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Demokratisierung und politische Praxis | APuZ 38/1970 | bpb.de

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APuZ 38/1970 Demokratisierung und politische Praxis Ungelöste Probleme in der politischen Bildungsarbeit Emanzipation und Mitverantwortungsbereitschaft

Demokratisierung und politische Praxis

Theodor Eschenburg

/ 27 Minuten zu lesen

I.

Walter Jacobsen: Ungelöste Probleme in der politischen Bildungsarbeit .... S. 15

Dem modernen Staatsbegriff will es nicht mehr gelingen, sich in unschwer verständlichen Definitionen darzustellen. Das Wesen des Staates in unserer veränderten und immer noch stark sich wandelnden Gesellschaft in den Griff zu bekommen, ist kaum mehr möglich. Je mehr wir uns von der Tradition entfernen, desto größer wird das Bedürfnis nach neuen Begriffen. Politische Institutionen tun den Lehrern und den Lehrbüchern nicht den Gefallen, daß sie bei ihrer Entwicklung Rücksicht auf ihre Definierbarkeit nehmen. Die modernen, äußerst diffizilen politischen Konstruktionen und Erscheinungen steigern das Bedürfnis nach deren begrifflicher Erfassung und erschweren sie zugleich. Goethe meinte noch, „denn eben wo Begriffe fehlen, da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein". An Begriffen mangelt es heute nicht, aber die neuen Begriffe können vielfach nicht mehr ohne weiteres begriffen werden. Das zeigt sich in dem schwer und für viele fast unverständlichen Wortschatz gerade der modernen Soziologie.

Der alte, im Kern rationale Staatsbegriff, wie wir ihn noch vor 50 oder 60 Jahren gekannt haben, war mit einer mehr oder minder dicken Mythosschicht umgeben. Diese ist durch das Dritte Reich zersetzt worden und im Laufe der Zeit abgefallen. Staatsdarstellung und Staatsbewußtsein müssen in ihrer Wechselwirkung gesehen werden. Heute erscheint vielen der Staat als ein kahles Gebäude, das für die Gesellschaft jedoch unentbehrlich ist.

Der Soziologe Konstantin Frantz hat vor 100 Jahren den Staat „die Behörde der Gesellschaft" genannt. Diese Faustformel entspricht heute den Vorstellungen weiter Kreise. Als Behörde tritt der Staat durch Gebote und Verbote, durch Genehmigung und Ablehnung, durch Verpflichtung und Bestrafung, durch Auferlegung und Gewährung von Leistungen auf. Das von Luther eingehämmerte, viel mißbrauchte Wort „Obrigkeit" ist heute verpönt. Aber die Behörde — die Polizei, das Bau-und Straßenverkehrsamt, die Schulverwaltung, das Finanzamt, die Ortskrankenkasse, die Veterinärabteilung — erscheint dem Bürger als Obrigkeit. Das Leben einer so differenzierten, hochtechnisierten Gesellschaft mit deren Ordnungs-und Daseinsvorsorgemaßnahmen ist ohne „Obrigkeit" schlechthin nicht funktionsfähig. Die Straßenverkehrspolizei bietet ein gutes Beispiel. Wer ein Verkehrsvergehen begangen hat, ärgert sich über die Intervention und auch über deren Grad seitens der Polizei, und wer selber unter der Verkehrsverletzung eines anderen zu leiden hat, meint plötzlich, die Polizei trete zu milde auf.

Es gibt eine Reihe von Elementarfunktionen, die jeder Staat ohne Unterschied der Art der Verfassung heute zu erfüllen hat. Kein moderner Staat vermag beispielsweise ohne Straßen-verkehrsordnung auszukommen. Diese bedarf der Überwachung. Die Gesundheitsverwaltung ist eine Einrichtung, die in fast allen Staaten existiert. Dazu gehört die Seuchen-und Lebensmittelkontrolle ebenso wie die Kontrolle über Arzneimittel. Alle Länder über-wachen Ein-und Ausreise. Die Schulen sind in nahezu allen Staaten in öffentlicher Hand, schon weil keine andere in der Lage wäre, diesen Aufwand finanziell zu decken. Wo Schulen, Schulhäuser, Schulinventar und Schulbüchereien sind, da ist Verwaltung notwendig. Und Verwaltung ist ohne Lenkung nicht möglich. Kontrolle und Koordinierung gehören zu deren wesentlichen Aufgaben.

Wer durch Moskau geht, der findet eine Fülle von Staatsfunktionen, die mit denen in der Bundesrepublik oder in den Vereinigten Staaten vergleichbar sind. Die „Obrigkeit" ist unerläßlich. Die Frage ist, wer sie bildet, wer ihr welche Befugnisse gibt, ob und wie sie kontrolliert wird.

Der Mann auf der Straße neigt dazu, in den Ämtern, gleichgültig ob sie solche des Bundes oder der Länder, Gemeinden oder Sozialversicherung sind, ohne Unterscheidung den Staat schlechthin zu sehen. „Das System von Ämtern und Gesetzen" glaubt er in diesen einen Begriff zusammenfassen zu können. Auch aus dieser Vorstellung entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen Staat und Gesellschaft.

II.

Gesellschaft ist noch viel schwerer zu definieren als Staat. Und zwar aus einem einfachen Grunde: Der Staat ist eine konkrete, faßbare Einrichtung. Jeder von uns merkt, wenn er über eine Grenze geht, den Staät, den Unterschied von Gewalten verschiedener Staaten. Staatsgewalt, Staatsvolk und Staatsgebiet sind konkrete Erscheinungen. Der Staat ist handlungsfähig kraft seiner Staatsgewalt und seiner Organisation. Die Gesellschaft als solche ist nicht handlungsfähig, sie ist ein fiktiver Begriff, ein Hilfsmittel des Denkens. Die Holländer haben ein treffendes Wort für Gesellschaft gefunden; sie sägen „das Zusammenleben". Gesellschaft im Bereich eines Staates ist das strukturelle Gefüge der Bevölkerung in seinen zahllosen Erscheinungen. Der letztlich als Einheit organisierte Staat steht der als Vielfalt vorhandenen Gesellschaft gegenüber. Zweifellos wirkt Gesellschaft je nach ihren verschiedenen Strukturen — das überwiegen von Agrarwirtschaft oder Industrieproduktion, die Einkommens-und Vermögens-unterschiede sind gesellschaftliche Faktoren, die man feststellen kann.

III.

