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Wissenschaftskonzeption, Pluralismuskritik und politische Praxis der Neuen Linken | APuZ 14/1970 | bpb.de

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APuZ 14/1970 Wissenschaftskonzeption, Pluralismuskritik und politische Praxis der Neuen Linken

Wissenschaftskonzeption, Pluralismuskritik und politische Praxis der Neuen Linken

Horst Heimann

/ 90 Minuten zu lesen

Der sowjetische Wissenschaftler Sacharow leitete sein Memorandum, das im Westen veröffentlicht wurde, mit der Feststellung ein, die Besorgnis der wissenschaftlichen und technologischen Intelligenz über die Zukunft der Menschheit werde vor allem dadurch wachgehalten, „daß innerhalb von Politik, Wirtschaft, Erziehung und auch des Verkehrswesens die Wissenschaft als Methode noch immer keinen Eingang gefunden hat" Sacharow ist offensichtlich überzeugt, daß die „Wissenschaft als Methode" geeignet wäre, die Qualität der Politik zu verbessern und auf diese Weise die Gefahren abzuwenden, die der Menschheit infolge einer falschen, „unwissenschaftlichen" Politik drohen.

Sicher wird diese optimistische Auffassung Sacharows nicht von allen Wissenschaftlern geteilt. Und es gibt zahlreiche Wissenschaftler, die als Spezialisten ihres Faches kein Interesse an politischen Fragen haben. Aber es gibt innerhalb der Sozialwissenschaften eine Richtung, die sich ausdrücklich zu einer politischen Zielsetzung bekennt, nämlich die kritisch-dialektische Wissenschaftskonzeption, bekannt geworden unter dem Namen Frankfurter Schule, mit ihren wichtigsten Vertretern Horkheimer, Adorno, Marcuse und Habermas.

Frankfurter Schule und Protestbewegung

Der Anspruch der Frankfurter Schule, die Wissenschaft in den Dienst der Emanzipation aller Menschen und der gesellschaftlichen Veränderung zu stellen, erhielt seine außerordentliche politische Bedeutung erst durch die Verbindung mit der studentischen Protest-und Oppositionsbewegung. Die Initiatoren und führenden Köpfe der Neuen Linken, denen die liberale Kritik zu unverbindlich war, haben sich ihr geistiges Rüstzeug beim Studium der Kritischen Theorie erarbeitet, die schon in den dreißiger Jahren von Max Horkheimer als revolutionäre Gegenposition zum bürgerlichen Positivismus ausgearbeitet wurde Beim Studium der Kritischen Theorie entwik-kelten sie ihre Denkmethoden, ihre spezifische Art der Argumentation und ihre wissenschaftliche Terminologie, die für Nichteingeweihte oft schwer verständlich ist oder sogar wie eine elitäre Geheimsprache wirkt. Die zentralen Argumente und Begriffe für die radikale Kritik an der sogenannten pluralistischen Gesell-schäft übernahmen sie von den Vertretern der Frankfurter Schule.

Die Verbindung zwischen der kritisch-dialektischen Theorie und der politischen Protest-bewegung der jungen Generation ermöglicht es, den Zusammenhang und die Wechselwirkung zwischen Wissenschaft und politischer Praxis an einem konkreten Beispiel zu untersuchen. Schon ein kurzer Blick auf den gegenwärtigen Zustand der Protestbewegung zeigt deutlich, daß die Verbindung zwischen Wissenschaft und politischer Bewegung nicht ohne weiteres den politischen Erfolg garantiert. Auch die meisten Anhänger der Neuen Linken geben offen zu, daß sich die Protestbewegung in der Bundesrepublik in einer Krisensituation befindet, aus der ein überzeugender Ausweg noch nicht sichtbar ist

Welche Rolle hat nun die kritisch-dialektische Wissenschaft bei der Entwicklung einer politischen Praxis gespielt, die offensichtlich in eine Sackgasse geführt hat? Denkbar wäre zunächst die Erklärung, daß die Protestbewegung in. eine Sackgasse geriet, weil sie die Verbindung mit der Wissenschaft löste und die politischen Fehler zu vermeiden gewesen wären, wenn sie die enge Verbindung zur Wissenschaft aufrechterhalten hätte. Für diese Erklärung spricht zunächst die Tatsache, daß sowohl die Vertreter der Frankfurter Schule als auch die Vertreter der Protestbewegung das langjährige Bündnis weitgehend aufgekündigt haben.

Im April 1969 wurde Adorno in der Frankfurter Universität von militanten Vertretern der Protestbewegung, als deren geistiger Vater er oft bezeichnet wurde, zum Abbruch seiner Vorlesung gezwungen. Ein Flugblatt verkündete: „Adorno als Institution ist tot." Der Berichterstatter der Frankfurter Rundschau resümierte den Vorwurf der SDS-Studenten gegen ihren Lehrer: „Er gab ihnen das kritische Vokabular zur dialektischen Gesellschaftsanalyse, ließ sie aber im — für sie — entscheidenden Augenblick allein: als es darum ging, Theorie in Praxis zu übersetzen."

Jürgen Habermas, der jüngere Vertreter der Kritischen Theorie, wird nicht müde, die studentische Opposition vor blindem Aktionismus und Irrationalismus zu warnen Max Horkheimer, der Begründer der Kritischen Theorie, distanzierte sich im Vorwort zur Neuausgabe seiner Schriften von den Schlußfolgerungen, die der militante Teil der Protestbewegung aus seiner Kritischen Theorie gezogen hatte, mit den Worten: „Der Unterschied betrifft das Verhältnis zur Gewalt, die in ihrer Ohnmacht den Gegnern gelegen kommt. Offen zu sagen, die fragwürdige Demokratie sei bei allen Mängeln immer noch besser als die Diktatur, die ein Umsturz heute bewirken müßte, scheint mir um der Wahrheit willen notwendig zu sein."

Nur Herbert Marcuse, „gefeierter Lehrer der Neuen Linken" hielt dem militanten Flügel der Protestbewegung die Treue, so daß die Zeitschrift Konkret in der Einleitung zu Marcuses Essay „Ist Sozialismus obszön?" am 2. Juni 1969 schreiben konnte: „Er ist der einzige Vertreter der . Frankfurter Schule', der sich mit denen solidarisiert, die den Anspruch der Kritischen Theorie praktisch verwirklichen wollen: den rebellierenden Studenten und jungen Arbeitern, den verfolgten Minderheiten in den Metropolen und den Unterdrückten in der Dritten Welt, die sich dem , üppigen Ungetüm'entgegengeworfen haben." Doch nur zwei Wochen später, am 17. Juni 1969, zwang Cohn-Bendit mit seinen Anhängern Marcuse, einen Vortrag in Rom abzubrechen. Dem „gefeierten Lehrer der Neuen Linken" wurde vorgeworfen, ein Agent des amerikanischen Geheimdienstes CIA und ein „Sklave der Unternehmer" zu sein

Obwohl das Bündnis zwischen Kritischer Theorie und Protestbewegung von beiden Seiten weitgehend aufgekündigt ist, obwohl sich die meisten Vertreter der Frankfurter Schule eindeutig von den Aktionen der Protestbewegung distanzieren und ihnen das Recht absprechen, sich auf die Kritische Theorie zu berufen, sei hier folgende These formuliert:

Der Einfluß der Frankfurter Schule, die Denkmethoden, die Kategorien und der Begriffs-apparat der kritisch-dialektischen Wissenschaftskonzeption sind ein entscheidender Faktor, der die Entwicklung einer aktionistischen Praxis gefördert hat, die nicht geeignet ist, die bestehende Gesellschaft zielstrebig zu verändern. Diese Wissenschaft hat also die politische Rationalität der Protestbewegung nicht erhöht, sondern sie hat sogar dazu beigetragen, daß sie in eine Krisensituation geriet.

Die Analyse des Zusammenhanges zwischen Kritischer Theorie und Krise der Protestbewegung geht von folgenden Voraussetzungen und Zielvorstellungen aus:

Es ist das große Verdienst der APO, daß sie mit unkonventionellen Ideen und Methoden große Teile der jungen Generation für ein aktives politisches Engagement mobilisiert hat. Gegenwärtig besteht aber die Gefahr, daß dieses kritische Potential nicht für eine progressive Politik wirksam werden kann, weil die Handlungsfähigkeit der APO durch dogmatische Fraktionskämpfe beeinträchtigt wird und weil das Fehlen konkreter und erreichbarer kurz-und mittelfristiger Ziele viele zwischen Aktionismus und Resignation schwanken läßt. Ziel der folgenden Analyse ist es nicht, die „Schuldigen" der Krise der Protestbewegung zu denunzieren, sondern die Ursachen dieser Krise zu erkennen und nach einem Ausweg zu suchen. Ein Ausweg aus der Krise der Neuen Linken ist deshalb so wichtig, weil davon die Zukunft des demokratischen Fortschritts abhängt. Denn die Mehrheit der aktiven politischen Gruppen der jungen Generation versteht sich als Teil der Neuen Linken; nicht nur die konsequenten Vertreter der außerparlamentarischen Opposition des SDS, sondern auch große Teile der Jungsozialisten und der Jungdemokraten — also der Nachwuchs der Regierungsparteien —, die Studentengemeinden, zahlreiche Jugend-und Schülergruppen, kritische Lehrer und andere Berufsgruppen, wie z. B. Sozialarbeiter. Die Kritische Theorie hat das politische Denken all dieser Gruppen entscheidend beeinflußt, auch das Denken derjenigen, die nicht selbst die Autoren der Frankfurter Schule gelesen haben. Auch bei denen, die sich offen von ihren geistigen Vätern losgesagt haben, ist das politische Denken noch durch den Stil und die Struktur der Kritischen Theorie gekennzeichnet; das gilt auch dort, wo die Terminologie der Frankfurter Schule durch zahlreiche neue Begriffe und Argumente ergänzt wurde. Einen Ausweg aus dem praktischen und theoretischen Dilemma der Protestbewegung zu suchen heißt daher zunächst, nach Möglichkeiten zu suchen, diese Strukturen des politischen Denkens, die denen der Kritischen Theorie entsprechen, und die daraus folgenden politischen Verhaltensweisen so zu verändern, daß die Protestbewegung wirksam eine progressive Politik zu fördern vermag.

Diese Zielsetzung geht von der Überzeugung aus, daß die kritische junge Generation durch überzeugende Argumente und praktische Beispiele sowie neue theoretische Erkenntnisse für ein neues politisches Denken und Verhalten zu gewinnen ist, daß sie also bereit ist, aus Einsicht anders zu handeln als in den letzten drei Jahren. Dagegen wäre es für die Zukunft der Demokratie schädlich, wenn sich die Politiker damit begnügen wollten, durch Einsatz der polizeilichen und strafrechtlichen Machtmittel die junge Generation zu veranlassen, aus Angst anders zu handeln als in der letzten Zeit.

Die Ergebnisse der folgenden Analyse sind nicht als Patentrezepte zu verstehen, sondern als Hinweise auf die Richtung, in der durch gemeinsames Bemühen aller progressiven Kräfte bessere Lösungen zu erreichen sind.

Einerseits soll diese Analyse das Selbstverständnis der Neuen Linken klären helfen, andererseits aber auch das Verständnis Außen-stehender für die Neue Linke erhöhen, Mißverständnisse abbauen und damit bessere Voraussetzungen für eine dialogische Auseinandersetzung mit der Neuen Linken und auch innerhalb der Neuen Linken schaffen.

Die These von der Mitverantwortung der dialektischen Wissenschaftskonzeption für die aktionistische Praxis eines Teiles der APO bedeutet nicht, daß die Hoffnung Sacharows, die Wissenschaft könne die Qualität der Politik verbessern, als endgültig widerlegt anzusehen ist. Im Gegenteil: Das Versagen der Wissenschaft in diesem konkreten Fall ermöglicht es uns, die Ursachen dieses Versagens zu untersuchen und die Frage zu stellen, wie Wissenschaft beschaffen sein muß, damit sie einen positiven Einfluß auf die politische Praxis auszuüben vermag.

Um die These vom negativen Einfluß der Wissenschaft auf die politische Praxis der APO zu begründen, ist zunächst zu untersuchen, auf welche Weise dieser Einfluß wirksam wurde und welche Elemente und Faktoren der Kritischen Theorie die Ziele und die praktischen Methoden der APO beeinflußten und eine falsche Praxis begünstigten. Drei Elemente der Kritischen Theorie sind hervorzuheben, die das politische Denken und Verhalten der Protestbewegung entscheidend beeinflußt haben: 1. Der Anspruch der dialektischen Wissenschaftskonzeption, auch über Werte, Normen und Ziele verbindliche Aussagen machen zu können, was von den „Positivisten" geleugnet wird.

2. Das Bild von der bestehenden Gesellschaft, ihren inneren Gesetzmäßigkeiten und objektiven Entwicklungstendenzen. 3. Die gesamte dialektische Denkmethode, die Kategorien und der Begriffsapparat der Kritischen Theorie, die in engem Zusammenhang stehen mit den beiden ersten Elementen.

Herbert Marcuse nennt als Apriori der Kritischen Gesellschaftstheorie das Werturteil, „daß das menschliche Leben lebenswert ist oder vielmehr lebenswert gemacht werden kann oder sollte" Das Leben lebenswert machen heißt aber, den Menschen befreien von allen Formen der Unterdrückung und Fremdbestimmung. Autonomie, Mündigkeit und Selbstverwirklichung des Menschen werden sowohl als immanente Intention des geschichtlichen Prozesses angesehen, wie sie auch erkenntnisleitendes Interesse dr Kritischen Theorie sind, von Habermas als praktisch-emanzipatorisches Erkenntnisinteresse bezeichnet.

Die Kritische Theorie ist radikal im Sinne des jungen Marx: „Radikal sein, ist die Sache an der Wurzel fassen. Die Wurzel für den Menschen aber ist der Mensch selbst." Aus diesem Radikalismus, der radikaler Humanismus ist, ergab sich für Marx die Forderung, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist..." Die Wiederentdeckung des dialektischen Marx ist für Max Horkheimer — wie Albrecht Wellmer schreibt — zugleich die Rehabilitierung eines emphatischen Begriffs von Vernunft: „als die dem geschichtlichen Prozeß selbst immanente Intention auf Autonomie der Menschen gegenüber der von ihnen gemachten Geschichte, auf Freiheit jedes Einzelnen und auf Anerkennung jedes durch jeden als Person, kurz, auf Aufhebung des geschichtlichen Zwangszusammenhanges in ein zwanglos-dia-logisches Zusammenhandeln aller Menschen."

Aus den humanistischen Werten und dem emanzipatorischen Erkenntnisinteresse der Kritischen Theorie folgt zunächst nur eine prinzipielle kritische Haltung, die Ablehnung der bestehenden, repressiven Gesellschaft und das Bekenntnis zu einer besseren, emanzipierten Gesellschaft, in der alle Menschen in herrschaftsfreier Kommunikation ihr menschliches Wesen verwirklichen können, das in der repressiven Gesellschaft verzerrt und verkrüppelt wird

Aus den humanistischen Wert-und Zielvorstellungen der Kritischen Theorie folgt aber nicht, mit welchen praktischen Methoden das Ziel der emanzipierten Gesellschaft anzustreben ist. Die Mitverantwortung der Kritischen Theorie für eine aktionistische Praxis ist daher nicht in ihren Wert-und Zielvorstellungen zu sehen, sondern in den beiden anderen Elementen, nämlich in der spezifischen Denkmethode und dem daraus folgenden Gesellschaftsbild.

Antipluralismus der Neuen Linken?

Um Mißverständnisse abzubauen, vor allem Mißverständnisse über die Bewertung des Pluralismus, ist der Zusammenhang aufzuzeigen, der zwischen der aktionistischen Praxis und dem Gesellschaftsbild der Kritischen Theorie besteht. Bisher wurde eine fruchtbare Auseinandersetzung auch deshalb erschwert, weil nicht wenige Anhänger der pluralistischen Demokratie von den Methoden der APO, die sie ablehnten und für schlecht hielten, auf schlechte und abzulehnende Ziele schlossen. Sie erkannten nicht, daß diese Methoden vielmehr bedingt sind durch das Bild, das die Anhänger der APO von der inneren Struktur der bestehenden Gesellschaft haben, daß sie anders handeln, weil sie die bestehende Gesellschaft anders sehen als die Anhänger der plurafistischen Gesellschaftstheorie.

Auch die von den Anhängern der pluralistischen Demokratietheorie befürworteten politischen Methoden und Verhaltensweisen ergeben sich ja aus dem Bild, das sie sich von der bestehenden Gesellschaft machen. Sie befürworten die üblichen Formen der politischen Aktivität, weil sie glauben, daß die pluralistische Struktur der Gesellschaft, das Nebeneinander von Gruppen, Organisationen und Institutionen, sowie die formalen Spielregeln des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates die optimale Mitwirkung aller an den öffentlichen Angelegenheiten und die optimale Durchsetzung der eigenen Vorstellungen und Interessen ermöglichen.

Gerade dieses Bild einer pluralistischen Gesellschaft hält die Kritische Theorie für falsch, für eine ideologische Verzerrung, die nur den wahren Charakter dieser Gesellschaft verschleiert, nämlich die Tatsache, daß sie nicht aus einer Pluralität von gleichberechtigten Gruppen besteht, sondern aus zwei grundsätzlich verschiedenen Gruppen: den Herrschenden und den Beherrschten.

Die aktivsten Gruppen der APO verstießen gegen die in der pluralistischen Demokratie-und Gesellschaftstheorie vorgezeichneten Methoden und Spielregeln nicht deshalb, weil sie die bestehende demokratisch-pluralistische Ordnung durch eine totalitär-monistische Diktatur ersetzen wollten, sondern weil sie überzeugt sind, daß diese Gesellschaft gar nicht demokratisch-pluralistisch ist und die vorgezeichneten Methoden und Spielregeln gar keine demokratische Mitbestimmung ermöglichen.

Das Gesellschaftsbild der Kritischen Theorie begünstigt aus folgenden Gründen Aktionismus und Resignation: Die Alternative zu Aktionismus und Resignation ist zweckrationales politisches Handeln, das in zwei idealtypischen Formen möglich ist: 1. Zielstrebiges Handeln innerhalb von Institutionen und Organisationen für evolutionäre Veränderungen. 2. Zielstrebiges Handeln zum revolutionären Umsturz der bestehenden Ordnung.

Das Gesellschaftsbild der Kritischen Theorie, das die Ohnmacht der Mehrheit gegenüber der herrschenden Minderheit und gegenüber den objektiven Gesetzmäßigkeiten der neokapitalistischen Gesellschaft hervorhebt, leugnet gerade die Möglichkeit evolutionärer und auch revolutionärer Veränderungen (infolge der Integration des Proletariats) in dieser Gesellschaft, das heißt, es lehrt, daß in dieser Gesellschaft keine Möglichkeiten für zweckrationales politisches Handeln bestehen.

Wenn dieses Gesellschaftsbild dem tatsächlichen Zustand der Gesellschaft entspricht, dann ist allerdings nicht die Kritische Theorie für den Aktionismus mitverantwortlich zu machen, sondern dann ist es die Struktur der Gesellschaft selbst, die politisch engagierten Menschen nur die Wahl zwischen Resignation und Aktionismus läßt. Die Kritik an der Kritischen Theorie ist daher nur dann gerechtfertigt und ein Ausweg aus dem gegenwärtigen Dilemma der Neuen Linken ist nur möglich, wenn das Gesellschaftsbild der Kritischen Theorie falsch ist und tatsächlich vorhandene Möglichkeiten für zweckrationales Handeln verhüllt.

Obwohl die Theorie des Pluralismus die Einflußmöglichkeiten der Menschen in dieser Gesellschaft lehrt, ist ein Ausweg aus der Krise der Protestbewegung aber auch nicht möglich durch eine Rückkehr zur herrschenden Pluralismuskonzeption. Denn diese Pluralismuskonzeption — wie in einem späteren Abschnitt noch zu zeigen sein wird — erkennt ebenfalls nicht genügend Möglichkeiten für eine gesellschaftsverändernde Praxis, um den Ansprüchen der kritischen jungen Generation gerecht zu werden. Nur über eine Kritik an der Kritischen Theorie und an der herrschenden Pluralismuskonzeption ist eine Konzeption politischer Praxis zu entwickeln, die anleiten kann zu zweckrationalem Handeln und daher eine Alternative zu Aktionismus und Resignation zu bieten vermag.

Um genauer zu begründen, warum die Kritische Theorie mitverantwortlich ist für den Aktionismus der Protestbewegung, ist die oben angedeutete These, daß das Gesellschaftsbild der Kritischen Theorie Möglichkeiten zweckrationalen Handelns verhüllt, wie folgt zu ergänzen: Die Kritische Theorie ist ein geeignetes Instrument, die Welt zu interpretieren, sie ist aber völlig ungeeignet, die Gesellschaft zu verändern. Denn wer die Gesellschaft zielstrebig verändern will, braucht ein handlungsorientierendes Wissen vom faktischen Zustand der bestehenden Gesellschaft, ein handlungsorientierendes Wissen, das ihm hilft, die Mittel und Methoden zu erkennen, mit denen er seine Ziele erreichen kann.

Die Denkmethode, die Kategorien und der gesamte Begriffsapparat der Kritischen Theorie sind zwar geeignet, die Gesellschaft als einheitliches Ganzes eindrucksvoll zu interpretieren, die Totalität des Bestehenden überzeugend als repressiv zu entlarven und zu verurteilen und der Totalität des schlechten Bestehenden (repressive Gesellschaft) die Totalität eines guten Zukünftigen (emanzipierte Gesellschaft) entgegenzustellen, aber sie sind völlig ungeeignet, handlungsorientierendes Wissen von der Gesellschaft zu vermitteln, das zu wirksamem Handeln für die Erreichung der proklamierten Ziele anleiten kann. Dieser Begriffsapparat trägt zwar dazu bei, zu einem besseren Verständnis vom Sinn der Gesellschaft für eine humane Existenz zu gelangen, die Kategorien und Kriterien für eine Gesellschaft zu entwickeln, in der der Mensch sein wirkliches Wesen verwirklichen kann, aber er versagt völlig vor der Aufgabe, zu einer Praxis anzuleiten, die diese Gesellschaft verwirklicht.

