Entscheid von Führungsansprüchen. Es setzte die politische Lösung, den Mehrheitsbeschluß, an die Stelle der bürgerkriegsähnlichen Fehden vergangener Zeiten. Sterling schlägt vor, das Scherbengericht dem Artikel 21 unseres Grundgesetzes vergleichbar zur Seite zu stellen Man kann das nur mit äußerster Vorsicht tun. Immerhin dienen beide Gesetze dem Schutz der Verfassung dadurch, daß deren Gegner aus dem politischen Leben ausgeschaltet werden.

Die Veränderungen der attischen Verfassung werden nun wesentlich vom Heerwesen bestimmt. Symptomatisch dafür ist der Aufstieg des Strategenamtes, dem die sinkende Bedeutung des Archontats enspricht; seit 487/86 werden die Archonten (leitende Regierungsbeamte) ausgelost. Vor allem der von Themistokles betriebene Ausbau der attischen Flotte und der dadurch bedingte Kriegsdienst der Theten als Ruderer geben dieser Klasse immer mehr politisches Gewicht. Kriegerische, nach der unmittelbaren Abwehr der Perser imperialistische Entwicklungen und Demokratisierung laufen hier parallel. Der endgültige Umschwung trat erst im Jahre 462 ein; er wird von Hignett als „Revolution" bezeichnet Allerdings bleibt die große Mehrheit der Bevölkerung ohne einen Platz in der Politik: die Frauen, die Metöken (Zugewanderte) und die Sklaven; das Bürgerrecht kam nur den einheimischen Männern zu

VII. Perikies und seine Epigonen — Die radikale Demokratie und deren Scheitern

Für einen Zeitraum von mehr als einem halben Jahrhundert, zwischen 461 und 404, kann Athen — abgesehen von einer kurzen Unterbrechung — als demokratisches Staatswesen bezeichnet werden. Dennoch sagt Thukydides, des Perikies Herrschaft sei „dem Namen nach eine Demokratie, in Wirklichkeit aber Alleinherrschaft des ersten Mannes“ gewesen An dieser Aussage können sich die Meinungen entzünden: „Kanzlerdemokratie", „Telekratie"

und ähnliche Schlagworte werden die Schüler in die Debatte werfen. Diese Aktualisierung braucht nicht irreführend zu sein, sondern kann zur Klärung der Herrschaftsverhältnisse damals wie heute beitragen, denn wir fragen nach Ursprung und Legitimation politischer Macht Was meint Thukydides? Nicht das Volk hält die politische Macht in den Händen, sondern Perikies, doch dieser im Namen, im Auftrag des Volkes, was durch die jährliche Wahl zum Strategen und durch die immer wiederkehrende Notwendigkeit, das Volk in der Volksversammlung zu überzeugen, zum Ausdruck kommt. In der Zeit von 443 bis 429 liegen die Entscheidungen tatsächlich im wesentlichen bei einem Manne, ohne daß dieser Zustand institutionalisiert worden wäre. Die Macht des Perikies war ohne Zweifel demokratisch legitimiert. Uns, die wir ein politisches Mandat für etwas Selbstverständliches halten — im Gegensatz zu den Griechen der klassischen Zeit —, fällt das rechte Verständnis für die Aussage des Thukydides zunächst schwer. Zur Ergänzung könnte man die Theorie des Aristoteles heranziehen, der den drei „ausgewogenen" Verfassungen Monarchie, Aristokratie und Politie die extremen Tyrannis, Oligarchie und Demokratie gegenüberstellt Für ihn, wohl auch für Thukydides, heißt Demokratie eben Herrschaft des gemeinen Volkes, ohne daß unsere Vorstellungen von Rechtsgleichheit, vor allem von Toleranz und Liberalismus, in diesen Begriff eingehen. An dieser Stelle bietet sich im Unterricht eine Möglichkeit zur Erhellung des heute oft so undifferenziert gebrauchten Demokratiebegriffs, indem man den freiheitlichen Rechtsstaat westlicher Prägung von der totalen Demokratie absetzt

Die radikale Demokratie beginnt nach dem Tode des Perikies: die schrankenlose Herrschaft der Masse in der Volksversammlung ohne die Führung durch einen überlegenen Mann. — Hier ist nun nüchtern festzustellen, daß dieser Staat gescheitert ist, und zwar an den Unzulänglichkeiten seiner Verfassung. Ideologen der Demokratie, so E. Sterling, wollen das nicht wahrhaben: „Wie uneinsichtig und ungerecht auch immer manche Beschlüsse der Ekklesia während des Krieges gewesen sein mögen, einen Beweis dafür, daß der Demos, wie H. E. Stier meint, überhaupt das , Gefühl für die Norm'verloren hafte, . . . gibt es nicht . . . Die gleichen Fehlentscheidungen hätten auch unter jedem anderen Regierungssystem getroffen werden können."