Die absolutistische Staatsform vom Ende des 17. Jahrhunderts bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts mit dem omnipotenten Herrscher kannte nur den Staat. Die Menschen waren Untertanen. Erst die Aufklärung des 18. Jahrhunderts unterschied zwischen Interessen des Staates und denen von Personen, die in ihm leben. Wenn der Staat auf sie nicht Rücksicht nimmt, so sollten sie Mittel und Wege finden, ihre Interessen zur Geltung zu bringen. Dem Begriff vom Staat als der Machtorganisation steht der von der Gesellschaft mit ihren mannigfaltigen Interessen als das Gefüge der in ihm lebenden Personen gegenüber. Der Staat kann letztlich immer nur einheitliche Entscheidungen treffen. Die Gesellschaft hat eine mannigfaltige Möglichkeit, ihren Interessen Ausdruck zu verschaffen, was noch nicht bedeutet, daß sie sie auch zur wirksamen Geltung bringen kann.

Ansätze zu einem Dualismus von Staat und Gesellschaft zeigen sich in der konstitutionellen Monarchie zu Beginn des vorigen Jahrhunderts. Der Monarch bleibt zwar Herr des Staates, vor allem von Heer und Verwaltung, aber er ist an Verfassung und Gesetz gebunden. Die Gesellschaft schafft sich im Parlament eine Einrichtung, um an der Gesetzgebung mitzuwirken, an der auch der Monarch beteiligt ist.

Mit Gesellschaft war damals nur eine Obergesellschaft, die begüterte Adels-und Mittel-schicht gemeint. Von Immanuel Kant stammt die einfache Faustregel, daß der Lohnabhängige nicht zur politischen Mitbestimmung befugt sei. So war nur wahlberechtigt, wer auch direkte Steuern bezahlte, denn er spürte die Auswirkung seiner Entscheidung an seinem eigenen Geldbeutel. Diese Theorie hat in der Praxis bis 1918 gegolten. Wer arbeitslos war, war auf die städtische Armenfürsorge angewiesen. Und wer Armenfürsorge erhielt, hatte kein Wahlrecht. Das war Gesetz und ist erst 1918 abgeschafft worden.

Die Einführung des allgemeinen gleichen Wahlrechts in Deutschland 1867, das allerdings zunächst nur auf Männer beschränkt war, ist auf längere Sicht hin gesehen ein entscheidender Ansatz zur demokratischen Politisierung der Gesellschaft geworden und damit zu deren politischen Emanzipation. Auch mit wachsender Parlamentarisierung bleibt der Staat das Steuerungsorgan der Gesellschaft; aber diese bestimmt über den Weg von Parteien und Verbänden durch einen vielschichtigen Prozeß die Politik des Steuerungsorgans. Heute spricht man vom Staat als politischer Organisation der Gesellschaft, der im Staat organisierten Gesellschaft.

Der Staat war im Zeitalter des Absolutismus der Monarch. Als ein französischer Richter von „König und Staat" gesprochen hatte, soll Ludwig XIV. ausgerufen haben: „L’etat c’est moi!" Zu jener Zeit war man noch der Auffassung, daß die Gesellschaft überhaupt nur existieren könne, wenn ein übergeordneter unabhängig von ihr sie regierte, nämlich der absolute Monarch. Niemals hat es aber tatsächlich einen über der Gesellschaft stehenden Alleinherrscher gegeben. Jeder Herrscher mußte sich auf eine Oberschicht stützen, um zu herrschen, und diese mußte er prämieren, zum mindesten schonen — das war vorwiegend der Adel.

IV.

Der Konflikt zwischen Staat und Gesellschaft setzte aus einer Interessenlage des Bürgertums ein, das vor allem durch die Entwicklung der Technik — besonders nach Erfindung der Dampfmaschine — in der Lage war, seine Gewerbe auszubauen. Es war nicht mehr bereit, sich den reinen Agrarinteressen des hoch-privilegierten grundbesitzenden Adels unterzuordnen. Das war der gesellschaftspolitische Anlaß der französischen Revolution. Diese richtete sich nicht nur gegen den Herrscher, sondern mehr noch gegen die ihn tragende und von ihm geschützte Oberschicht. Das Bürgertum hat vor allem während des neunzehnten Jahrhunderts in einem langen Prozeß sich seine Emanzipation gegenüber dem Adel erkämpft. Sehr bald, nämlich in den vierziger Jahren, trat aber ein neuer Gegner durch die erste industrielle Revolution auf, deren Intitiator, Schrittmacher und Nutznießer das Unternehmertum war. Das war die lohnabhängige Arbeiterschaft. Das Bürgertum, das keineswegs eine homogene Schicht war, führte nunmehr einen Zweifrontenkrieg gegen die bestehende Macht von Monarch und grundbesitzendem Adel einerseits und andererseits gegen die vor allem durch die Einführung des allgemeinen gleichen Wahlrechts anwachsende Macht der Arbeiterschaft. Aus dieser Angst vor der Arbeiterschaft, die sich damals noch Proletariat nannte, entstand die Tendenz eines Teils des liberalen Bürgertums zur autoritären, konservativen Haltung; es suchte Schutz bei den Monarchen und der monarchischen Verwaltung.

Das allgemeine gleiche Wahlrecht war der Ansatz zur Demokratisierung der Parlamente, und diese wiederum führte zum sogenannten parlamentarischen System, in dem die Regierung nicht kraft monarchischer Entscheidung gebildet wird, sondern aus dem vom Volk gewählten Parlament durch dessen Mehrheit.

Formalrechtlich erfolgte die Umschaltung von der Fürstensouveränität zur Volkssouveränität schlagartig durch die Weimarer Verfassung von 1918, tatsächlich vollzog sich die Wandlung gleitend durch ein Jahrhundert. Zwar führte die Revolution von 1918 zunächst zu einer kurzfristigen sozialistischen Diktatur, aber sie wurde aufgefangen durch die Weimarer Nationalversammlung, die rechtlich das parlamentarische System einführte.

Der Wandel von Fürstensouveränität zur Volkssouveränität hat auch zum Vergleich mit der Umkehrung einer Pyramide angeregt. Dieser Vergleich ist falsch. Zwar war die Spitze abmontiert, aber die abgeflachte Pyramide bleibt bestehen. Der Prozeß der Besetzung und damit die Zusammensetzung der Spitze ändern sich allerdings grundlegend, und das führt zur Wandlung des Regierungsverfahrens sowie der Ergebnisse der Politik von Regierung und Parlament. Anstelle der Erbfolge mit dem Recht auf lebenslängliche Herrschaft und der Einzelentscheidung trat die Wahl und die Mehrheitsentscheidung. Wie stark die Wahlen auf die Politik einzuwirken vermögen, erleben wir mindestens alle vier Jahre bei den Bundestagswahlen, manchmal auch bei den Landtagswahlen. Man braucht nur an die Wahlgeschenke zu denken.