„Dialektik der Aufklärung" — Schlüsselwerk der Neuen Linken

Die These, daß die Kritische Theorie kein handlungsorientierendes Wissen zu vermitteln vermag, ist zu begründen durch eine kurze Analyse eines Schlüsselwerkes der Neuen Linken, nämlich der „Dialektik der Aufklärung", 1944 von Horkheimer und Adorno in der Emigration vollendet und 1947 in Amsterdam veröffentlicht. Aufschlußreich ist schon der Untertitel dieses Buches, das zu einem grundlegenden Werk für das Gesellschaftsbild der Neuen Linken wurde: er lautet nämlich nicht etwa „Analyse der gegenwärtigen Gesellschaft", sondern „Philosophische Fragmente". Dieser Untertitel wird der Darstellungsweise dieses Werkes durchaus gerecht, denn es handelt sich nicht um eine wissenschaftliche, kritisch-empirische Analyse der Gesellschaft, sondern um philosophische Reflexionen über diese Gesellschaft und ihre Entwicklungstendenzen. Als Ziel der Untersuchung nennt die Vorrede „die Erkenntnis, warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt" Obwohl angesichts des Nationalsozialismus und des Stalinismus geschrieben, ist mit dieser Barbarei die Entwicklungstendenz der modernen Gesellschaft überhaupt gemeint.

Der Ansatz dieses Denkens wird durch die Formulierung sichtbar, man wolle „die Selbstzerstörung der Aufklärung" untersuchen, also nicht die Bedrohung der Aufklärung durch offen bezeichnete Gegenpositionen. Die Verfasser glauben erkannt zu haben, daß der Begriff des aufklärenden Denkens, „nicht weniger als die konkreten historischen Formen, die Institutionen der Gesellschaft, in die es verflochten ist, schon den Keim zu jenem Rückschritt enthalten, der heute überall sich ereignet" Noch deutlicher ist diese Interpretation in dem folgenden Satz ausgesprochen:

„Wir glauben . . . , daß die Ursache des Rückfalls von Aufklärung in Mythologie nicht so sehr bei den eigens zum Zweck des Rückfalls ersonnenen heidnischen und sonstigen modernen Mythologien zu suchen ist, sondern bei der in Furcht vor der Wahrheit erstarrenden Aufklärung selbst."

Wer nachdenken will über eine menschliche Gesellschaft, in der sich das schöpferische Wesen des Menschen verwirklichen kann, darf nicht vorübergehen an den Einsichten, die Horkheimer und Adorno mit diesem Ansatz gewonnen haben. Der Grundgedanke dieser Einsichten ließe sich vereinfacht wie folgt zusammenfassen: Vernunft ist etwas anderes als Natur und zugleich ein Moment von Natur; naturhaft ist sie zunächst als zu Zwecken der Selbsterhaltung abgezweigte psychische Kraft. Durch diese Abspaltung wird sie der Natur entgegengesetzt und wird zum Mittel der Naturbeherrschung im Dienste der Selbsterhaltung. Diese Beherrschung der äußeren Natur geht aber einher mit einer Unterdrük-kung der inneren Natur des Menschen. Kennzeichnend für die moderne Gesellschaft ist der instrumentale Geist, der die Naturbeherrschung ständig erweitert und die Produktivität steigert. Gerade von dieser Höherentwicklung der Produktivkräfte erhoffte Marx die Emanzipation aller Menschen. Die skeptische Beurteilung dieser Hoffnung von Marx durch Adorno faßt Habermas wie folgt zusammen: „Der Freiheitsspielraum der wachsenden technischen Verfügungsgewalt kann für die Revolutionierung der gesellschaftlichen Verkehrs-formen nicht mehr ausgeschöpft werden, wenn unterdessen die Subjekte durch eben den instrumentalen Geist selber verstümmelt worden sind, der das Potential der Befreiung geschaffen hat."

Wer nachdenken will über die Situation des Menschen und über seine Entfremdung in der modernen Gesellschaft, der erhält gewiß wertvolle Anregungen von der Kritischen Theorie. Wer aber hier und jetzt, in der Bundesrepublik oder an einem anderen Ort, politisch handeln möchte, um konkrete Ziele zu erreichen, dem können diese wichtigen Einsichten nicht zeigen, wie er handeln soll. Und für einen, der das Wesen unserer Gesellschaft nur interpretieren möchte, hat der folgende Satz eine andere Konsequenz als für den, der sich politisch orientieren möchte, um richtig handeln zu können: „Es gehört zum heillosen Zustand, daß auch der ehrlichste Reformer, der in abgegriffener Sprache die Neuerung empfiehlt, durch Über-nähme des eingeschliffenen Kategorienapparats und der dahinter stehenden schlechten Philosophie die Macht des Bestehenden verstärkt, die er brechen möchte."

Dieses Pauschalurteil zeigt besonders deutlich, wie wenig der Begriffsapparat der Kritischen Theorie denen helfen kann, die politisch handeln wollen. Diese Begriffe sind nicht in der Lage, einen bestimmten Reformer wegen bestimmter Fehler zu kritisieren und diese Fehler zu korrigieren; sie sind nur geeignet, pauschal und grundsätzlich den Reformer schlechthin zu disqualifizieren. Sie ermöglichen es nicht, im politischen Bereich spezifische Unterschiede zu erkennen, zwischen kleineren oder größeren Übeln zu unterscheiden, so daß es manchen Schülern der Kritischen Theorie schließlich unerheblich erscheint, ob ein „ehrlicher Reformer" oder ein brutaler Diktator „die Macht des Bestehenden verstärkt".

Jürgen Habermas, der den Aktionismus der Protestbewegung kritisiert, wirft ihr eine „totalisierende Betrachtungsweise" vor, die zu folgendem Gesellschaftsbild führt: „Das Institutionensystem der entwickelten Industriegesellschaften erscheint als ein fast statisches, jedenfalls gut integriertes Ganzes, innerhalb dessen jedes Element, soweit es überhaupt eine gesellschaftliche Funktion erfüllt, zwangsläufig auch der Systemerhaltung dient." Gerade diese „totalisierende Betrachtungsweise", die zum Bild einer völlig integrierten Gesellschaft führt, haben die Studenten aber in der Frankfurter Schule gelernt. In der „Dialektik der Aufklärung" wird ständig diese erdrükkende Übermacht des Systems hervorgehoben, die zur völligen Ohnmacht der menschlichen Subjekte führt. Apathie ist die Folge der Einsicht in die eigene Ohnmacht

Die Gewalt der Industriegesellschaft über die Menschen wird noch verstärkt durch die Kulturindustrie; beide reproduzieren nur das immer gleiche: „Das Neue der massenkulturellen Phase gegenüber der spätliberalen ist der Ausschluß des Neuen. Die Maschine rotiert auf der Stelle."

Die Beispiele für eine totalisierende Betrachtungsweise, die die Gesellschaft als geschlossenes Ganzes sieht, aus dessen unwiderstehlichem Sog es für das Individuum kein Entrinnen gibt, ließen sich noch lange fortsetzen. Die „Dialektik der Aufklärung" bemüht sich in immer neuen Varianten um den Nachweis, daß innerhalb dieser Gesellschaft keine Hebel für ihre Veränderung zu finden sind.

„Der eindimensionale Mensch"

Ein zweites Schlüsselwerk für das Gesellschaftsbild der Neuen Linken ist „Der eindimensionale Mensch" von Herbert Marcuse. Zunächst erweckt Marcuse in diesem Werk die Hoffnung, er könne Erkenntnisse für eine erfolgreiche emanzipatorische Praxis vermitteln. Er bezeichnet als Bestandteil der Kritischen Theorie „das Urteil, daß in einer gegebenen Gesellschaft spezifische Möglichkeiten zur Verbesserung des menschlichen Lebens bestehen sowie spezifische Mittel und Wege, diese Möglichkeiten zu verwirklichen. Die kritische Analyse hat die objektive Gültigkeit dieser Urteile zu beweisen, und der Beweis muß auf empirischem Boden geführt werden."

Noch ermutigender klingt die Einsicht: „Die . Möglichkeiten'müssen sich innerhalb der Reichweite der jeweiligen Gesellschaft befinden; sie müssen bestimmbare Ziele der Praxis sein." Doch das Ergebnis seiner Analyse, das er schon auf den ersten Seiten seines Werkes ausspricht und in den weiteren Abschnitten immer wieder neu begründet, besteht in der entmutigenden Aussage, daß in der entwickelten Industriegesellschaft die „spezifischen Mittel und Wege" zur Verwirklichung dieser Möglichkeiten nicht vorhanden sind, daß sie sich also nicht in der Reichweite der bestehenden Gesellschaft befinden und daher auch nicht bestimmbare Ziele der Praxis sind: „Die gegenwärtige Gesellschaft scheint imstande, einen sozialen Wandel zu unterbinden — eine qualitative Veränderung, die wesentlich andere Institutionen durchsetzen würde, eine neue Richtung des Produktions-Prozesses, neue Weisen menschlichen Daseins. Die Unterbindung sozialen Wandels ist vielleicht die hervorstechendste Leistung der fortgeschrittenen Industriegesellschaft; .. .der Niedergang des Pluralismus, das betrügerische Einverständnis von Kapital und organisierter Arbeiterschaft in einem starken Staat bezeugen die Integration der Gegensätze, die das Ergebnis wie die Vorbedingung dieser Leistung ist."

In immer wieder neuen Ansätzen bemüht sich Marcuse um den Nachweis, daß die bestehende Gesellschaft nicht pluralistisch und demokratisch ist, sondern so perfekt totalitär, daß auch die liberalen Freiheiten und oppositionelle Bewegungen nur zur Stabilisierung der bestehenden Gewaltverhältnisse beitragen. Dieser totalitäre Charakter der Gesellschaft ist aber nicht das Werk einer politischen Bewegung, die bewußt eine totalitäre Ordnung errichtet hat, sondern vielmehr bedingt durch die objektiven Strukturen und Faktoren der fortgeschrittenen Industriegesellschaft. Aus der Überzeugung, daß der faktische Zustand der bestehenden Gesellschaft jede gesellschaftsverändernde Praxis ausschließt, zieht er die Schlußfolgerung: „qualitative Änderung scheint möglich nur als eine von außen"

Als Marcuse im letzten Teil seines Buches ausdrücklich „Die Chance der Alternativen" untersucht, gelingt es ihm nur, die Kriterien der Selbstbestimmung zu beschreiben: „Das Ziel wahrhafter Selbstbestimmung der Individuen hängt ab von wirksamer sozialer Kontrolle über die Produktion und Verteilung der lebensnotwendigen Güter. . . . Selbstbestimmung wird in dem Maße real sein, wie die Massen in Individuen aufgelöst worden sind, befreit von aller Propaganda, Schulung und Manipulation, fähig, die Tatsachen zu kennen und zu begreifen und die Alternativen einzuschätzen. Mit anderen Worten, die Gesellschaft wäre in dem Maße vernünftig und frei, wie sie von einem wesentlich neuen geschichtlichen Subjekt organisiert, aufrechterhalten und reproduziert wird."

Doch das bestehende System verhindert, daß ein solches neues Subjekt entsteht. Die Tatsachen bekräftigen zwar die Kritische Theorie und weisen auf die geschichtliche Alternative hin: „Aber die Tatsachen und Alternativen liegen vor wie Bruchstücke, die sich nicht zusammenfügen lassen, oder wie eine Welt stummer Objekte ohne Subjekt, ohne die Praxis, die diese Objekte in eine neue Richtung bewegen würde. Die dialektische Theorie ist nicht widerlegt, aber sie kann kein Heilmittel bieten."

Marcuse kann ebensowenig wie Adorno ein handlungsorientierendes Wissen vermitteln. Denn ein Denken, das nur die Unmöglichkeit gesellschaftsverändernden Handelns zu erkennen vermag, kann nicht gleichzeitig rationale Maßstäbe für dieses Handeln ermitteln. Das, was Adorno und Marcuse über mögliche Auswege andeuten, läßt sich nicht umsetzen in Maßstäbe und Anleitungen für rationales Handeln. Wenn Adorno und Horkheimer einen Ausweg darin sehen, den „Widersinn der Herrschaft" zu durchschauen, so mag das wohl philosophisch einleuchtend sein, doch für das Handeln läßt sich daraus nichts ableiten, auch wenn das „Durchschauen" als sehr einfach hingestellt wird: „Der Widersinn der Herrschaft ist heute fürs gesunde Bewußtsein so einfach zu durchschauen, daß sie des kranken Bewußtseins bedarf, um sich am Leben zu erhalten."

Auch der folgende Gedanke über einen möglichen Ausweg sagt nicht, wie durch politisches Handeln der mögliche Ausweg verwirklicht werden könnte: „Die ihrer selbst mächtige, zur Gewalt werdende Aufklärung selbst vermöchte die Grenzen der Aufklärung zu durchbrechen." Dieser Satz ist sicher nicht an die gerichtet, die handeln wollen. Aber wenn einer, der gegen die repressive Gesellschaft zu handeln sich verpflichtet fühlt, diesen Satz liest, subjektiv ernst nimmt und aus ihm etwas für sein Handeln ableiten will, dann kann er das nur, wenn er glaubt, daß in ihm die Aufklärung ihrer selbst mächtig und zur Gewalt wird.

Die Lektüre der „Dialektik der Aufklärung" vermag jene anzuregen, die die Welt interpretieren wollen, sie kann aber jene nur verwirren, die sie handelnd verändern wollen. Für die praktischen Schlußfolgerungen, die zahlreiche Studenten aus der „Dialektik der Aufklärung" gezogen haben, versuchen Jürgen Flabermas und Albrecht Wellmer allein die Studenten verantwortlich zu machen. Sie bemühen sich, die Kritische Theorie von der Mit-verantwortung für den Aktionismus freizusprechen, indem sie den Studenten vorwerfen, sie hätten, die „Dialektik der Aufklärung" als geschichtsphilosophische Verallgemeinerung der Kritik der politischen Ökonomie mißverstanden. Habermas betont ausdrücklich, daß sich Adorno aber selbst dieses Mißverständnis nie habe zuschulden kommen lassen: „Aber der Aktionismus einiger Schüler läßt vermuten, daß sie die ideologiekritische Entschlüsselung des objektiven Geistes, an die Adorno in seinen materialen Arbeiten bewunderungswürdig alle Energie gewendet hat, mit einer Theorie der spätkapitalistischen Gesellschaft schlicht, verwechseln. Daß Praxis mißlingt, läßt sich nicht allein dem geschichtlichen Augenblick zurechnen. Dazu mag auch der Umstand beitragen, daß die ungeduldigen Praktiker von der Unvollkommenheit der Theorie keinen rechten Begriff haben. Sie wissen nicht, was alles, beim gegenwärtigen Stand, sie gar nicht wissen können."

Die Ursache für den Aktionismus sieht Habermas also nicht in der spezifischen Gesellschaftstheorie der Frankfurter Schule, sondern in dem Mißverständnis, daß die Studenten die Reflexionen der Dialektiker für eine Gesellschaftstheorie gehalten haben, aus der sie Schlußfolgerungen für ihre Praxis ableiteten. Auch Adorno selbst leugnet ausdrücklich die Mitverantwortung seines Denkens für den Aktionismus, wenn er im Interview mit dem Spiegel im Mai 1969 erklärt: „Ich habe in meinen Schriften niemals ein Modell für irgendwelche Handlungen und zu irgendwelchen Aktionen gegeben. Ich bin ein theoretischer Mensch, der das theoretische Denken als außerordentlich nah an seinen künstlerischen Intentionen empfindet. Ich habe mich nicht erst neuerdings von der Praxis abgewandt, mein Denken stand seit jeher in einem sehr indirekten Verhältnis zur Praxis."

Es ist zwar richtig, daß sich die Studenten bei ihren Aktionen nicht auf Modelle berufen können, die von Adorno selbst entworfen wurden und von denen er sich erst nach ihrer praktischen Erprobung distanziert habe. Aber dennoch kann man die Mitverantwortung für die Krise der Protestbewegung nicht mit dem Trick leugnen, daß die Reflexionen der Frankfurter Schule gar nicht als Theorie der Gesellschaft zu verstehen wären, aus ihnen also auch gar keine Schlußfolgerungen für Handeln abzuleiten wären. Die Vertreter der Kritischen Theorie erwecken durchaus in ihrem ganzen Werk den Eindruck, daß sie etwas über Praxis aus-zusagen haben, nämlich die Erkenntnis, daß alles Handeln vergeblich ist, weil alles Bemühen im Rahmen der bestehenden Gesellschaft, die alles integriert, nur das Bestehende reproduziert und stabilisiert. Sie betrachten diese Aussage auch nicht als Arbeitshypothese, die nur theoretischen Wert hat, sondern als objektive Aussage über den faktischen Zustand der Gesellschaft, so daß sie unter Berufung auf ihre Theorie auch verbindliche Aussagen über Praxis machen. in dem Spiegel-Interview, in dem Adorno seine Verantwortung für den Aktionismus und seine Zuständigkeit für Praxis leugnete, lehnte er unter Berufung auf seine Theorie das Praxis-Modell Dahrendorfs kategorisch ab: „Bei Dahrendorf waltet ein Oberton von frisch-fröhlicher Überzeugung: Wenn man nur im kleinen bessert, dann wird vielleicht auch alles besser werden. Das kann ich als Voraussetzung nicht anerkennen." Er beruft sich auf seine Arbeiten, in denen der Wert von Einzelaktionen durch die Betonung der gesellschaftlichen Totalität äußerst eingeschränkt sei.

Adorno leitete aus seiner Theorie, aus seiner Einsicht in die Ohnmacht der Menschen gegenüber der Gesellschaft, die Empfehlung ab, auf Handeln zu verzichten. Diese Empfehlung ist aber gerade von denen schwer zu befolgen, die seine Theorie akzeptieren. Denn diese Theorie lehrt, daß die bestehende Gesellschaft in ihrer Totalität schlecht ist und die Selbstverwirklichung des Menschen verhindert. Wer als Mensch leben will, muß daher die bestehende Gesellschaft bekämpfen und abschaffen, weil er erst in einer ganz anderen Gesellschaft die Möglichkeit hat, sein menschliches Wesen zu verwirklichen. Die Kritische Theorie lehrt also die menschliche Pflicht, die Gesellschaft radikal zu verändern; und gleichzeitig lehrt sie die objektive Unmöglichkeit, sie durch Handeln zu verändern. Dieser Zwiespalt, in den die Anhänger der Kritischen Theorie geraten, wird für viele zu einer unerträglichen psychischen Belastung und zu einer emotionalen Triebkraft für irrationales, aktionistisches Handeln. Unter diesem Gesichtspunkt äußerte Adorno auch Verständnis für die psychische Situation der Aktionisten, obwohl er sich von ihren Aktionen distanzierte und auch die Polizei gegen sie einsetzen ließ: „Ich glaube, daß der Aktionismus wesentlich auf Verzweiflung zurückzuführen ist, weil die Menschen fühlen, wie wenig Macht sie tatsächlich haben, die Gesellschaft tatsächlich zu verändern."

Herbert Marcuse dagegen äußerte nicht nur Verständnis für die Aktionen der Studenten, sondern hat „sich mit denen solidarisiert, die den Anspruch der Kritischen Theorie praktisch verwirklichen wollen", wie die Zeitschrift Konkret schrieb. Doch welchen Vorteil oder Nutzen hatte die Protestbewegung davon, daß sich Marcuse zu ihrer Praxis bekannte und sich nicht wie andere distanzierte? Wie wenig Marcuse trotz seiner uneingeschränkten Parteinahme für die Protestbewegung denen helfen kann, die nach einem gangbaren Weg von der repressiven zur emanzipierten Gesellschaft suchen, wurde besonders deutlich in seinen Vorträgen und Diskussionsbeiträgen im Sommer 1967 in Berlin.

Eine qualitative Veränderung der Gesellschaft ist für Marcuse nur als Revolution denkbar. Diese Revolution findet aber nicht statt, weil diejenigen, die eigentlich das Bedürfnis nach Revolution haben müßten, es nicht mehr haben. Die bestehende Gesellschaft ist so beschaffen, daß sie nicht mehr — wie es Marx für seine Zeit festgestellt hatte — in der Arbeiterschaft naturnotwendig das Bedürfnis nach Revolution hervorruft, sondern im Gegenteil die Arbeiterschaft integriert. Da nicht mehr bei einer ganzen Klasse aus objektiven Gründen das Bedürfnis nach Revolution entsteht, erhalten die subjektiven Faktoren größere Bedeutung; denn Voraussetzung für die Revolution unter diesen Bedingungen der fortgeschrittenen Industriegesellschaft ist die Entstehung eines neuen Menschentyps, für den die Revolution zu einem vitalen Bedürfnis wird: „Was auf dem Spiel steht, ist die Idee einer neuen Anthropologie, nicht nur als Theorie, sondern auch als Existenzweise, die Entstehung und Entwicklung von vitalen Bedürfnissen nach Freiheit, von den vitalen Bedürfnissen der Freiheit. . . . Die Notwendigkeit der Entwicklung qualitativ neuer menschlicher Bedürfnisse, deswegen die biologische Dimension, Bedürfnisse in einem sehr strikten biologischen Sinne." Da erst diese neuen Bedürfnisse die totale Umgestaltung und völlig neue Beziehungen zwischen den Menschen möglich machen, ist es eine Aufgabe, „den Menschen-typus freizulegen und zu befreien, der die Revolution will, der die Revolution haben muß, weil er sonst zusammenbricht"

Mit diesem Lösungsvorschlag gerät Marcuse in einen ausweglosen Zirkel, den er nach seinem eigenen Eingeständnis nicht zu durchbrechen vermag: Da das Wesen der repressiven Gesellschaft ja gerade darin besteht, daß sie die nicht-repressiven Bedürfnisse gar nicht aufkommen läßt, müßte die emanzipierte Gesellschaft erst verwirklicht sein, damit die neuen Bedürfnisse im Menschen überhaupt entstehen können. Doch solange diese neuen Bedürfnisse nicht da sind, können die Menschen gar nicht die emanzipierte Gesellschaft schaffen. „Um die Mechanismen abzuschaffen, die die alten Bedürfnisse reproduzieren, muß erst einmal das Bedürfnis da sein, die alten Mechanismen abzuschaffen. Genau das ist der Zirkel, der vorliegt, und ich weiß nicht, wie man aus ihm herauskommt."