Die Ergebnisse der Geschichtswissenschaft — und sie scheint die in diesem Problemkreis zu befragende Disziplin zu sein — sprechen eine andere Sprache: Vier Jahre nach dem Tode des Perikies macht Sparta nach der Einschließung eines Truppenkontingentes auf der Insel Sphakteria ein Friedensangebot, die radikalen Kräfte unter Kleons Führung setzen die Ablehnung durch. Zu einem strategisch ungünstigen Zeitpunkt kann Nikias dann doch einen Frieden zustande bringen. Dieser für Athen vorteilhafte Friede, der den wirtschaftspolitischen Gegner Korinth diskreditiert, die Peloponnesier entzweit und sogar zu einem Bündnis Athens mit Sparta führt fällt dem attischen Imperialismus zum Opfer. Es gelingt dem Genie des Alkibiades, Nikias und wahrscheinlich die Mehrheit der Volksversammlung zu überspielen und den Angriff auf Syrakus durchzusetzen. „Die Persönlichkeit hatte über das Staatsganze triumphiert. Indem sie sich zu einer großen Entscheidung nicht mehr fähig erwies, hatte die attische Demokratie sich selbst das Urteil gesprochen." Dieser Imperialismus erfährt in der brutalen Vergewaltigung des neutralen Melos eine scho-nungslose Enthüllung Darauf folgt nun die Verwirklichung der Sizilienpläne, die das Volk wie ein Fieber erfaßt hatten. Die innere Unsicherheit des attischen Staates zeigt sich in der verhängnisvollen Abberufung des Alkibiades unter dem Vorwurf des Hermenfrevels. Der Ausgang des Krieges schließlich wird von einer Kette politischer Fehlleistungen begleitet: Nach der Katastrophe von Syrakus kam Athen unter der Führung des Alkibiades 411/10 noch einmal zu Siegen — wieder wird ein Friedensangebot der Spartaner ausgeschlagen. Drei Jahre später setzte das Volk Alkibiades nach einem von seinen Unterfeldherrn verlorenen Gefecht ab. Noch einmal gewinnt Athen die Oberhand in einer der größten See-schlachten der griechischen Geschichte, bei den Arginuseninseln, doch ein Sturm verhindert die Bergung der schiffbrüchigen Athener. „Daher wurden die kommandierenden athenischen Strategen, insgesamt sechs, vor Gericht gestellt und in einem jeder Gerechtigkeit hohnsprechenden Verfahren durch die Volksversammlung, nicht durch die ordentlichen Gerichte, zum Tode verurteilt und hingerichtet." „Vergebens hat Sokrates, der am entscheidenden Tage zufällig Prytane (Mitglied des amtierenden Ratsausschusses) war, gegen die Ungesetzlichkeit eines solchen summarischen Volksurteils Einspruch erhoben; man pochte auf die Souveränität des Demos, die an keine Gesetze gebunden sei." — Ein Beispiel für totale Demokratie im Rousseausehen Sinne! Die Demokratie hatte sich damit selbst gerichtet 54a).

Es wäre eigentlich nichts Verwunderliches, wenn der erste Versuch zu einer Demokratie nach einer kurzen, aber großartigen Blüte gescheitert wäre. Die Geschichte spendet keine Belohnungen für demokratisches Wohlverhalten. Im Falle Athens scheint aber eine Erklärung für das militärisch-politische, vor allem moralische Scheitern verhältnismäßig einfach. Die Stadt bietet gegen Ausgang des Krieges ein solches Bild von Dilettantismus und Uneinsichtigkeit, daß selbst alle Teilerfolge überraschen. Es fehlt eine Schicht von qualifizierten Berufspolitikern, um so mehr, als diese ja auch als Strategen militärisch den Ton angaben. Die Figuren des Perikies und des Alkibiades unterstreichen diesen Mangel noch, ein jeder in seiner Weise. In früheren Jahren hatte aristokratische Tradition die Männer mit dem nötigen Sachverstand und der erforderlichen Integrität hervorbringen können. Aber nach der Auflösung der alten Ordnung und mit dem Fortschreiten der Zivilisation war die griechische Welt so kompliziert geworden daß man sie mit . gesundem Menschenverstand'allein nicht mehr meistern konnte.