In der repräsentativen Demokratie sind Regierungsbildung und Gesetzgebung von periodisch wiederkehrenden, unaufschiebbaren allgemeinen, gleichen Wahlen abhängig. Der Wähler wird nicht ausgelesen, ebensowenig wie der Monarch. Er ist da kraft seiner Staatsangehörigkeit und seines Lebensalters. Eine Manipulierung der Wählerzahl ist nicht möglich. Was heißt wählen? Durch Auswahl ermächtigen. Dabei bieten dem Wähler Richtlinien und Spitzenkandidaturen der Parteien Orientierungshilfe.

V.

Weder die französische Revolution von 1789 noch die deutschen Revolutionen von 1848 und 1918 haben den Staat als solchen in Frage gestellt. Es ging ihnen um grundlegende Änderung der Organisation und der Bildung von Regierungsinstitutionen und Entscheidungsprozessen.

Da der Staat nur von oben nach unten regieren kann, blieb er „Obrigkeit". Die Demokratie, deren Prozedur von unten nach oben verläuft, von den Wahlen des Urwählers zum Parlament, von dort zur Regierungsbestellung, geht genau die entgegengesetzte Richtung. Hier entsteht der Spannungszustand zwischen zwei Erscheinungen mit gegenläufigen Tendenzen.

Das beliebte Wort „der Staat sind wir", das in Analogie zum Wort Ludwigs XIV. gebildet wurde, ist eine Utopie, denn in jeder Gesell-5'schäft, wie immer sie konstruiert sein mag, können es nur wenige sein, die regieren. Der Staat hat eine Eigengesetzlichkeit, die einen mehr oder minder weiten, aber dennoch begrenzten Spielraum für Änderungen zuläßt.

Rousseau hatte im 18. Jahrhundert noch geglaubt, daß die Volksversammlung die Grundsatzentscheidungen zu treffen habe und von ihr Beauftragte diese zu vollziehen hätten. Das Rousseausche System wäre schon damals in großen Ländern wie Frankreich und England gar nicht praktikabel gewesen. Man entwikkelte einen anderen Typ, die repräsentative

Demokratie. Das gewählte Parlament gilt als die Miniaturausgabe des Volkes. Aus ihm geht durch wahlbedingte Mehrheitsentscheidung die Regierung hervor. Es handelt sich für den Fall, daß keine Partei die absolute Mehrheit hat, um eine wahlbedingte, nicht um eine wahl-abhängige Entscheidung. Dann gibt es nicht eine, sondern mehrere Möglichkeiten für die Bildung von Koalitionsmajoritäten, über die die Gewählten, die Fraktionen, nicht mehr die Wähler zu befinden haben. An diesem Beispiel zeigt sich, wie leicht es ist, eine politische Idee zu entwickeln, wie ungeheuer schwer es hingegen ist, sie organisatorisch zu realisieren.

VI.

Die repräsentative Demokratie war und ist ein Notbehelf der reinen Idee der Demokratie. Dasselbe gilt für die Wahlen. Die Wahlen sind ein Notbehelf, weil organisatorisch anders in einem Staat ein vom Volk ausgehender Willensbildungsprozeß überhaupt nicht möglich wäre. Die Realisierung von Ideen der politischen Ordnungsgestaltung muß im Zusammenhang mit der Organisationsgesetzlichkeit gesehen werden.

Das mag an einem Beispiel demonstriert werden. Es ist ein großer Unterschied, ob 20 Personen in einem Raum miteinander entscheiden, ob es 500 oder 5000 sind. 20 Personen können nämlich noch miteinander reden. Sie brauchen keine feste Tagesordnung, sofern eine gewisse Disziplin herrscht. Es geht im wesentlichen sogar ohne Wortverteilung. Direkte Erwiderung ist jederzeit möglich. Die Teilnehmer können einen Gegenstand in einer relativ kurzen Zeit miteinander nach allen Seiten hin beraten. Die Beratungsergiebigkeit und die Entscheidungsfähigkeit sind verhältnismäßig groß, der Zeitaufwand gering, aber der Repräsentationsgrad ist niedrig. Bei 500 Personen kann überhaupt eine Beratung nur dann stattfinden, wenn vorher eine Tagesordnung genau festgelegt ist und auch eingehalten wird, wenn ein Versammlungsleiter gewählt und eine Geschäftsordnung beschlossen ist. Beratung und Abstimmung stehen unter der Herrschaft des Verfahrens. Ohne Vorbereitung und Vorentscheidung in kleineren Gremien, z. B. Fraktionen oder Ausschüssen, ist die Versammlung gar nicht funktionsfähig. Sie vermag nicht Entscheidung zu finden, sondern nur über Vor-entscheidung zu beraten und diese abzuändern, um sie dann anzunehmen oder abzulehnen. 5000 können nicht mehr beraten, sie können nur noch ja oder nein sagen, weil es gar keine angemessene Kommunikationsmöglichkeit gäbe. Diese aus der Quantität der Beteiligten sich ergebende Organisationsgesetzlichkeit gilt für alle Systeme.

Man kann das auch umdrehen und sagen: wenn die Volksmenge von 5000 oder mehr nur ja oder nein sagen kann, so ist demokratische Wirksamkeit nur gegeben, wenn vorher Versammlungen beraten und die Entscheidungsmöglichkeiten aussortieren und wenn diesen Versammlungen Beratungen und Vorentscheidungen von Kollegien voraufgegangen sind. In dieses quantitativ bestimmte Abstufungssystem von Beratungs-und Entscheidungsgremien mit ihren qualitativen Unterschieden von Beratung und Entscheidungsverfahren paßt das imperative Mandat nicht, eben jenes, das von den Wählern jederzeit widerrufen werden kann. Abgesehen davon, daß die Einführung des imperativen Mandats in einer Massengesellschaft kaum organisiert werden kann, würde es das Stufensystem der repräsentativen Demokratie aus den Angeln heben.

VII.

Die repräsentative Demokratie kann nicht das Idealbild der Demokratie ersetzen, sie versucht nur, organisatorisch ihr nahe zu kommen. Eine Demokratie in Reinkultur gibt es nicht, son-dern nur Mischsysteme. Das gilt nicht nur für die Bundesrepublik, sondern ebenso für Italien und England wie für die Vereinigten Staaten. Die Verfassungen mischen sich aus demokraB tischen — das ist vor allem die Volkswahl, die Abstimmung im Parlament —, aus monokratischen und aus oligarchischen Elementen. Monokratie hießt Alleinherrschaft, Oligarchie Herrschaft von wenigen.

