Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Funktionsmängel politischer Führungsorganisationen | APuZ 43/1970 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 43/1970 Die Reform des Kabinetts Funktionsmängel politischer Führungsorganisationen

Funktionsmängel politischer Führungsorganisationen

Carl Bohret

/ 18 Minuten zu lesen

I. Das Problem

Als die Schüsse von Dallas am 22. November 1963 den 35. Präsidenten der Vereinigten Staaten töteten, wurde der amerikanischen Nation die politische Bedeutung des sonst wenig beachteten Vizepräsidenten bewußt. Trotz der reibungslosen Amtsübernahme durch L. B. Johnson blieb die Situation prekär; falls nun dem neuen Präsidenten etwas zugestoßen wäre, hätte der 71jährige Sprecher des Repräsentantenhauses (McCormick) die Präsidentschaftspflichten übernehmen müssen. Auch war nicht eindeutig geklärt, wann Johnson die Amtsgeschäfte hätte an sich ziehen dürfen, wenn Präsident Kennedy noch einige Wochen schwer krank gelegen hätte. So waren die USA beispielsweise nach einem Attentat auf Präsident Garfield im Jahre 1881 elf Wochen lang führungslos, weil sich der damalige Vizepräsident Chester Arthur weigerte, vor dem Tode Garfields tätig zu werden. Internationale Auswirkungen — insbesondere im Hinblick auf einen neuen Isolationismus — hatte die Amtsunfähigkeit Präsident Wilsons nach seiner Rückkehr von den Pariser Friedensverhandlungen im Jahre 1919. Es kam zu einem 1tmonatigen Interregnum, weil auch jetzt wieder der Vizepräsident nicht die Stellvertretung übernahm, da er befürchten mußte, daß ihm das als Usurpation ausgelegt würde 1). Wenn schließlich in der Periode des „roten Telefons" Unklarheiten und Verzögerungen bei der Nachfolge durch einen vorher nur'unzureichend in entscheidende Regierungsprobleme eingeweihten Vizepräsidenten bestehen, fordert das die Beschäftigung mit der als Füh-rungsorganisation verstandenen Regierung einer über die eigenen Grenzen hinaus verantwortlichen Weltmacht heraus. Im amerikanischen Regierungssystem verdienen Funktionsmängel in der Führungsspitze besondere Beachtung. Die „Präsidentendemokratie" ordnet ja — anders als im parlamentarischen System — dem Regierungschef, und nur ihm, eine die exekutive Politik bestimmende Funktion zu: die vollziehende Gewalt liegt bei dem auf vier Jahre gewählten, faktisch unabsetzbaren Präsidenten, der zugleich Staatsoberhaupt und Regierungschef ist. Durch Inkompatibilitätsgebot, relative Unabhängigkeit von parlamentarischen Mehrheiten und direkte Legitimation durch die Wähler wird diese starke Position betont und zugleich problematisiert 2). Denn das alles weist zwar auf eine hohe Entscheidungsfähigkeit der quasimonokratischen Führungsorganisation hin, zeigt aber auch die latente Anfälligkeit zur Funktionsunfähigkeit des Regierungssystems bei einer Lähmung seiner Führung. 3. In einer funktionsfähigen Organisation müssen jedoch volle Reaktionsmöglichkeit und effiziente Aufgabenerfüllung auch bei einem unvorhersehbaren Wechsel der Amtsinhaber gewährleistet sein. Die klassische Organisationslehre stellt die Efiiziertz als Grad der Ziel-erreichung bei gegebenen Ressourcen in den Mittelpunkt, während die neuere Lehre die Organisation vor allem unter systemtheoretischen Aspekten begreift: Selbsterhaltung und Zielwandel sowie (neue) Zielrealisierung unter dem Einfluß von Umweltveränderungen finden Beachtung. Damit Anpassungen immer — d. h. auch bei „nichtprogrammierten" Ereig-nissen — möglich sind, brauchen Führungsorganisationen zudem ein gewisses Maß an „Innovationsfähigkeit", die dazu dient, auf interne oder externe Veränderung mit neuartigen Problemlösungen zu reagieren Wandlungen in politischen Führungsorganisationen müssen schließlich dem Legitimitätskriterium genügen, d. h. innere Rechtfertigung und Zustimmung zu ihrem Verhalten finden. Eine politische Führungsorganisation ist also ein vorrangig zielorientierte Entscheidungen treffendes und innovationsfähiges Subsystem, das in der Lage ist, auch auf nicht vorhersehbare Ereignisse jederzeit, effizient und legitim zu reagieren, wobei das gegebene Gesamtsystem in seinen Wesenszügen erhalten bleibt, indem unabweisbare Umwelteinflüsse verarbeitet und interne Abnützungserscheinungen durch Selbstreparatur beseitigt werden. Als spezifische Voraussetzungen ergeben sich daraus:

— Kontinuität in der Führung unter Verwendung von „Doppelherrschaft", d. h. ständige Besetzung und volle Aktionsfähigkeit der finalen Entscheidungsposition; — Übereinstimmung in der politischen Grund-konzeption und vergleichbarer Informationsstand der prinzipiell austauschbaren Amtsträger; — Fähigkeit zur Selbstorganisation, damit die Umweltanpassung und die Selbstreparatur ohne große „time lags" vor sich gehen und damit eine relative Stabilität des Gesamtsystems erreicht werden kann.