Eine Volksversammlung, die nach Entmachtung des Areopags ohne Rat und Kontrolle der politisch Erfahrenen und nach dem Tode des Perikies ohne die Leitung durch den genialen Staatsmann nicht nur Sachentscheidungen fällen, sondern eine kontinuierliche Politik konzipieren sollte, war überfordert. Der Mangel der direkten Demokratie ist evident. Es fehlte die Konzeption der repräsentativen Volksherrschaft. „Da in einem freien Staatswesen jeder, dem man einen freien Sinn zuerkennt, von sich selbst regiert werden soll, so müßte das Volk in seiner Gesamtheit die gesetzgebende Gewalt haben. Da es aber in den großen Staaten unmöglich ist und in den kleinen mit vielen Ubelständen verknüpft ist, so muß das Volk durch seine Repräsentanten alles das vornehmen, was es nicht durch sich selbst vornehmen kann . .. Der große Vorteil der Repräsentanten besteht darin, daß sie die Angelegenheiten erörtern können. Das Volk ist dazu nicht geeignet, was einen der großen Nachteile der Demokratie ausmacht."

Nicht nur die technischen Möglichkeiten — sie wären heute in Staaten jeder Größe gegeben —, sondern die Fähigkeit des Volkes, sich selbst zu regieren, zieht Montesquieu in Zweifel!

VIII. Schlußbemerkungen

Montesquieu spricht von einem freien Staat, damit stellt sich dem Unterricht die Frage der persönlichen Freiheit in der attischen Polis. Deren grundlegende Erörterung würde über den Rahmen dieser Arbeit hinausgehen; sie wäre vielleicht auch Thema einer eigenen Unterrichtsreihe, die sich vor allem in Nordrhein-Westfalen, wo die Philosophie an der Gemeinschaftskunde teilhat, anbieten würde. Zur Vorbereitung des Themas sei verwiesen auf: H. Strasburger, Der Einzelne und die Gemeinschaft im Denken der Griechen, 1954, und H. Schaefer, Politische Ordnung und individuelle Freiheit im Griechentum, 1957; beide Aufsätze in: Zur griechischen Staatskunde, herausgegeben von F. Gschnitzer, 1969; sowie A. Heuss, Propyläenweltgeschichte III, S. 271 f.

Abschließend sollte man nach den besonderen Voraussetzungen fragen, die eine Entstehung demokratischer Ordnung in Athen ermöglicht und begünstigt haben. Die gesellschaftlichen sind oben entwickelt Aspekte worden. Daneben wird man die Weltoffenheit einer Seehandelsmacht hervorheben müssen, damit eng verknüpft den steigenden wirtschaftlichen Wohlstand, der mit einer beginnenden Industrialisierung im Rahmen der antiken Technik (größere, mit Sklavenarbeit betriebene Manufakturen) zusammengeht. Der Vergleich mit der Entstehung der neuzeitlichen Demokratie in England drängt sich auf

Selbst für die heutige Konfliktforschung böte das 5. vorchristliche Jahrhundert interessantes Material. Die Quellenlage für eine Kriegsgrunddiskussion ist ungewöhnlich günstig — für beide große Kriege. Der Peloponnesische Krieg wäre möglicherweise als eine Auseinandersetzung anzusehen, die zu vermeiden sowohl Sparta als auch Athen gute Gründe hatten, ohne daß es gelang. Beide Seiten scheinen den Kampf nicht gewollt, aber für unvermeidlich gehalten zu haben. Thukydides stellt dieses vergebliche Ringen um den Frieden in mehreren Dialogen eindrucksvoll dar. Die Untersuchung einer „der berühmtesten Kriegsursachendiskussionen" mit den Methoden der zeitgenössischen Konfliktforschung wäre eine reizvolle und lohnende Aufgabe.

Diese Überlegungen wollen eine Anregung sein, antike Geschichte für die politische Bildung fruchtbar zu machen in einem Unterricht, der Bildungswissen vermittelt, das für die politische Bewältigung der Gegenwart von Bedeutung ist. Das Ziel des Unterrichts war ein an der Betrachtung historischer Vorgänge geschultes Demokratieverständnis, das hier und heute den freiheitlichen, repräsentativ regierten Rechtsstaat kritisch distanziert, aber darum nicht weniger entschieden bejaht.