Für die Praxis hat diese resignierende Feststellung Marcuses folgende Konsequenz: Wer diesen Standpunkt teilt, kann sich nur ein Ziel für sein Handeln setzen, nämlich diejenigen revolutionären Bedürfnisse in den Menschen und auch in sich selbst zu wecken, die Voraussetzung sind für die Revolution. Daraus ergibt sich leicht ein Verhalten, das von Außenstehenden als blinder Aktionismus angesehen wird, das aber bedingt ist durch die Tatsache, daß es keine rationalen Maßstäbe oder Rezepte für ein Handeln gibt, welches das Wunder vollbringen soll, diese neuen Bedürfnisse in den Menschen zu wecken.

Der einzige Vorteil, der sich für die Studenten aus der „Treue" Marcuses ergibt, liegt darin, daß Marcuse ihnen empfiehlt, trotz Verzweiflung zu handeln, während Adorno nur Verständnis dafür hatte, daß sie aus Verzweiflung so handelten, ihnen aber empfahl, doch lieber auf Handeln zu verzichten.

Kritische Theorie verhüllt Möglichkeiten kritischer Praxis

Eine Alternative zu Resignation und Aktionismus können wir nur suchen im Zusammenhang mit einer fortschreitenden Präzisierung der Kritik an der Kritischen Theorie. Denn ein Ausweg aus der Krise der Protestbewegung ist nur zu finden, wenn es nachzuweisen ge-lingt, daß in der bestehenden Gesellschaft Möglichkeiten für eine rationale emanzipatorische Praxis vorhanden sind, die durch die Kritische Theorie verhüllt werden. Die Kritische Theorie verhüllt diese Möglichkeiten, weil ihr Begriffs-und Kategorienapparat nicht in der Lage ist, jene Dimension der Gesellschaft zu erfassen, in der politisches Handeln stattfindet, so daß sie auch kein handlungsorientierendes Wissen vermitteln kann.

Dieser Begriffs-und Kategorienapparat war nicht a priori vorhanden und entstand auch nicht in einer isolierten Sphäre der reinen Reflexion, sondern entwickelte sich in enger Abhängigkeit von der Aufgabe, die sich die Philosophen der Frankfurter Schule stellten. Umgekehrt wirkte natürlich der so entwickelte Begriffsapparat zurück auf die Auswahl von neuen Aufgaben.

Die ursprüngliche Aufgabe, die sich die Vertreter der Kritischen Theorie stellten, bestand darin, die Gesellschaft zu interpretieren, das wahre Sein, das innere Prinzip der Gesellschaft zu erkennen. Diese Aufgabenstellung wird auch deutlich in der Vorrede zur „Dialektik der Aufklärung", in der als Ziel der Untersuchung „die Erkenntnis" genannt wird, „warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt" Gestellt ist also nur die Frage nach einem bestimmten Zustand, nach einem Sein, aber nicht die für politisches Handeln relevante Frage: Was können aufgeklärte Menschen tun, damit die Menschheit, anstatt in eine neue Art von Barbarei zu versinken, in einen wahrhaft menschlichen Zustand eintritt? Die „Dialektik der Aufklärung" kann auf diese Frage nicht antworten, weil sie diese Frage gar nicht stellt, weil die ganze Argumentationsweise eine solche Frage gar nicht zuläßt. Adorno und Horkheimer stellen nur fest, was ist, und erklären das Übel, das ist, aus einem einheitlichen Prinzip. In allen Werken, die der Kritischen Theorie verhaftet sind, enthält jede Kritik an konkreten Übeln gleichzeitig eine indirekte Rechtfertigung dieses Übels. Denn diese Übel werden nicht erklärt als Konsequenzen einer falschen Praxis, sondern als notwendige Konsequenzen der Prinzipien, die das ganze System beherrschen. Immer wieder wird darauf hingewiesen, daß alles so schlecht sein muß, solange diese Gesellschaft besteht, daß alles so kommen mußte, wie es gekommen ist. Das Bild, das die Kritische Theorie von der bestehenden Gesellschaft vermittelt, enthält keinen Spielraum für bewußt handelnde Menschen, die durch ihr Handeln die weitere Entwicklung der Gesellschaft beeinflussen könnten. Die Mißstände der bestehenden Gesellschaft wurden nicht durch handelnde Menschen geschaffen und sind daher auch nicht durch handelnde Menschen abzuschaffen.

Die Alternativen, die angedeutet werden, sind nicht durch politisches Handeln zu verwirklichen, sondern durch ein geistiges Ereignis, das Wellmer in den Satz zusammenfaßt: „Die Möglichkeit . umwälzender Praxis'hängt daher davon ab, daß die Selbstpreisgabe der Aufklärung an ihr . positivistisches Moment'als solche durchschaut wird; daß das Denken sich über sich selbst aufklärt, indem es sich auf das besinnt, was an ihm selbst als Herrschaft zugleich . unversöhnte Natur'ist."

Wer diesen Ansatz teilt, kann gar nicht die Frage stellen: „Was sollen wir tun? Wie sollen wir handeln?" Er kann nur die Frage stellen: „Was sollen wir denken? Wie sollen wir denken?" Denn Praxis ist unter dieser Voraussetzung gar nicht Handeln, sondern selbst nur Denken. Das spricht Adorno klar aus, wenn er im Spiegel-Interview bemerkt: „Ist denn nicht Theorie auch eine genuine Gestalt der Praxis?" Auch in seinen „Marginalien zu Theorie und Praxis" macht Adorno noch einmal unmißverständlich klar, daß sein Begriff von Denken und von Theorie nicht das Ziel hat, zum Handeln anzuleiten, zu informieren über die Bedingungen erfolgreichen Handelns. Die Unbrauchbarkeit seiner Theorie für die Praxis bedauert er nicht etwa als eine Schwäche, sondern er glaubt vielmehr, in der Trennung von Theorie und Praxis „das unendlich Fortschrittliche" zu sehen

Wenn die Theorie nicht für die Praxis brauchbar ist, so erweist sich dadurch nicht etwa die Theorie als falsch, sondern die Praxis. Denn für eine „richtige" Praxis hat die Kritische Theorie durchaus Bedeutung. In den dreißiger Jahren verstanden sich die Begründer der Frankfurter Schule als das Gewissen der marxistischen Linken: „In einer Situation, in der Furcht und Elend der Massen noch ebenso handgreiflich real wie die Hoffnung auf eine revolutionäre Entladung des Klassen-konflikts begründet erschienen, konnten die marxistischen Theoretiker ihre theoretische Arbeit noch unmittelbar als Moment eines revolutionären Kampfes, als dessen kritisches Selbstbewußtsein, begreifen." Die wissenschaftstheoretische Auseinandersetzung mit dem bürgerlichen Positivismus wurde verstanden als Teil des politischen Kampfes gegen die bürgerlich-kapitalistische Ordnung: „Im Methodenstreit reproduziert sich der reale politische Kampf als Kampf der Geister."

Die „richtige" Praxis der Arbeiterbewegung ermöglichte damals die Einheit von Theorie und Praxis — zumindest in den Köpfen der Philosophen —, während die heutige „falsche" Praxis der Arbeiterschaft daran schuld ist, daß die Kritische Theorie keinen Bezug zur Praxis hat: „Da es an nachweisbaren Trägern und Triebkräften gesellschaftlichen Wandels fehlt, wird die Kritik auf ein hohes Abstraktionsniveau zurückgeworfen. Es gibt keinen Boden, auf dem Theorie und Praxis, Denken und Handeln zusammenkommen." Diese Aussage Marcuses bedeutet, daß theoretische Reflexionen, neue Ideen und neue theoretische Ansätze die Trennung von Theorie und Praxis nicht überwinden können. Nur eine veränderte Praxis, für die der Theoretiker aber nicht zuständig ist, kann die unterbrochene Verbindung zur „richtigen" Theorie wiederherstellen. In der letzten Konsequenz bedeutet Marcuses Aussage, daß im bestehenden System die Menschen ihr Denken nicht benutzen können, um vernünftig zu handeln. Denn das könnten sie nur, wenn es einen Boden gäbe, „auf dem Denken und Handeln zusammenkommen".

Das revolutionäre Praxis-Modell der Kritischen Theorie erweckt nur solange den Eindruck einer Einheit von Theorie und Praxis, wie tatsächlich eine revolutionäre Situation besteht. Karl Korsch weist in seiner Schrift „Der gegenwärtige Stand des Problems , Marxismus und Philosophie'" darauf hin, daß sich schon einmal in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine Trennung von Theorie und Praxis vollzogen hat, daß „mit dem Stillstand der praktischen revolutionären Bewegung seit den fünfziger Jahren die . . . Wiederauseinanderentwicklung von Philosophie und positiven Wissenschaften, Theorie und Praxis eingetreten war" In dieser nachrevolutionären Phase entwickeln Marx und Engels ihre Lehre nur noch als kritische Theorie und Wissen-* schäft, was zur Folge hat, „daß diese so zu immer höherer theoretischer Vollendung fortgebildete Marx-Engelssche Theorie jetzt mit der Praxis der gleichzeitigen Arbeiterbewegung nicht mehr unmittelbar verbunden ist, sondern beide Prozesse, die Fortbildung der in einer vergangenen geschichtlichen Epoche entstandenen Theorie unter den neuen geschichtlichen Bedingungen und die neue Praxis der Arbeiterbewegung, relativ selbständig nebeneinander hergehen. Gerade hieraus erklärt sich jenes im vollen Sinne des Wortes . unzeitgemäß'hohe Niveau, das nun die marxistische Theorie auch in dieser Periode . .. gehalten und noch gesteigert hat."

Auch dem Denken Adornos kann man ein „unzeitgemäß hohes Niveau" zubilligen und seiner eigenen Aussage zustimmen, das Wissen habe die Gesellschaft bereits überholt und sei dieser schon weit voraus. Dieses selbstgerechte Urteil bedeutet aber mit anderen Worten, das Wissen hat sich von der Gesellschaft gelöst, hat sie im Stich gelassen und sie sich selbst überlassen. Anstatt sich in Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit weiterzuentwickeln, hat sich das Denken verselbständigt, ist narzistisch geworden und entwickelt sich, unbeschwert vom lästigen Kontakt mit der Wirklichkeit, höher und höher.

Obwohl Adorno und Marcuse die Trennung ihrer Theorie von der Praxis erkannt und eingestanden haben, erweckten sie durch ihre prinzipielle Verurteilung einer evolutionär-reformerischen Praxis den Eindruck, daß der Begriffsapparat der Kritischen Theorie verbindliche Erkenntnisse über richtiges oder falsches Handeln ermögliche. Wenn Adorno den Aktionisten vorwirft, sie beriefen sich zu Unrecht auf Praxis-Modelle der Kritischen Theorie, dann befindet er sich im Recht. Aber wenn er den Eindruck erweckt, er könne mit den Begriffen seiner Theorie die Kritik am Aktionismus begründen, dann unterliegt er einem Irrtum. Wollte Adorno Mißverständnisse vermeiden helfen, wäre er verpflichtet gewesen, auch auf eine Kritik am Praxis-Modell Dahrendorfs zu verzichten und zu erklären, daß seine gesamte Denkmethode und sein ganzer Begriffs-apparat nicht geeignet sind, über Handlungsmodelle etwas auszusagen, weder sie zu entwerfen noch sie zu kritisieren. Denn die Kritische Theorie hat einen ganz anderen Erkenntnisgegenstand. Die Erkenntnisse der Kritischen Theorie sind zwar handlungsmotivierend, aber nicht handlungsorientierend. Wer die Kriti-sehe Theorie studiert hat, weiß wohl sehr gut, daß und warum er handeln soll, aber nicht, wie er handeln muß, um die emanzipatorischen Ziele zu erreichen. Denn ein Denken, das „den Wert von sogenannten Einzelaktionen durch die Betonung der gesellschaftlichen Totalität" äußerst einschränkt und das Verbesserungen im kleinen als Voraussetzung für die Verbesserung des Ganzen nicht anerkennt hat seiner Struktur nach keine Bedeutung für politisches Handeln. Denn Handeln gibt es nur als Einzelaktion. Wer keine Kategorien und Begriffe besitzt, um über Einzelaktionen nachzudenken, kann überhaupt nicht über Handeln nachdenken.

Habermas erklärte, wie schon erwähnt, das Mißlingen der studentischen Praxis damit, „daß die ungeduldigen Praktiker von der Unvollkommenheit der Theorie keinen rechten Begriff haben. Sie wissen nicht, was alles, beim gegenwärtigen Stand, sie gar nicht wissen können." Diese Erklärung müßte wohl wie folgt umformuliert werden: Die Praxis der Protestbewegung, die sich auf die Kritische Theorie stützte, mißlang, weil die Praktiker von der vollkommenen Unbrauchbarkeit dieser Theorie für die Praxis keinen rechten Begriff hatten. Sie wußten gar nicht, was alles sie mit dieser Theorie nicht wissen können und nie wissen werden.

Abkehr der Protestbewegung von der Frankfurter Schule

Nicht nur aus Enttäuschung über die politische Zurückhaltung der Vertreter der Frankfurter Schule, sondern auch aus Einsicht in ihre theoretischen Unzulänglichkeiten, wenden sich breitere Kreise der sozialistischen APO immer mehr von der Kritischen Theorie ab. Bei den 1968 erschienenen Büchern „Antworten auf Herbert Marcuse" und „Die Linke antwortet Jürgen Habermas" handelte es sich noch weitgehend um eine immanente Kritik. In der Zeitschrift „Sozialistische Politik", Nr. 4 vom Dezember 1969, herausgegeben von sozialistischen Studenten und Assistenten am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität in Berlin, forderten dagegen Renate Damus, Gudrun Kümmel und Wolfgang Müller eine radikale Abkehr von der Kritischen Theorie. Die Auseinandersetzung mit der Frankfurter Schule halten sie nur deshalb noch für notwendig, weil sie zur Zeit noch einen starken Einfluß auf die Studenten ausübt: „Eine Auseinandersetzung mit dieser Soziologie erscheint uns um so dringlicher, als in vielen politisch-strategischen Auseinandersetzungen unbewußt eine ganze Reihe ihrer philosophischen Theoreme eine Rolle spielen. Diese üben noch immer eine Wirkung auf die studentischen Massen aus, ohne daß dies auch den praktischen Absichten jener Schule entspräche und ohne daß diesen , Massen'dies recht bewußt wäre. Die politische Bedeutung dieser Ideen zwingt uns zur Auseinandersetzung, die aber für unsere künftigen theoretisch-praktischen Aufgaben bestenfalls vorübergehende Bedeutung haben kann." Denn das Ziel dieser Auseinandersetzung ist die völlige Lösung der sozialistischen Opposition von der Kritischen Theorie: „In dem Moment, wo die kritische Theorie nicht mehr innerhalb der politischen Bewegung als marxistische Theorie mißverstanden würde, hätte sie sich für uns als kritikwürdiger Gegenstand aufgelöst."

Im Unterschied zu dieser umfassenden Ablehnung handelt es sich bei der hier entwickelten Kritik nicht um eine vollständige Verwerfung der Kritischen Theorie, sondern nur um den Nachweis, daß sie für die politische Praxis unbrauchbar ist, was nicht ausschließt, daß sie für andere Aufgaben durchaus wertvoll ist. Unter diesem Gesichtspunkt kann es aber nicht als ein Vorteil für die Praxis der Protestbewegung angesehen werden, daß Marcuse im Gegensatz zu Adorno und anderen die militanten Aktionen gebilligt hat. Denn trotz dieser moralischen Solidarisierung bleibt sein Eingeständnis gültig, daß die Kritische Theorie nichts verspricht, keinen Erfolg zeigt, also negativ bleibt. Dieses Eingeständnis wird auch durch die daran anschließende Erläuterung nicht zu einer praktischen Hilfe für die Protestbewegung: „Damit will sie jenen die Treue halten, die ohne Hoffnung ihr Leben der Großen Weigerung hingegeben haben und hin-geben." Hat also Herbert Marcuse, im Gegensatz zu Adorno, den militanten Gruppen der Protestbewegung nur deshalb die Treue gehalten, weil sie „ohne Hoffnung ihr Leben der Großen Weigerung hingegeben haben und hingeben"?

So wertvoll die Kritische Theorie für andere Probleme sein mag, diejenigen, die politisch handeln wollen — und zu diesen gehört die Protestbewegung —, brauchen für ihre Aufgaben andere Denkmethoden und eine andere theoretische Grundlage. Wer auf dem Wege einer kritischen Auseinandersetzung mit der Frankfurter Schule dazu beitragen will, die Praxis der Protestbewegung aus einer Sackgasse herauszuführen, muß aber den vereinfachenden Trugschluß vermeiden, daß zwischen der Kritischen Theorie und der Protest-bewegung ein mechanisches Kausalitätsverhältnis besteht, daß diese Theorie alleinige Ursache ist, aus der sich mit zwingender Notwendigkeit alle Einzelheiten und Fehler der Protestbewegung ergaben.

Die Kritische Theorie hat zwar kritisches Denken und und Verhalten angeregt verstärkt, aber das kritische Potential der Protestbewegung entwickelte sich auch aus zahlreichen anderen Gründen und unter anderen Einflüssen, zunächst vor allem unter dem Einfluß der liberalen publizistischen Opposition. Da den Politikern, die Erfahrungen auf dem Gebiet des politischen Handelns besaßen, auch die ursprünglich sehr harmlosen Tendenzen der Kritik in der jungen Generation nur lästig waren, böt sich schließlich die Kritische Theorie als integrierender Faktor und gemeinsame theoretische Grundlage an. Die Massenbasis der Protestbewegung in den letzten drei Jahren ist allerdings nicht dadurch entstanden, daß die Studenten massenhaft die Autoren der Frankfurter Schule lasen. Die meisten Studenten wurden nicht kritisch und oppositionell, weil und nachdem sie Adorno, Horkheimer, Marcuse und Habermas gelesen hatten, sondern sie lasen diese Autoren, nachdem und weil sie kritisch und oppositionell geworden waren und weil sich die aktivsten Studenten, die ihr Unbehagen artikulierten, auf diese Theoretiker beriefen. Ihre politische Praxis hätte sich gewiß anders entwickeln können, wenn sich ihr kritisches Bewußtsein an anderen theoretischen Konzepten weiterentwickelt hätte, wenn unter denen, die Verständnis für die junge Generation hatten und sich mit ihr solidarisierten, nicht nur Philosophen, Schriftsteller, Künstler und Journalisten gewesen wären, sondern auch Politiker.

Der Einfluß der Kritischen Theorie ist natürlich nicht die einzige Ursache, aus der sich eine Denkmethode entwickelte, die ungeeignet ist, handlungsorientierendes Wissen zu erwerben und zum zweckrationalen Handeln anzuleiten. Denn die Strukturen des Denkens, das zu irrationalem Handeln führt, sind auch bei jenen aktionistischen Gruppen anzutreffen, die über den Verdacht erhaben sind, sich zu intensiv mit den Werken Adornos und Marcuses beschäftigt zu haben. Die in der Kritischen Theorie enthaltenen Strukturen des Denkens, die einen handlungsorientierenden Gebrauch des Denkens verhindern, sind also nicht nur auf intellektuellem Wege, durch Studium der Kritischen Theorie, auf das Denken der Aktionisten übertragen worden, sondern sie entwickelten sich auch unabhängig von dieser Theorie aus einer bestimmten gesellschaftlichen Situation. Die Strukturen irrationalen politischen Denkens und Verhaltens, die auch kennzeichnend sind für konservativ-romantisches Denken, haben eine soziale Wurzel in autoritären politischen Verhältnissen, in denen die Menschen keinen oder nur wenig Einfluß auf das politische Geschehen haben. Das heißt, Menschen, die keine reale Möglichkeit haben, durch politisches Handeln Einfluß auszuüben, entwickeln kaum Denkmethoden und Begriffe, die zu handlungsorientierenden Erkenntnissen führen.

Die Kritische Theorie hat also in vielen Fällen den politischen Aktionismus und Irrationalismus nicht direkt bewirkt, aber sie ist kein Faktor, der die in autoritären Gesellschaften entstehende Tendenz zum politischen Irrationalismus korrigiert, sondern im Gegenteil ein Faktor, der diese Tendenz noch verstärkt, indem diese Theorie auch die geringen Möglichkeiten für zweckrationales Handeln noch verhüllt und damit eine konservative Funktion erfüllt.

Aus den vorangegangenen Ausführungen geht hervor, daß nicht nur eine theoretische, sondern auch eine praktisch-politische Aufgabe zu lösen ist, wenn wir die Protestbewegung aus der Krise herausführen wollen. Es genügt also nicht, die Behauptung, daß in der bestehenden Gesellschaft keine Möglichkeiten für gesell-

schaftsveränderndes Handeln vorhanden sind, theoretisch zu widerlegen; diese Behauptung ist auch praktisch zu widerlegen, indem mehr und bessere Möglichkeiten für dieses Handeln geschaffen werden.

Die zunächst theoretische Lösung dieser Aufgabe erfordert eine wissenschaftliche Konzeption, die nicht nur die in der bestehenden Gesellschaft schon vorhandenen Möglichkeiten für eine wirksame demokratische Mitbestimmung erkennt, sondern die darüber hinaus auch zu erkennen vermag, wo und mit welchen Mitteln zusätzliche und wirksamere Hebel und Ansätze für gesellschaftsveränderndes, emanzipatorisches Handeln geschaffen werden können.

Synthese von kritisch-dialektischer und positivistischer Wissenschaftskonzeption

Weder die kritisch-dialektische noch die positivistische Konzeption der Sozialwissenschaften sind in der Lage, diese Aufgabe allein zu lösen, nämlich die Wissenschaft für eine wirksame emanzipatorische Praxis einzusetzen. (Wegen der geringen politischen Relevanz für das hier behandelte Thema wird auf eine dritte Richtung der Sozialwissenschaften nicht eingegangen.)