Diese Kriterien sollen nun als ein Untersuchungsgitter für die Analyse des Vizepräsidentenamtes dienen. Die generelle Rahmen-frage für diese Untersuchung lautet: Wie kann sich eine historisch gewachsene und verfassungsrechtlich vorgeprägte Führungsorganisation an die sich verändernde Umwelt so anpassen, daß sie jederzeit funktionsfähig sowie effizient bleibt und ihre Handlungen bzw. die Anpassungsprozesse als legitim anerkannt werden?

II. Zur historischen Entwicklung der präsidentiellen Führungsorganisation

Die eingangs dargestellte Problematik soll nun vor diesem Hintergrund zunächst in ihrer historischen Dimension erfaßt werden 3). Wie jede politische Institution hat auch das Vizepräsidentenamt eine mit der Entwicklung des gesamten Regierungssystems verbundene Geschichte, die den Bedeutungswandel erklären hilft. Die verfassunggebende Versammlung der Vereinigten Staaten schuf 1787 unter Zeitdruck das Amt des Vizepräsidenten. Durch den damaligen Wahlmodus: der Kandidat mit der höchsten Stimmenzahl wird Präsident, der mit der zweithöchsten Vizepräsident, besaß das Amt beachtliches politisches Gewicht, wenn und solange es von Persönlichkeiten wahrgenommen wurde, die ebensogut die „erste Wahl" hätten sein können. Dem Vizepräsidenten wurden nur zwei Aufgaben übertragen: er amtiert als nicht stimmberechtigter Vorsitzender des Senats (hat aber bei Stimmengleichheit das Recht zum „brechenden Votum") und er steht zur Nachfolge bereit im Falle der Amtsenthebung, des Todes und des Rücktritts des Präsidenten oder bei dessen „Unfähigkeit", die Befugnisse und Obliegenheiten seines Amtes wahrzunehmen. Aus dieser „Hab-Acht-Stellung" allein war eine bedeutsame Rolle in dem auf einen obersten Entscheidungsträger zentrierten System nicht zu erwerben, zumal die Stellvertretung im wichtigen Fall der Amtsunfähigkeit sachlich und zeitlich nicht näher definiert wurde. Ambitionierte Politiker lehnten deshalb eine Kandidatur ab, weil sie „nicht begraben sein wollten, bevor sie nicht wirklich tot" seien, wie es Daniel Webster ausdrückte Für die schnell eintretende Bedeutungslosigkeit des Amtes waren zwei Gründe maßgebend:

— die getrennte Wahl von Präsident und Vizepräsident (seit 1804) und — die Herausbildung des amerikanischen Parteiensystems. In der Folgezeit mußte nun innerhalb der Parteikonvente versucht werden, die widerstreitenden Parteiflügel über die Kandidatenauswahl auszugleichen. Ein Ergebnis dieses soge-nannten„ticket-balancing" war, daß der Vizepräsident häufig in politischem Widerspruch zum Präsidenten stand und damit in die Staatsgeschäfte nicht oder nur ungenügend eingeweiht wurde; obwohl das eigentlich ein Ziel des „Ausbalancierens" gewesen war; denn wie anders hätte der Vizepräsident sonst wirkungsvoll den anderen Flügel vertreten sollen? Als weitere Folge ergab sich, daß der Vizepräsident zumeist ein Mann der „zweiten Linie" wurde, weil sich die erste Garnitur einflußreichere Positionen und Aufstiegschancen vorbehielt 5). So ist es wenig verwunderlich, daß das Amt des Vizepräsidenten schnell politisch uninteressant wurde und — bis vor kurzem — auch blieb, obwohl diese Entwicklung den Umweltveränderungen nicht entsprach. Aus der Beobachtung der bisher erörterten Probleme ergeben sich somit vor allem zwei Schwierigkeiten, die im einzelnen zu untersuchen sind:

— die Regelung der jederzeitigen und legitimen Funktionsfähigkeit und — die Möglichkeit stetig effizienter Aufgaben-bewältigung.