Die Bundes-und Landesbehörden vom einzelnen Ministerium bis zum untersten Amt sind monokratisch und damit zugleich hierarchisch organisiert. Der demokratischen Ermächtigung entspricht das Recht zu demokratischer Kontrolle. Voraussetzung für wirksame Kontrolle ist, daß es jeweils Verantwortliche gibt. Verantwortlich könnnen auch Kollegien sein, aber wegen des Unterschiedes in den Abstimmungen kann die Verantwortlichkeit schwer geltend gemacht werden. Verantwortlich auf der Regierungsebene sind die Minister. Wenn sie aber verantwortlich sein sollen, dann müssen sie Weisungsrecht haben, dem Gehorsams-pflicht entspricht. Das monokratische Element ist zwar aus dem Absolutismus übernommen, aber heute nach den bisherigen Erfahrungen zur Funktionsfähigkeit des demokratischen Systems notwendig, und es ist in die demokratische Konstruktion eingebaut.

Ein weiteres, vielfach unterschätztes und doch bedeutsames monokratisches Element ist die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers. Es gibt eine Reihe von Fragen, wo der Bundeskanzler allein zu entscheiden befugt ist, wenn auch nach vorheriger Beratung im Kabinett. Ein Ressortminister kann die Befolgung der Richtlinien verweigern; er kann dann von sich aus demissionieren oder entlassen werden, was u. U. zur Regierungskrise führen kann. Insofern handelt es sich um ein gegebenenfalls mit Risiko belastetes Recht. Aber diese Befugnis dient der Einheitlichkeit der Politik und der Entscheidungsfähigkeit der Regierung.

Die Bundesregierung ist eine oligarchische Einrichtung. Sie ist ein Gremium von z. Z. 16 Personen, das an Weisungen des Parlaments, sofern sie nicht in Form von allgemein verbindlichen Bestimmungen erlassen sind, nicht gebunden ist. Sie ist ermächtigt und verantwortlich. Sie kann frei entscheiden, aber geht das Risiko ein, daß ihre Entscheidungen vom Parlament mißbilligt werden oder daß sie sogar, wenn auch unter erschwerten Umständen, abberufen wird.

Der Willensbildungsprozeß in der Demokratie muß nicht durchgängig demokratisch, aber er muß demokratisch fundamentiert sein, so durch Wahlen zum Parlament, durch dessen Bundeskanzlerwahlen und durch mehrheitliche Verabschiedung von Gesetzen. Die Entscheidungen der Regierung und der Minister müssen demokratisch kontrolliert werden können, im äußersten Fall durch die Sanktion der Abberufung. Nach einem Wort des Bundesverfassungsrichters Leibholz ist es nicht die Aufgabe der Demokratie, daß das Volk den Führenden Aufträge gibt, „sondern daß die jeweilige Partei offen in ihrer Autorität mit Hilfe des Mehrheitsprinzips von unten her vertrauensmäßig legitimiert werde". Oder um es anders auszudrücken: die Führung, die Regierung, muß Rückenwind von der einen Mehrheitspartei oder von der Mehrheitskoalition bekommen. Dafür muß sie Sorge tragen, was ohne Auseinandersetzung oft nicht möglich ist. Es kommt auf die mittelbare Wirkung des demokratischen Systems an, der Wähler beauftragt nicht den Abgeordneten und die Partei, sondern ermächtigt diese, die Mehrheitsfraktion oder die Mehrheitskoalition ermächtigt den Bundeskanzler, sie beauftragt ihn jedoch nicht. Die demokratische Bindung wird aber bewirkt durch das Interesse an der Wiederwahl, und das soll zur demokratischen Ergiebigkeit der Entscheidungen führen. Deshalb sind die hohen Ämter in der Demokratie Ämter auf Frist oder, wie bei denen des Bundeskanzlers und der Bundesminister, auf jederzeitigen Widerruf.

VIII.

Alle historischen Periodisierungen sind unzulänglich, weil sich die Geschichte in ihrem tatsächlichen Ablauf nicht nach den Bedürfnissen von Geschichtsbüchern richtet. Aber Periodisierungen verhelfen zur Übersichtlichkeit. Ist es zu verwegen, in der Einführung des parlamentarischen Systems auf der Basis des allgemeinen gleichen Wahlrechts den Abschluß der ersten Demokratisierungsphase zu sehen?

Deren Beginn hatte sehr schnell eine zweite, sie überkreuzende Demokratisierungsphase ausgelöst, nämlich die des sozialrechtlichen Schutzes der numerisch größten, wirtschaftlich schwächsten Schicht, der Arbeitnehmer. Diese durchzog die Weimarer Zeit und findet in der Bundesrepublik ihre Fortsetzung. Die sozial-rechtliche Sicherung ist eine Folge der Demokratisierung in der ersten Phase und stärkt zugleich deren Effektivität. Seit Mitte der sechziger Jahre scheint es so, als ob eine dritte Demokratisierungsphase eingesetzt hätte, die Demokratisierung der Demokratie. Demokratisierung ist eines der gängigsten Schlagworte unserer Tage. Diese Forderung ist international, sie ist aber in der Bundesrepublik auf besonders fruchtbaren Boden gefallen. Demokratisierung heißt, mehr Demokratie machen. Sie richtet sich gegen die oligarchischen und monokratischen Elemente. Sie fordert Verstärkung der Parlamentsmacht, Öffentlichkeit der Ausschußsitzungen, Einführung von Sach-und Personalplebisziten, Mitbestimmung in der Verwaltung, Steigerung und Ausdehnung der Transparenz des politischen Entscheidungsprozesses; sie verlangt mehr Teilhabe an der Herrschaft und zugleich Abbau von Herrschaft, wo immer sie besteht. Es wird weiterhin eine Demokratisierung der Mittel, um politische Entscheidungen zu erzwingen, gefordert und praktiziert. Das gilt für Demonstrationen, die die Grenzen der Legalität überschreiten, und für Streiks oder streik-ähnliche Aktionen von bestimmten Beamten-gruppen, aber auch von Studenten und Schülern. Wie sehr spektakuläre demokratisierende Praxis Institutionen ohne voraufgegangene rechtliche Regelung zu verändern vermag, hat die Entwicklung an den Hochschulen gezeigt. Flier ist eine neue Konstruktion entstanden, die ständisch gegliederte Demokratie. Ihre Funktionseignung muß noch erprobt werden. Man spricht von unmittelbaren Aktionen. Man praktiziert sie nicht nur, man beansprucht auch deren Legitimierung. Die unmittelbaren Aktionen haben sich in den Hochschulen für die, die sie betrieben haben, als ein großer Erfolg erwiesen. Deren Androhung oder partielle Durchführung hat sich für einige Beamten-kategorien als ganz ergiebig gezeigt. Wird diese Art sich auf andere Bereiche ausbreiten, wird sie dadurch unser politisches Leben verändern oder wird sie sich bald, gegebenenfalls durch gegenseitige Blockierung, abnutzen? Bei den Ansprüchen auf institutioneile Steigerung und Ausweitung des politischen Selbst-und Mitbestimmungsrechts wird man die Frage stellen müssen — zumindest dürfen —, wie die institutioneilen Veränderungen funktionieren und welche Effektivität ungeachtet der Richtung sie haben können. Im Zusammenhang damit wird die Frage nach dem Aufwand an Kraft, Zeit und Geld nicht zu umgehen sein. Es handelt sich nicht darum, Vorwände zu suchen oder zu konstruieren, um Demokratisierung zu verhindern, sondern deren mögliche Folgen zu kalkulieren. Wenn man neue Institutionen schafft oder bestehende verändert, muß man deren Organisierbarkeit, Funktionsfähigkeit und Effektivität abwägen. Im Detail steckt der Teufel.