Die Sozialwissenschaften können nur dann wirklich eine emanzipatorische Politik unterstützen, wenn eine dialogische Auseinandersetzung beide Wissenschaftskonzeptionen über ihren gegenwärtigen Entwicklungsstand hinausführt und auf der Grundlage einer konvergierenden Entwicklung eine Synthese entsteht, die Elemente beider Richtungen zu einer neuen, gualitativ höheren Wissenschaftskonzeption verschmilzt. Die bisherige Kontroverse zwischen Dialektikern und Positivisten hat allerdings kaum zu einer Weiterentwicklung der Wissenschaftskonzeptionen beigetragen, da beide ein „Alleinvertretungsrecht" der Wissenschaft beanspruchten und weniger nach neuen Erkenntnissen strebten, sondern mehr die ewige und allgemeine Gültigkeit ihrer alten Erkenntnisse betonten. „Die gegenseitige polemische Isolation der drei Theorieansätze", wie es Wolf-Dieter Narr nennt, ist die Ursache dafür, daß die Unterschiede der verschiedenen Richtungen „bis heute nicht zu gegenseitiger fortführender Kritik, sondern allenfalls zu gegenseitiger Abdichtung und Polemik geführt" haben (Die besondere Position von Jürgen Habermas und andere erste Ansätze für eine „Versöhnung" der beiden verfeindeten Schulen bleiben hier unberücksichtigt, zumal sie politisch noch nicht wirksam geworden sind.) Bei den folgenden Ausführungen handelt es sich nicht um eine ausführliche Begründung, sondern nur um eine thesen-artige — oft auch vereinfachende — Zusam menfassung der wichtigsten Gedankengänge, die für eine Synthese von positivistischer und kritisch-dialektischer Wissenschaftskonzeption sprechen.

Der Positivismus, der an den Methoden der Naturwissenschaften orientiert ist, bemüht sich um die wissenschaftliche Erkenntnis von Tatsachen und ist überzeugt, über Werte und Zielvorstellungen keine wissenschaftlichen Aussagen machen zu können. Da „positivistisches" Denken den Tatsachen, dem Bestehenden verhaftet ist, ist es wissenschaftlich in einem strengen und zugleich engen Sinne: Es ermöglicht intersubjektive Aussagen, also Aussagen, die von jedem Subjekt unabhängig von seinen persönlichen Meinungen und Werturteilen qua Wissen akzeptiert werden können. Denn die empirische Wirklichkeit bietet ja die Möglichkeit, eine Aussage auf ihren „Wahrheitsgehalt" zu prüfen, das heißt, die Wirklichkeit, die Tatsachen sind ein objektiver Maßstab für die Objektivität einer Aussage.

Das dialektische Denken dagegen, das über das Bestehende hinausgeht und versucht, nicht nur einzelne Tatsachen und Gesetzmäßigkeiten, sondern das Ganze des gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses und seinen objektiven Sinn und Wert zu erfassen, verfügt nicht über diese objektiven Maßstäbe zur Überprüfung und Korrektur seiner Aussagen, weshalb ihm die Positivisten den Charakter der Wissenschaftlichkeit absprechen und es höchstens als spekulative Philosophie anerkennen.

Die Dialektik ist aber nicht die einzige Form eines transzendierenden Denkens, das über das Bestehende hinauszugehen und nach dem Sinn des Ganzen zu fragen versucht. Es ist ursprünglich das religiöse Denken, das sich nicht damit begnügt, nur die äußere, empirische Welt im Bewußtsein abzubilden und zu verdoppeln, sondern das im Bewußtsein eine andere Welt entwirft, die für „positivistisches" Denken nicht wahrnehmbar ist. Dieses religiöse Denken ist auch eine erste Form einer Negation des Bestehenden, ein indirekter Protest gegen die bestehende Welt im Namen einer anderen, besseren Welt Dieses religiöse Denken, wie alles nicht-positivistische Denken, ist aber nicht nur willkürliches Produkt einer unaufgeklärten Phantasie, sondern hat einen „objektiven" Ursprung und Antrieb: die Ahnung von der Unvollkommenheit des Bestehenden und von den noch nicht verwirklichten Möglichkeiten, die im Bestehenden verborgen sind. Im rein religiösen Denken ist allerdings die Kluft zwischen dem unvollkommenen Bestehenden und der erahnten und ersehnten besseren Welt im diesseitigen, endlichen Leben unüberbrückbar. Es führt kein irdischer Weg aus dem Jammertal der Erde zum jenseitigen Paradies.

Diese unüberbrückbare Kluft zwischen der Welt und der besseren Alternative ist Ausdruck eines realen Zwiespalts der menschlichen Situation: Die Ahnung und Sehnsucht nach einer besseren Welt ist im Menschen schon Wirklichkeit, aber in der äußeren Welt, in der Gesellschaft, ist diese bessere Welt noch keine reale Möglichkeit. Die jenseitsbezogene Hoffnung ist daher ein Medium, in dem die a priori im Menschen vorhandene Sehnsucht nach einer besseren Welt aufbewahrt und gleichzeitig geschützt wird vor dem entmutigenden Einfluß einer Welt, in der diese Sehnsucht noch nicht zu verwirklichen ist.

Ziel der Marxschen Religionskritik war es, die jenseitsbezogene Hoffnung zu einer diesseitigen, irdischen Hoffnung zu machen, die bessere Welt aus dem Jenseits ins Diesseits zu holen. Dies konnte er nicht mit „positivistischem" Denken, sondern nur mit einer dialektischen Reflexion, die über das faktisch Bestehende hinausgeht. Dialektisches Denken ist insofern dem religiösen Denken verwandt, als es über das Bestehende hinauszudenken und eine Alternative zum Bestehenden zu entwerfen vermag. Es unterscheidet sich aber vom religiösen Denken dadurch, daß es die bessere Welt ins Diesseits holt und Begriffe entwickelt, die die Kluft zwischen der faktisch bestehenden Welt und der besseren Alternative überbrücken. Wo im traditionellen religiösen Denken ein Bruch besteht, stellt das dialektische Denken Kontinuität her: Die erahnte und ersehnte bessere Welt ist nicht mehr das radikal andere, das im Jenseits liegt, sondern die diesseitige Zukunft des Bestehenden.

Dialektisches Denken bewegt sich zwischen dem religiösen und dem posivistischen Denken und befindet sich daher ständig in Gefahr, in rein religiöses Denken zurückzufallen oder, indem es dieser Gefahr auszuweichen versucht, in positivistische Beschränktheit zu verfallen.

Bei Adorno, Horkheimer und Marcuse ist die dialektische Vernunft wieder zur religiösen Vernunft geworden, was zum Beispiel in folgendem Eingeständnis Marcuses deutlich wird: „Die kritische Theorie der Gesellschaft besitzt keine Begriffe, die die Kluft zwischen dem Gegenwärtigen und seiner Zukunft überbrücken könnten." In diesem Satz ist einerseits noch der dialektische Anspruch aufrechterhalten: die bessere Welt trägt den Titel „Zukunft des Bestehenden". Diese bessere Welt kann aber nur dann zur Zukunft des Bestehenden werden, wenn denkende und handelnde Menschen die Begriffe besitzen, die diese Kluft überbrücken und die Zukunft zum Gegenstand zielbewußten menschlichen Denkens und Handelns machen. Wenn diese Begriffe nicht vorhanden sind — im traditionellen religiösen Denken und in der Kritischen Theorie sind sie nicht vorhanden —, dann ist die bessere Welt nicht die diesseitige Zukunft des Bestehenden, sondern nur eine jenseitige Alternative, zu der kein irdischer Weg führt. Bei Marcuse fällt auch auf, daß er immer wieder die Diskontinuität, den totalen Bruch zwischen der gegenwärtigen repressiven und der befürworteten emanzipierten Gesellschaft betont, während Marx trotz seiner Revolutionskonzeption immer von einer grundsätzlichen Kontinuität des geschichtlichen Prozesses ausging. Unter diesem Gesichtspunkt sind die Ausführungen besonders aufschlußreich, die Max Horkheimer kurz nach dem Tode Adornos über die Richtung und den Sinn seines Denkens machte. Zunächst wich er der Frage aus, welches die wesentliche Fragestellung im Denken seines Freundes gewesen sei. Schließlich erläuterte er aber, in dem Negativen, das kennzeichnend sei für Adornos Denken, steckte „die Bejahung eines . anderen', das man nur durch eben dieses Wort des . anderen'bezeichnen kann" Und auf die Frage des Spiegel-Redakteurs nach dem . anderen'fuhr Horkheimer fort: „Ja. Er hat immer von der Sehnsucht nach dem . anderen'gesprochen, ohne das Wort Himmel oder Ewigkeit oder Schönheit oder sonst was zu benutzen. Und ich glaube, das ist sogar das Großartige an seiner Fragestellung, daß er, indem er nach der Welt gefragt hat, letzten Endes das . andere'gemeint hat, aber der Überzeugung war, daß es sich nicht begreifen läßt, indem man dieses . andere'beschreibt, sondern indem man die Welt, so wie sie ist, im Hinblick darauf, daß sie nicht das einzige ist, darstellt, nicht das einzige, wohin unsere Gedanken zielen." Die daran anknüpfende Frage, ob das nicht eine negative Theologie sei, beantwortete Horkheimer bejahend: „Ganz richtig, eine negative Theologie, aber nicht negative Theologie in dem Sinn, daß es Gott nicht gibt, sondern in dem Sinn, daß er nicht darzustellen ist.“

Die Feststellung, daß das dialektische Denken Adornos und Horkheimers wieder die Struktur des religiösen Denkens angenommen hat, ist nicht als Vorwurf oder Abwertung zu verstehen. Im Zusammenhang mit dem Dialog, der seit Jahren zwischen Marxisten und Christen stattfindet, haben gerade marxistische Denker das Christentum neu bewertet und auch seine positive Rolle ausdrücklich anerkannt In den Diskussionen ergab sich sogar oft eine gemeinsame Front von Marxisten und Christen gegen die sogenannten „Positivisten", da Marxisten und Christen Sinnfragen und ethischen Fragen große Bedeutung zumaßen, die von den Positivisten ignoriert wurden oder denen sie völlig hilfslos gegenüberstanden.

Nur wer Verständnis hat für die Fragen nach dem Sinn und Wert der menschlichen Existenz — und das Studium der Kritischen Theorie kann dieses Verständnis vergrößern —, vermag die ernsthaften Motive der Protestbewegung zu verstehen. Von mangelhaftem Verständnis zeugen dagegen die oft in vorwurfsvollem Ton vorgetragenen Fragen„Was wollen die denn eigentlich ändern? Haben sie nicht alles? Ist es uns jemals so gut gegangen?" Der selbstbewußte Hinweis auf das, was wir alles haben, geht gerade an den zentralen Motiven für die oppositionelle Haltung der Jugend vorbei, die sich nicht damit begnügt, etwas zu haben, sondern der es mehr oder weniger bewußt darum geht, etwas zu sein, dem Leben einen Sinn und Inhalt zu geben, der sich nicht im materiellen Haben erschöpft. Eine menschliche Gesellschaft ist unter diesem Gesichtspunkt mehr als eine Gesellschaft, deren gut funktionierender Produktions-und Verteilungsapparat allen materiellen Wohlstand garantiert, mehr als eine Gesellschaft, die sich vom gegenwärtigen Zustand nur auszeichnet durch die Abwesenheit von Krieg, politischer Unterdrückung und materiellem Elend

Diese über den materiellen Wohlstand und den äußeren Frieden hinausgehende schwierige Problematik eines sinnvollen Lebens ist wohl am besten zusammengefaßt in Emst Blochs Begriff der konkreten Utopie: „Vielmehr arbeitet und leuchtet in der konkreten Utopie auch die Rettung all jenes fort und fort uns betreffenden Überschusses in Kulturen, vorab ihren kunsthaften Allegorien, religionshaften Symbolen, der mit abgelaufener Ideologie nicht erschöpft ist. Ein alter Weiser sagte und klagte, der Mensch sei leichter zu erlösen als zu ernähren. Der kommende Sozialismus, gerade wenn alle Gäste sich an den Tisch gesetzt haben, sich setzen können, wird die herkömmliche Umkehrung dieses Paradoxes als besonders paradox und schwierig vor sich haben: der Mensch sei leichter zu ernähren als zu erlösen. Das heißt hier, mit sich und uns, mit dem Tod und mit dem durchaus roten Geheimnis, daß überhaupt eine Welt sei, ins reine zu kommen. Denn die währende Selbstentfremdung ist nicht nur eine in falscher Gesellschaft erzeugte und mit ihr als der einzigen Ursache verschwindende; es gibt zur Selbstentfremdung doch noch einen tieferliegenden Ursprung."

Obwohl diese Reflexionen Blochs mit ähnlichen Intentionen der Kritischen Theorie zu vergleichen sind, ist die positive Einschätzung religiösen Denkens und der Reflexion über Sinnfragen nur mit Vorbehalten auf das Denken von Adorno und Horkheimer anwendbar. Denn das Interview mit Horkheimer, das am 5. Januar 1970 im Spiegel veröffentlicht wurde, zeigt deutlich, daß sein Denken dem ausgesprochen konservativen religiösen Denken entspricht und er sogar ausdrücklich progressive Tendenzen in der Theologie verurteilt. Horkheimer und Adorno haben die Hoffnung, die der Marxismus aus dem Jenseits ins* Diesseits geholt hatte, wieder in einen jenseitigen Bereich verlegt, und das in einer Zeit, da progressive Christen die marxistische Religionskritik ernst nehmen und selbst das Jenseits radikal ins Diesseits holen Während der katholische Theologe Johann B. Metz Christentum als „Gesellschaftskritik" und als „geschichtliche Initiative" definiert und andere Theologen eine „Theologie der Revolution" konzipieren ist die Kritische Theorie zu einer Angelegenheit der reinen Kontemplation geworden, die keinen Bezug zur gesellschaftlichen Praxis mehr hat.

Diese Kritische Theorie hat genau die psychologischen Funktionen übernommen, die Marx einst der traditionellen Religion vorgeworfen hatte: sie ist Opium, zwar nicht des Volkes, so doch der resignierten Intellektuellen. Sie rechtfertigt den Verzicht auf gesellschaftsveränderndes Handeln, indem sie die Unabänderlichkeit des gesellschaftlichen Geschehens betont, zwar nicht mit dem Argument, es handle sich um ein gottgewolltes Geschehen, sondern vielmehr um ein Geschehen, das einer immanenten Logik unterliegt, die den „Spielraum für die freie Initiative immer geringer" werden läßt Diese Kritische Theorie kann — wie die traditionelle Religion — den Menschen helfen, das Unerträgliche mit innerer Gelassenheit zu ertragen, aber nicht, es zu beseitigen.

In der Kritischen Theorie ist die Kluft zwischen der repressiven und der emanzipierten Gesellschaft im diesseitigen Leben und Streben der Menschen so unüberbrückbar wie die Kluft zwischen dem Jammertal der Erde und dem diesseitigen Paradies. Diese Kluft ist — selbst denkend — nur zu überbrücken, wenn sich die dialektische mit der positivistischen Wissenschaftskonzeption zu einer Synthese verbindet. In dieser Synthese kann das positivistische Denken, das sich mit dem Bestehenden befaßt, zu einem Instrument werden, welches das Noch-nicht-Bestehende, das die Dialektik antizipiert, zu einem Bestehenden macht. Nur mit Hilfe dieser Synthese ist die Einheit von Theorie und Praxis zu verwirklichen, sind aus der Theorie Handlungsanweisungen abzuleiten, die die emanzipatorischen Ziele praktisch verwirklichen helfen.

Wissenschaftliche Theorie der Emanzipation

Erst die aus der Synthese beider Richtungen hervorgehende neue Wissenschaftskonzeption vermag eine wissenschaftliche Theorie der Emanzipation zu entwickeln, ohne die es unmöglich ist, die Wissenschaft systematisch in den Dienst einer emanzipatorischen politischen Praxis zu stellen. Obwohl die komplizierte Problematik einer solchen wissenschaftlichen Theorie der Emanzipation hier nicht darzustellen ist, sei wenigstens in Stichworten angedeutet, welche Problemkreise dabei eine Rolle spielen: 1. Eine wissenschaftliche Anthropologie, aus der abzuleiten für die ständige Maßstäbe sind Kritik an der bestehenden Gesellschaft und für den Entwurf von Gesellschaftsmodellen, in denen die Menschen größere Chancen haben, sich frei zu entfalten und ihr eigenes schöpferisches Wesen zu verwirklichen. 2. Eine Theorie des gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses, seiner Gesetzmäßigkeiten, Sachzwänge und unterschiedlichen Entwicklungstendenzen. 3. Der Entwurf von konkreten kurzfristigen, mittelfristigen und langfristigen Zielvorstellungen im Zusammenhang mit den humanistischen Werten der Anthropologie und den objektiven Entwicklungsmöglichkeiten der bestehenden Gesellschaft. 4. Aussagen über die Methoden, Mittel und Institutionen, mit denen bestimmte soziale und politische Gruppen die emanzipatorischen Ziele verwirklichen können.

Der wissenschaftliche Charakter einer solchen Gesamtkonzeption für die Veränderung der Gesellschaft wäre nicht darin zu sehen, daß ihre Aussagen akzeptiert werden müssen und nicht kritisiert werden dürfen, weil sie wissenschaftlich sind. Im Gegenteil: Wenn die Theorie der Emanzipation wissenschaftlich sein soll, muß sie so aufgebaut und formuliert sein, daß sie ständig im Zusammenhang mit neuen Erkenntnissen und neuen praktischen Entwicklungen korrigiert und weiterentwickelt werden kann.

Gegenwärtig gibt es zahlreiche, mehr oder weniger systematisch ausgearbeitete gesellschaftspolitische Gesamtkonzeptionen, die aber vorwiegend aus philosophischen, religiösen und weltanschaulichen Quellen gespeist werden und trotz des wissenschaftlichen Anspruchs, den manche erheben, nur unzulänglich die wissenschaftlichen Methoden in sich ausgenommen haben. Dieser mangelnde Einfluß der wissenschaftlichen Methoden ist die Ursache dafür, daß es sich bei den in Ost und West vorherrschenden gesellschaftspolitischen Theorien mehr um Weltanschauungen oder Glaubens-richtungen und Ideologien handelt, zu denen man sich bekehren kann oder von denen man abfallen kann, die aber kaum mit wissenschaftlichen Methoden zu kritisieren und weiterzuentwickeln sind. Der Einfluß der Wissenschaft auf diese Ideologien wird allerdings aus zwei Gründen erschwert: Einerseits ist es die Unzulänglichkeit der Wissenschaft selbst, andererseits sind es die Interessen privilegierter sozialer und politischer Gruppen, die den Einfluß der Wissenschaft auf die gesellschaftspolitischen Vorstellungen und Konzeptionen erschweren.

Eine wissenschaftliche Theorie der Emanzipation verhält sich zu den vorhandenen gesellschaftspolitischen Gesamtkonzeptionen, Theorien und Ideologien wie das Weltbild der modernen Naturwissenschaften zu den zahlreichen spekulativen Kosmologien der Religion und Philosophie. Diese spekulativen Kosmologien haben gewiß die exakten Naturwissenschaften angeregt und waren deren Vorläufer. Die durch dialektische Reflexion und Spekulation gewonnenen Gesellschaftstheorien könnten für die Sozialwissenschaften eine ähnliche inspirierende Rolle spielen, wenn sie nicht mehr als Glaubensbekenntnisse aufgefaßt würden, sondern als Arbeitshypothesen, die durch wissenschaftliche Erkenntnisse korrigiert, modifiziert und weiterentwickelt werden müssen. Angesichts der Pluralität von konkurrierenden und inhaltlich unterschiedlichen Gesellschaftstheorien wäre es aber nicht die Aufgabe der Wissenschaft, die eine zu beweisen und die anderen als falsch zu widerlegen, sondern alle als die Wissenschaft anregende Hypothesen zu verwerten und mit Hilfe der wissenschaftlichen Kritik die kritische Weiterentwicklung und Konvergenz der verschiedenen Gesamtkonzeptionen zu fördern, so daß allmählich — analog zum wissenschaftlichen Weltbild der Naturwissenschaften — so etwas wie ein wissenschaftliches Gesellschaftsbild der Sozialwissenschaften entsteht.

Karl Marx war bisher der bedeutendste Denker, der die Entwicklung der Gesellschaft zum Gegenstand seines Erkennens machte und dabei nicht nur geniale Arbeitshypothesen formulierte, sondern sich auch bemühte, Methoden für das wissenschaftliche Erkennen der Gesellschaft zu entwickeln. Aber „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft", die Friedrich Engels schon vor hundert Jahren für vollendet hielt, hat heute kaum begonnen und wird durch Dogmatismus und Orthodoxie verzögert. Infolge der fehlenden oder unzureichenden Verbindung mit der Wissenschaft befinden sich die Gesellschaftstheorien der Gegenwart auf einer Entwicklungsstufe, die — etwas überspitzt ausgedrückt — etwa der Atomtheorie Demokrits auf dem Gebiet der Natur entspricht. So wie keine moderne Atomphysik entstanden wäre, wenn die am Erkennen der Materie interessierten Wissenschaftler sich damit begnügt hätten, immer wieder nur Demokrits Atom-theorie zu interpretieren und darüber zu streiten, wer sie wohl richtig auslegt, so wird die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft nicht vorankommen, wenn diejenigen, die die Gesellschaft verändern wollen, nur Marx verschieden interpretieren. Eine wissenschaftliche Theorie der Emanzipation ist nur durch die gemeinsamen Bemühungen der verschiedenen Richtungen der Sozial-wissenschaften in enger Verbindung mit unterschiedlichen konkreten emanzipatorischen Bewegungen und Tendenzen zu entwickeln.