III. Anpassung durch Selbstorganisation

1. Die jederzeitige und legitime Funktionsfähigkeit der amerikanischen Führungsorganisation hängt zu einem erheblichen Teil von der eindeutigen Regelung der Nachfolge ab Im Falle des Todes, des Rücktritts oder der Absetzung des Präsidenten war das bislang niemals ein Problem: der Vizepräsident übernahm dann das Amt bis zum Ende der Wahlperiode. Schwieriger war die eindeutige Klärung des Nachfolgebeginns, der Dauer und der Beendigung im Falle der nur vorübergehenden oder nicht-terminierten Amtsunfähigkeit des Präsidenten. Wie die Geschichte mehrmals zeigte, war der Vizepräsident faktisch kaum in der Lage, gerade in kritischen, unklaren Situationen jederzeit und sofort die Führung zu übernehmen. Der Beweis einer legitimen Amts-aneignung war noch in der ersten Eisenhower/Nixon-Administration (1952/56) eine fast so schwierige Hürde wie im Jahre 1881. Da sich der Kongreß zu keiner gesetzlichen Klärung des Amtsunfähigkeitsproblems hatte entschließen können, traf schließlich Eisenhower (unter der Belastung seiner mehrfachen Erkrankung) mit dem damaligen Vizepräsidenten Nixon im Jahre 1958 ein persönliches Abkommen, in dem er sich verpflichtete, Nixon über seine Amtsunfähigkeit sofort zu verständen, worauf dieser als geschäftsführender Präsident tätig werden sollte. Falls der Präsident mit seinem Stellvertreter nicht in Verbindung treten könnte, sollte der Vizepräsident nach angemessenen Konsultationen die Übernahme der Amtsgeschäfte selbst entscheiden. Der Präsident behielt sich aber das Recht vor, jederzeit die Beendigung der Amtsunfähigkeit selbst zu erklären. Ähnliche Vereinbarungen trafen die Präsidenten J. F. Kennedy und L. B. Johnson mit ihren potentiellen Nachfolgern

Damit wurde ein wesentlicher Mangel de facto beseitigt. Doch blieben diese Absprachen zunächst rechtlich „private Vereinbarungen" und politisch umstritten. Sie lösten vor allem das schwerwiegende Problem nicht, daß auch ein amtsunfähiger Präsident die zeitweilige Geschäftsführung durch den Vizepräsidenten überhaupt verhinderte oder zu früh die Rückkehr ins Amt begehrte. Der Selbstreparaturversuch der Führungsorganisation war also nicht konsequent; er war ohne die Mitwirkung anderer Organe wegen des Legitimitätskriteriums auch schlecht möglich.

2. Das erste Problem: die Feststellung und Erklärung der Amtsunfähigkeit des Präsidenten ist in diesem Regierungssystem stets eine eminent politische Handlung. So ist es sehr wichtig, wer die Amtsunfähigkeit des Präsidenten feststellen darf (Kabinett, Kongreßausschuß, Vizepräsident, mehrere Gremien zusammen). Das zweite Problem: die zeitliche Begrenzung der Amtsunfähigkeit und die Wiederaufnahme der Tätigkeit ist ähnlich gelagert. Um auszuschalten, daß der bisher amts-unfähige Präsident zu Unrecht den-Vizepräsidenten ablöst, sind gleichfalls legitimierte Prozeduren erforderlich. In dem erst 1967 ratifizierten 25. Zusatzartikel zur Verfassung wurde schließlich folgende, von den Privat-vereinbarungen beeinflußte Regelung getroffen: — Der Vizepräsident übernimmt die präsidentiellen Rechte und Pflichten, sobald und solange der Präsident seine Amtsunfähigkeit selbst erklärt.

— Der Vizepräsident und eine Mehrheit der Minister (bzw. eines anderen Gremiums, das der Kongreß durch Gesetz bestimmen mag) können ferner den Vorsitzenden beider Häuser des Kongresses die schriftliche Erklärung übergeben, daß der Präsident gegenwärtig nicht in der Lage ist, seine Rechte und Pflichten wahrzunehmen.

— Daraufhin übernimmt der Vizepräsident sofort die Rolle eines geschäftsführenden Präsidenten. — Falls der gewählte Präsident seine solchermaßen erklärte Amtsunfähigkeit bestreitet, darf er in sein Amt zurückkehren; es sei denn, daß der Vizepräsident und die Mehrheit der Minister innerhalb von vier Tagen nochmals bestätigen, daß der Präsident amtsunfähig ist.

— In diesem Fall muß der Kongreß sofort (spätestens aber nach 48 Stunden) zur Beratung zusammentreten und innerhalb von 21 Tagen mit 2/3-Mehrheit beider Häuser erklären, ob der Präsident amtsunfähig ist (zwischenzeitlich regiert der Vizepräsident).