Fussnoten

Fußnoten

  1. H. v. Hentig, in: K. Seidelmann, Bildung in Stufen, Auswahl B 15/16, S. 54.

  2. W. Mickel, Methodik des politischen Unterrichts, 1967, s. 229, dort auch das folgende Zitat.

  3. R. Klatt, in: Gesellschaft, Staat, Erziehung, Sonderheft „Gemeinschaftskunde und Geschichte" (1962), S. 6.

  4. Vgl. A. Holtmann, Social Studies. Didaktische Informationen des Pädagogischen Zentrums Berlin, 1969, S. 13.

  5. H. Giesecke, Didaktik der politischen Bildung, 1966, S. 87.

  6. Fachhistorische Grundlage für die folgenden Überlegungen ist die Darstellung von A. Heuss in der Propyläenweltgeschichte, hrsg. v. G. Mann und A. Heuss, Bd. III, 1962, S. 162 ff.

  7. Zur Unterscheidung von hektemoroi und Schuldnern vgl. W. G. Forrest, The Emergence of Greek Democracy; deutsch: Wege zur hellenischen Demokratie, 1966, S. 147 ff. Die gelegentlich in Geschichtslehrbüchern vertretene und auf Aristoteles zurückgehende Auffassung, die hektemoroi hätten fünf Sechstel ihrer Erzeugnisse abgeben müssen, kann nicht zutreffen. Kein antiker Landwirt war auch nur annähernd in der Lage, das Sechsfache dessen zu produzieren, was er für den Eigenbedarf seiner Familie benötigte. Die Ertragssteuer unter Peisistratos betrug ein Zehntel.

  8. Diesen Aspekt betont Forrest, Hellenische Demokratie, S. 154.

  9. E. Sterling, Der unvollkommene Staat, 1965, S. 19.

  10. Forrest, Hellenische Demokratie, S. 161.

  11. Sterling, Der unvollkommene Staat, S. 20.

  12. Ploetz, Auszug aus der Geschichte, 27. Ausl. 1968, S. 135; A. Heuss, Propyläenweltgeschichte III. S. 169; Geschichte, Westermanns Geschichtsbuch für Gymnasien, hrsg. v. H. Heimpel, Bd. 1, 1967, S. 55; viele andere Schulbücher verlegen in Übereinstimmung mit der antiken Tradition die Teilnahme der Theten am politischen Leben in eine zu frühe Zeit. Sie werden mit der Kleisthenischen Neuordnung hinzugekommen sein.

  13. A. Heuss, Propyläenweltgeschichte III, S. 170 f.

  14. Zitiert nach O. Kampe, Die attische Polis, o. J., S. 4 f; s. auch Weltgeschichte im Aufriß, 8. Ausl. 1963, Bd. I, S. 83. Hier wie im folgenden wird, wo möglich, nach leicht zugänglichen Quellensammlungen zitiert.

  15. O. Kampe, a. a. O., S. 5. Man kann bei Aristoteles auch lesen (Staat der Athener, Werke, Bd. IV, Zürich 1955, S. 356), „. . . daß die Verfassung des Kleisthenes nicht eigentlich demokratisch gewesen sei, sondern eher so wie diejenige Solons".

  16. Forrest, Hellenische Demokratie, S. 173 f.

  17. H. Schaefer, Politische Ordnung und individuelle Freiheit, in: Zur griechischen Staatskunde, hrsg. v. F. Gschnitzer, 1969, S. 148.

  18. Zitiert nach Weltgeschichte im Aufriß, I, S. 85.

  19. Schaefer, Politische Ordnung, S. 147 f.

  20. J. Larsen, Entstehung und Bedeutung der Stimmenzählung, in: Griechische Staatskunde, S. 205.

  21. Schaefer, Politische Ordnung, S. 148.

  22. Als Kuriosum in der Geschichte der politischen Bildung sei Solons Versuch angemerkt, jeden einzelnen am politischen Leben zu beteiligen: Jeder Bürger wurde verpflichtet, in einem politischen Streit unter Waffen zu treten und Partei zu ergreifen (S. Kampe, Polis, 5). Andernfalls verlor er alle politischen Rechte.