Um die vorhandenen Gesellschaftstheorien mit Hilfe wissenschaftlicher Methoden weiterzuentwickeln, ist es notwendig, ihre allgemeinen Fragenstellungen und Hypothesen so in speziellere Fragestellungen und Hypothesen aufzugliedern, daß sie zum Gegenstand empirischer Forschung werden können, deren Ergebnisse die ständige Korrektur der allgemeinen Theorie erlauben. Die Aufgliederung der allgemeinen in spezielle Fragestellungen ist auch erforderlich, um handlungsorientierende Erkenntnisse zu gewinnen und die Unzulänglichkeiten zu beheben, die die Praxis-Modelle der Dialektiker und der Positivisten für eine emanzipatorische Praxis unbrauchbar machen. Zu jedem Praxis-Modell gehören zwei Ele-mente: Erstens die Zielvorstellungen und zweitens die Mittel und Methoden, mit denen die Ziele zu verwirklichen sind. Aus der vorherrschenden kritisch-dialektischen Wissenschaftskonzeption ergibt sich ein revolutionäres Praxis-Modell, das als Ziel die emanzipierte Gesellschaft nennt, das aber nicht praktikabel ist, weil es nicht zu sagen vermag, auf welchem Wege und mit welchen Mitteln und Methoden das proklamierte Ziel zu verwirklichen ist. Die positivistischen Ansätze dagegen führen zu einem evolutionären Praxis-Modell, das zwar praktikabel ist, aber nicht die qualitative Veränderung der Gesellschaft als Ziel anerkennt. Denn die Positivisten interessieren sich einseitig für Mittel und Methoden, mit denen von anderen, eben von Politikern, formulierte Ziele zu erreichen sind, während nach ihrer Auffassung die Wissenschaft nichts über Ziele auszusagen vermag. Die Dialektiker dagegen interessieren sich einseitig für Zwecke und Ziele, aber zu wenig für Mittel und Methoden, mit denen die emanzipatorischen Ziele, die aus der dialektischen Reflexion gewonnen werden, zu verwirklichen sind.

Zu Recht werfen die Dialektiker den Positivisten einen Dezisionismus der Zwecke vor, das heißt, die Positivisten können sich nur durch einen willkürlichen, irrationalen Akt der Entscheidung für bestimmte Ziele und Zwecke aussprechen, können die Wahl dieser Zwecke aber nicht wissenschaftlich begründen. Die Dialektiker dagegen, die sich bemühen, Zielvorstellungen wissenschaftlich zu begründen, sind nicht in der Lage, die Wahl bestimmter Mittel und Methoden für die Verwirklichung der Ziele wissenschaftlich zu begründen. Das heißt aber, der Dezisionismus der Zwecke, den sie den Positivisten vorwerfen, wird bei ihnen selbst zu einem Dezisionismus der Mittel und Methoden. Ein Anhänger der Kritischen Theorie, der handeln will, muß sich für bestimmte Methoden des Handelns in einem irrationalen Willensakt entscheiden, was natürlich ein aktionistisches Verhalten fördert. Der Irrationalismus der Ziele, den die Dialektiker den Positivisten vorwerfen, wird bei ihnen zu einem Irrationalismus der Mittel und Methoden, das heißt zu einem Handeln, das rational nicht zu begründen und auch nicht zu kritisieren ist. Die Dialektiker, die den Begriff der Zweck-Mittel-Rationalität als positivistisch ablehnen und stolz darauf sind, daß sie nicht zweckrational, sondern emanzipatorisch handeln wollen, vergessen, daß nur zweckrationales Handeln emanzipatorisch sein kann.

Die Kritische Theorie kann nicht zu einer emanzipatorischen Praxis anleiten, weil die Begriffe „repressiv" und „emanzipiert" Totalitätsbegriffe sind. Der Begriff repressiv, unterdrückend, bezeichnet das Ganze und die alles bestimmenden Prinzipien der bestehenden Gesellschaft, der als das radikal Andere die emanzipierte Gesellschaft gegenübersteht.

Die Alternative zur Kritischen Theorie ist ein Praxis-Modell, das zwar das Ziel einer emanzipierten Gesellschaft beibehält, aber die Begriffe repressiv und emanzipiert nicht mehr als Totalitätsbegriffe verwendet, die den Unterschied zwischen der gegenwärtigen und der zukünftigen Gesellschaft bezeichnen, sondern als Begriffe, die Unterschiede in der bestehenden Gesellschaft bezeichnen. Diese Anwendung der Begriffe repressiv und emanzipativ auf Einzelphänomene der bestehenden Gesellschaft geht davon aus, daß in dieser Gesellschaft nebeneinander, miteinander verflochten und miteinander ständig um Einfluß ringend, sowohl emanzipative als auch repressive Faktoren zu finden sind. Mit anderen Worten:

Schon in der bestehenden Gesellschaft gibt es Einrichtungen, Organisationen, Ideen, Personen, Tendenzen, die die freie Entfaltung und Selbstverwirklichung der Menschen fördern, während andere diese freie Entfaltung und Selbstverwirklichung verhindern, also repressiv sind. Repressiv wirkt also nicht die Gesamtgesellschaft als solche, sondern einzelne, erkennbare Phänomene.

Nur wenn die Begriffe repressiv und emanzipativ zur Unterscheidung von Einzelphänomenen und Entwicklungsmöglichkeiten der bestehenden Gesellschaft angewandt werden, können für eine emanzipatorische Praxis konkrete kurzfristige, mittelfristige und langfristige Ziele formuliert werden und gleichzeitig die Mittel und Methoden erkannt werden, mit denen diese Ziele zu verwirklichen sind. Ausgangspunkt für die ständige wissenschaftliche Diskussion über konkrete kurz-, mittel-und langfristige Ziele ist die Frage, in welchen Bereichen der Gesellschaft mit welchen Methoden und Mitteln die vorhandenen emanzipativen Tendenzen zu stärken sind und der Einfluß repressiver Tendenzen einzuschränken ist, das heißt, wie die Chancen für die freie Entfaltung und Selbstverwirklichung der Menschen ständig zu verbessern sind. Dieses Verfahren ermöglicht es, konkrete Zielvorstellungen mit Hilfe der Wissenschaft zu formulieren, was die Positivisten ablehnen, und gleichzeitig mit den wissenschaftlichen Methoden der Positivisten die Mittel und Me-thoden für die Verwirklichung dieser Ziele zu erkennen, wozu die traditionellen Dialektiker unfähig sind.

Die Synthese von dialektischer und positivistischer Wissenschaftskonzeption führt auch auf dem Gebiet der politischen Konzeptionen zu einer Synthese, die den Gegensatz von Revolution und Evolution aufhebt, indem diese Konzeption einerseits revolutionär ist in bezug auf das Ziel, die Gesellschaft durch Abbau von Herrschaftsstrukturen qualitativ zu verändern, andererseits aber auch evolutionär in bezug auf die Methoden und Mittel, mit denen das revolutionäre Ziel einer emanzipierten Gesellschaft zu verwirklichen ist.

Die evolutionäre Methode für die qualitative Veränderung der Gesellschaft geht aus von den unterschiedlichen Entwicklungsmöglichkeiten, die in jeder Gesellschaft zu finden sind, die aber von der Kritischen Theorie nicht wahrzunehmen sind, weil sie dogmatisch erstarrt ist. Die Kritische Theorie betont gerade, daß offensichtliche Unterschiede nur die Funktion haben, den wahren, repressiven Charakter des gesamten Systems zu verschleiern, daß es sich also gar nicht um wirkliche Unterschiede handelt. Wer in den Begriffen der traditionellen Kritischen Theorie denkt, kann keinen Unterschied feststellen zwischen Stalin und Chruschtschow, Johnson und Kennedy, Pius XII. und Johannes XXIII., Novotny und Dubcek, da sie ja alle ohne Unterschied Produkte der repressiven Gesellschaft sind. Aber gerade solche Unterschiede, denen natürlich Unterschiede in Institutionen, Methoden, Ideen etc. entsprechen, sind die Hoffnung für die Menschheit, die Katastrophe zu vermeiden und fortzuschreiten in Richtung einer menschlichen Gesellschaft.

Die Kritik, die Jean-Paul Sartre gegen den Dogmatismus des stalinistischen Marxismus formulierte, trifft auch den Dogmatismus der Kritischen Theorie, der es unmöglich macht, spezifische Unterschiede und Besonderheiten wahrzunehmen. Sartre wirft dem Dogmatismus eine „Scholastik der Totalität" vor, die zu einem Verfahren geworden ist, „die Besonderheit zu liquidieren" Denken heißt in diesem Falle „totalisieren wollen und unter diesem Vorwand das Eigentümliche durch Allgemeines ersetzen" Die Begriffe dieses Marxismus bezeichnet er als „Diktate; es ist nicht mehr sein Ziel, Erkennntis zu erlangen, sondern er will sich a priori als absolutes Wissen konstituieren" Die Methode des dogmatischen Marxismus geht apriorisch vor: „Sie entnimmt ihre Begriffe nicht der Erfahrung oder zumindest nicht der neuen Erfahrung, die sie zu enträtseln sucht; sie hat ihre Begriffe im voraus schon gebildet, sie ist deren Wahrheit schon sicher, sie weist ihnen die Funktion konstitutiver Schemata zu: es ist ihr einziges Ziel, die betrachteten Ereignisse, Menschen und Tatsachen in vorfabrizierte Denkformen zu pressen."

Diese Kritik Sartres am Marxismus richtet sich allerdings nicht gegen Marx selbst. Im Gegenteil: Der Dogmatismus, der im stalinistischen Marxismus und in der Kritischen Theorie festzustellen ist, wurde schon von Karl Marx selbst kritisiert, als er Hegel vorwarf, daß er „überall die Idee zum Subjekt macht und das eigentliche, wirkliche Subjekt . . . zum Prädikat" Marx wirft Hegel die Hypostasierung der Idee vor, was ihn daran hindere, die Gesellschaft und den Staat so zu sehen, wie sie tatsächlich sind. „Er (Hegel) entwickelt sein Denken nicht aus dem Gegenstand, sondern den Gegenstand nach einem mit sich fertig und in der abstrakten Sphäre der Logik mit sich fertig gewordenen Denken." Der Dogmatismus aller Weltanschauungen ignoriert die tatsächliche Entwicklung der Gesellschaft und leitet die Deutung dieser Gesellschaft deduktiv aus seinen theoretischen Begriffen ab.

Die Wissenschaftskonzeption, die die Vorzüge der dialektischen und der positivistischen Konzeption vereinigen und ihre Unzulänglichkeiten ausschalten soll, wird nicht zu einer Position führen, die weniger kritisch ist als die der Kritischen Theorie. Im Gegenteil, sie wird den Bereich der Kritik nicht einschränken, sondern erweitern. Sie hält einerseits am Anspruch der Kritischen Theorie fest, ihren Forschungsgegenstand, die Gesellschaft, nicht nur zu erkennen, sondern ihn auch zu kritisieren. Darüber hinaus bezieht sie den kritischen Anspruch aber auch auf den Erkenntnisprozeß selbst Denn wer mit Hilfe der Wissenschaft die Gesellschaft progressiv verändern will, braucht eine Wissenschaftskonzeption, die in der Lage ist, sowohl ihren Erkenntnisgegenstand, also die Gesellschaft, zu kritisieren, als auch die Voraussetzungen, Methoden und Ergebnisse des eigenen Erkenntnisprozesses kritisch in Frage zu stellen und zu überprüfen. Eine Wissenschaft, die die Gesellschaft nicht zu kritisieren vermag, wird sich an die bestehende Gesellschaft anpassen, und eine Wissenschaft, die ihre eigenen Ergebnisse und Begriffe nicht kritisch überprüfen kann, wird in Dogmatismus erstarren. In beiden Fällen übt dann die Wissenschaft eine konservative Funktion aus.

Die These, daß die Kritische Theorie keine Beziehung zur Praxis besitzt und ihr Dogmatismus eine konservative Funktion ausübt, bedeutet übrigens nicht, daß die Protestbewegung völlig wirkungslos geblieben ist. Im Gegenteil: Keine politische Bewegung in der Bundesrepublik hat so starke Wirkungen ausgeübt und auch Veränderungen eingeleitet. Allerdings besteht eine paradoxe Situation: Die Protestbewegung hat nicht erreicht, was sie erreichen wollte, aber sie hat Ergebnisse erzielt, die sie gar nicht erzielen wollte. Vor allem aber: Die Veränderungen und die Reformen, die ohne die Protestbewegung nicht durchgeführt würden, werden von anderen geplant und ausgeführt, nicht von den Trägern der Protestbewegung. Sie beeinflussen kaum den Inhalt und die weitere Richtung der Reformbestrebungen auf zahlreichen Gebieten, zu denen sie den Anstoß gegeben haben. Es läge durchaus im Interesse einer konsequenten Reformpolitik, wenn die Träger der Protestbewegung aktiv und kritisch bei der inhaltlichen Planung und Ausführung weiterer Reformen mitarbeiteten. Das ist aber nur möglich, wenn sie sich von den dogmatischen Denkschablonen der Kritischen Theorie lösen, die die Möglichkeiten für eine emanzipatorische Praxis verhüllen.

Unter diesem Gesichtspunkt ist es eine konkrete Aufgabe einer neuen Wissenschaftskonzeption, auf die Problematik des Pluralismus eine neue Antwort zu geben und nachzuweisen, daß sowohl die herrschende Pluralismus-konzeption als auch die Pluralismuskritik der Kritischen Theorie unzulänglich sind, weil beide Positionen mit ihren Begriffen den Bereich des Politischen nicht zu erfassen vermögen, also den Bereich, in dem gesellschaftsverändernde Praxis stattfinden kann. Den politischen Bereich als den Ort zielbewußter Praxis wieder bewußt zu machen heißt auch, der jungen Generation, die an gesellschaftlichen Veränderungen interessiert ist, Institutionen und Methoden zu zeigen, mit deren Hilfe sie den gesellschaftlichen Wandel in Übereinstimmung mit ihren Interessen und Zielen bewußt beeinflussen kann.

Pluralismus und Gemeinwohl

Die Neue Linke lehnt den Pluralismus als empirischen Begriff ab, also als Begriff zur Charakterisierung des tatsächlichen Zustandes der Gesellschaft, weil er die Gesellschaft nicht so beschreibt, wie sie tatsächlich ist, sondern ihren Herrschaftscharakter verschleiert. Dieser empirische Begriff des Pluralismus hat daher die ideologische Funktion, im Interesse der Herrschenden die bestehende Gesellschaft zu rechtfertigen, indem er ein falsches, beschönigendes Bild von der Konkurrenz gleichberechtigter Gruppen entwirft. Andererseits lehnen zahlreiche Vertreter der Neuen Linken auch den Pluralismus als normativen Begriff ab. Sie halten es nicht für möglich, die integrierte Herrschaftsordnung unter Berufung auf das ideale, normative Modell einer pluralistischen Gesellschaft zu kritisieren und die Probleme der bestehenden Gesellschaft durch die konsequente Anwendung pluralistischer Normen zu lösen.

Robert Paul Wolff, Philosophieprofessor an der Columbia Universität in New York, hat die Kritik der Neuen Linken am Pluralismus übersichtlich und klar zusammengefaßt in dem mit Herbert Marcuse und Barrington Moore herausgegebenen Buch: „Kritik der reinen Toleranz" In seinem Beitrag „Jenseits der Toleranz" stellt Wolff die Entwicklung der wichtigsten Pluralismus-Begriffe dar, wobei er den zunächst fortschrittlichen Charakter des Pluralismus gegenüber dem individualistischen Liberalismus ausdrücklich anerkennt: „Der Pluralismus ist menschlich wohlwollend, freundlich und zeigt weit mehr Verständnis für die Übel der gesellschaftlichen Ungerechtigkeit als der egoistische Liberalismus oder* der traditionalistische Konservativismus, aus dem er hervorging." Doch die Zeit des Pluralismus, „die höchste Stufe der politischen Entwicklung des Industriekapitalismus", hält er für abgelaufen, weil er nicht geeignet ist, die Probleme der Gegenwart und der Zukunft, die vor allem Probleme des Gemeinwohls sind, zu lösen.

Als Alternative zum historisch überholten Pluralismus weist er auf den Sozialismus hin, der geeignet scheint, diese Probleme zu lösen: „Denn der Sozialismus konzentriert sich sowohl in seiner Diagnose der Übel des industriellen Kapitalismus als auch in den von ihm vorgeschlagenen Heilmitteln auf die Struktur der Ökonomie und Gesellschaft als eines Ganzen und trägt seine Programme im Namen des Gemeinwohls vor. Der Pluralismus erkennt sowohl als Theorie wie als Praxis die Möglichkeit einer umfassenden Reorganisation der Gesellschaft einfach nicht an. Indem er sich auf die Gruppennatur der Gesellschaft versteift, leugnet er das Bestehen gesamtgesellschaftlicher Interessen — ausgenommen das rein verfahrensmäßige Interesse, das System der Gruppenzwänge zu erhalten — und die Möglichkeit einer gemeinschaftlichen Aktion im Verfolg des Wohls der Allgemeinheit." Aus diesem Grunde hält Wolff den Pluralismus für „blind gegenüber den Übeln, die das gesamte Gemeinwesen heimsuchen, und als Gesellschaftstheorie vereitelt er die Erwägung eben jener Arten durchgreifender gesellschaftlicher Überprüfung, deren es vielleicht bedarf, um jene Übel zu beheben"

Um zu prüfen, ob Wolffs These, daß der Pluralismus die Probleme des Gemeinwohls nicht zu lösen vermag, sachlich begründet ist, soll hier noch ein Theoretiker des Pluralismus untersucht werden, der gerade unter Berufung auf den normativen Begriff des Pluralismus die bestehenden politischen Verhältnisse kritisiert und sich bemüht, das Problem des Gemeinwohls im Rahmen einer pluralistischen Konzeption zu lösen. Ernst Fraenkel spricht von einem unterentwickelten Pluralismus in der Bundesrepublik und nennt es einen Strukturfehler der Demokratie, wenn „mangels Vorliegens einer ausreichend intensiven und konkreten, d. h. aber in Einzelheiten notwendigerweise differenzierten politischen Willensbetätigung breiter Bevölkerungsschichten der gesellschaftliche Pluralismus in einer monokratisch organisierten, zwar präzis funktionierenden, aber leerlaufenden Staatsmaschine erstarrt" Fraenkel ist der Auffassung, daß etwaige auflösende Tendenzen des Pluralismus, auf die die Kritik von rechts immer hinweist — z. B. Erhards Ideologie der Formierten Gesellschaft —, weniger akut sind als die Gefahren, „die aus einer Erschlaffung des am konkreten sozialen Erlebnis ausgerichteten politischen Bewußtseins und aus einer Erlahmung des auf die konkrete Gestaltung sozialer Aufgaben hinzielenden politischen Willens erwachsen können. Sie sind nicht minder geeignet, zu einer Selbstaufhebung der Demokratie zu führen."

Gerade diese „Erlahmung des auf die konkrete Gestaltung sozialer Aufgaben hinzielenden politischen Willens" — anders ausgedrückt die Vernachlässigung von Gemeinschaftsaufgaben — ist nach Auffassung von Wolff eine Folge des Pluralismus, der „die Gesellschaft mehr als ein Aggregat aus menschlichen Gemeinschaften schildert denn als ein Gebilde, das selbst eine Gemeinschaft ist; dementsprechend läßt er auch ein Interesse am Wohl der Allgemeinheit nicht zu, indem er eine Politik des Drucks von Interessengruppen begünstigt, bei der es keinen Mechanismus gibt, das Gemeinwohl zu entdecken und auszusprechen" Wolff ist überzeugt, daß das Problem des All-gemeinwohls nur zu lösen ist, wenn es einen Weg gibt, „auf dem sich aus der ganzen Gesellschaft eine wirkliche Gruppe mit einem Gruppenziel und einer Konzeption des Gemeinwohls herstellen läßt"

Da Wolff nicht anzugeben vermag, auf welchem Wege aus der ganzen Gesellschaft diese „eine wirkliche Gruppe mit einem Gruppenziel und einer Konzeption des Gemeinwohls" hergestellt werden kann, ist Fraenkels Warnung ernst zu nehmen, daß die Idee eines a priori feststehenden Gemeinwohls, das gegen den Widerstand partikularer Gruppeninteressen durchgesetzt werden muß, zur Idee einer Erziehungsdiktatur überleiten kann. Da das Gemeinwohl „keine soziale Realität" ist, „sondern eine regulative Idee" will Fraenkel die Spannung zwischen Gemeinwohl und partikularen Gruppeninteressen, die er durchaus sieht, mittels freier und offener Auseinandersetzung aufheben, nicht durch Abschaffung der Gruppenautonomie. Das Kernproblem westlicher Demokratien sieht er deshalb darin, „dem Gemeinwohl zu dienen, ohne die autonome Repräsentation der Interessen zu unterdrücken" Den Ausgleich zwischen Gemeinwohl und autonomen Interessengruppen hält er dann für möglich, „wenn sie in der Theorie das Prinzip erfassen und in der Praxis betätigen, daß ihrer Betätigung immanente Schranken gesetzt sind, die sich aus der Notwendigkeit ergeben, die Gebote des Gemeinwohls zu beobachten"

Ernst Fraenkel begründet seine Hoffnung, daß die von ihm dargestellten Strukturdefekte der Demokratie im Rahmen des Pluralismus geheilt werden können, vor allem mit dem Vertrauen auf die Überzeugungskraft der regulativen Idee des Gemeinwohls und des Natur-rechts: „Die westlichen Demokratien lehnen es ab, die Träger kollektiver Interessen gleichzuschalten oder auszuschalten, weil sie darauf vertrauen, daß das Gemeinwohl nicht trotz der Betätigung, sondern geradezu dank der Mitwirkung von Interessenverbänden zustande zu kommen vermag. Dieses Vertrauen ist auf die Annahme gestützt, daß auch in der Gegenwart die regulative Idee des Gemeinwohls genügend Überzeugungskraft besitzt, um eine Atomisierung der pluralistischen Gesellschaft zu verhindern."

In den Parteien sieht Fraenkel die Institutionen, durch die die Interessengruppen in den Prozeß der politischen Willensbildung einzugliedern sind und am Zustandekommen des Gemeinwohls mitwirken können. „Indem die Parteien sich bemühen, die widerstreitenden Interessen der Gruppen auszugleichen und zwischen ihnen einen Kompromiß zustande zu bringen, betätigen sie sich als soziale und politische Katalysatoren. Die Funktion, sich als Mittler zwischen den widerstreitenden Gruppeninteressen zu betätigen, können die Parteien aber nur dann wirksam ausüben, wenn in ihnen eine regulative Idee wirksam ist. Die Parteien mediatisieren nicht einen fiktiven Gemeinwillen, sondern sie integrieren die gestreuten Gruppenwillen, sie wirken dadurch bei der Bildung des Volks-und Staatswillens mit, daß sie sich in den Dienst der Aufgabe stellen, das Gemeinwohl im Wege eines dialektischen Prozesses zu verwirklichen."