— Stellt der Kongreß Amtsunfähigkeit fest, amtiert der Vizepräsident weiterhin, im anderen Fall nimmt der ursprüngliche Amtsinhaber seine Tätigkeit wieder auf.

Für den „Normalfall" war damit eine befriedigende Lösung gefunden, die den Kriterien einer funktionsfähigen Führungsorganisation hinreichend entspricht: der Übergang der Rechte und Pflichten auf den Vizepräsidenten kann sich in der Regel jederzeit und legitim vollziehen. Im Zweifelsfall behält der für amtsunfähig erklärte Präsident ein (aufschiebendes) Vetorecht. Allerdings kann es in den Grenzfällen zu zeitlichen Verzögerungen und damit zu Unsicherheiten über die Entscheidungsbefugnis kommen. Im Falle einer bedrohlichen außenpolitischen Situation — man erinnere sich an die Kubakrise von 1962 — ist dann die Funktionsfähigkeit beeinträchtigt. Daß nicht auch dieser Mangel beseitigt wurde, ist, von der Verfassungstradition aus gesehen, verständlich, zumal der beabsichtigte Schutz des legitimierten Präsidenten in der letzten Phase des Verfahrens doch von Mehrheitsverhältnissen im Kongreß abhängen mag und so eine politische Abart des „impeachment" denkbar ist.

3. Die jederzeit mögliche und legitime Stellvertretung setzt nun aber auch die ständige Besetzung des Vizepräsidentenamtes voraus Verfassungshistorisch gab es seit 1792 mehrere Regelungen der „Nachfolgeordnung": Kabinettsmitglieder oder Vorsitzende beider Häuser waren — in wechselnden Kombinationen — als Stellvertreter vorgesehen, sobald temporär kein Vizepräsident vorhanden war Diese Lösungen sind aber nicht optimal: entweder wird durch einen administrativ meist wenig erfahrenen Vertreter der Legislative das Prinzip der Gewaltentrennung berührt oder der als potentieller Nachfolger designierte Minister gewinnt faktisch eine politisch besonders starke Position, was im Prinzip ebenfalls „systemwidrig" ist. Auch der Vorschlag, das Vizepräsidentenamt ganz abzuschaffen, löst das Problem nicht. Der möglicherweise noch zu ersetzende Regierungschef müßte dann für die Interimszeit doch über eine der Nachfolgeordnungen bestimmt werden; denn ein „legitimierter" Präsident könnte frühestens in Verbindung mit den nächsten Wahlen zum Repräsentantenhaus mitgewählt werden. Bei einer Zwischenwahl durch den Kongreß hingegen ließe sich ein Regierungschef bestimmen, der von Fraktionsbildungen ab-hinge. Damit würden aber Wesenszüge des Regierungssystems verändert, und zwar in Richtung auf eine Spielart des parlamentarischen Typs. Bei Aufrechterhaltung der „essentials" des präsidentiellen Systems scheint deshalb nur die ständige Besetzung des Vizepräsidentenamtes eine adäquate Regelung zu sein. Lösungsmöglichkeiten hierfür sind entweder — die Einrichtung eines zweiten — „legislativen" oder „administrativen" — Vizepräsidenten, der dann automatisch nachrückt, oder* — die Neuwahl des Vizepräsidenten durch die zuständigen Gremien (Parteikonvent, Wahlmänner) oder — die Ernennung durch den Präsidenten allein oder mit Zustimmung anderer Gremien n).

Der 25. Zusatzartikel verwirklichte den letztgenannten Vorschlag. Sobald das Amt des Vizepräsidenten unbesetzt ist, soll der Präsident „seinen" Nachfolger ernennen, der durch die Mehrheit in beiden Häusern des Kongresses bestätigt werden muß. Damit ist sowohl die Teillegitimation durch ein Repräsentativ-organ als auch das exekutive Interesse hinreichend gewahrt. Schwierigkeiten mögen allerdings dann auftreten, wenn die Kongreßmehrheit oppositionell ist und den Vorschlag des Präsidenten ablehnt, womit dann der Sprecher des Repräsentantenhauses designierter Nachfolger würde.

Auch bei diesem institutionellen Anpassungsversuch wurden also nicht alle latenten Mängel beseitigt; für den Normalfall mag die Lösung jedoch ausreichen. Für Krisenzeiten kann der potentielle „time lag“ in der legitimen Nachfolgeregelung die Entscheidungs-und Aktionsfähigkeit allerdings erheblich behindern. Nun ist aber zusätzlich zu fragen, ob diese institutionelle Transmission auch inhaltlich befriedigt. Als weitere Funktionsschwierigkeit ergibt sich nämlich, ob der unvorhergesehene Nachfolger auch qualitativ legitimiert ist, d. h. ob er zur sofortigen und effizienten Führung fähig ist.