Gefordert wird auch die Demokratisierung der Parteien, die zwischen Staat und Gesellschaft stehen, gleichsam als Transmission fungieren, um Demokratie, repräsentative Demokratie, so wirksam zu machen. Die Demokratisierung in den Parteien wird seit einigen Jahren in verstärktem Maße praktiziert. Die Parteitage sind heute nicht mehr Paraden, wie sie es früher waren. Die Auswechselung von aussichtsreichen Parlamentskandidaten ist häufiger geworden, die Aussprache wird weniger manipuliert. Der Grad der Demokratisierung ist in den einzelnen Parteien allerdings verschieden. Am relativ ausgeprägtesten tritt sie in der SPD in Erscheinung. Es mag noch ein Spielraum für weitere Demokratisierung bestehen, aber dieser Demokratisierung sind irgendwo Grenzen im Interesse der Aktionsfähigkeit und Operationsflexibilität der untereinander rivalisierenden Fraktionen und Parteien gesetzt. Zur Akzentuierung des Volkswillens, zur Meinungsbildung der Partei gehört die Reduzierung in der Meinungsvielfalt. Forderungen müssen entscheidungsfähig gemacht werden, weil das Parlament nur zwischen wenigen Entscheidungsmöglichkeiten auswählen kann.

Die viel beklagte oligarchische Struktur der Parteien ist nicht nur aus dem Machtstreben der Führenden zu erklären; der Engpaß, in den infolge der alternativen Fragestellung parlamentarische Entscheidungen geführt werden, drängt immer von neuem zur Oligarchisierung; Mehrheitsbildung im Parlament erfordert, wenn keine Partei die absolute Mehrheit hat, Abreden mit anderen. Dazu kommen vielfach Vereinbarungen mit interessierten Verbänden. Hier kann die Marschroute häufig nicht vorher festgelegt, sondern höchstens das Ergebnis nachträglich gebilligt werden. Je mehr eine Partei auf die Kooperation mit anderen Organisationen angewiesen ist, desto stärker die Hemmung zur Entfaltung der innerparteilichen Demokratie in dieser Partei.

Die Fraktionen von CDU und SPD haben die Größe eines Parlaments, was den Fraktionsvorständen, z. T.den Fraktionsvorsitzenden, ein Übergewicht gibt. Demokratisierung vermag den Grad der Oligarchisierung zurückzudrängen, aber die Tendenz nach Oligarchisierung wird unter dem Druck der Verhältnisse, durch den Systemzwang immer von neuem auftreten. In einem durch Föderalismus und Kommunalautonomie dezentralisierten Partei-und Verbändestaat ist die Zahl der mittelbar und unmittelbar Entscheidungsbeteiligten so groß, daß allein auf der horizontalen Ebene des Bundes gerade bei der Gesetzesvorbereitung der horizontale Prozeß von Information und gegenseitigen Abstimmungen zwischen Ressortministern, Fraktionsvorsitzenden und Parlamentsexperten, Landesregierungen und Interessenorganisationen aller Art äußerst umständlich und langwierig ist. Es erfordert ein so hohes Maß an Zeit und Kraft, daß der vertikale Prozeß zwischen Parteivolk, Parteiführung, Fraktion und Fraktionsspitze, aber auch zwischen Verbandsführung und Verbandsvolk zwangsläufig leiden muß. Der Aufwand an psychischer und physischer Kraft ist ebenso ein politischer Faktor wie der an Zeit. In einem so zeitraubenden System wie der Demokratie ist Zeit Mangelware. Wer über den Faktor Zeit, sei es zur Beschleunigung, sei es zur Verschleppung von Entscheidungen, verfügt, hat Macht.

Die die Demokratisierung fordern, zeigen Ungeduld und drängen zu Aktionen. Aber die durch Demokratisierung veränderten Institutionen und Verfahren werden noch mehr Geduld verlangen.

IX.

Die Hochschulreform gerade in ihrem akuten Stadium der letzten Jahre nimmt so viel Zeit in Anspruch, weil das Verhandlungsgefüge zur Vorbereitung der Reform sich immer weiter ausgedehnt hat und komplizierter geworden ist. Die Demokratisierung führt zur Freizeitbeschränkung. Zwar tagen die der Demokratisierung dienenden Gremien vielfach, aber keineswegs immer während der Arbeitszeit, aber die vorbereitenden Beratungen der Gruppen, die unerläßlich sind, finden meist an Abenden oder am Samstag statt. Nun mag diese Freizeitbeschränkung als eine private Angelegenheit jedes einzelnen angesehen werden. Aber zu ihr sind meist nur die besonders stark Engagierten, nämlich die Radikalen bereit. Die Radikalisierung der Studentenschaft, der Studentenvertretungen in den Senaten, Fach-bereichen und Instituten der Hochschulen beruht vielfach darauf, daß die Radikalen sich hineindrängen, während die weniger Engagierten und die Gemäßigten den Wahlen fernbleiben und sich zur Kandidatur nicht bereit finden.

Wird Demokratisierung wirklich mehr Demokratie bringen? In der Routine des Alltags werden Indolenz auf Elan, Apathie auf Spontaneität folgen. Es ist sehr wahrscheinlich, daß dann neue Oligarchisierungserscheinungen anstelle der gerade beseitigten treten werden. Man wird wohl fragen dürfen, ob die Mitbestimmung in der Verwaltung nicht zur Herrschaft von Bediensteten, Verbänden der öffentlichen Bediensteten über die Verwaltung oder zu deren starken Einwirkung auf diese führen wird. Man denke auch an jene, welche die sich aus einer Demokratisierung ergebende Problematik zwar erkennen, aber unter dem Aspekt von Effektivität und Funktionsfähigkeit durch raffinierte Manipulationen meistern zu können glauben. Dann wird Demokratisierung zur Kulisse. Manche mögen Demokratisierung fordern und betreiben zum Zwecke der Auswechselung des Establishments, zur Ablösung der bestehenden Oligarchie durch eine andere. Dann wäre Demokratisierung nicht ein Ziel, sondern lediglich nur ein Mittel, um die bisherige Repräsentation durch eine neue zu ersetzen. Mittel, wenn auch in ganz anderem Sinn, ist Demokratisierung für jene, die sich ihrer zu revolutionären Zwecken bedienen wollen. Radikale Studentengruppen wollen die Hochschulen — um sich ihres Vokabulars zu bedienen — umfunktionieren und sich der umfunktionierten Universität zur Revolutionierung von Staat und Gesellschaft bedienen. Nicht immer leicht von der revolutionären Richtung ist die anarchistische zu unterscheiden. Sie will den Staat demontieren, die Gesellschaft von Herrschaft schlechthin befreien. Was kostet Demokratisierung? Das läßt sich nicht abschätzen, zumal der Aufwand für die einzelnen Bereiche sehr verschieden ist; aber er wird sehr beachtlich sein.