Die Argumente, die Fraenkel für die Wirksamkeit der regulativen Idee des Gemeinwohls vorträgt, bleiben ziemlich allgemein und daher wenig überzeugend. Seine Zuversicht, „daß es möglich ist, in einer pluralistischen Gesellschaft autonom einen Staatswillen zu bilden, der den Geboten des Gemeinwohls Rechnung trägt" begründet er nicht anhand einer Analyse der Gesellschaft, sondern mit moralischen Kategorien. Die angemessene Berücksichtigung des Gemeinwohls hält er dann für möglich, „wenn man gegenüber den Fakten des sozialen Lebens nicht blind und gegenüber den Geboten der sozialen Ethik nicht taub ist" Da er aber nicht untersucht, unter welchen sozialen und geistigen Voraussetzungen „man gegenüber den Geboten der sozialen Ethik nicht taub ist", können politische Fehlentwicklungen nur als moralisches Versagen aufgefaßt werden. Die Voraussetzungen einer pluralistischen Gesellschaft sind im Grunde moralischer Natur, nämlich die „Übereinstimmung über die verpflichtende Kraft eines als gültig anerkannten Wertkodex" Für eine westliche Demokratie ist daher neben der Existenz von Interessengruppen „die Geltung eines Naturrechts gleich unentbehrlich. . . Der pluralistische Staat ist ein moralisches Experiment, das jeden Tag von neuem gewagt werden muß." Fraenkel glaubt, daß diese Pluralismuskonzeption nur in Frage stellen kann, „wer die Geltung eines jeden Natur-rechts verneint, nur wer die motivierende Kraft naturrechtlicher Vorstellungen radikal bezweifelt . . ."

Im Zusammenhang mit einer Analyse des praktizierten Pluralismus in der Bundesrepublik ist dagegen zu zeigen, daß auch der normative Pluralismus-Begriff Fraenkels nicht geeignet ist, die Ursachen der von ihm selbst festgestellten Strukturdefekte zu erklären und sie zu heilen. Im Gegenteil, seine theoretische Konzeption begünstigt sogar in der Praxis die Erscheinüngen, die er kritisiert.

Die konservative Funktion der materiellen Gruppeninteressen

Da man in den fünfziger und den frühen sechziger Jahren unter dem ideologischen Schlagwort der „Entideologisierung" auf Auseinandersetzungen über gesamtgesellschaftliche Konzeptionen und politische Alternativen zunehmend verzichtete, löste sich der geistige und politische Pluralismus weitgehend in einem emotional-politischen Konformismus auf. Was vom Pluralismus noch übrigblieb und trotz des emotional-politischen Konformismus anerkannt und sogar übersteigert wurde, ist ein rein gruppenegoistischer Interessenpluralismus, das heißt eine Pluralität von sozialen und beruflichen Gruppen, deren Interessenverbände das Ziel verfolgen, durch Druck auf die politischen Instanzen der eigenen Gruppe einen möglichst hohen Anteil am Sozialprodukt zu sichern. Indem der Pluralismus auf einen rein materiellen Interessenpluralismus reduziert wurde, ging seine ursprünglich progressive, die Diskussion und die politische Dynamik fördernde Funktion verloren. Die Erfahrung hat gezeigt, daß ein politisches Denken, das von den aktuellen materiellen Interessen einer bestimmten sozialen Gruppe ausgeht, notwendigerweise einen konservativen Charakter annimmt.

Der aktuelle materielle Interessenpluralismus wirkt notwendigerweise entpolitisierend und konservativ, weil jede Interessengruppe die politische und soziale Wirklichkeit nur unter dem Gesichtspunkt betrachtet, wie sie die bestehenden Mechanismen, Institutionen, Machtstrukturen usw. am geschicktesten ausnutzen kann, um den eigenen Anteil am Sozialprodukt zu erhöhen. Interessengruppen haben notwendigerweise ein Interesse, sich des Bestehenden geschickt zu bedienen und davon zu profitieren, nicht aber, es zu verändern. Vom Bestehenden profitieren kann vor allem, wer sich geschickt an das Bestehende anpaßt.

Das Naturrecht und die regulative Idee des Gemeinwohls vermögen die entpolitisierende und konservative Wirkung der aktuellen materiellen Gruppeninteressen nicht aufzuheben.

Wenn auch Fraenkel meint, daß sich die Parteien „in den Dienst der Aufgabe stellen, das Gemeinwohl im Wege eines dialektischen Prozesses zu verwirklichen", so bleiben doch die aktuellen materiellen Gruppeninteressen der entscheidende Faktor bei der empirischen Ermittlung des Gemeinwohls. Denn die Parteien lösen ihre Aufgabe, indem sie die gestreuten Gruppenwillen integrieren und zwischen widerstreitenden Interessen Kompromisse vermitteln. Sie integrieren also nur etwas, was schon vorhanden ist, nämlich die automatisch vorgegebenen materiellen Interessen, ohne daß diese Integration zu einer neuen Qualität politischer Zielvorstellungen führt, die auf die Gesamtgesellschaft bezogen sind.

Der herrschende Pluralismus ist — wie die Kritische Theorie — nicht in der Lage, die Politik als den Bereich zu erfassen, in dem die Möglichkeit besteht oder geschaffen werden kann, die Gesellschaft bewußt im Interesse der freien Entfaltung der Menschen zu verändern. Denn im herrschenden Pluralismus ist der Bereich der Politik weitgehend reduziert auf die Aufgabe, den Pluralismus materieller Interessen zu ordnen und dafür zu sorgen, daß die materiellen Forderungen der Gruppen auch weiterhin zu befriedigen sind. Zu diesem Zweck ist es eine anerkannte Aufgabe der Politik, wirtschaftliches Wachstum und Vollbeschäftigung sicherzustellen und allenfalls eine ausgleichende Gerechtigkeit zu üben, das heißt zu verhindern, daß eine Gruppe zu viel erhält, eine andere zu wenig.

Der herrschende Pluralismus ist an das Bestehende und an den Bereich der Notwendigkeit gebunden, in dem der Mensch nicht frei wählen kann zwischen unterschiedlichen Möglichkeiten und selbst gesetzten Zwecken. Denn die aktuellen materiellen Interessen gehören insofern zum Bereich der Notwendigkeit, als dieses Interesse automatisch darin besteht, möglichst schnell möglichst viel zu haben. Im Bereich der Politik, den der Pluralismus nicht zu erfassen vermag, hat der Mensch dagegen potentiell die Freiheit, zwischen unterschiedlichen Zielsetzungen zu wählen, nicht nur Bestehendes zu verwalten und zu reproduzieren, sondern Neues zu schaffen, gesamtgesellschaftliche Reformkonzeptionen zu entwickeln, um die Gesellschaft so zu verändern, daß der Mensch seine schöpferischen Anlagen besser entfalten kann.

Wenn der herrschende Pluralismus nicht in der Lage ist, die Probleme einer konsequenten Gesellschaftsreform zu lösen, ist dann die Schlußfolgerung zu akzeptieren, die Robert Paul Wolff für Amerika gezogen hat? „Heute jedoch steht Amerika vor neuen Problemen, vor Problemen nicht der ausgleichenden Gerechtigkeit, sondern des Gemeinwohls. Wir müssen das Bild von der Gesellschaft als eines Schlachtfeldes konkurrierender Gruppen aufgeben und ein Ideal der Gesellschaft formulieren, das höher steht als das bloße Gelten-Lassen entgegengesetzter Interessen und vielfältiger Sitten. Es bedarf einer neuen Philosophie des Gemeinwesens jenseits von Pluralismus und jenseits von Toleranz."

Da die Formulierung „jenseits von Pluralismus und jenseits von Toleranz" keine klaren Maßstäbe für eine emanzipatorische Praxis liefert und sogar die Gefahr in sich birgt, auch ein Gemeinwesen „ohne Pluralismus und ohne Toleranz" zu rechtfertigen, kann sie nicht als letztes Wort einer Gesellschaftstheorie hingenommen werden, die die Emanzipation aller Menschen zum Ziel hat. Wolff und andere Kritiker des Pluralismus haben den Fehler begangen, aus den Unzulänglichkeiten des herrschenden Pluralismus — auch des normativen Pluralismus und des Verständnisses von Toleranz — die Schlußfolgerung zu ziehen, die Prinzipien des Pluralismus und der Toleranz seien überhaupt zu verwerfen. Sie haben dabei aber nicht bedacht, welche Konsequenzen es für die Struktur einer Gesellschaft hat, in der die Prinzipien des Pluralismus und der Toleranz abgelehnt werden.

Das Prinzip des Pluralismus bezieht sich einerseits auf die Pluralität von Gruppen, Organisationen, Institutionen, die nebeneinander bestehen und nicht von einer gemeinsamen Zentrale aus gelenkt werden. Darüber hinaus bezieht sich das Prinzip des Pluralismus aber auch auf die Pluralität von Meinungen, Ideen, Weltanschauungen, Theorien, Wertvostellun-gen usw. Im Rahmen dieses geistigen Pluralismus ist Toleranz zunächst nur institutionell zu verstehen. Negativ formuliert bedeutet institutioneile Toleranz die Abwesenheit von institutioneller Intoleranz, das heißt, es gibt keine Institution oder Behörde, die qua Amt entscheidet, welche Ideen, Weltanschauungen usw. „richtig" und daher zugelassen sind. Positiv formuliert bedeutet institutionelle Toleranz weit mehr, nämlich die Existenz von Institutionen, die allen Ideen, Meinungen, Informationen usw. die Chance geben, verbreitet zu werden.

Wer diese Prinzipien des Pluralismus und der Toleranz grundsätzlich ablehnt, muß sich darüber im klaren sein — Wolff und andere Kritiker des Pluralismus sind es nicht —, daß er eine hierarchische Struktur der Gesamtgesellschaft befürwortet, in der alle Bereiche, Gruppen, Organisationen weisungsgebunden sind und von einer Zentrale aus gelenkt werden. Die Ablehnung des geistigen Pluralismus und der institutionellen Toleranz bedeutet, daß eine zentrale Behörde das Recht hat, qua Amt verbindlich zu entscheiden, welche Ideen, Meinungen, wissenschaftlichen Erkenntnisse, Informationen usw. „richtig" sind und daher verbreitet werden dürfen. Wer dagegen diese hierarchische Struktur der Gesellschaft und die geistige Reglementierung durch eine zentrale Behörde ablehnt, bekennt sich zu den Prinzipien des Pluralismus und der Toleranz, ohne damit die bestehenden Verhältnisse oder die herrschenden Konzeptionen des Pluralismus zu akzeptieren.

Da sich eine emanzipatorische Bewegung nicht darauf beschränken darf, die bestehende repressive und autoritäre Ordnung zu bekämpfen, sondern auch darauf achten muß, nicht selbst in die Fehler zu verfallen, die sie bekämpft, und nicht selbst autoritäre Strukturen zu reproduzieren, darf sie auf die Prinzipien des Pluralismus und der Toleranz nicht verzichten. Um die Prinzipien des Pluralismus und der Toleranz für die Zukunft zu bewahren, ist es aber erforderlich, sie zu erneuern und die herrschenden Vorstellungen von Pluralismus und Toleranz zu überwinden; denn nur für eine neue Konzeption des Pluralismus ist die kritische junge Generation zu gewinnen, und nur eine neue Konzeption des Pluralismus kann uns helfen, die Probleme unserer Gesellschaft, die Probleme des Gemeinwohls, zu lösen.

Dialektischer und dialogischer Pluralismus

Mit Hilfe der Wissenschaftskonzeption, die den Gegensatz zwischen dialektischer und positivistischer Wissenschaftskonzeption in einer Synthese aufhebt, ist als Alternative zur kon-servativen Pluralismuskonzeption eine dialektische und dialogische Konzeption des Pluralismus zu entwickeln, die einerseits die Autonomie der Gruppen akzeptiert, andererseits aber auch Methoden, Begriffe und Kategorien erarbeitet, mit denen die Strukturen und Entwicklungstendenzen der Gesamtgesellschaft theoretisch zu erfassen und Konzeptionen für die Reform der Gesamtgesellschaft zu entwerfen sind.

Der dialektische Pluralismus erkennt einerseits an, daß politische Entscheidungen empirisch als „Resultante des Parallelogramms miteinander ringender Kräfte" zustande kommen. Aber wer anerkennt, daß politische Entscheidungen von den vorhandenen Gruppeninteressen ausgehen, braucht nicht der Auffassung zu sein, daß auch die wissenschaftliche Erkenntnis von den Gruppenstandpunkten ausgeht und nur das Kräfteparallelogramm der von den verschiedenen Gruppen formulierten Vorstellungen und Gedanken darstellt. Ohne die Prinzipien des Pluralismus aufzugeben und ohne in der sozialen Wirklichkeit die Gruppenautonomie unter Berufung auf ein abstraktes Gemeinwohl einzuschränken, kann die wissenschaftliche Analyse einen anderen Ausgangs-und Orientierungspunkt suchen als die schon vorhandenen Gedanken und Vorstellungen der einzelnen Gruppen, die an den materiellen Gruppeninteressen orientiert sind. Auch die Standpunkte der einzelnen Gruppen, die in der Konzeption Fraenkels zur empirischen Bestimmung des Gemeinwohls beitragen, entwickeln sich notwendigerweise innerhalb der begrenzten Horizonte der Interessen einzelner Gruppen. Wenn ein Wissenschaftler — oder auch ein Politiker — die Interessen und Standpunkte aller Gruppen analysiert und grundsätzlich als berechtigt anerkennt, überschreitet er zwar den begrenzten Horizont einer einzelnen Gruppe, indem er auch die begrenzten Horizonte der anderen Gruppen berücksichtigt. Aber, wenn sich jemand eine Vielzahl begrenzter Horizonte zu eigen macht, erhält er dann schon den weiten Horizont, der notwendig ist, um die Probleme zu lösen, die ihre Ursache in Strukturfehlern der Gesamtgesellschaft haben?

Das Instrument, mit dem es möglich ist, die begrenzten Horizonte der partikularen Gruppeninteressen zu überschreiten, ist eine wissenschaftliche Theorie des gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses, die Bestandteil der bereits erwähnten wissenschaftlichen Theorie der Emanzipation ist. Da es heute eine wissenschaftliche Theorie der Gesellschaft und der Emanzipation noch nicht gibt, ist zunächst auszugehen von einer Pluralität von Ansätzen für eine theoretische Interpretation und praktische Veränderung der Gesamtgesellschaft. Die Anerkennung von hypothetischen gesamtgesellschaftlichen Konzeptionen, in denen unterschiedliche geistige, philosophische, anthropologische, ethische, wissenschaftliche Standpunkte enthalten sind, wertet den Pluralismus auf, weil er nicht mehr auf den rein materiellen Interessenpluralismus beschränkt bleibt, sondern durch den geistig-theoretischen Pluralismus ergänzt wird. Unter diesem Aspekt ist der Pluralismus nicht mehr allein Wettstreit zwischen den begrenzten Horizonten einzelner Gruppen, sondern auch eine dialogische Auseinandersetzung zwischen einer Pluralität weiter Horizonte, die sich auf die Strukturen und Probleme der Gesamtgesellschaft beziehen.

Der italienische Marxist und Reformkommunist, Professor Lucio Lombardo-Radice, hat den Begriff eines dialektischen und dialogischen Pluralismus geprägt und dem bürgerlichen Pluralismus entgegengestellt. (Interessant ist die Tatsache, daß die progressiven Kommunisten in Italien, in der CSSR, in Jugoslawien und Frankreich die Theorie des Pluralismus wiederbelebten und weiterentwickelten, während sie von den meisten Vertretern der Kritischen Theorie verworfen oder ignoriert wird.) Kennzeichnend für den Pluralismus der kapitalistischen Gesellschaft ist für Lombardo-Radice das „Nebeneinanderleben entgegengesetzter Klassen und gegenseitig undurchdringlicher Weltanschauungen" Die gesellschaftliche Grundlage dieses bürgerlichen Pluralismus sieht er in der Trennung der Gesellschaft in Ausbeuter und Ausgebeutete, Eigentümer und Eigentumslose, aus der folgt: „Politisch wie philosophisch wird der Pluralismus in der kapitalistischen Gesellschaft im wesentlichen nicht als Dialog, als eine Wechselwirkung erfaßt, sondern als dynamisches Gleichgewicht." Um diesen bürgerlichen Pluralismus zu überwinden und zu einem dialogischen Pluralismus zu gelangen, hält er es für notwendig, „die Trennung der Gesellschaft in entgegengesetzte Klassen aufzuheben, den Schritt von der kapitalistischen zur sozialistischen Gesellschaft zu tun" Da in der Bundesrepublik die Kommunisten nur einen verschwindend geringen Prozentsatz der Bevölkerung ausmachen, könnte es als überflüssig angesehen werden, auf die Pluralismuskonzeption eines Kommunisten überhaupt erst einzugehen. Um diesen Einwand zu entkräften, sei darauf hingewiesen, daß ähnliche Gedanken eines sozialistischen Pluralismus in der Bundesrepublik nicht von den Kommunisten vertreten werden, sondern von Studenten, und zwar nicht von den „Extremisten", sondern gerade von den offiziell oft beschworenen und gelobten „gemäßigten", „vernünftigen" und „reformbereiten" Teilen der Studentenschaft. In der Berliner Studentenzeitung „demokratische alternative" (d a) vom 26. Juni 1969, die ausdrücklich als Gegengewicht zu den „radikalen" Publikationsorganen gegründet wurde, veröffentlichte der sozialdemokratische Student Hans Kremendahl einen Aufsatz unter der Fragestellung: „Hat der Pluralismus Zukunft?" Die Kriterien, die er für den demokratischen Pluralismus formuliert und die durchaus mit den allgemein anerkannten Prinzipien des Pluralismus übereinstimmen, veranlassen ihn angesichts der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu der Schlußfolgerung, „daß es zumindest höchst fraglich ist, die BRD als pluralistische Demokratie zu bezeichnen" Die von der pluralistischen Theorie geforderte Chancengleichheit sieht er nicht verwirklicht, da „die scheinpluralistische Gleichbehandlung von Kapitaleignern und Lohnabhängigen formal bleibt und bestehende Privilegien begünstigt" Wie Lombardo-Radice gelangt er zu der Schlußfolgerung, „daß ein in diesem Sinne verstandener Pluralismus in einer Klassengesellschaft, die Herrschende und Beherrschte kennt, nicht zu verwirklichen ist" Die bisherige Zuordnung des Pluralismus zum Kapitalismus ist für ihn nicht stichhaltig. Zur Verwirklichung der Chancengleichheit hält er es im Gegenteil für notwendig, eine Vermögensumverteilung vorzunehmen, gerechtere Steuerprogressionen einzuführen und auch die Frage nach den Eigentums-und Produktionsverhältnissen zu stellen.

Lombardo-Radice erläutert die Konzeption des dialektischen und dialogischen Pluralismus, der für eine sozialistische Gesellschaft kenn-zeichnend ist, am Beispiel der „wissenschaftlichen Gesellschaft", in der er schon praktiziert wird: Die Pluralität von wissenschaftlichen Schulen und Hypothesen und die ständige offene Auseinandersetzung darüber sind notwendig für den Fortschritt der Wissenschaft. Die Gegensätze sind in dieser Auseinandersetzung nicht absolut und starr, sondern relativ und beweglich; bestimmte Hypothesen werden nicht nur widerlegt, sondern in einer höheren Erkenntnis oder Synthese aufgehoben, die wieder Ausgangspunkt neuer Kontroversen sein kann. Dieser Pluralismus wird ermöglicht durch die „Uneigennützigkeit" des Wissenschaftlers, der nach einer vorurteilslosen Erkenntnis der Dinge strebt. „Die , sanfte Gewalt'der Vernunft (Brecht: Leben des Galilei) ist unwiderstehlich, allerdings nur für die Menschen, die mit Vernunft denken. Wer eine Idee nur aus praktischen Motiven verteidigt, weil die entgegengesetzte Idee eigene Interessen verletzt, der entmachtet die Vernunft. Dieses Beispiel des wissenschaftlichen Pluralismus zeigt uns deutlich, wie die Befreiung von beschränkten Gruppen oder Einzelinteressen notwendige Vorbedingung ist, daß dialektischer und dialogischer Pluralismus entstehen kann."

Die dialogische Auseinandersetzung im Interesse fortschreitender Erkenntnis ist nicht nur zwischen verschiedenen wissenschaftlichen Hypothesen und Theorien notwendig, sondern auch zwischen verschiedenen Weltanschauun. gen und gesellschaftspolitischen Konzeptionen.

Lombardo-Radice gibt den dogmatischen Alleinvertretungsanspruch des Marxismus auf, da dieser auch Lücken und Einseitigkeiten hat, woraus er die Schlußfolgerung zieht, „daß sich also der Marxismus mit Hilfe anderer, in ihrer Weise auch einseitiger, doch gewissermaßen für ihn komplementärer Wahrheiten'vervollständigen und entwickeln kann und muß"

Unter diesem Gesichtspunkt vertritt er die Auffassung, „daß mehrere Weltanschauungen das , objektive'Streben der menschlichen Gesellschaft nach Fortschritt, nach einer höheren Stufe der sozialen Organisation in sich aufnehmen und es ausdrücken können" Das bedeutet für die praktische sozialistische Bewegung, „daß die sozialistische Gesellschaft das Ziel verschiedener Richtungen, die gemeinsame , dialogische'Arbeit mehrerer ideologi-scher Komponenten sein muß" Auch in der sozialistischen Gesellschaft vollzieht sich die geistige Auseinandersetzung, selbst mit negativen, überholten und konservativen Ideen, durch die freie Konfrontation, da ja „der Pluralismus ein inneres Bedürfnis des Sozialismus" ist. „Die Methode der freien Konfrontation ist deshalb zu vertreten, weil es viele partielle Werte gibt, weil es partielle Wahrheiten auch in Theorien gibt, die in anderer Hinsicht falsch sind, weil schließlich das absolut Negative ebenso unwahrscheinlich ist wie das absolut Positive."