IV. Effizienzerhaltung durch „Einbeziehung"

1. Die Effizienz der Führungsorganisation bedeutet hier, daß der Vizepräsident bei der nicht-programmierten Amtsübernahme in der Lage sein muß, unverzüglich und sachverständig die Zielsuch-und realisierungsprozesse in der sich verändernden Umwelt zu verstehen und im wesentlichen weiterzuverfolgen, also die Funktionsfähigkeit zu sichern.

Erste Voraussetzung hierfür ist, daß der Nachfolgende im prinzipiellen Konsens zum Präsidenten steht, gut informiert ist und sich nicht einer Opposition der Mitarbeiter des bisherigen Amtsinhabers gegenüber sieht. Das sind ja die Vorteile beim „normalen" Übergang des Präsidentenamtes auf den neugewählten Inhaber, daß es ein allmähliches Hineinwachsen mit vielen Konsultationen, mit gewisser Hilfestellung und Sachinformation durch den Vorgänger und vor allem mit der „selbstgewählten Mannschaft" ist. Der potentielle Nachfolger sollte deshalb schon vorher politische und fachliche Anerkennung besitzen und sich wirkungsvoll auf die Stellvertretung vorbereiten können. 2. Die Anerkennung und die Mitwirkung des Vizepräsidenten hängt nun zu einem beträchtlichen Teil bereits von der adäquaten Gestaltung des Nominierungsverfahrens ab. Gerade diese Auswahl scheint aber noch nicht dem geforderten Effizienzkriterium zu entsprechen. Das „ticket-balancing" spielt auf den Partei-konventen noch immer eine wichtigere Rolle als die Suche nach dem geeignetsten Stellvertreter und Mitarbeiter für den jeweiligen Präsidentschaftskandidaten. Das wurde im vergangenen Wahlkampf mit der Nominierung Spiro Agnews als „running mate" Nixons deutlich. Agnew fungierte bisher hauptsächlich als eine Art „politischer Blitzableiter" Kaum jemand wollte und will diese „zweite Wahl“ zum Präsidenten, das praktizierte Nominierungsverfahren katapultierte Agnew jedoch in die Position des potentiellen Regierungschefs der Weltmacht USA. Jede reibungslose Nachfolgeregelung wird aber zunichte, wenn der Stellvertreter nach funktionsfremden Gesichtspunkten mit der Hoffnung ausgewählt wird, daß es nie zur Amtsnachfolge kommen möge. 3. Von besonderer Wichtigkeit ist außerdem die Vorbereitung des Stellvertreters auf die vorübergehende oder dauernde Amtsübernähme. Er muß solche Aufgaben und jene Informationen erhalten, die es ihm ermöglichen, sich mit den wichtigsten politischen, wirtschaftlichen und militärischen Fragen vertraut zu machen. — Der erste Durchbruch zu einem „informierten" Stellvertreter gelang, als der Vizepräsident unter H. S. Truman Mitglied des fünfköpfigen Nationalen Sicherheitsrates wurde. Damit erhielt er erstmals die Gelegenheit, direkten Einfluß auf die Gestaltung der Politik auszuüben. Die Mitgliedschaft im Kabinett (seit den dreißiger Jahren allmählich institutionalisiert) ist ebenfalls ein wichtiger Positionsgewinn — Außerdem übernahm der Vizepräsident vielfältige Ad-hoc-Missionen. Die mehrfachen Erkrankungen Eisenhowers ermöglichten es beispielsweise dem damaligen Vizepräsidenten Nixon, sich behutsam mit einem Teil der präsidentiellen Amtsgeschäfte vertraut zu machen, ohne doch einen „bedenklichen" politischen Positionsgewinn zu erreichen. Mit Ausnahme der Beteiligung im Nationalen Sicherheitsrat blieb die bisherige Einbeziehung des Vizepräsidenten in das Informations-und Aktionsfeld des Präsidenten jedoch zufällig und deutlich person-orientiert. 4. Eine vergrößerte Mitwirkung beim „Regieren" hat nun allerdings zur Voraussetzung, daß grundsätzliche Einigkeit zwischen Präsident und Stellvertreter auch über konkrete Ziele und interne Organisationsverbesserungen besteht. Hier offenbart sich indessen ein Dilemma: Intensive Vorbereitungsmöglichkeit durch Teilhabe am Informations-und Entscheidungsprozeß — was ja auch erst die Attraktivität des Amtes erhöhen könnte — setzt einerseits Loyalität gegenüber dem Präsidenten voraus, die bei dem gegenwärtig prakti-zierten Nominationsverfahren nicht unbedingt gewährleistet ist, und erfordert andererseits eine signifikante Ausweitung und u. U. eine Institutionalisierung des Aufgabenbereichs, was dem Grundaufbau des Regierungssystems widerspräche, Eine Folge dieses Spannungsverhältnisses ist, daß es bei der recht begrenzten Vorbereitungsmöglichkeit des Vizepräsidenten blieb. Insgesamt ist deshalb die inhaltliche Anpassung der amerikanischen Führungsorganisation an die veränderten Umweltbedingungen nicht in ausreichendem Maße erfolgt; die „innovative Fähigkeit" blieb gering 5. Neuartige Problemlösungen könnten und sollten deshalb in drei eng verbundenen Bereichen vorgenommen werden: — bei der Aufgabendelegation, — bei der Informations-und Entscheidungsteilhabe sowie — beim Nominierungsverfahren. a) Die Ad-hoc-Aufgabendelegation an den Vizepräsidenten ließe sich m. E. ohne die verfassungsrechtlich bedenkliche dauerhafte Institutionalisierung ausweiten. So könnten vor allem entlastende Koordinationsaufgaben übertragen werden wie die Überwachung der 44 unabhängigen Behörden, die Schlichtung von Meinungsverschiedenheiten zwischen Behördeh oder von sozialen Konflikten im Auftrag des Präsidenten die Koordination interministerieller Ausschüsse (z. B. zur Verbesserung des Planning-Programming-Budgeting Systems die zeitweilige Übernahme von Funktionen bei zersplitterter Zuständigkeitsregelung (z. B. bei den Bürgerrechtsproblemen, Zivilisationsschädenbekämpfung, Raumordnungsfragen etc.), die genau umrissene Entscheidungsbefugnis bei drohenden Angriffen oder in Katastrophenfällen während der Auslandsaufenthalte des Präsidenten etc. Das Delegationsrecht müßte allerdings beim Präsidenten verbleiben. b) Aus dieser verstärkten Einbeziehung des Vizepräsidenten folgt nun aber dessen notwendige Zugangsmöglichkeit zu allen wichtigen Informationen und seine Beteiligung an der Entscheidungsvorbereitung. Nur auf diese Weise läßt sich eine stetige effiziente Aufgabenerfüllung bei reibungslosem Amtsübergang verwirklichen. c) Um das alles „politisch" zu ermöglichen, sollte schließlich die Nominierung des (oder der) Vizepräsidenten realiter durch den Präsidentschaftskandidaten jenseits jeglichen Drucks aus dem „ticket-balancing" nach fachlichen und persönlichen Aspekten erfolgen können. Diese weitgehende, effiziente Integration in das präsidentielle Leistungsfeld ist aber immer noch nicht vorhanden.