Aber haben diejenigen, die die Demokratisierung ernstlich erstreben, an der Realität orientierte Vorstellungen über Funktionsfähigkeit und Effektivität der neuen oder grundlegend veränderten Institutionen und Verfahren? Man kann dem entgegenhalten, Einwände sind immer gegen Reformen gemacht worden. Dafür sind die öffentlichen Diskussionen in Wort und Schrift aus den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, also vor und nach der Revolution von 1848, und aus den beiden ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts, also vor und nach der Revolution von 1918, ein Beispiel. Es handelt sich aber nicht um die unvermeidlichen An-fangsstörungen, sondern um anhaltende Funktions-und Effektivitätsminderung. Das Wort Effektivität ist weder eine Ausrede noch leeres Geschwätz in einer Zeit, wo ständig steigende Effektivitätsansprüche an den Staat gestellt werden. Es geht der Demokratisierung um Abbau von Herrschaft, Herrschaft der Gesetze war ein Schlagwort zu Ende des achtzehnten und zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts. Als sie zu Beginn des Frühkonstitutionalismus zunächst zaghaft einsetzte, wurde das als ein großer Fortschritt gepriesen. Das vom Parlament verabschiedete Gesetz sollte Schutz vor der Willkür des Monarchen gewähren. Heute wird gerade in Kreisen der Radikalen die Gesetzesherrschaft als erdrükkende Last empfunden. Für nicht wenige von ihnen gelten Gesetze als Stützen bestehender Herrschaftsverhältnisse. Sie sollen sofort dank einfacher Mehrheitsbeschlüsse außer Kraft gesetzt oder abgeändert werden. Nun sind sicherlich manche Gesetze überholt, aber auch diese können nur auf dem verfassungsrechtlich und gesetzlich vorgeschriebenen Weg geändert werden. Das erfordert mehr oder minder lange Fristen. Hier handelt es sich keineswegs um Formalismus, sondern um ein im ganzen sinnvolles Verfahren. Diese Demokratie ist ein Rechtsstaat. Das bedingt, daß die Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung an Gesetz und Recht gebunden sind (Art. 20 Abs. 3 GG). In dieser Bindung liegt die stabilisierende Macht der Demokratie. Wollte man Gesetzesherrschaft durch beliebige Mehrheitsbeschlüsse abschaffen in der Weise, daß Maßnahmen aufgrund von Beschlüssen mit einfacher Mehrheit ohne Gesetzesbindung getroffen werden, wie es sich radikale Anhänger der Demokratisierung vorstellen, dann haben wir nicht nur die Rechtssicherheit des Bürgers, nämlich die Möglichkeit der Berechenbarkeit des Rechts, aufgegeben, sondern „das System von Ämtern und Gesetzen" aufgehoben. Letzteres ist ein revolutionäres und auch anarchistisches Ziel. Wer aus revolutionären Gründen, durch einfache Mehrheitsentscheidung das komplizierte Gesetzgebungsverfahren ablösen will, hat von seinem Standpunkt aus Recht.

Aber wenn man von den revolutionären Bestrebungen und Wirkungen absieht, so bleibt die Frage: sind denn Effektivität und Funktionsfähigkeit so wichtig, wenn eine grundlegende Bewußtseinswandlung eingetreten ist, der politisch entsprochen werden sollte? Der Würde des Menschen entspricht ein so weit als irgendmöglich gehendes Selbst-und Mitbestimmungsrecht. Die Wandlung des Menschenbildes tendiert in Richtung auf eine ihr gemäße Veränderung des politischen Mechanismus. Man wird aber fragen müssen, in wie weite Kreise die Bewußtseinswandlung gedrungen ist. Die erstaunlich geringe Beteiligung der Studenten, die Avantgardisten waren, an den Hochschulen bietet Anhaltspunkte. Manch kleine Minderheiten erzielten Wirkung nicht durch Belehrung und Werbung, sondern durch massiven Druck. Hier ist Herrschaft nicht abgebaut, sondern verlagert, was noch ein euphemistischer Ausdruck ist. Man muß zwischen modischer Richtung und ernsthaftem Reformwillen aufgrund eines durchdachten Konzepts unterscheiden.

X.

Eine Demokratisierungsforderung wird allerdings so gut wie gar nicht erhoben, die nach wesentlich gesteigerter Effektivität der Verwaltung, und zwar demokratischer Effektivität. Man könnte ein Buch schreiben über die Misere des beziehungslosen Bürgers, der keinen Abgeordneten zum Freund, keinen Bürgermeister zum Vetter und keinen Minister zum Onkel hat. Wie viele Eingaben und Anfragen werden übermäßig verzögert, wie viele berechtigte Beschwerden bleiben liegen und werden unbefriedigend beschieden. Wie viele Entscheidungen aufgrund von Eingaben und Beschwerden werden überhaupt nicht, unzulänglich oder viel zu spät durchgeführt. Das gilt vor allem für die Verwaltung im weitesten Sinn. Wer öffentlich die Abfassung eines solchen Buches ankündigen und um Unterlagen bitten würde, der würde unter den eingesandten Akten ersticken. Allein ihre Sichtung wäre ein Lebenswerk, zur Verarbeitung und Niederschrift würde die Zeit fehlen. Gewiß gibt es viele Querulanten und Petitionsfetischisten. Aber wenn diese subtrahiert werden, bleibt noch eine gigantische Zahl übrig’. Eine schnelle, exakte, im Sinne der Gleichheit korrekt und verständnisvoll arbeitende Verwaltung wäre eine überaus demokratische Einrichtung. Die Patronage würde nicht so begehrt sein, wenn das Patronagebedürfnis nicht so groß wäre. Aber gerade die Patronage und die Patronagegefälligkeit ist undemokratisch. Wird dieser mangelnden Effektivität durch Demokratisierung der Verwaltung, durch Mitbestimmung der Verwaltenden, wie sie die Gewerkschaft OTV fordert, abgeholfen? Dient nicht eine Selbstverwaltung der Verwaltenden diesen in erster Linie, ohne daß sie den Verwalteten zugute kommt? Was nützen alle noch so demokratischen Verfahren, deren Steigerung und Ausbreitung, wenn nicht auch demokratische Ergiebigkeit erreicht wird? Uber den Zolldienst haben bisher nicht die Zollbeamten selber bestimmt, sondern Parlament und Finanzministerium, soweit es sich um die gesetzliche Regelung handelt, das Finanzministerium allein in der administrativen Ordnung. Ähnliches gilt für die Polizei. Die Frage ist, ob die Autonomisierung und Demokratisierung von Zoll-und Polizeibeamten die Leistungsergiebigkeit vermindert oder vermehrt. Ein in seiner demokratischen Haltung so unumstrittener Politikwissenschaftler wie Franz Neumann hat vor einigen Jahren gesagt: „Das einzige Kriterium für den demokratischen Charakter einer Verwaltung ist die volle politische Verantwortlichkeit der Verwaltungsspitze, und zwar nicht gegenüber Einzelinteressen, sondern gegenüber den Wählern." Aus aktuellem Anlaß hat der Berliner Politikwissenschaftler Richard Löwenthal in einem „Spiegel" -Gespräch darauf hingewiesen, „daß überall da, wo es sich um funktionale Organe der Gesellschaft handelt, denen ihr Ziel, ihr Zweck, ihre Aufgabe von der Gesellschaft als Ganzes vorgeschrieben ist, ein solches Organ nicht in sich sinnvoll demokratisiert werden kann. Ein Ministerium, in dem die Beamten demokratisch bestimmen, ist nicht ein Ministerium einer demokratischen Regierung."