Die verstärkte Einbeziehung des geistigen Pluralismus in die politischen Auseinandersetzungen wertet den Begriff der Toleranz auf, der im Zusammenhang mit dem einseitigen Interessenpluralismus zur bloßen Gleichgültigkeit gegenüber allen Ideen verflachte. Die vom Interessenpluralismus beherrschte Gesellschaft toleriert alle Ideen und Theorien, weil alle gleich ohnmächtig und politisch wirkungslos sind, und bestätigt damit die Aussage von Karl Marx: „Die Idee’ blamierte sich immer, soweit sie von dem . Interesse'verschieden war." Im Rahmen eines dialogischen Pluralismus bedeutet Toleranz nicht, andere Ideen passiv zu dulden, sondern sich mit ihnen aktiv auseinanderzusetzen, und zwar nicht administrativ oder emotional, sondern rational.

Die dialogische Auseinandersetzung des geistigen Pluralismus unterscheidet sich grundsätzlich von den Auseinandersetzungen des materiellen Interessenpluralismus. Da es bei ihm nur darum geht, bereits Vorhandenes, nämlich das Sozialprodukt, zu verteilen, ist er seinem Wesen nach statisch und konservativ, während der geistige Pluralismus grundsätzlich progressiv und dynamisch ist. Während beim Interessenpluralismus eine Annäherung der Gegner zu einem Kompromiß führt, bei dem jede Gruppe auf einen Teil der eigenen Forderungen verzichtet und zugunsten der anderen etwas aufgibt, vollzieht sich im dialogischen Pluralismus die Annäherung zwischen unterschiedlichen Standpunkten auf dem Wege einer progressiven Konvergenz, bei der jeder Dialog-Partner durch die Auseinandersetzung mit den anderen etwas gewinnen kann, das heißt, den eigenen Standpunkt höher entwik-kein, Einseitigkeiten und Fehler korrigieren und neue Einsichten und Erkenntnisse gewinnen kann. Während Entscheidungen im Bereich des Interessenpluralismus vor allem von der Macht und dem taktischen Geschick der einzelnen Gruppen abhängen, sind die Ergebnisse eines Dialoges über gesamtgesellschaftliche Konzeptionen weit mehr durch Wertvorstellungen und durch die Überzeugungskraft von rationalen Argumenten zu beeinflussen. Während die aktuellen materiellen Interessen der Gruppen von vornherein feststehen und es keiner Phantasie, geistigen Anstrengung und Vernunft bedarf, sie zu erkennen, sind die Fragen nach einer neuen Gesellschaft nie automatisch oder endgültig zu beantworten. Der Dialog, der von den Fragen nach dem Sinn und Wert menschlichen Lebens und Zusammenlebens ausgeht, bleibt stets offen für neue Fragen und Antworten.

Wer beobachtet, wie gerade in sogenannten Wohlstands-und Überflußgesellschaften die Zahl der Selbstmorde, Kriminalität, psychische Erkrankungen und Störungen und geistige Verelendung rapide anwachsen, wird verstehen, warum die Fragen nach sinnvolleren Formen des menschlichen Zusammenlebens, nach neuen Wert-und Zielvorstellungen auch in den Gesellschaften gestellt werden müssen, die ihren Mitgliedern dank hoher Produktivität einen hohen Lebensstandard bieten. Der geistige und seelische Zustand der meisten Menschen in der sogenannten Wohlstandsgesellschaft ist ein überzeugendes Argument dafür, daß es notwendig ist, eine Gesellschaft zu schaffen, in der die Menschen ihre Lebensweise nicht mehr nur den Erfordernissen der industriellen kapitalistischen Gesellschaft anpassen müssen, sondern in der die Menschen im Gegenteil die Strukturen und Einrichtungen der Gesellschaft fortlaufend ihren Bedürfnissen und den Ansprüchen eines freien und schöpferischen Wesens anpassen.

Im Dialog über gesamtpolitische Konzeptionen für die bewußte Veränderung der Gesellschaft werden Denken und schöpferische Phantasie wieder zu einem Faktor im Bereich der Politik, der damit wieder als Bereich potentieller Freiheit erfaßt wird, in dem der Mensch frei wählen kann zwischen unterschiedlichen Zielvorstellungen. Da in diesem Dialog das Denken zunächst aber nur ein Faktor im Bereich des politischen Denkens wird, ist zu untersuchen, auf welchem Wege es in der praktischen Politik die Entscheidungen beeinflussen kann. Denn von der Lösung dieses Problems hängt es ab, ob dialogisches Denken die Gesellschaft nur in Gedanken oder tatsächlich zu verändern vermag.

Die Ausführungen über die konservativen Wirkungen der materiellen Gruppeninteressen dürfen nicht zu der Schlußfolgerung führen, daß im Interesse des dialogischen Pluralismus in der sozialen Wirklichkeit die Autonomie der Gruppen beseitigt werden müßte. Da der organisierte Interessenpluralismus verhindern kann, daß die Diskussionen über gesamtgesellschaftliche Konzeptionen fern von der sozialen Wirklichkeit, in der reinen Welt des Geistes stattfinden, ist die Anerkennung der Gruppen-autonomie nicht ein Zugeständnis, das die Entwicklung und Verwirklichung gesamtpolitischer Konzeptionen erschwert, sondern im Gegenteil eine Voraussetzung für realistische Konzeptionen. Lombardo-Radice hat die Wechselwirkung zwischen Gruppenautonomie und gesamtgesellschaftlicher Position wie folgt beschrieben: „Das heißt zum Beispiel, daß die Gewerkschaften streng die täglichen, unmittelbaren Bedürfnisse der Arbeiterklasse zum Ausdruck zu bringen haben, aber in dem klaren Bewußtsein, daß solche Bedürfnisse nur die eine Seite des allgemeinen Problems des Fortschritts darstellen. Ebenso müssen die Justiz, die ökonomische Verwaltung, die Schule, die Wissenschaft und so fort ihre autonome Organisation besitzen und ihre . einseitigen Einsichten'frei zum Ausdruck bringen. . . Je vollständiger die Autonomie der verschiedenen , sektoriellen‘ Organisationen ist, desto leichter kann auch eine synthetische Entscheidung in der Politik gefällt werden: der Politiker vermag die Lage dann wirklich zu überblicken."

Der dialogische Pluralismus wird also nicht durch eine institutioneile Veränderung im Bereich der praktischen Politik wirksam, also zum Beispiel durch die Aufhebung der Gruppenautonomie, sondern er muß sich angesichts von gesellschaftlichen Strukturen durchsetzen, die seinen Prinzipien widersprechen. Er bleibt daher zunächst auf den Bereich der Wissenschaft beschränkt, in dem die wissenschaftlichen Methoden angewandt werden auf die Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen gesamtgesellschaftlichen Konzeptionen und ihre Weiterentwicklung. Politischen Einfluß kann er aber auch ohne vorangegangene institutionelle Veränderung ausüben, wenn es dem dialogischen Denken gelingt, das politische Denken und Verhalten der politisch Handelnden zu beeinflussen. Die Anwendung wissenschaftlicher Methoden ermöglicht eine dialogische Auseinandersetzung über gesamtgesellschaftliche Konzeptionen, die sich grundsätzlich von den polemischen und unfruchtbaren Glaubenskriegen zwischen unterschiedlichen gesamtgesellschaftlichen Rechtfertigungsideologien unterscheidet. Für die politische Praxis kann dialogisches Denken große Bedeutung erhalten, weil es die praktische Zusammenarbeit zwischen Anhängern unterschiedlicher Konzeptionen und Weltanschauungen begünstigt und die Gefahr des dogmatischen Sektierertums einschränkt, das oft gerade diejenigen politischen Kräfte zu politischer Ohnmacht verdammt, die gesamtgesellschaftliche Ziele verfolgen.

Eine weitere wichtige Möglichkeit des dialogischen Pluralismus, die Grenzen der wissenschaftlichen Gesellschaft zu überschreiten, besteht in dem Bemühen, auf publizistischem und erzieherischem Wege das politische Bewußtsein von ständig mehr Menschen zu beeinflussen und in ihnen die Einsicht zu wecken, daß auch in ihrem eigenen Interesse wichtige politische Entscheidungen der siebziger Jahre nicht allein von den aktuellen Einkommens-interessen der eigenen Gruppe abzuleiten sind, sondern von gesamtgesellschaftlichen Aufgaben und Zielvorstellungen. (Ansätze einer solchen Einsicht machten sich schon vor den letzten Bundestagswahlen bemerkbar, so daß die Parteien auch mit gesamtgesellschaftlichen Argumenten und Zielvorstellungen zu werben versuchten).

Da die Interessenverbände auch im Rahmen eines dialogischen Pluralismus die legitime Aufgabe haben, die materiellen Interessen der Gruppen zu vertreten und daher bei ihnen die gesamtgesellschaftlichen Gesichtspunkte nur eine sekundäre Rolle spielen, müssen diese stärker von allen Institutionen berücksichtigt werden, die nicht an eine bestimmte Gruppe gebunden sind.

Die Rolle der Parteien im dialogischen Pluralismus

Die wichtigsten Institutionen, durch die der dialektische und dialogische Pluralismus politisch wirksam werden kann, sind die politischen Parteien. Sie haben die Aufgabe, die Ergebnisse und Fortschritte des wissenschaftlichen Dialogs über gesamtgesellschaftliche Konzeptionen (in Richtung einer wissenschaftlichen Theorie der Emanzipation) in Fortschritte der Politik und Gesellschaft umzusetzen, also die Fortschritte der „sanften Gewalt" der Vernunft in politische Macht zu verwandeln, die dazu eingesetzt wird, Macht-und Herrschaftsstrukturen in allen Bereichen der Gesellschaft abzubauen. Den dialogischen Pluralismus politisch wirksam werden zu lassen heißt, daß sich der politische Erkenntnis-, Meinungsund Willensbildungsund Entscheidungsprozeß mit Hilfe der Parteien nach Verfahrensweisen und Kriterien vollzieht, die für den dialogischen Pluralismus der wissenschaftlichen Gesellschaft kennzeichnend sind. Diese Übertragung der Prinzipien des dialogischen Pluralismus auf den politischen Entscheidungsprozeß der Parteien ist nicht erst in einer sozialistischen Gesellschaft möglich, sondern auch schon in einer kapitalistischen Gesellschaft, die in anderen Bereichen noch anderen Prinzipien unterworfen ist.

Diese Ausdehnung des dialogischen Pluralismus vom wissenschaftlichen auf den politischen Bereich ist aber noch nicht erreicht, wenn der Dialog nur in der Wissenschaft stattfindet, der zu wunderbaren gesamtpolitischen Konzeptionen führt, die man dann den Parteien mit der Bitte zuschickt, sie doch möglichst bald zu verwirklichen. Der politische Entscheidungsprozeß kann sich nur dann nach den Verfahrensweisen und Kriterien des dia-logischen Pluralismus vollziehen, wenn in den Parteien genügend aktive Mitglieder dieses Dialog-Modell praktizieren.

Wie sieht es praktisch aus, wenn durch die Parteien der dialogische Pluralismus auf den Bereich der Politik ausgedehnt wird? Wer sind die Dialog-Partner? Eine Analyse der politischen Wirklichkeit der Bundesrepublik zeigt, daß die Pluralität von Parteien noch nicht zu einem dialogischen Entscheidungsprozeß führt. Denn dann müßten die Parlamente auf allen Ebenen der Ort sein, an dem die dialogische Auseinandersetzung der Parteien stattfindet, an dem der dialogische Pluralismus praktiziert wird. Doch in der politischen Wirklichkeit haben die Debatten in den Parlamenten nicht das Ziel, durch Austausch von Informationen und Argumenten eine rationale Entscheidung herbeizuführen, die zu Beginn der Debatte noch nicht feststeht. Bei allen wichtigen Debatten steht das Abstimmungsergebnis vor Beginn der Debatte bereits fest, weil es nur von der zahlenmäßigen Stärke der Fraktionen abhängt, nicht aber von der Überzeugungskraft der Argumente. Die Debatten in den Parlamenten haben daher hauptsächlich den Zweck, die Entscheidungen vor der Öffentlichkeit zu rechtfertigen, die schon vorher in den Parteien — überwiegend unter Ausschluß der Öffentlichkeit — gefällt wurden.

Da die Vorzüge des dialogischen Pluralismus nicht durch einen Dialog zwischen den Parteien wirksam werden können, müssen sie vor allem durch einen Dialog in den Parteien wirksam werden. Denn nur dort, wo zu Beginn einer Debatte die Mehrheitsverhältnisse noch nicht feststehen, die Entscheidung also noch offen ist, können die in einer dialogischen Auseinandersetzung vorgetragenen Informationen, Argumente, Wert-und Zielvorsteilungen die politische Entscheidung noch beeinflussen. Allerdings ist es nur dann möglich und sinnvoll, den dialogischen Pluralismus in die Parteien hineinzulegen, wenn sie selbst schon pluralistisch sind, also der in der Gesellschaft bestehende Pluralismus von Interessen, weltanschaulichen und gesamtgesellschaftlichen Wert-und Zielvorstellungen auch in den Parteien vorhanden ist. Darüber hinaus müßten die formalen demokratischen Spielregeln, die in der pluralistischen Demokratie für die Auseinandersetzung zwischen den Parteien gelten, auch auf die Auseinandersetzungen innerhalb der Parteien angewandt werden: Die innerparteiliche Demokratie, zu der innerparteiliche Opposition und Gruppenbildung, Minderheitenschutz und unabhängige Schiedsgerichtsbarkeit gehören, müßte allen Gruppen die Möglichkeit bieten, ihre Interessen und Ziele organisiert als Fraktionen zu vertreten.

Die Konzeption des dialogischen Pluralismus wertet die Gegensätze zwischen den. Parteien ab und sieht in innerparteilichen Entscheidungsprozessen die wichtigste Möglichkeit für eine tatsächliche Mitbestimmung breiterer Bevölkerungskreise Gegen eine Überbetonung der innerparteilichen Auseinandersetzungen ist ein Einwand zu erwarten, der von Bruno Friedrich wie folgt formuliert wurde: „Die Parteien werden als freischwebende wertfreie Gebilde, unter sich jederzeit austauschbar, also als bloße Herrschaftsstrukturen ohne Bindung an bestimmte soziale Gruppen behandelt."

Wenn die Parteien tatsächlich an bestimmte soziale Gruppen gebunden sind, würde die Konzeption, die den Pluralismus in die Parteien verlagert, von einer falschen Einschätzung der sozialen und politischen Realität ausgehen. Denn welchen Sinn könnte es haben, den realen gesellschaftlichen Pluralismus in die Parteien zu verlagern, wenn diese selbst schon Ausdruck dieses gesellschaftlichen Pluralismus sind, also unterschiedliche soziale und weltanschauliche Gruppen vertreten? Eine empirische Analyse der Parteien-systeme in den meisten pluralistischen Demokratien, vor allem in der Bundesrepublik, entkräftet allerdings diese Einwände. Denn die meisten Parteien verlieren immer mehr den Charakter von Klassen-oder Weltanschauungsparteien und werden immer mehr zu „Mehrzweckparteien" bzw. „Volks-" und „Allerweltsparteien" (Zur Problematik des Begriffs „Volkspartei" bemerkt Bodo Zeuner, daß „die alte Klassenpartei, die die Interessen der Lohnabhängigen zu vertreten beanspruchte, in weitaus stärkerem Maße eine Partei des Volkes war, als die moderne, pluralistische Partei, die neben die Interessen der Lohnabhängigen gleichberechtigt die der kleinen Selbständigen und der Unternehmer setzt: denn 81 °/o der Erwerbspersonen der Bundesrepublik sind Arbeitnehmer, 49 °/o sind Arbeiter [Zahlen von 1966]"

Da die Bindungen zwischen bestimmten sozialen und weltanschaulichen Gruppen und bestimmten Parteien immer lockerer werden, rekrutiert jede Partei ihre Mitglieder und Wähler in zunehmendem Maße aus den Mit-gliedern fast aller sozialen und weltanschaulichen Gruppen der Gesellschaft. Jede Partei muß daher versuchen, die Interessen und Ziele möglichst aller Gruppen zu vertreten und allen etwas anzubieten. Rudolf Wildenmann gelangte schon 1965 zu der Schlußfolgerung: „Die Austauschbarkeit der großen Parteien in den Augen der Wähler ist zu einem hervorstechenden Strukturmerkmal geworden." Die Tatsache, daß sich die engen Bindungen zwischen bestimmten Parteien und bestimmten Gruppen lockern, erlaubt die für die politische Theorie und Praxis wichtige Schlußfolgerung, daß in der heutigen Gesellschaft politisches Bewußtsein nicht automatisch durch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen oder weltanschaulichen Gruppe bestimmt wird, sondern durch andere Faktoren vermittelt wird.

Da die Pluralität von Parteien nicht mehr den realen Pluralismus der Gesellschaft ausdrückt, muß dieser die Möglichkeit erhalten, sich in den Parteien auszudrücken, wenn er überhaupt politisch wirksam werden soll. Unter dem Gesichtspunkt, daß aus pragmatischen Gründen die Fraktionen der Parteien geschlossen auftreten müssen, hat der sozialdemokratische Bundestagsabgeordnete Hans Matthöfer in einem Artikel in der Frankfurter Rundschau folgende Forderung eines Parteitages unterstützt: „Damit der Zwang zum einheitlichen Auftreten der Bundestagsfraktionen die innerparteiliche Demokratie nicht negativ beeinflußt, ist es erforderlich, bewußt und systematisch Gegentendenzen zu organisieren, die Diskussion kontroverser Fragen auf allen Partei-ebenen zu fördern und für einen größeren Einfluß der Mitgliederbasis auf die Entscheidungsgremien zu sorgen."

Dieses Ziel, das mit Hilfe des dialogischen Pluralismus zu verwirklichen ist, bedeutet, daß die repräsentative Demokratie, die im Parlament zum Ausdruck kommt, durch Elemente radikaler, direkter Demokratie zu ergänzen ist, die vor allem in den Parteien eine Chance hat. Während der Pluralismus von Parteien einseitig die repräsentative Demokratie verkörpert, ermöglicht der dialogische Pluralismus in den Parteien eine Synthese von repräsentativer und direkter Demokratie, die notwendig ist, um die kritische junge Generation für aktive politische Mitarbeit zu gewinnen. Denn die einseitige Betonung der Prinzipien repräsentativer Demokratie und die dogmatische Verneinung der Grundgedanken eines imperativen Mandats sind ja Ursachen dafür, daß die bestehende Demokratie gerade bei den Teilen der jungen Generation, die an aktiver Mitarbeit und Mitbestimmung interessiert sind, auf wachsende Skepsis stößt. Die grundsätzliche Ablehnung des imperativen Mandats wird als undemokratisch angesehen, weil sie eine eindeutige Verachtung des Volkes auszudrücken scheint und besagt: welche inhaltliche Politik die vom Volk gewählten Repräsentanten machen, geht das Volk nichts an. Auch der Einwand, daß die Wähler ja über die Wahlprogramme der Parteien abstimmen, ist nicht stichhaltig, da die Wähler ja keinen Einfluß darauf hatten, welche Forderungen in diese Programme ausgenommen wurden. Daher glauben viele, daß das Wahlrecht allein noch keine ausreichende Möglichkeit für eine tatsächliche politische Mitbestimmung bietet.

Walter Euchner verweist in seinem Aufsatz „Zum Demokratieverständnis der Neuen Linken" auf Hannah Arendts Buch „Uber die Revolution", in dem sie zeigte, daß alle demokratischen Umwälzungen räteartige Gebilde hervorbrachten, die eine Teilnahme des Volkes an den öffentlichen Angelegenheiten ermöglichen sollten. Dagegen hätten die modernen Parteiensysteme das alte Verhältnis von regierender Elite und Volk beibehalten, während im Rätegedanken die revolutionäre Hoffnung auf eine Staatsform, die in der Massengesellschaft jedem die Teilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten ermögliche, aufbewahrt sei

Wenn es auch aus sachlichen Gründen unmöglich ist, gegenwärtig eine moderne Massengesellschaft allein nach rätedemokratischen und radikaldemokratischen Prinzipien politisch zu organisieren, so könnten doch die Parteien einen Teil dieser revolutionären Hoffnung auf Teilnahme an den öffentlichen Angelegen-heiten und wirksame Mitbestimmung verwirklichen. Denn innerhalb der Parteien ist radikale, direkte Demokratie, als demokratische Willensbildung und Kontrolle von unten nach oben, durch den Ausbau der innerparteilichen Demokratie durchaus praktikabel.