  23. Forrest, Hellenische Demokratie, S. 182 f.

  24. Zitiert nach Kampe, Polis, S. 5 f.

  25. Forrest, Hellenische Demokratie, S. 182.

  26. H. Berve, Wesenszüge der griechischen Tyrannis, in: Griechische Staatskunde, S. 176.

  27. G. Hallgarten, Dämonen oder Retter? dtv Nr. 376, 1966.

  28. Berve, Wesenszüge, S. 181.

  29. Die Zwielichtigkeit eines Tyrannen läßt sich in der Schule gut an Schillers „Bürgschaft" zeigen.

  30. Aristoteles, Politik (Rowohlt) 1968, Buch V, S. 197 f., paraphrasiert in: Hallgarten, Dämonen, S. 7 f., und Sterling, Der unvollkommene Staat, S. 27.

  31. „. . . auch die äußerste Demokratie ist eine Art von Tyrannenherrschaft", Aristoteles, Politik V, S. 194.

  32. Berve, Wesenszüge der griechischen Tyrannis, S. 179, auch S. 174; Kampe, Polis, S. 6. über soziale Voraussetzungen diktatorischer Herrschaftsformen s. G. Hallgarten, Dämonen oder Retter?

  33. K. Dederke, Reich und Republik, Deutschland 1917— 1933, 1969, S. 100 ff.

  34. D. Schoenbaum, Die braune Revolution, 1968, S. 334.

  35. Schoenbaum, a. a. O., S. 349.

  36. G. Hallgarten, Dämonen oder Retter?, S. 179 ff.

  37. Heredot, Historien V, bei Kampe, Polis 7.

  38. Ploetz, S. 137.

  39. Ploetz, S. 135, u. Geschichte (Westermann) I, S. 55.

  40. über dessen Bedeutung vgl. M. Rostovzeff in: Weltgeschichte im Aufriß, I, S. 85.

  41. C. Hignett, A History of the Athenian Constitution, 1952, S. 157.

  42. Ebenda, S. 159 ff.

  43. Sterling, Der unvollkommene Staat, S. 30.

  44. Hignett, Athenian Constitution, S. 193.

  45. Das Verhältnis von Vollbürgern zu Metöken und Sklaven war etwa 60 : 8 : 32; s. dazu Heuss, Propyläenweltgeschichte III, S. 277 u. Geschichte I, S. 78.

  46. Thukydides, Der Peleponnesische Krieg, in: Weltgeschichte im Aufriß, I, S. 94, und O. Kampe, Polis, S. 42.

  47. Aristoteles, Politik III, S. 94; auch zugänglich in: Informationen zur politischen Bildung, Folge 134, S. 20.

  48. Dazu G. Ritter, Vom sittlichen Problem der Macht, 1948, S. 115 ff.

  49. E. Sterling, Der unvollkommene Staat, S. 41 u. 40.

  50. A. Heuss, Propyläenweltgeschichte III, S. 317: Der Nikiasfriede bedeute den Verzicht Spartas auf die Kriegsziele von 431 und damit einen klaren Sieg Athens.

  51. Eduard Meyer, zit. n. Bengtson, Griechen und Perser, Fischer Weltgeschichte Bd. V, S. 171.

  52. Thukydides, Melierdialog.

  53. Bengtson, Fischer Weltgeschichte V, S. 183.

  54. H. Berve, Blütezeit des Griechentums, (Herder Taschenbuch Bd. 56) 1963, S. 56.

  55. Dies gilt in besonderem Maße für das Heerwesen.

  56. Ch.de Montesquieu, De l’esprit des lois, in: Denker über Staat und Politik, hrsg. v. W. Schwarz, 1966, S. 36; vgl. auch: Weltgeschichte im Aufriß, III, S. 7, und Informationen zur politischen Bildung, Folge 134, S. 7.

  57. Zu den sozialen Folgen von Cromwells Diktatur vgl. G. Hallgarten, Dämonen oder Retter?, S. 179 ff.

  58. A. Heuss, Propyläenweltgeschichte III, S. 302.

Weitere Inhalte

Dieter Schmidt-Sinns, Dr. phil., Oberregierungsrat, geb. 18. März 1934 in Zwickau. Studium der Geschichte, Anglistik und Leibeserziehung in Göttingen und Heidelberg; 1963 bis 1969 im Schuldienst in Hildesheim; seit 1969 Referent in der Bundeszentrale für politische Bildung.