Auch die Frage nach der im wahrsten Sinne des Wortes brauchbaren Organisierbarkeit wird man stellen müssen. Um an das, was zu Anfang gesagt wurde, anzuknüpfen: Der Staat der Bundesrepublik kann in den Stufen seiner Verfassungsentwicklung auch mit deren Rückschlägen auf den absolutistischen Staat zurückgeführt werden. Gegenüber der vorhergehenden Herrschaftsform hat sich die folgende — wenn man vom Dritten Reich absieht —-in der Konstruktion wesentlich verändert, andererseits in der Praxis angepaßt, zumindest an ihr orientiert. Die bisherige Verfassungsentwicklung hat immer wieder zu neuen, in sich geordneten und daher funktionierenden Systemen geführt, nicht zuletzt durch eine wenn auch beschränkte, aber effektive Anpassung. Dieser Anpassung gilt der Kampf der radikalen Linken. Auch die Bundesrepublik hat eine Staatstradition, obwohl davon nicht gern gesprochen wird. Handelt es sich hier nur teilweise um Bewahrung des überkommenen aus Bewunderung oder Pietät, aus Gewohnheit, Bequemlichkeit und mangelnder Phantasie? Die anarchistische Richtung will den Staat vollständig demontieren, die Gesellschaft von Herrschaft schlechthin befreien. Was für die einen Floffnung, ist für die anderen Sorge oder gar Angst.

XI.

Nun beschränkt sich die Demokratisierungsforderung nicht nur auf den eigentlichen staatlichen Bereich, sondern erstreckt sich auf die ganze Gesellschaft, auf die Familie, die wirtschaftlichen Unternehmungen, auf Kirchen, Schulen und Hochschulen. Es geht um einen bisher mehr oder minder ademokratischen Bereich von Familie, Wirtschaft, Kirchen, Bildungsanstalten. Aus der Wirtschaft kann man als besondere Bereiche wieder Buch-und Zeitungsverlage herausheben.

Bei der Demokratisierung geht es in erster Linie um Einführung oder Verstärkung der innerorganisatorischen Demokratie. Der Freiburger Politikwissenschaftler Hennis spricht von „Binnenkonstitutionalisierung". Demokratisierung impliziert aber z. T. die Forderung nach Autonomisierung des zu demokratisierenden Bereichs, sie kann aber auch zur Minde-rung der Autonomie führen. Die Anhänger einer Demokratisierung der Schule verlangen vermehrte Selbständigkeit der Schüler gegenüber dem Lehrer, der Lehrer gegenüber der Schulleitung, der Schule gegenüber der Schulverwaltung. Muß nicht in der modernen Leistungsgesellschaft eine gewisse Gleichmäßigkeit des Unterrichts und deren Unterrichts-sowie Prüfungsanforderungen gewährleistet sein? Das kann nur durch Lenkung und Aufsicht der Schulverwaltung erreicht werden. Dasselbe gilt für die innere Organisation der einzelnen Schulen, und darum ergibt sich die Frage, ob die Funktion des Schulleiters stark eingeschränkt oder entbehrt werden kann. Die mögliche Dynamik der paritätischen Mitbestimmung in der Wirtschaft vermag weder der Anhänger noch der Gegner dieser Einrichtung zu übersehen. Ändert sich nur die Betriebs-Struktur oder folgt ein grundlegender Wandel der Wirtschaftspolitik? Letzterer könnte Minderung der Unternehmensautonomie bedeuten.