Bundeswirtschaftminister Ludwig Erhard 1963 im baden-württembergischen Metallarbeiterstreik unter politischen Vorzeichen („Aufbau als Kanzlerkandidat") in den Tarifkonflikt eingriff, so versuchte damals Nixon, sich als „starke Kraft" zu empfehlen, obwohl er mit seinen Aktionen gegen die ihn eigentlich stützenden Industriekreise vorgehen mußte.

V. Würdigung

Was ergibt sich nun bei einer zusammenfassenden Beurteilung der Funktionsmängel der amerikanischen Führungsorganisation und der verschiedenartigen Behebungsversuche?

1. Im Hinblick auf die eingangs gestellten Fragen hat die Analyse gezeigt, daß die auf die Relation Präsident/Vizepräsident bezogenen Lösungen von Anfang an mangelhaft waren. Institutioneile Anpassungen wurden durch bedeutsame politische Umweltveränderungen erst nach erheblichem „time lag" induziert. 2. Die Führungsorganisation hat dann durch einen später sanktionierten und verbesserten Akt der Selbstreparatur eine dringend erforderliche Anpassung an neue Umweltbedingungen vollzogen und erfüllt nunmehr im Normalfall ausreichend die Kriterien der jederzeitigen und legitimen Funktionsfähigkeit. Die vollständige Mängelbeseitigung ist allerdings noch nicht gelungen. In wenigen Grenzfällen kann es zu gefährlichen übertragungs-und Besetzungsschwierigkeiten kommen. Eine Ursache für die verbleibenden Funktionsmängel ist hier in der vorrangigen Beachtung des Legitimitätskriteriums zu suchen. 3. Im Gegensatz zur immerhin ausreichenden institutionellen Anpassung blieb die inhaltliche Erneuerung noch unbefriedigender. Die effiziente Aufgabenbewältigung durch den Nachfolger ist weder personell noch sachlich gewährleistet. Neuartige Problemlösungen wurden nicht erwogen oder setzten sich nicht durch. Die Innovationsfähigkeit der Führungsorganisation und des Gesamtsystems blieb hier gering. 4. Auf diese Weise wurde allerdings nicht nur eine Änderung der Grunzüge des präsidentiellen Systems vermieden, sondern auch ein partieller Systemwandel durch eine Funktionssteigerung der Führungsorganisation, was die „Ultrastabilität" des Systems hätte verbessern helfen können. 5. Die Rahmenfrage dieser Untersuchung lautete: Wie kann sich eine historisch gewachsene und verfassungsrechtlich vorgeprägte politische Führungsorganisation an die sich ändernde Umwelt so anpassen, daß sie — auch bei nichtprogrammierten Ereignissen — jederzeit funktionsfähig sowie effizient bleibt und ihre Handlungen bzw. Anpassungsprozesse als legitim anerkannt werden? Offenbar sind dazu institutionelle und — oft neuartige — inhaltliche Lösungen erforderlich, um bei Erhaltung der Grundzüge des Regierungssystems funktionsgerechte Anpassungen an die veränderten Umweltbedingungen ohne große „time lags" zu vollziehen.

Da die Stabilität eines politischen Systems zu einem beträchtlichen Teil von der Funktionsfähigkeit seiner Führungsorganisation abhängt, sollten vor allem deren Anpassungsund Innovationsschwierigkeiten erkannt und Funktionsmängel beseitigt oder — unter Beachtung von Legitimitätswiderständen — wenigstens gemildert werden.

Gewiß, perfekte Lösungen sind in freiheitlich-demokratischen Systemen schwierig, doch lassen sich wohl befriedigende Ergebnisse erzielen. Die Politische Wissenschaft sollte jedenfalls noch mehr als bisher mit Diagnose, Vor-denken und Empfehlungen bei der Analyse und bei der Beseitigung von Funktionsmängeln mitwirken und damit die Reaktionsmöglichkeit und -geschwindigkeit der Führungsorganisation wie des Gesamtsystems auf bedeutsame Umweltveränderungen verbessern helfen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Es ist eine noch heute vertretene Meinung, daß ein einmal durch den Vizepräsidenten ersetzter Präsident nicht mehr in sein Amt zurückkehren könne. Während der Amtsunfähigkeit Wilsons regierten faktisch die Frau und der Arzt des Präsidenten; Informationen über den tatsächlichen Zustand des Kranken drangen nicht an die „Außenwelt". Gelegentliche Versuche Außenminister Lansings, mit Hilfe von Kabinettsitzungen ein Minimum an exekutiver Entscheidungsfähigkeit aufrechtzuerhalten, wurden als Illoyalität ausgelegt und der Minister zum Rücktritt aufgefordert.

  2. Vgl. hierzu vor allem Ernst Fraenkel: Das amerikanische Regierungssystem (= Die Wissenschaft von der Politik, 5. Bd.), Köln und Opladen 1960; ferner James MacGregor Burns: Presidential Government, New York 1965; W. H. Riker: Schwäche und Stärke der Demokratie. Eine Untersuchung der amerikanischen Verhältnisse, Köln 1958 u. v. a. m.

  3. Vgl. u. a. Renate Mayntz: Soziologie der Organisationen, Hamburg 1963; dies. (Hrsg.): Bürokratische Organisation, Köln & Berlin 1968; James L. Price: Organizational Effectives. An Inventory of Propositions, Homewood, III. 1968 und die Beiträge in M. Alexis and Ch. Z. Wilson (Eds): Organizational Decision Making, Englewood Cliffs, N. J. 1967.

  4. Es gibt relativ viele (englischsprachige) Publikationen über die Geschichte und die Nachfolgeprobleme des amerikanischen Vizepräsidentenamtes. Im Hinblick auf die Führungsmängel im speziellen Regierungssystem wurden bisher kaum Untersuchungen angestellt. Aus der Fülle der allgemeinen Literatur sei verwiesen auf Jack Bell: The Splendid Misery. A Study of the American Presidency and Power Politics at close Range. London & New York 1960; James MacGregor Burns: A New Look at the Vice Presidency, in: D. B. Johnson and Jack L. Walker (Eds): The Dynamics of the American Presidency. New York u. a. 1964, S. 261 ff.; Paul T. David: The Vice Presidency. Its Institutional Evolution and Contemporary Status, in: Journal of Politics (Florida), No. 4/1967, S. 721 ff.; Michael V. DiSalle, in collaboration with L. G. Blochman: Second Choice, New York 1966; Michael Harwood: In the Shadow of Presidents. The American Vice-

  5. Zwar starben bisher 8 von 37 Präsidenten vorzeitig (was eine Nachrückchance von fast 22 °/o bedeutet), doch wog das die individuell zu erwartende Bedeutungslosigkeit nicht auf, zumal die Chance der regulären Wiederwahl für die „zufällig" ins Amt gekommenen Nachfolger gering war (Ausnahmen: Th. Roosevelt, H. Truman, L. B. Johnson). 6) Vizepräsident John C. Calhoun gab das Amt 1832 zugunsten eines Sitzes im Senat auf: Nixons jetziger Gesundheitsminister Robert Finch lehnte (1969) eine Kandidatur für das Vizepräsidentenamt ab.

  6. Aus der Konstruktion des amerikanischen Regierungssystems folgt, daß stets ein verantwortlicher oberster Entscheidungsträger zu amtieren hat, zeitweilige Doppelherrschaft ist systemwidrig. Das erfordert eine klare Regelung für Zeitpunkt und Dauer der jeweiligen Amtsinhabe. Folgende Kriterien sind zu beachten: Kontinuität im Amt, Vermeidung von „Doppelherrschaft", legitimer Wechsel, Schnelligkeit und Einfachheit der Übernahmeprozedur, Beibehaltung der Grundlinien der Politik und Aufrechterhaltung der Gewaltenteilung als Prinzip.

  7. Vgl. Donald Young: American Roulette ..., S. 205; Kennedy-Johnson Pact on Incapacity, in: D. B. Johnson and J. L. Walker (Eds.): The Dynamics .... S. 169 f. sowie Johnson Message on Disability, in: Wireless Bulletin v. 29. 1. 1965.

  8. Eine weitere potentielle Nachfolgekrise kann sich deshalb ergeben, wenn (was schon in Dallas hätte passieren können) sowohl der Präsident als auch der Vizepräsident innerhalb einer Wahlperiode sterben oder amtsunfähig werden.

  9. Nach der Regelung von 1792 sollte zunächst der Interimspräsident des Senats und dann der Sprecher des Repräsentantenhauses als geschäftsführender Präsident nachfolgen; nach dem Gesetz von 1886 übernahmen die Minister (secretaries) in festgelegter Reihenfolge die Amtsgeschäfte, beginnend mit dem Außenminister. Der gegenwärtig geltenden Bestimmung aus dem Jahre 1947 zufolge steht der Sprecher des Repräsentantenhauses an erster Stelle der Nachfolger, dann kommen der Interims-präsident des Senats und dann die Minister, beginnend mit dem Außenminister, an die Reihe. Diese Reihenfolge wurde von Präsident Truman mit der Begründung durchgesetzt, daß der jeweilige Präsident seinen Nachfolger faktisch nicht schon mit der Festlegung der Kabinettsliste bestimmen solle.

  10. Vgl. auch Friedrich Graf von Westphalen: Schlachtruf einer Generation — Peace now. Vizepräsident Agnew führt den „Stellvertreterkrieg", in: Rheinischer Merkur, Nr. 48 vom 28. 11. 1969, S. 48.

  11. Die institutionalisierte Mitwirkung in anderen Gremien wie dem National Aeronautics and Space Council, dem National Advisory Council of the Peace Corps und dem Board of Regents of Smithonian Institution sind dagegen von geringerer Bedeutung.

  12. So auch John G. Stewart, Legislative Assistant to the Vice President (H. H. Humphrey) im Gespräch mit dem Vers, am 2. 8. 1968 in Washington, D. C.

  13. Anfang 1959 brach in der amerikanischen Stahl-industrie ein Lohnkonflikt aus, der erst im Januar 1960 nach mehrmaligen Interventionen der Regierung (Eisenhower) und unter Anwendung des Taft-Hartley-Gesetzes beigelegt werden konnte. Die Konfliktlösung erwies sich für die amerikanische Regierung als dringlich, weil im Jahre 1960 Präsidentschaftswahlen stattfanden und in der breiten Öffentlichkeit Inflationsfurcht herrschte. Während des 116tägigen Streiks der Stahlarbeiter versuchte die Regierung, insbesondere durch den Arbeitsminister, zu vermitteln. Der damalige Vizepräsident Nixon hatte sich zu Beginn der Auseinandersetzungen in mehreren Gesprächen mit den Tarifparteien eingeschaltet; er wurde jedoch vor allem in der kritischen Phase um das Jahresende 1959 aktiv. In einigen Geheimkonferenzen machte er seinen Einfluß (als „rechter" Republikaner) auf die Stahlindustrie geltend, was schließlich zu einem Kompromiß zugunsten der Stahlarbeiter führte, auf deren Stimmen der Präsidentschaftskandidat Nixon nicht verzichten zu können glaubte. Ähnlich wie

  14. Vgl. Näheres bei Carl Bohret: Das Planning-Programming-Budgeting System als zukunftsorientierte Entscheidungshilfe für die Regierung, in: Futurum, Band 2, Heft 1/1969, S. 102 ff. und ders.: Entscheidungshilfen für die Regierung. Modelle, Instrumente, Probleme. Köln und Opladen 1970.

Weitere Inhalte