Um mit Hilfe der innerparteilichen Demokratie eine Synthese von repräsentativer und direkter Demokratie zu ermöglichen, ist zunächst zu untersuchen, welche Faktoren es gegenwärtig erschweren, die innerparteiliche Demokratie auszubauen und als Voraussetzung für einen rationalen und demokratischen Entscheidungsprozeß den dialogischen Pluralismus wirksam werden zu lassen. Neben zahlreichen anderen Problemen sei hier vor allem auf folgende Faktoren hingewiesen: 1. Die Verflechtung von politischer Aktivität und beruflicher Karriere bei aktiven Mitgliedern und Funktionären einer Partei, die Beamte und Angestellte des öffentlichen Dienstes sind. Ein Zahlenbeispiel mag dieses Problem verdeutlichen: In einem Kreisverband einer Partei sind 60 °/o der Kreisdelegierten im öffentlichen Dienst beschäftigt, 7 °/o sind Angestellte der Partei oder der Gewerkschaft, nur 25% sind „unabhängig". Bei den Vorstandsmitgliedern wird dieses Problem noch deutlicher: 75% sind im öffentlichen Dienst beschäftigt, 19% Partei-oder Gewerkschaftsangestellte und nur 6% „unabhängig"

Angesichts dieser Zahlenverhältnisse ist es nicht leicht, die Mandats-und Funktionsträger der Parteien zu kontrollieren und zu kritisieren, sie aufzufordern, Rechenschaft über ihre Tätigkeit abzulegen. Denn diejenigen, die kontrolliert und kritisiert werden sollen, sind oft die beruflichen Vorgesetzten der potentiellen Kritiker und daher für deren berufliche Beförderung zuständig. Unter diesen Umständen ist es nicht verwunderlich, wenn bei Kontroversen jemand nicht unter dem Gesichtspunkt abstimmt, welche Argumente ihn am meisten überzeugt haben, sondern unter dem Gesichtspunkt, welches Verhalten am besten seiner Karriere dient. Der einzige Ausweg aus diesem Dilemma ist darin zu sehen, daß möglichst viele politisch interessierte Bürger in die Parteien eintreten, die beruflich von den Parteien unabhängig sind und es sich daher leisten können, sich bei Diskussionen, Wahlen und Abstimmungen von ihren Überzeugungen und Einsichten leiten zu lassen. 2. Erschwert wird ein demokratischer und rationaler Entscheidungsprozeß auch durch Mitglieder und Funktionäre, die politisch wenig informiert sind und sich durch eine autoritäre Grundhaltung auszeichnen. Sie überlassen gern alle Entscheidungen „denen da oben", zu denen sie grenzenloses Vertrauen haben. Kritik dagegen betrachten sie als persönliche Beleidigung oder etwas Unanständiges, auf alle Fälle aber als undemokratisch und parteischädigend. 3. Nicht nur Fraktionsverbote, die eine organisierte Durchsetzung neuer Ideen und Konzeptionen verhindern, sondern auch zu starre Flügelbildungen machen einen dialogischen Pluralismus und eine wirksame Mitbestimmung breiter Kreise unmöglich. Denn wenn sich die Gruppierungen in einer Partei personell zu sehr verfestigen, geschieht dasselbe wie bei Abstimmungen im Parlament: entscheidend für das Verhalten ist die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Flügel, nicht mehr die Überzeugungskraft von Argumenten und Informationen. Diese starre Flügelbildung, die das Gegenteil des dialogischen Pluralismus ist, wird begünstigt durch das bei innerparteilichen Wahlen praktizierte Mehrheits-bzw. Persönlichkeitswahlrecht. Denn es hat zur Folge, daß schon 51 Prozent der Mitglieder eines Gremiums 100 Prozent der Vertreter für das nächst höhere Gremium und der Kandidaten für allgemeine Wahlen bestimmen können. Da infolge dieses Wahlrechts Minderheiten bis zu 49 Prozent keine Chance haben (es sei denn durch Kuhhandel mit der Mehrheit), Vertreter in nächst höhere Gremien zu entsenden oder Kandidaten für allgemeine Wahlen zu nominieren, müssen sie eine feste personelle Gruppierung bilden, deren Hauptziel es ist, eine rein zahlenmäßige Mehrheit zu werden.

Die Gefahr der starren Flügelbildung, bei der die Personalpolitik im Mittelpunkt steht, wäre einzuschränken durch die Einführung des Verhältniswahlrechts für innerparteiliche Wahlen und Nominierung von Kandidaten. In jedem Gremium, das Delegierte wählt oder Kandidaten nominiert, müßte die Möglichkeit bestehen, Ad-hoc-Listen aufzustellen, so daß eine Minderheit von 20 oder 40 Prozent die Chance hätte, eine entsprechende Zahl von Delegierten und Kandidaten zu bestimmen. Diese Möglichkeit würde eine zu starre personelle Flügelbildung verhindern, wechselnde Mehrheiten ermöglichen und neuen Ideen größere Chancen geben. Das Mehrheitswahlrecht dagegen wirkt entpolitisierend, da es die Tendenz fördert, den personellen Entscheidungen größere Bedeutung beizumessen als den Sachentscheidungen. 4. Ein wichtiges Instrument der Parteiführungen zur Einschränkung der innerparteilichen Demokratie sind die Parteiordnungsverfahren gegen sogenanntes parteischädigendes Verhalten. Einerseits muß natürlich jede Partei die Möglichkeit haben, unversöhnlichen Gegnern der eigenen Grundsätze das Wirken in der Partei zu versagen. Andererseits spielen solche Fälle kaum eine Rolle. Der Diplom-Politologe Hans-Jürgen Heß, der in seiner Diplomarbeit am Otto-Suhr-Institut in Berlin die innerparteiliche Entwicklung der Berliner SPD empirisch untersuchte, entlarvte die Behauptung, Parteistrafen sollten Schaden von der Partei abwenden, als bloßen Vorwand, und begründete dagegen die Auffassung, daß sie Instrumente der innerparteilichen Auseinandersetzung sind. Er gelangte sogar zu der Schlußfolgerung, daß die Parteistrafen selbst der Partei mehr schaden als die „Vergehen", für die sie ausgesprochen wurden: „Mit Partei-strafen kann man die Kritiker zur Vorsicht zwingen; Parteischädigungen lassen sich allerdings durch den § 29, 1 nicht verhindern, da sie — im Gegenteil — durch die Publizierung der Strafen und ihrer Ursachen meistens erst in das Bewußtsein der Öffentlichkeit gelangen." Die Wirkung der Parteistrafen auf die innerparteiliche Situation beurteilt Heß wie folgt: -,, Wenn Parteiausschlüsse auch innerparteiliche Empörung ausgelöst haben, so waren sie doch für viele Oppositionelle Warnung genug, mit der eigenen Meinung künftig zurückhaltender zu sein. Mit Sicherheit haben die an Köhler und Weiß exemplifizierten Parteistrafen zur Sterilität des politischen Meinungsbildungsprozesses innerhalb der Partei beigetragen."

Die Praxis der Parteijustiz stößt vor allem diejenigen ab, die an aktiver politischer Mitarbeit interessiert sind, nicht diejenigen, für die Parteien nur Sprungbrett persönlicher Karriere sind. Die Parteijustiz begünstigt daher eine negative Auswahl der Mitglieder und verhindert vor allem, daß sich kritische junge Menschen in den Parteien engagieren. Wer ein stärkeres Engagement der kritischen Jugend in den Parteien wünscht, muß nach Möglichkeiten suchen, die innerparteiliche Demokratie zu stärken und den Mißbrauch der Schiedsgerichtsbarkeit für innerparteiliche Machtkämpfe zu verhindern. Letzteres dürfte nur möglich sein, wenn die Schiedsgerichtsbarkeit den Parteien entzogen und unabhängigen öffentlichen Instanzen übertragen wird, die eine bessere Gewähr bieten, daß Schiedsurteile nach objektiven Kriterien gefällt werden.

Fritz Erler hatte erkannt, daß die innerparteiliche Situation ein entscheidender Faktor ist, wenn man die Jugend zur Mitarbeit gewinnen will: „Je weniger starr die Partei sich nach außen gibt, je mehr sie zeigt, wie demokratisch ihr eigenes Leben in Wirklichkeit beschaffen ist, desto größer wird ihr Einfluß auf jene junge Generation sein, ohne deren positives Mittun keine dauerhaften Erfolge möglich sind."

Eine Partei, die sich nach außen nicht starr geben will, muß die Öffentlichkeit auch über innerparteiliche Kontroversen, unterschiedliche Gruppierungen und Zielvorstellungen informieren, um dadurch den Meinungsbildungsund Entscheidungsprozeß durchschaubar zu machen. Denn nur wenn dieser Entscheidungsprozeß durchschaubar ist, können politisch interessierte Bürger erkennen, welche Möglichkeiten sie haben, diesen Prozeß zu beeinflussen. Aus diesem Grunde ist es notwendig, die Öffentlichkeit in die Sachdiskussionen über politische Alternativen, die in den Parteien stattfinden, einzubeziehen. Es darf nicht mehr als Schaden oder Schande für eine Partei angesehen werden, wenn die Öffentlichkeit erfährt, daß es in den Parteien kritische Mitglieder mit unterschiedlichen Meinungen gibt, die in ständigen Diskussionen über kontroverse Standpunkte um politische Entscheidungen ringen.

Wenn die Parteien die Öffentlichkeit stärker in die innerparteilichen Sachdiskussionen einbeziehen, könnten sie eher als durch die Wahlkampf-Reklame kritische Bürger für die aktive Mitarbeit gewinnen. Denn bei den innerparteilichen Sachdiskussionen sind die Entschei-düngen noch offen, so daß sie durch aktives Engagement noch inhaltlich zu beeinflussen sind, während die Bürger in den allgemeinen Wahlen nur zwischen verschiedenen Konzeptionen und Personengruppen wählen können, über deren Inhalt und Zusammensetzung schon vorher, ohne ihr Mitwirken, in den Parteien entschieden wurde. Wenn die Parteien den innerparteilichen Entscheidungsprozeß durchschaubar machen und die Öffentlichkeit in die Auseinandersetzungen einbeziehen, könnten sie vielleicht das Dilemma überwinden, das die Entfaltung der innerparteilichen Demokratie und des dialogischen Pluralismus hemmt: Einerseits hält die zu wenig entwickelte innerparteiliche Demokratie gerade kritische und politisch interessierte Bürger davon ab, sich in den Parteien zu engagieren, andererseits ist gerade deren aktives Engagement unentbehrlich für die Stärkung der innerparteilichen Demokratie und des dialogischen Pluralismus.

Die Synthese von repräsentativer und direkter Demokratie durch die Entwicklung des dialogischen Pluralismus und der innerparteilichen Demokratie ist ein realistisches Ziel, das zu verwirklichen ist, wenn sich genügend politisch interessierte und informierte Menschen dafür einsetzen.

Der erste Einwand gegen diese Konzeption dürfte aber wohl nicht darin bestehen, daß dieses Ziel nicht zu erreichen ist, sondern daß es zu bescheiden ist angesichts der „revolutionären Hoffnung" auf die Teilnahme aller an den öffentlichen Angelegenheiten. Denn auch die beste innerparteiliche Demokratie erfüllt diese Hoffnung nur für einen kleinen Prozentsatz von Aktivbürgern, während die breite Masse weiterhin passiv bleiben und nicht mitbestimmen wird. Als Ausweg aus diesem Dilemma bietet sich für manche eine „Erziehungsdiktatur" an, die die Massen dazu „erzieht", ihre eigene Freiheit und Selbstbestimmung zu wollen, die die Massen reif macht für eine herrschaftsfreie Gesellschaft. Wen die Ergebnisse bisheriger Erziehungsdiktaturen nicht befriedigen, muß einen anderen Ausweg suchen. Die Konzeption der innerparteilichen Demokratie ist angesichts des Fernziels einer herrschaftsfreien Gesellschaft ebenfalls unbefriedigend, da sie tatsächlich nicht für das ganze Volk, sondern nur für die Aktivbürger das alte Verhältnis von regierender Elite und Volk aufhebt. Diese Unzulänglichkeit ist aber anders zu beurteilen, wenn man davon ausgeht, daß die innerparteiliche Demokratie nicht als Endziel zu verstehen ist, sondern als Ausgangspunkt eines Demokratisierungsprozesses, der ständig mehr Menschen zu politischer Mitbestimmung „erziehen" soll, und zwar im Gegensatz zur „Erziehungsdiktatur" mit den Methoden einer „Erziehungsdemokratie".

Auch wenn diese Konzeption zu verwirklichen wäre, dürfte sie für manche wiederum zu „bescheiden" sein. Denn durch die innerparteiliche Demokratie ist ja noch nicht viel gewonnen, weil sie Mitbestimmung ja nur im politischen Bereich erlaubt, während die wichtigen, das alltägliche Leben aller Menschen betreffenden Fragen nicht in den Parteien und im Parlament entschieden werden, sondern in den anderen Bereichen der Gesellschaft — vor allem in der Wirtschaft —, die weiterhin autoritär-hierarchisch geleitet werden.

Obwohl dieser Einwand berechtigt ist, bleibt der politische Bereich doch der Schlüssel für die Demokratisierung der Gesamtgesellschaft und für die Emanzipation der Menschen in allen Lebensbereichen. Denn im politischen Bereich — in den Parteien und im Parlament — wird entschieden, ob die anderen Bereiche der Gesellschaft, in denen die „Wähler" täglich arbeiten und leben und bisher nicht einmal wählen dürfen, weiterhin von privilegierten Minderheiten beherrscht werden oder ob auch dort die Prinzipien des dialogischen Pluralismus und rationaler und demokratischer Entscheidungsprozesse eingeführt werden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. A. D. Sacharow, Wie ich mir die Zukunft vorstelle, in: Die Zeit, Januar 1969.

  2. Max Horkheimer, Kritische Theorie, 2 Bde., Frankfurt 1968; Albrecht Wellmer, Kritische Gesellschaftstheorie und Positivismus, Frankfurt 1969; Jürgen Habermas, Protestbewegung und Hochschulreform, Frankfurt 1969, S. 40 ff.

  3. Vgl. u. a. Oskar Negt, Studenten und Arbeiterschaft — Zur Krise der Neuen Linken in der Bundesrepublik, in: Konkret, Nr. 17, 11. August 1969, S. 14 ff.

  4. Frankfurter Rundschau, 24. April 1969, S. 13.

  5. Jürgen Habermas, a. a. O., vor allem folgende Abschnitte: Einleitung, S. 9 ff., Die Scheinrevolution und ihre Kinder, S. 188 ff., Gegen Wissenschaftsstürmerei, S. 244 ff.

  6. Zitiert bei J. Habermas, a. a. O., S. 42.

  7. Antworten auf Herbert Marcuse, hrsg. von J. Habermas, Frankfurt 1968, S. 10.

  8. Konkret, Nr. 12, 2. Juni 1969, S. 20.

  9. Der Spiegel, Nr. 27, 30. Juni 1969, S. 108.

  10. Vgl. dazu H. Heimann, Neue Wege des politischen Engagements?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 25/69 v. 21. Juni 1969.

  11. Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch, Neuwied und Berlin, 19684, S. 12.

  12. Karl Marx, Zur Kritik der Hegeischen Rechts-philosophie, in: Die Frühschriften, hrsg. von Siegfried Landshut, Stuttgart 1953, S. 216.

  13. Ebd., S. 216.

  14. Albrecht Wellmer, a. a. O., S. 10.

  15. Vgl. Milan Machovec, Dialog als Menschlichkeit, in: Neues Forum, Heft 160/61, April/Mai 1967, und Heft 162/63, Juni/Juli 1967. Sein Grundgedanke: Hierarchische Strukturen verhindern die menschliche Kommunikation, die zum Wesen des Menschen gehört.

  16. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung — Philosophische Fragmente, Amsterdam 1947, S. 5.

  17. Ebd., S. 7.

  18. Ebd., S. 7.

  19. Ebd., S. 8.

  20. Jürgen Habermas, Odyssee der Vernunft in die Natur, in: Die Zeit, 12. September 1969, S. 14.

  21. Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 8.

  22. J. Habermas, Protestbewegung ..., S. 20.

  23. Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 117.

  24. Ebd., S. 24.

  25. Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch, S. 13.

  26. Ebd., S. 13.

  27. Ebd., S. 14.

  28. Ebd., S. 69.

  29. Ebd., S. 262 f.

  30. Ebd., S. 263.

  31. Horkheimer und Adorno, Dialektik .... S. 233.

  32. Ebd., S. 244.

  33. Jürgen Habermas, Odyssee .... a. a. O.

  34. Der Spiegel, Nr. 19, 5. Mai 1969, S. 204.

  35. Ebd., S. 204.

  36. Ebd., S. 206.

  37. Herbert Marcuse, Das Ende der Utopie, S. 15.

  38. Ebd., S. 29.

  39. Ebd., S. 40 f., vgl. auch S. 32 und S. 61.

  40. Horkheimer und Adorno, Dialektik ..., S. 5.

  41. A. Wellmer, a. a. O., S. 141 f.

  42. Der Spiegel, Nr. 19, 5. Mai 1969, S. 209.

  43. Adorno, Marginalien zu Theorie und Praxis, in: Die Zeit, 15. August 1969, S. 10.

  44. A. Wellmer, a. a. O., S. 7.

  45. Ebd., S. 13.

  46. H. Marcuse, Der eindimensionale Mensch, S. 15.

  47. Karl Korsch, Marxismus und Philosophie, Frankfurt 19662, S. 64.

  48. Ebd., S. 48.

  49. Der Spiegel, Nr. 19, 5. Mai 1969, S. 206.

  50. Ebd., S. 204.

  51. J. Habermas, Odyssee ..., a. a. O.

  52. Antworten auf Herbert Marcuse, hrsg. von J. Habermas, Frankfurt 1968; Die Linke antwortet Jürgen Habermas, Frankfurt 1968.

  53. Sozialistische Politik, hrsg. am Otto-Suhr-Institut, 1. Jahrg. Nr. 4, Dezember 1969, S. 20.

  54. Ebd., S. 20.

  55. H. Marcuse, Der eindimensionale Mensch, S. 268.

  56. Wolf-Dieter Narr, Theoriebegriffe und System-theorie, Stuttgart 1969, S. 84 und S. 85.

  57. Karl Marx, a. a. O., S. 208: „Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend."

  58. H. Marcuse, Der eindimensionale Mensch, S. 268.

  59. Der Spiegel, Nr. 33, 11. August 1969, S. 108.

  60. Ebd., S. 109.

  61. Ebd., S. 109.

  62. Vgl. Gespräche der Paulus-Gesellschaft: Christentum und Marxismus — heute, hrsg. von Erich Kellner, Wien 1966.

  63. Vgl. Milan Machovec, Hoffnungen und Befürchtungen der Annäherung, in: Club Voltaire. Jahrbuch für kritische Aufklärung, III, München 1967.

  64. Ernst Bloch, Karl Marx und die Menschlichkeit, Frankfurt 1969, S. 145.

  65. Vgl. u. a. Günther Nenning, Der Papst ist ein guter Sozialist, in: Neues Forum, Heft 160/61, April/Mai 1967.

  66. Johann B. Metz, Religion und Revolution, in: Neues Forum, Heft 162/63, Juni/Juli 1967.

  67. Trutz Rendtorf und Heinz Eduard Tödt, Theologie der Revolution, Frankfurt 1968.

  68. Max Horkheimer in einem Interview mit dem Spiegel, Der Spiegel, Nr. 1/2, 5. Januar 1970, S. 80.

  69. Jean-Paul Sartre, Marxismus und Existentialismus, Reinbek bei Hamburg 1964, S. 26.

  70. Ebd., S. 42.

  71. Ebd., S. 26.

  72. Ebd., S. 33.

  73. Karl Marx, Kritik der Hegeischen Staatsphilosophie, in: Die Frühschriften, hrsg. von S. Landshut, Stuttgart 1953, S. 28.

  74. Vgl. H. Heimann, Freiheit als Idee und Ideologie, in: Der Monat, April 1966.

  75. Karl Marx, a. a. O., S. 29.

  76. Der kritische Rationalismus von Karl R. Popper ist in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung.

  77. Robert Paul Wolff, Jenseits der Toleranz, in: Robert Paul Wolff, Barrington Moore, Herbert Marcuse, Kritik der reinen Toleranz, Frankfurt 1966.

  78. Ebd., S. 58.

  79. Ebd., S. 57.

  80. Ebd., S. 58.

  81. Ernst Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, Stuttgart 1964, S. 65.

  82. Ebd., S. 65.

  83. R. P. Wolff, a. a. O„ S. 56.

  84. Ebd., S. 56.

  85. E. Fraenkel, a. a. O., S. 42.

  86. Ebd., S. 40.

  87. Ebd., S. 44.

  88. Ebd., S. 46.

  89. Ebd., S. 47.

  90. Ebd., S. 41.

  91. Ebd., S. 41.

  92. Ebd., S. 42, vgl. auch S. 142 ff.

  93. Ebd., S. 46.

  94. Ebd., S. 46.

  95. R. P. Wolff, a. a. O., S. 58 f.

  96. E. Fraenkel, a. a. O., S. 45: Ein Gedanke Smends, den Fraenkel für seine Pluralismuskonzeption akzeptiert.

  97. Lucio Lombardo-Radice, Pluralismus in einer sozialistischen Gesellschaft, in: Gespräche der Paulus-Gesellschaft, Christentum und Marxismus — heute, hrsg. von Erich Kellner, Wien 1966, S. 251.

  98. Ebd., S. 252.

  99. Ebd., S. 252.

  100. Hans Kremendahl, Hat der Pluralismus Zukunft?, in: demokratische alternative, 26. Juni 1969, S. 3.

  101. Ebd., S. 3.

  102. Ebd., S. 3.

  103. Lombardo-Radice, a. a. O., S. 253.

  104. Ebd., S. 256.

  105. Ebd., S. 258.

  106. Ebd., S. 258.

  107. Ebd., S. 260.

  108. Karl Marx, Die Heilige Familie, in: Die Früh-schriften, a. a. O., S. 320.

  109. Lombardo-Radice, a. a. O., S. 257.

  110. Vgl. auch Gert Börnsen, Innerparteiliche Opposition — Jungsozialisten und SPD, Hamburg 1969; H. Heimann, Neue Wege des politischen Engagements?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 25/69 v. 21. Juni 1969.

  111. Bruno* Friedrich, Kritik als utopische Aktion, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 25/69 v. 21. Juni 1969.

  112. Bodo Zeuner, Innerparteiliche Demokratie, Berlin 1969, S. 29 ff.

  113. Ebd., S. 29.

  114. Rudolf Wildenmann, Parteipolitische Malaise?, in: Egon Klepsch, Günther Müller, Rudolf Wilden-mann, Die Bundestagswahl 1965, München 1965, S. 29.

  115. Hans Matthöfer, Fraktionszwang und Demokratie, in: Frankfurter Rundschau, 15. Oktober 1969, S. 14.

  116. Walter Euchner, Zum Demokratieverständnis der Neuen Linken, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 32/69 v. 9. August 1969, S. 16; Hannah Arendt, über die Revolution, München 1963, S. 326 f., S. 341.

  117. Informationsdienst der Jungsozialisten, Landes-verband Berlin, Nr. 2, Oktober 1969, S. 18.

  118. Hans-Jürgen Heß, Die innerparteiliche Entwicklung der Berliner SPD von 1958— 1963, Diplomarbeit Nr. 384 am Otto-Suhr-Institut in Berlin 1965, S. 54.

  119. Ebd., S. 54.

  120. Zitiert als Motto bei Ulrich Beer, Parteipolitik — Mißtrauen oder Mitwirkung?, S. 1.

Weitere Inhalte

Horst Heimann, geb. 1933, Diplom-Politologe, wissenschaftlicher Tutor am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin, Studium der Politologie, Geschichte und Philosophie in Berlin und Paris. Veröffentlichungen: Freiheit als Idee und als Ideologie, in: Der MONAT, April 1966; Israels Wirtschaftsordnung, in: Israel — Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, hrsg. v. Kurt Sontheimer, München 1968; Neue Wege des politischen Engagements?, in: Aus Politik und Zeit-geschichte, B 25/69 v. 21. Juni 1969.