Demokratisierung will zur Wandlung des politischen Stils im Sinne einer Egalisierung führen; die Formen herrschaftlichen Verhaltens sollen abgebaut werden. An die Stelle von Weisung soll Beratung und Beschluß treten. Nun lassen sich nicht alle Bereiche enthierarchisieren; das gilt insbesondere für Militär und Polizei, für erhebliche Teile der Verwaltung, aber auch für Wirtschaftsbetriebe. Zweifellos hat die Hierarchie Umgangsformen zwischen Vorgesetzten und Untergebenen traditionalisiert, die heute überlebt und daher im Schwinden begriffen sind. Die starke Wandlung des politischen Stils hat sich in den letzten Jahren gezeigt. In den Parteien haben dafür die Junge Union, die Jungdemokraten und die Jungsozialisten gesorgt, wie der veränderte Ablauf auf den Parteitagen und die Häufigkeit des Wechsels aussichtsreicher Kandidaturen für die Parlamentswahlen zeigen. Der Bundespräsident wirkt durch das persönliche Beispiel in Wort und Verhalten auf die Demokratisierung des Stils hin. Es ließen sich auch Beispiele aus anderen Bereichen nennen. Die Frage ist, ob es dazu der institutioneilen Perfektionierung bedarf. Warum soll der Abteilungsleiter einer Behörde mit seinen Referenten zusammen seine geplanten Maßnahmen nicht beraten, um sie zu überzeugen oder sich von ihnen überzeugen zu lassen? Wenn aber das Verfahren in der Weise institutionalisiert wird, daß über Ergebnisse der Beratung durch Abstimmung entschieden wird, so ändert sich das System und damit das Verantwortungsgefüge. Ein völlig anderer Fall, der an der Grenze zwischen politischem Stil und rechtlicher Ordnung liegt, ist die Androhung unmittelbarer Aktionen von Beamtenverbänden gegenüber Regierungen oder deren partieller Vollzug. Zwar ist es zu einem großen anhaltenden Streik bisher nicht gekommen, aber die Regierungen, die überwiegend das Streikrecht eindeutig verneinen, haben durch ihre Duldung eine unklare Rechtslage herbeigeführt. Hier kann auf längere Sicht gesehen die Duldung des Stilwandels zu einer Veränderung des Beamtenrechts und damit der Funktionsfähigkeit der Staatsorganisation führen. Früher haben sich die Verbände im Bereich des öffentlichen Dienstes mit den Lohn-, Gehalts-und Versorgungs-sowie den Arbeitszeitinteressen ihrer Mitglieder befaßt; heute nehmen sie Stellung zu den Angelegenheiten des Dienstbereichs ihrer Mitglieder. Bei den Lehrerverbänden geht es um den Rang der Pädagogischen Hochschulen, um Lehrplan und Unterrichtsgestaltung, um das Verfahren zwischen Hochschulverwaltung und Schule oder um die Höhe des Bildungsetats, bei den Polizeibeamtenverbänden um Dienstobliegenheiten der Polizei, deren Organisation und Ausrüstung, bei den Steuer-beamten um Steuerpolitik, -Veranlagung und -revision. Es ist auch vorgekommen, daß sich Organisationen sehr nachdrücklich bei Bestellung von leitenden Beamten im Bereich ihrer Mitglieder eingeschaltet haben. Das könnte faktisch zur Wahl des Vorgesetzten durch die Untergebenen führen, und das würde Aufhebung der demokratischen Kontrolle bedeuten. Wenn man vom letztgenannten Fall absieht, so mag man Stellungnahme hinnehmen und in bestimmten Fällen Anhörungsansprüchen nachkommen. Etwas völlig anderes ist es, wenn diese Stellungnahme mit Androhung von Streiks und streikähnlichen Maßnahmen verbunden oder diese praktiziert werden. Man muß die Entwicklung abwarten, ob die Regierungen weiterhin das Streikrecht der Beamten, wenn auch zunächst partiell, dulden und dadurch auch anerkennen werden, und in welchem Umfang davon in der Praxis mit einschneidenden Wirkungen Gebrauch gemacht wird. Würde das aber eintreten, so könnte das in der Tat eine Einschränkung der parlamentarischen Demokratie bedeuten. Regierung und Parlament sind gemeinsam die eigentlichen Nachfolger des Monarchen; ihre Rechtsstellung war bisher weitgehend unangetastet. Die Lage und damit die Verfassungskonstruktion würde sich ändern, wenn Regierung und Parlament bei ihren Entscheidungen unter den Druck von Organisationen der öffentlichen Bediensteten gestellt würden.

XII.

Ebenso wie man bei der Demokratisierung zwischen der durch rechtliche Regelung und Stilwändel unterscheiden muß — wobei gerade das letztgenannte Beispiel zeigt, wie nahe beide Möglichkeiten beieinander liegen, ja in Wechselwirkung zueinander stehen können —, wird man zwischen der Demokratisierung des eigentlich staatlichen und des nichtstaatlichen Bereichs differenzieren müssen. Dabei wird man zu unterscheiden haben zwischen weiterer Demokratisierung durch rechtliche Regelung, durch Gesetz, Statut und Vertrag, und Demokratisierung durch Wandlung des Stils. Ein typisches Beispiel für die letztere Erscheinung ist die Familie, bei der gesetzliche Möglichkeiten zur Demokratisierung, wie sie gegenwärtig besteht, nur noch in geringem Umfang gegeben sind.

Aber wenn man einmal davon absieht, der Staat unterscheidet sich so sehr von den anderen Sozialbereichen, und diese sind untereinander so verschieden, daß sich die Frage erhebt, ob diese verschiedenen Bereiche nach den gleichen Prinzipien überhaupt gelenkt und verwaltet werden können. Dieses Problem hat Hennis in seiner Schrift „Demokratisierung. Zur Problematik eines Begriffes" behandelt.

Demokratisierung ist ein viel zu differenzierter Begriff geworden, als daß in ihr ein Generalrezept gesehen werden kann. Man muß einmal zwischen den Formen, Stufen und Arten der Demokratisierung unterscheiden, zum andern zwischen den einzelnen zu demokratisierenden Bereichen. In jedem einzelnen Fall muß man nach Organisierbarkeit, Funktionsfähigkeit und Effektivität fragen. Man muß weiterhin fragen, wie leicht sich Demokratisierung der einzelnen Sozialbereiche in die gesamtdemokratische Ordnung einfügt, so daß sie sie nicht stört oder gar aufhebt. Man muß aber die Auswirkungen der Demokratisierung einzelner Bereiche auf die anderen bei der bestehenden Interdependenz ernsthaft abzuschätzen versuchen. Man möge auch bedenken, daß Demokratisierung, vor allem institutionalisierte, einen ganz außerordentlichen Aufwand an Zeit, Kraft und Geld erfordert, und daraus ergibt sich die Frage, ob und inwieweit sich der Aufwand lohnt.

Der ohnehin sehr komplizierte Mechanismus erhält zahllose neue Hebelarme, die bedient sein wollen und wirken sollen. Nun wird sich in der Alltagsroutine der politischen Praxis manches einspielen, d. h. bis zu einem gewissen Grad entkomplizieren, so daß andere Hebelarme stillgelegt werden, weil einfach die Kapazität nicht ausreicht. Welche Wirkung wird diese Stillegung haben? Die Demokratisierungsbestrebung ist eine begreifliche Reaktion auf Erstarrungs-und Entartungserscheinungen der Demokratie. Ob diese Reaktion zu geeigneten Reformmaßnahmen führen wird, muß sorgfältig geprüft werden. Schwarzweiß-malerei in dieser oder jener Richtung hat keinen Sinn.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Theodor Eschenburg, Dr. phil., o. Prof, an der Universität Tübingen, geboren 24. Oktober 1904 in Kiel. Veröffentlichungen u. a.: Das Kaiserreich am Scheideweg — Bassermann, Bülow und der Block, Berlin 1929; Herrschaft der Verbände?, Stuttgart 1955; Staat und Gesellschaft in Deutschland, Stuttgart 1956; Probleme der modernen Parteifinanzierung, Tübingen 1961; Zur politischen Praxis in der Bundesrepublik, Bd. I und II, Stuttgart 1961 u. 1965; Die improvisierte Demokratie, München 1963; über Autorität, Frankfurt 1965. Mitherausgeber der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte.