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Friedrich Ebert Kritische Gedanken zur historischen Einordnung eines deutschen Sozialisten | APuZ 5/1971 | bpb.de

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APuZ 5/1971 Artikel 1 Friedrich Ebert Kritische Gedanken zur historischen Einordnung eines deutschen Sozialisten Grundschulpraktikum 1970 Auswertung und Bemerkungen

Friedrich Ebert Kritische Gedanken zur historischen Einordnung eines deutschen Sozialisten

Helga Grebing

/ 43 Minuten zu lesen

Friedrich Ebert, Sohn eines Heidelberger Schneidermeisters, erlernte das Sattlerhandwerk und war einige Jahre, ehe er sich auch mit seiner beruflichen Existenz der Arbeiterbewegung verband, in Bremen einer jener Gastwirte, deren Betriebe in den Groß-und Industriestädten Deutschlands atmosphärische und organisatorische Kristallisationspunkte für die Emanzipationsbedürfnisse der Arbeiterschaft bildeten. Ebert gilt als der Prototyp der Führungsschicht der deutschen Arbeiterbewegung nach der Aufhebung des Sozialisten-gesetzes: Hatten sich zum Beispiel August Bebel und Paul Singer die materiellen Voraussetzungen für ihre Parteiführerschaft im wesentlichen außerhalb der Arbeiterbewegung geschaffen oder schaffen müssen — Bebel war vom wenig erfolgreichen Drechsler-Handwerksmeister zum Teilhaber einer prosperierenden Zuliefererfabrikation aufgestiegen, Singer war Fabrikant in der Textilbranche, Wilhelm Bracke Prinzipal einer Druckerei —, war der persönliche Aufstieg dieser Führungs-schicht unmittelbar an die Emanzipationsfortschritte ihrer Klasse gebunden. So übernahm Ebert zum Januar 1900, knapp 29 Jahre alt, das Bremer Arbeitersekretariat, das die Gewerkschaften als zentrale Beratungsstelle für alle Angelegenheiten der Arbeiter, die sich aus ihrem Arbeitsverhältnis ergaben, einrichteten; er hatte nun, verheiratet seit 1894 und Vater von fünf Kindern, mit einem Gehalt von jährlich 2000 Reichsmark die Einkünfte eines mittleren Beamten. Und wie für Ebert hatte für viele begabte Arbeiterkinder die Übernahme von bezahlten Positionen in den Arbeiterorganisationen, zu denen zunehmend auch Redakteursposten gehörten (die allerdings auch von bürgerlichen Intellektuellen, die ihre Klasse aufgegeben hatten, eingenommen wurden), und in den sozialen Selbstverwaltungsorganisationen die Funktion einer „Klassenerhöhungsmaschine" 1).

Helmut Keil:

Grundschulpraktikum 1970, Auswertung und Bemerkungen........... S. 19

Diese heue Führungsschicht war keineswegs unkämpferisch, wohl aber pragmatisch-besonnen, solide-hartnäckig: Was heute mit sich selbst beschränkender Vorsicht und doch zugleich selbstsicherer Einschätzung des Möglichen dem Klassenstaat abgerungen wurde, das galt es, als erworbenes Gut gegen Veränderung abzusichern und als Voraussetzung neuer Aktivitäten zu bewahren. Immobil war diese Führungsschicht nicht eigentlich, nur allergisch gegen planhafte Festlegung, die einem übermorgen gelten sollte; ihr Metier war die Improvisation: hier, heute, jetzt — bei Arbeitskämpfen, Tarifverhandlungen, im Reichstag, in den Landtagen und Kommunen — das Optimale herauszuholen und auf Dauer zu stellen.

Genau das leistete Ebert, dessen politische Laufbahn gerade mit dem Ende des Sozialisten-gesetzes begann, zuerst in Bremen als Arbei-tersekretär, dann seit 1905 in Berlin als besoldeter Parteisekretär im Vorstand der Partei, wo er zuständig war für Organisationsfragen und für eine einheitliche Linie unter den Parteimitgliedern, die in den Selbstverwaltungskörperschaften Funktionen wahrnahmen und damit nolens volens die Partei zum Partner-Kontrahenten des Staates machten, zu sorgen hatte. Die subtile Mischung aus organisations-bezogener Strategie und improvisationsgebundenem taktischen Kalkül — darauf beruhte Eberts Ruf in der Partei.

Ebert war 1905 auf dem Parteitag in Jena mit 174 von 283 Stimmen zum hauptamtlichen Sekretär im Parteivorstand gewählt worden, immerhin auf einem Parteitag, der den den Marxismus revolutionär-aktivistisch interpretierenden Strömungen in der Partei Siege in Resolutionen gebracht hatte; acht Jahre später, 1913 — nach Bebels Tod —, wurde er mit 433 von 473 Stimmen zwar nicht zum Nachfolger Bebels, was er selber nicht wollte, wohl aber zum gleichberechtigten Vorsitzenden neben Hugo Haase gewählt. Warum gerade dieser Mann? Der Mann der Organisation, der Meister der Improvisation; einer der nie ein Proletarier gewesen war, Fabrikarbeit nur einmal ein paar Monate auf seiner Gesellen-Wanderschaft in Hannover kennengelernt hatte, der sich einst in Bremen für die Bäcker-und Sattlergesellen, freilich auch für die Hafenarbeiter eingesetzt hatte und sich nun, seit 1912 im Reichstag für den Wahlkreis Elberfeld-Barmen, der unteren Beamten, vor allem der Postbeamten, annahm; in seinem Lebensstil offenbar ein solider, aufstiegsbewußter Kleinbürger: schon in den neunziger Jahren hatte er mit einigen Freunden in der Nähe von Bremen eine Jagd gepachtet; aus dem Industriegebiet Berlin-Rummelsburg zieht er nun in eine Wohnung am Treptower-Park, wo er einen Schrebergarten pachtet und eine kleine Segeljolle erwirbt. Dieser Mann also der Führer der Millionen-Massen-Emanzipationsbewegung der deutschen Industriearbeiter?

Engels zuerst, dann Robert Michels, Lenin und Wolfgang Abendroth haben die eben charakterisierte Führergestalt — wie auch immer im einzelnen modifiziert — als den „Typ des bürokratisch-handelnden, seinen persönlichen Aufstieg durch Einordnung in das bestehende politisch-soziale System erstrebenden Berufs-politiker" bezeichnet und diesen Typ abgehoben von dem älteren des Volkstribunen wie Bebel (und in späteren Jahren immer noch annäherungsweise Philipp Scheidemann). Während Bebel fast mediale Fähigkeiten in seinem Verhältnis zur „Masse" zugeschrieben werden, wird der neue Führertyp negativ von ihm abgesetzt wegen seiner permanenten Tendenz zur Verselbständigung und Entfernung von der Basis. Das kulminiert dann in der Leninschen These von der „Arbeiteraristokratie“, der Auffassung, daß die Arbeiterführer samt einer dünnen Schicht der hochqualifizierten und in der Lohnskala an der Spitze liegenden Arbeiter von den Sonderprofiten der Kapitalistenklasse im Zuge der imperialistischen Expansion „bestochen“ worden sind, reformistische Politik zu treiben oder zu unterstützen. Demnach hatte sich die Klasse der Arbeiter in einer objektiv revolutionären Lage befunden, der subjektiv zumindest eine revolutionäre Mentalität, wenn auch nicht ein entsprechendes Bewußtsein korrespondierte Will man Lenins These in ihrem Stellenwert für Theorie und Praxis der internationalen Arbeiterbewegung begreifen, wird man ihren Ort in der Entwicklung seiner Konzeption der Weltrevolution aufsuchen müssen: daß er sie nämlich in dem Augenblick ausarbeitete, als er Reformismus und Revisionismus in sein Konzept der Weltrevolution einpassen mußte; mit dieser These konnte er dann auch eine Erklärung dafür finden, warum in Deutschland, dem Land mit einer hohen Sozialisierungsreife und der bestorganisierten Arbeiterklasse, diese für die Imperialisten in den Krieg zog.

Doch ist hier nicht sporadisch Ideologiekritik zu leisten sondern nach der realsoziologischen Relevanz der „Arbeiteraristokratie" -These, der These zumindest von der permanenten Tendenz der Oligarchisierung und Verbürokratisierung des Führungsapparates zu fragen. Zunächst ist die Tatsache festzuhalten, daß die sozialen Strukturveränderungen, gemessen jedenfalls an der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion seit dem Ende des Sozialistengesetzes, weniger einschneidend gewesen sind als die unkritische Rezeption der an ausschnitthaftem Material gewonnenen These von Michels zuläßt. Das Gros der Abgeordneten kam durchweg unverändert aus handwerklichen und industriellen Arbeitneh-merberufen mit bloßer Volksschulbildung, „die in der Mehrzahl zu beamteten Funktionären geworden waren, aber nichts anderes darstellten als die selbst produzierte Führungsschicht der Arbeiterbewegung"; daneben gab es eine kleine Gruppe von Intellektuellen meist bürgerlicher Herkunft (und überwiegend aus jüdischen Familien, also auch Unterprivilegierte) Insofern wäre es sicherlich genauso unhaltbar zu behaupten, die Fraktion habe aus lauter Arbeitern bestanden wie sie sei in der Partei völlig isoliert, ein Fremdkörper gewesen.

Wie wenig sie dies war, zeigt schon eine knappe Orientierung über die objektive soziale Lage der Arbeiter im Kaiserreich und die subjektive Einschätzung dieser Lage durch sie. Die Statistiken zeigen eine Reallohnsteigerung für alle Arbeiter; die Abweichungen nach oben und unten sind vergleichsweise minimal; um diese Tatsache der Reallohnsteigerung richtig zu werten, wird man die Zuwanderung vom Lande mit in die Betrachtung einbeziehen müssen, da die Abgewanderten vorher einen sehr viel niedrigeren Lebensstandard gehabt hatten. Ferner ergibt sich, daß die Schicht der Produktionsarbeiter, also das von Marx und Engels gemeinte klassische Proletariat, nicht im erwarteten Maße wuchs, bedingt durch ökonomisch-technologische Trotz ökonomischer Konzentration wurde der alte Mittelstand nicht niederkonkurriert, sondern in die industriekapitalistische Wirtschaftsstruktur eingepaßt; durch die ökonomische Konzentration entstand der neue Mittelstand der Angestellten — Anfänge des sogenannten tertiären Sektors. Es geht hier nicht darum, diese Zusammenhänge mit Hilfe imperialismustheoretischer Ansätze darum, aufzuhellen, sondern ihre Auswirkungen auf die soziale Mentalität der Arbeiter zu beschreiben: Die soziale Orientierung blieb permanent, auch und gerade innerhalb der relativ abgeschlossenen Subkultur, die die Arbeiterbewegung im Kaiserreich bildete, an die nächst höhere Schicht, an das Kleinbürgertum gebunden (so daß man be-stenfalls Ansätze zu einer eigenständigen proletarischen Kultur findet). So werden von Arbeitern artikulierte soziale Aufstiegswünsche begreiflich, die an die Statussymbole der (klein-) bürgerlichen Welt fixiert sind — mehr verdienen, weiterbilden, eine anständige Wohnung, eine vernünftige Bibliothek, ein Häuschen mit Land und vielleicht ein Klavier darin, eine kleine Wirtschaft mit etwas Acker und Obstgarten, einen Bauernhof kaufen oder ein Handwerk ausüben.

Solche Aussagen bedürfen auch noch in anderer Weise einer Interpretation: Sozialpsychologisch dokumentierte sich traditionsgemäß gerade im Kleinbürgertum die autoritäre Unterwerfungsgeste, das Bedürfnis nach der Identifizierung mit den Herrschenden durch den Unterwerfungsakt; politisch bildete das Kleinbürgertum, gerade in Deutschland anti-industriekapitalistisch und anti-industriegesellschaftlich orientiert — genau wie Marx und Engels es schon im Kommunistischen Manifest charakterisiert hatten —, den Schwanz der konservativen, ja reaktionären Klasse. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß sich beide Faktoren in der deutschen Arbeiterbewegung negativ auf die ursprünglichen klassen-emanzipr*orischen Intentionen auswirkten. Konfrontiert man den sozialen Bezugsrahmen der Persönlichkeit Eberts mit der sozialen Mentalität der deutschen Arbeiter im Kaiserreich, so ist es in der Tat zulässig, als Ebert typischen Repräsentanten der deutschen Arbeiterbewegung seiner Zeit zu charakterisieren. Durch eine solche Aussage soll jedoch weder die Einheit von Führungsschicht und Anhängerschaft im Hinblick auf soziale Mentalität und Bewußtseinslage überbetont noch die Relevanz von Oligarchisierungstendenzen geleugnet werden. Doch um diese realistisch-differenziert können, bedarf bewerten zu es einer Erörterung von Strategie und Taktik der Partei im Kaiserreich und der Fragestellung, ob und wieweit das Eigengewicht des Apparats die Taktik beeinflußte, gemessen an einem revolutionär-emanzipatorischen Anspruch lähmte oder ob nicht die Taktik „der Selbst-genügsamkeit des Apparates . . . Vorschub leistete" Daran würde sich die weitere Frage anschließen, ob es nicht Aufgabe einer Führungsschicht hätte sein können und müssen, in einer historischen Situation, der möglicherweise revolutionäre Qualität zuzuschreiben gewesen wäre, bewußtseinsmäßig noch latente revolutionäre Impulse in entsprechend aktives politisches Potential umzusetzen.

1891 hatte sich die die deutsche Sozialdemokratie in Erfurt ein neues Programm gegeben.

Der einleitende grundsätzliche Teil, von Karl Kautsky verfaßt, orientierte sich dogmatisch an den Lehren von Marx und betonte schon im ersten Satz die Naturnotwendigkeit der ökonomischen Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft hin zur Vergesellschaftung der Produktionsmittel; der praktische Teil des Programms, von Bernstein verfaßt, enthielt Forderungen, deren Verwirklichung die Anerkennung des bestehenden Staates als Basis für die Verbesserung der politischen und sozialen Situation der Arbeiter voraussetzte. Dieser programmatische Dualismus war insofern Schein, als er seine Auflösung fand in der „dialektischen Einheit von Theorie und Praxis", durch die, wie Marx und Engels mehrfach ausführten und Marx selbst als Mitglied des Generalrates der Internationale demonstrierte, Reformarbeit und revolutionäre Zielsetzung als aufeinander bezogen begriffen werden. So interpretiert, trug das Erfurter Programm keinen Widerspruch in sich. Tatsächlich aber zerfiel in der deutschen Sozialdemokratie die gedachte „dialektische Einheit von Theorie und Praxis", von „naturnotwendiger" Entwicklung und menschlichem Handeln, und das deterministisch-evolutionäre Element der Theorie von Marx rückte in der von Engels vorbereiteten Deutung von Kautsky in den Vordergrund. Danach war die Sozialdemokratie zwar eine „revolutionäre, nicht aber Revolution machende Partei". Die große Mehrheit der deutschen Sozialdemokratie war nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes davon überzeugt, daß die Entwicklung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft sich so zuspitzen würde, daß sie in die sozialistische Gesellschaft hineinwachsen müsse: Organisation und Erhaltung der Stabilität dieser Organisationen unter der Berücksichtigung der permanenten Bedrohung durch die herrschende Klasse sowie Demonstration der wachsenden Macht durch den Stimmzettel galt deshalb als die den Verhältnissen gemäße Taktik.

Ebert teilte diese Auffassung uneingeschränkt. Seine Biographen berichten, daß er die Utopisten, das Kommunistische Manifest, das Kapital gelesen habe — und einiges von diesen Lesefrüchten wird noch in seine Argumentation in den Revolutionstagen von 1918 einfließen; gleichzeitig trieb er harte profane praktische Arbeit im Sattlerverband, nicht anders als Bebel, den er 1893 zum ersten Mal in Bremen als massenbewegenden Volkstribun erlebt. Bebel war auf den Parteitagen der Todfeind der bürgerlichen Gesellschaft, wie er sich selbst bezeichnete, und im Reichstag ein unentwegter Reformist, wie es seine Kontrahenten in der eigenen Partei sahen.

Wie Bebel, Auer und andere, die Reformisten waren, wandte sich auch Ebert im Revisionismus-Streit gegen eine Vertheoretisierung und Ideologisierung der praktischen Politik, die er in Bremen trieb. Er dachte nicht daran, die Endzielvorstellung aufzugeben, da sie der Politik Kraft und Rückhalt im Kampf gegen die bürgerliche Gesellschaft verlieh. Ebensowenig war er bereit, sich von den radikalen Antirevisionisten seine Praxis in Frage stellen zu lassen. Prinzipientreue und Gegenwartspolitik bildeten für ihn ein untrennbares Ganzes: „Auch wir wollen fürderhin", hieß es 1899 in einer Rede Eberts, „alles tun, was wir zur Hebung der Arbeiterklasse tun können, soweit es sich mit unseren Prinzipien vereinbart, aber unser Endziel, die Vergesellschaftung der Produktionsmittel, auch fernerhin als unser teuerstes in dem uns noch bevorstehenden Kampfe voranzutragen."

Zuerst Arthur Rosenberg und nach ihm mehrfach Erich Matthias haben eindringlich die Folgen der Politik der Sozialdemokratie im Kaiserreich dargestellt. Der Kultus der Wahlen und Wahlerfolge täuschte über die tatsächliche Ohnmacht hinweg, der Glaube an die Macht des Stimmzettels rief ein legalistisches, auf die Parlamentsarbeit fixiertes Bewußtsein hervor, das 1918/19 seine negativen Auswirkungen eklatant zeigen sollte. Das Dilemma der nachrückenden Führerschaft bestand darin, daß sie — nicht zuletzt durch Bebels Autorität —, von der alten Partei geprägt, im Bannkreis einer immobilisierenden Taktik gefangen blieben und dadurch kein realistisches Verhältnis zur Macht und keinen Raum zum Durchdenken* der Voraussetzungen für die Beherrschung der Staatsmaschinerie sich zu schaffen wußten. Die SPD fand sich vielmehr mit der bestehenden Ordnung der Dinge ab; ihre Unversöhnlichkeit mit dem System war nur mehr „Theaterdonner", sich äußernd im radikalen Hochspielen sekundärer Probleme wie Kaiserhoch und zu Hofe gehen. Die SPD hatte den Weg einer parlamentarischen Oppositionspartei eingeschlagen, bestand jedoch darauf, einen Anteil an der Regierungsgewalt in der bürgerlichen Gesellschaft nicht zu erstreben. Damit verurteilte sich die Partei selbst zur Sterilität, die wiederum dem immobilisierenden Eigengewicht des Apparates entgegenkam, wie auch das Ausweichen vor ernsthaften politischen Risiken schließlich die Parteiorganisation aus einem Instrument zur Durchsetzung politisch-strategischer Ziele zum Selbstzweck verkümmern ließ. Die Taktik der Sozialdemokratie hatte sich, so meint Erich Matthias, beim Ausbau der Organisationen und beim Vormarsch in den Wahlen bewährt; zur Fessel wurde sie, als es darauf angekommen wäre, das Machtpotential zu realisieren

Darüber hinausgehend möchte ich sogar meinen, daß der „Dualismus" von revolutionären Endzielvorstellungen und praktischer Reform-arbeit unter den für die Sozialdemokratie im Kaiserreich gegebenen Bedingungen noch weiterwirkende Funktionen hatte. Das Festhalten an der revolutionären Theorie besorgte die Integration in die klassenspezifische Subkultur, die reformerische Praxis die Integration in das System. Genau das aber war die Voraussetzung für die Lösung der Doppelaufgabe, unter den Bedingungen des Kapitalismus eine sozialistische Strategie zu entfalten und gleichzeitig die aktuellen Erwartungen der konkreten Menschen zu erfüllen zu versuchen. Problematisch wurde der „Dualismus“ in der Tat erst, als nach der Jahrhundertwende zwar die Endzielvorstellungen aufgegeben wurden, aber nicht der Anspruch, eine revolutionäre Theorie zu besitzen. Tatsächlich sank damit die „Theorie" zur Ideologie, zur reinen Phraseologie herab, und die Praxis wurde blind ohne Orientierung an einem theoretisch vermittelten, in die Zukunft weisenden Programm. Eberts Weg nach 1900 spiegelt das eben Erörterte bis zu einem gewissen Grade konkret wider. Hatte Ebert 1899 noch undifferenziert den Standpunkt des Parteizentrums in der Frage des Revisionismus vertreten, so finden wir ihn 1901/02, bedingt durch seine praktische Arbeit als Bremer Arbeitersekretär und Bremer Bürgerschaftsabgeordneter, stärker den Reformisten angenähert. Diese Interpretation seiner Haltung ist unter seinen Biographen resp. in der monographischen Literatur kontrovers: G. Kotowski zählt ihn dem Parteizentrum zu, insbesondere unter Hinweis auf Eberts spezifische Leistung als Partei-sekretär; W. Besson betont die Parallelität von Eberts politischem Weg mit dem der süddeutschen Reformer; K. -E. Moring begreift Eberts verbalen Radikalismus als „Plattform der Verteidigung" seiner reformistischen Position Dieser Auffassung schließe ich mich aus folgenden Gründen weitgehend an: In Eberts schon zitierter Rede von 1899 kommt seine Aversion gegen theoretische Explikationen deutlich zum Ausdruck mit dem bezeichnenden Argument, die Sozialdemokratie sei seiner Ansicht nach für theoretische Fragen nicht sonderlich empfänglich, da sie eine Politik der Tatsachen betreibe. Fast erscheint eine solche Aussage als eine Frühform des späteren, insbesondere von Ignaz Auer vertretenen Praktizismus; die Praktizisten übten nicht mehr nur wie die süddeutschen Reformisten, voran Georg von Vollmar, bewußte und begründete Abstinenz von der Theorie, sondern sie bestanden darauf, daß die Partei im Prinzip theorielos sein müsse, und argumentierten damit ihrerseits ideologisch.

Doch nicht mit einer so weitgehenden Interpretation einer einzigen Textstelle soll die These von Eberts Zugehörigkeit zu den Reformisten begründet werden. Vielmehr kann Eberts Tätigkeit als Arbeitersekretär und als Bremer Bürgerschaftsabgeordneter (seit 1900) als Verwirklichung eines reformistischen Programms gekennzeichnet werden. Natürlich waren Sozialpolitik und Arbeiterschutz-Gesetzgebung sein Hauptarbeitsgebiet, was nicht aus dem Rahmen sozialdemokratischer Parlamentsarbeit fiel, aber er verband damit zunehmend taktisch geschickter das Kalkül der Aufsplitterung der Kräfte des Liberalismus im Interesse konkreter Wahlerfolge der Sozialdemokratie. Er hat beispielsweise das Bremer Goethe-Bund-Projekt, bei dem Liberale und Sozialdemokraten bei der Vorbereitung und Durchführung künstlerischer und populärwissenschaftlicher Veranstaltungen zusammenarbeiteten, gegenüber dem radikalen Vorwurf des Klassenverrats und der Versumpfung des Proletariats verteidigt; es gelang ihm ferner, einige der wichtigsten Ämter zu bekleiden, die die Bürgerschaft zu vergeben hatte: er gehörte von 1903 an dem Bürgeramt sowie der Finanz-und Steuerdeputation an. Wenn ich recht sehe, hat Ebert diese zwar nirgends als solche ausgewiesene Politik des Eindringens in neue Wählerschichten, die ja mit dem objektiven Tatbestand korrelierte, daß die Sozialdemokratie gegen Ende des Kaiserreichs ihr Reservoir an Produktionsarbeitern fast erschöpft hatte, im Reichstag weiter verfolgt, wenn er sich hier zunächst vor allem der unteren (Post-) Beamten annahm.

Seine Haltung bei Abstimmungen auf den Parteitagen, zum Beispiel 1901 in Lübeck, zeigt zunehmend seine Neigung, sich das eigentliche Anliegen des Reformismus zu eigen zu machen, nämlich, „der Überwindung der prinzipiellen, vom Marxismus bestimmten Bedenken gegen eine Mitarbeit der Partei an der Umformung der bestehenden Gesellschaft stärker zu öffnen und sich je länger je mehr an der Praxis zu orientieren“ Seit 1903 war seine Antwort auf die radikale Agitation in Bremen der Versuch, die reformerische Praxis noch stärker auszuweiten. Das in dieser Zeit ausgesprochene Bekenntnis zur sogenannten Mehringschen „Diagonale der Kräfte“, das heißt, daß es zur Erreichung des Endziels einer Zusammenfassung des revolutionären und des evolutionären Weges bedürfe, erscheint unter solchen Bedingungen als ein taktisches Rückzugsgefecht „Ebert bediente sich zwar der revolutionären Phraseologie und verneinte aus taktischen Gründen nicht das Endziel, aber schon seine Parteigenossen werteten dies als Lippenbekenntnis. In der Tat war Ebert ein Reformist, der wie viele Sozialdemokraten jedoch den Bernsteinschen Revisionismus verurteilte."

1905 wird Ebert, von den Gewerkschaften protegiert, Parteisekretär. Es heißt, Bebel habe sich zunächst gegen ihn ausgesprochen als zu rechts stehend; wenn dies zutrifft, so sollte dies wohl heißen, daß Bebel um die Fähigkeiten des Parteivorstandes, ständig um Ausgleich bemüht zu sein, fürchtete. Ebert hat sich während sei-* ner Tätigkeit als Parteisekretär voll mit dieser Aufgabe des Ausgleichens identifiziert; ihn jedoch deshalb dem Parteizentrum zuzurechnen, erscheint mir nicht gerechtfertigt, selbst dann nicht, wenn man sich an seine Haltung auf dem Parteitag 1908 erinnert, wo er die Budgetbewilligungspolitik der süddeutschen Landtagsfraktionen in der Sache hart, wenn auch im Ton konziliant verurteilte. Nicht sachliche Meinungsverschiedenheiten trennten ihn von den Süddeutschen, sondern die unterschiedliche Auffassung über die Notwendigkeit einer taktischen Einheit der Partei, die gerade gegenüber den Radikalen zu demonstrieren war.

Mit dem Parteizentrum stimmt Ebert überein in der Einschätzung der Bedeutung des Organisationsfaktors; so in seinem Bericht für den Parteitag 1907 in Essen, wo es heißt: „Wenn ich auch durchaus nicht die große Bedeutung einer starken Reichstagsfraktion verkennen möchte, so ist doch eine starke Fraktion nicht gleichbedeutend mit der Macht und Aktionsfähigkeit der Partei. Diese wurzelt vielmehr in der Stärke ihrer Organisationen, in der Ausbreitung ihrer Parteipresse. Und nach der Richtung hin hat das abgelaufene Jahr uns recht erfreuliche Erfolge gebracht, Fortschritte, die beweisen, daß die Sozialdemokratie unaufhaltsam siegreich vorwärts dringt. Wir verkennen nicht, daß unser Kampf immer heftiger und schwieriger wird. Das Verhalten unserer Gegner, der Regierung und der behördlichen Organe zeigt uns, daß heute das A und 0 ihrer Politik der Kampf gegen die Sozialdemokratie, das Niederhalten der aufstrebenden Arbeiterklasse ist. Dieser Kampf wird sich verschärfen, je mächtiger sich die Sozialdemokratie entfaltet, je nachdrücklicher die Arbeiter für ihre Forderungen eintreten." Auf dem Felde der Organisationsarbeit lagen Eberts hervorstechendste Erfolge, die er mehr und mehr der Notwendigkeit untergeordnet sah, die Partei zusammenzuhalten. Dabei hat er, wie vor allem seine Haltung in der Frage der Jugendorganisation der Partei beweist, erfolgreich das Prinzip angewendet, den Gliederungen der Partei ihre Selbständigkeit in allen ihren Angelegenheiten zu belassen, sofern die Prinzipien der Partei und die Entscheidungsrechte des Parteivorstands nicht angetastet wurden.

Mit dem permanenten Bemühen um die Durchsetzung des Führungsanspruchs korrespon-dierte bei Ebert die Einsicht, das angesammelte Potential ungefährdet zu einer gewissen Wirksamkeit zu bringen — übrigens auch als Moment der Einigung der Parteiströmungen durch Aktion. Hier, in der Frage der Massendemonstrationen, war Ebert entschieden unbefangener als Bebel, der vom Trauma des Sozialisten-gesetzes gezeichnet blieb, hier stand er Victor Adler näher, der Ebert folgerichtig positiver beurteilen konnte als Kautsky übersehen darf man bei Eberts relativ positiver Einschätzung von Massendemonstrationen nicht, daß dieser wohl erkannte, daß die Massen in Bewegung gehalten werden mußten, um sie gegenüber den Radikalen in der Hand zu behalten, hatte er doch schon 1902 in Bremen bei Beginn der radikalen Agitation befürchtet, daß die Arbeiter „den doktrinären Phrasen aus Prinzip ohne weiteres verfallen".

War dies ein stillschweigendes Eingeständnis, daß die Parteiführung sich von den Massen isolierte, wenn sie weder in der Tagespolitik systemverändernde Leistungen erbrachte noch ein Programm konkreter Zukunftserwartungen formulierte: denn warum sonst sollten die Massen den Radikalen folgen wollen? Wieso bedurfte es immer wieder der legendären Kraft des greisen Bebel, Massenstimmungen politisch zu rezipieren?

1913 starb Bebel. Ebert wurde neben dem Repräsentanten der Linken, dem erfolgreichen Königsberger Rechtsanwalt Hugo Haase, Parteivorsitzender; er war nun Vorsitzender einer demokratisch-nationalen Reformpartei, die längst ein legitimer Bestandteil des Kaiser-reichs geworden war. Reale Tagespolitik als „demokratischer Weg zum Sozialismus" und Abwehr theoretischer Spintisiererei war die Devise einer Führungsschicht, deren Repräsentant Ebert war, die die Partei wie eine schwierige Gewerkschaft im Meer des Kapitalismus führte — und dies mitten in einer Situation, nach der russischen Revolution von 1905, die ein überdenken und überwinden der bisherigen Taktik in Richtung auf ein strategisches Konzept revolutionärer Aktivität erfordert hätte. Statt dessen beschritt Ebert, hierin Noske vergleichbar, den Weg von der Integration zur Identifikation, der trotz des offiziellen Republikanismus den Frieden mit der Monarchie nicht mehr ausschloß. Wie noch zu zeigen sein wird, waren diese Führer für ihren Weg schlecht gerüstet. Die Unsicherheit der aus dem proletarischen Milieu Aufgestiegenen wurden sie weder gegenüber den Herrschenden los noch gegenüber ihren Kontrahenten in den eigenen Reihen, den linksradikalen Intellektuellen. Ebert hatte in den Auseinandersetzungen mit ihnen bisher immer den kürzeren ziehen müssen: 1903— 1905 gegenüber den Radikalen in Bremen, wo er schon nicht mehr der allseits anerkannte Führer war, als er die Stadt verließ; und später, 1912/13, in der Auseinandersetzung mit den süddeutschen Radikalen und Karl Radek hatte er kaum Erfolg und eine wenig glückliche Hand. Ebert und die, die ähnlich wie er dachten, hatten keine systemüberwindende Strategie, die die Einheit von Theorie und Praxis im Marxschen Verständnis situationsbezogen wiederherstellte. Hatten ihre Kontrahenten sie?

Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß Rosa Luxemburg die Fähigkeit der deutschen Arbeiter zur Spontaneität über-und die negativen Auswirkungen repressiver Herrschaft auf das individuelle wie kollektive Emanzipationsstreben unterschätzte, wie sie auch die Wirkung der revolutionären Hammerschläge des Proletariats über-und die Widerstands-und Regenerationskraft der bürgerlichen Gesellschaft und des Klassenstaates unterschätzte.

Wer sich nicht angesichts solcher Zusammenhänge in seiner kritischen Stellungnahme gegenüber der deutschen Sozialdemokratie im Kaiserreich verkappter avantgardistischer oder voluntaristisch-idealistischer, in beiden Fällen elitärer Implikationen bezichtigen lassen will, wird wenigstens andeuten müssen, welches denn die Ansatzpunkte zu einer realistischen sozialistischen Strategie hätten sein können. Offenbar bestand in der Vorstellung der deutschen Arbeiter — je näher 1914 rückte, desto stärker — ein Mißverhältnis zwischen dem Machtpotential der Bewegung, der permanent demonstrierten Mächtigkeit und dem tatsäch9 lieh Erreichten; so hatten zum Beispiel die Wahlrechtsdemonstrationen seit 1908 zwar Wahlverbesserungen in einigen deutschen Ländern gebracht, nicht aber in Preußen und Sachsen. Ein solches Mißverhältnis hätte permanent durch konkrete Aktionsprogramme, die von allen Flügeln der Partei, wenn auch mit unterschiedlicher Motivation, getragen werden können, korrigiert werden müssen; dazu hätten die Gewerkschaften ihre betriebspolitische Aufgabenstellung begreifen, die Parole: „Hier ist alles sozialdemokratisch einschließlich der Maschinen!“ ausnutzen müssen. Die Partei hätte die subkulturelle Abkapselung der Arbeiterklasse, die die bürgerliche Gesellschaft wie keine sonst in Europa vor den demokratisierenden Effekten der Industrialisierung abschirmte, zum Beispiel durch entsprechende Bildungs-und Ausbildungsprogramme, abmildern müssen. Schließlich wäre ein Führertum denkbar gewesen, das, ausgerüstet mit dem Einblick in die Möglichkeiten der Herrschenden, den emanzipatorischen Akt stellvertretend-beispielhaft vollzogen hätte. Die Erlösung aus selbstproduzierter Immobilität und Sterilität auf der Basis eines höchst labilen inneren Gleichgewichts brachte der Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Aus den ersten Kriegslagen ist ein Gespräch zwischen Ebert und Haase überliefert, das, selbst wenn es nur erfunden wäre, genauso stattgefunden haben könnte:

Haase: „Du willst dem Deutschland der Hohenzoilern und der preußischen Junker die Kredite bewilligen?"

Ebert: „Nein, diesem Deutschland nicht. Aber dem Deutschland der schaffenden Arbeit, des sozialen und kulturellen Aufstiegs der Massen. Dieses gilt es zu retten."

Haase: „Wir, die . Rotten der Menschen', die nicht wert sind, den Namen Deutsche zu tragen, wir, die . vaterlandslosen Gesellen'Wilhelms, die wir nicht einmal eines gerechten Wahlrechts in Preußen würdig sind — wir sollten . . . nein!"

Ebert: „Wir zeigen durch die Tat, daß wir nicht diese Menschen sind. Es handelt sich um das Wohl des ganzen Volkes. Wir dürfen das Vaterland, wenn es in Not ist, nicht verlassen. Es gilt, Kinder und Frauen zu schützen." Als die Reichstagsfraktion am 4. August 1914 im Sinne von Eberts Argumenten gegenüber Haase die Kriegskredite bewilligte, konnte sie der Übereinstimmung mit der überwiegenden Mehrheit der deutschen Arbeiter sicher sein. Die nationale Hochstimmung bei Kriegsbeginn erfüllte auch die deutschen Arbeiter. Die jahrzehntelangen Bemühungen um die Einheit mit dem Vaterland, die immer wieder die rauhe Wirklichkeit des Klassenstaates verhindert hatte, konnten jetzt bedingungslos, ohne Vorbehalt verwirklicht werden. Bedrückende Isolierung, ungesichertes Selbstgefühl, Resignation und Passivität und die Belastung einer doppelten Loyalität, einmal gegenüber dem nationalen Machtstaat, zum anderen gegenüber dem internationalen Sozialismus, wurden aufgehoben durch die vollkommene Identifizierung mit dem nationalen Staat.

Ebert, offenbar nicht mit großer Sorge um den Weltfrieden erfüllt — er mochte gemeint haben, darin in Übereinstimmung mit der II. Internationale, die Regierungen würden aus der Furcht vor Reaktion des Proletariats Kriegserklärungen nicht wagen —, wurde vom Kriegsausbruch überrascht wie übrigens auch Kautsky Nachdem der Krieg ausgebrochen war, waren die Sozialdemokraten, befangen in der traditionell antizaristischen Politik der subjektiv ehrlichen Überzeugung, daß es sich für Deutschland um einen Verteidigungskrieg handelte, und nicht nur Ebert „glaubte an die Möglichkeit eines gesunden Patriotismus" der sich genauso unterschied von den Auffassungen der linken Sozialisten, deh „Sozialpazifisten", wie von denen der reaktionären Chauvinisten und den „Sozialpatrioten“ im eigenen Lager. So hat sich Ebert nach 1914 zwar für die Wiederherstellung der Internationale zur Einleitung gemeinsamer Friedens-aktionen eingesetzt, aber solche Initiativen an die Bedingung geknüpft, daß die SPD gleichberechtigt behandelt werden müsse und keine deutschen Interessen preisgegeben werden dürften

Bei der Zustimmung zu den Kriegskrediten und bei dem Eingehen auf die vom Kaiser verkündete Burgfriedenspolitik spielte bei den Sozialdemokraten, wie schon die oben wiedergegebene Argumentation Eberts gegenüber Haase andeutete, die Erwartung eine wesentliche Rolle, daß die Periode der Diskriminierung vorbei sein würde, daß es zu einer „Neuorientierung" in der Innenpolitik kommen würde, unter der wohl inhaltlich zumindest die Beseitigung des Dreiklassenwahlrechts in Preußen verstanden wurde. Eberts Hoffnung scheint überdies gewesen zu sein, „daß die Logik der Ereignisse ... die Partei endgültig wieder einigen werde, wenn ihr in einem erneuerten deutschen Staat eine führende Rolle zugewiesen sei" Mit solchen Erwartungen stand er übrigens nicht allein: Die Generalkommission der Gewerkschaften, die schon vor der Partei, am 2. August, auf die Burgfriedenspolitik eingegangen war, erkannte im Krieg die Chance, alte gewerkschaftliche Forderungen, vor allem die rechtliche Anerkennung der Tariffähigkeit, durchsetzen zu können.

Tatsächlich wurde die Haltung des 4. August nicht honoriert; die innenpolitischen Reformen blieben aus, wiewohl sich die Sozialdemokraten im Verlauf des Krieges in ihren innenpolitischen Forderungen äußerst bescheiden zeigten. So hat etwa der Interfraktionelle Ausschuß, der die Friedensresolution vom Juli 1917 vorbereitete und an dem die Sozialdemokraten führend beteiligt waren, keineswegs den Übergang zu einem parlamentarischen Regierungssystem zu seinem Programm erhoben. Auch der Sturz des Reichskanzlers Michaelis durch den Reichstag wurde nicht zu einem innenpolitischen „Systemwechsel" ausgenutzt; vielmehr ließ man sich den konservativen katholischen Grafen Hertling als neuen Reichskanzler aufnötigen und begnügte sich mit der Ernennung des linksliberalen Politikers Friedrich von Payer zum Vizekanzler und akzeptierte ihn als „Vertrauensmann"

Eingeschworen auf die traditionell antizaristische Politik blieb man auch zunächst blind für den von vornherein von der politischen und militärischen Führung des Reiches inaugurierten Charakter des Kriegs als Annexionskrieg und täuschte sich auch hinsichtlich der Friedensbereitschaft der Reichsleitung. Als Ebert sich der Einsicht in diese Zusammenhänge nicht mehr verschließen konnte, glaubte er dennoch, die alte Linie vom 4. August durchhalten zu müssen: „die doppelte Stoß-richtung seiner Mittelposition der Verteidigung nach außen-und des sozialen Neubaus nach innen"

Eine abgewogene Würdigung der namentlich von Ebert vertretenen Politik läßt allerdings nur die Feststellung zu, daß die SPD von Jahr zu Jahr ohne Bedingungen den Kriegskrediten zustimmte, wenn auch unter wortreichen Protesten gegen die Eroberungspolitik (bei der Abstimmung über den Frieden von Brest, der inhaltlichen Vorwegnahme des Versailler Friedensvertrages, enthielt sich die Fraktion der Stimme), daß sie aber nichts tat, um die Regierung dazu zu zwingen, Reformen einzuleiten und einen größeren Einfluß auf die Außen-und Innenpolitik des Reiches geltend zu machen. Nicht zuletzt mag dabei die Furcht eine Rolle gespielt haben, das Volk und die Front — beide durch eine restriktive Informationspolitik unaufgeklärt über die wirkliche Lage — zu spalten, wenn sie offen gegen die Regierung auftrat. Dies wäre wohl auch unvermeidlich gewesen, nachdem sie es erst versäumt hatte, deutlich zu machen, daß nach sozialistischer Auffassung die Entscheidung für die Landesverteidigung nicht notwendig die Akzeptierung des Burgfriedens implizierte

Hier liegt auch der Kern für die Spaltung der Partei, die keineswegs in der Konsequenz der Differenzierungsprozesse während der Vorkriegszeit gelegen hat, vielmehr ein Produkt des Krieges war. Die Spaltung vollzog sich nicht richtungsadäquat — bekanntlich gehörten Bernstein und Kautsky zur USPD; während einerseits alte Linke wie Paul Lensch und Konrad Haenisch sich auf die Parteirechte schlugen, gingen andererseits nicht alle Gegner der Kreditbewilligung zur USPD, so daß die Mehrheitssozialisten einen linken Flügel behielten; die eigentliche, prinzipiell angelegte Scheidelinie verlief nicht, weder außen-noch innenpolitisch, weder taktisch noch strategisch, zwischen MSPD und USPD, sondern zwischen diesen beiden auf der einen Seite und den radikalen Gruppen Spartakus und Bremer Linksradikale auf der anderen. Ebert hat sich lange und zäh darum bemüht, die Spaltung zu verhindern sie hat ihn auch privat, nicht nur politisch tief getroffen: z. B. ging sein ältester, 1894 geborener Sohn Fritz 1917 mit der Opposition (im gleichen Jahre fielen übrigens seine Söhne Georg und Heinrich).

Ebert war im Januar 1916 nach dem Austritt Haases aus der Fraktionsführung neben Scheidemann und Molkenbuhr auch noch einer der drei Fraktionsvorsitzenden geworden; er hatte nun, nach der Spaltung auch alleiniger Parteivorsitzender, mit der MSPD ein homogenes Instrument in der Hand und war zudem der Unterstützung der Generalkommission der Gewerkschaften sicher, dessen Vorsitzender, Legien, früh unnachgiebig die Spaltung befürwortet hatte. Aber Ebert war dennoch kein mächtiger, sondern eher — wie später als Reichspräsident — ein von den Herrschenden wie von der eigenen Basis gleichermaßen isolierter Mann, der deshalb die Politik des Reiches in seinem Sinne nicht nachhaltig zu beeinflussen vermochte, während die sozialdemokratischen Arbeiter sich zunehmend geund enttäuscht sahen.

Die Januarstreiks des Jahres 1918 waren nicht die ersten während des Krieges. Bereits im Juni 1916 hatte es anläßlich von Karl Lieb-knechts Kriegsgerichtsprozeß in Berlin einen Proteststreik gegeben. Der Streik vom April 1917, der trotz der die Änderung des preußischen Dreiklassenwahlrechts avisierenden kaiserlichen Osterbotschaft, die die Auswirkungen der Verkürzung der Brotrationen abfangen sollte, ausbrach, war ein spontaner Streik ohne revolutionäre Ziele, eine Friedens-kundgebung, deren Ziele sich im Rahmen dessen hielten, was dann im Juli 1917 von der Reichstagsmehrheit in ihrer Resolution aufgenommen wurde. Die Januarstreiks 1918 brachen als Folge des Abschlusses des Friedensvertrages von Brest aus, der von den Arbeiter-massen als Sabotage des Friedens begriffen wurde. Die Streiks mit Zentrum in Berlin, wo ihn die Revolutionären Obleute organisierten, war wiederum eine Demonstration für den Frieden; Spartakus hatte keinen Einfluß auf den Verlauf des Streiks

Es ist mehrfach darauf hingewiesen worden, daß die Streiksituation von Januar eine Vor-wegnahme der revolutionären Situation vom November 1918 war, insofern jedenfalls sicher, als MSPD und USPD sich gemeinsam bestrebt zeigten — Ebert und Haase traten bekanntlich in die Streikleitung ein —, die spontane Massenbewegung nicht zu stimulieren, wohl aber Kontakt mit ihr zu halten, um die Kontrolle über die Massen nicht zu verlieren, überhaupt bedarf es nochmals der Betonung, daß die Gegensätze zwischen MSPD und USPD keinesfalls überschätzt werden dürfen; dies spielt eine wichtige Rolle für den Verlauf der Novemberrevolution und relativiert die Fehleinschätzungen und das Fehlverhalten der MSPD-Führung während der Revolution. Beide Parteien reagierten konform positiv auf die russische Februarrevolution mit dem Ziel, die einheimischen Machthaber auf die Notwendigkeit der demokratischen Umgestaltung des Reiches aufmerksam zu machen, resp. die Situation selbst in diesem Sinne auszunutzen, ohne freilich die Ebene des Parlamentarismus verlassen zu wollen: damals erfolgte die Einsetzung eines Verfasssungsausschusses durch den Reichstag. Nur Spartakus und die Bremer Linksradikalen vertraten damals die Auffassung, daß die deutschen Arbeiter dem Beispiel der russischen Arbeiter und Soldaten folgen müßten; nur hier fand später die Oktoberrevolution Zustimmung, wenn auch, wie bekannt, durch Rosa Luxemburg mit Vorbehalten

Im Oktober 1918 erfolgte endlich der Über-gang zum parlamentarischen Regierungssystem. Es war dies kein Geschenk der Obersten Heeresleitung — E. Matthias, S. Miller, H. Weber betonen eindringlich die Bedeutung der Initiative der Reichstagsmehrheit, die zum ersten Male ihr Machtpotential wirklich eingesetzt habe Ebert hatte im August 1918 Klarheit darüber gewonnen, daß der Krieg verloren war, zudem sank die Massenstimmung immer weiter ab. So erwies es sich aus außen-wie innenpolitischen Gründen gleichermaßen als notwendig, die Parlamentarisierung des Reiches durchzusetzen und damit die Unterordnung der militärischen unter die politische Führung endlich sicherzustellen. Ebert hat dies, wie mir scheint, als Bestätigung und Konsequenz seiner 1914 eingeschlagenen Politik verstanden. Am 22. Oktober 1918 begründete er die Beteiligung seiner Partei an der Reichsregierung — er hatte Mühe gehabt, sich mit seinem Votum bei Scheidemann u. a. durchzusetzen — mit den Worten: „Gewiß, es wäre bequemer für uns, draußen zu stehen und unsere Hände in Unschuld zu waschen. Aber in der Schicksalsstunde des deutschen Volkes wäre eine solche Politik vor der Geschichte, vor der Nation und vor der Arbeiterklasse nie und nimmer zu verantworten."

Dennoch: Die revolutionären Ausbrüche an der Front und in der Heimat waren mit solchen Erfolgen nicht mehr aufzuhalten. Wiederum bedarf es der Betonung, daß zwar die Agitatation von Spartakus während des ganzen Jahres 1918 sehr stark war, daß damit aber kein politischer und organisatorischer Einfluß auf die revolutionäre Bewegung verbunden war — die Popularität seiner Führer beruhte auf der Tatsache, daß sie die Vorkämpfer für den Frieden gewesen waren; Scheidemann und Erzberger standen ihnen aus den gleichen Gründen an Popularität nicht nach. Ganz viel im Gegensatz zu dem geringen Einfluß von Spartakus war es der MSPD-Führung gelungen, sich seit ihnen ihre den Januarstreiks, die Isolierung von der Basis deutlich gemacht hatten, zumindest in den Berliner Großbetrieben durch Vertrauensleute zu schaffen. Dies erwies sich in der Revolution als eine wesentliche Voraussetzung für die Durchsetzung ihrer Politik

Doch die MSPD-Führung reagierte erst, und auch das zögernd, auf den Drude der Massen. Am 7. November noch versuchte sie durch das Ultimatum, der Kaiser solle abdanken, die Gefährdung des von ihr Errungenen, der Parlamentarisierung, zu verhindern. Erst am Morgen des 9. November, als die Revolution nun auch Berlin erreichte, erklärte Ebert auf einer gemeinsamen Sitzung der Fraktion mit Vertretern der Parteiorganisation von Groß-Berlin und Berliner Arbeitervertretern, der Fraktionsvorstand habe sich dahin verständigt, . bei einer notwendigen Aktion gemeinsam mit den Arbeitern und Soldaten vorzugehen.

Die Sozialdemokratie solle dann die Regierung ergreifen, gründlich und restlos, ähnlich wie in München, aber möglichst ohne Blutvergießen."

Erst im letzten Augenblick also setzte sich, wie schon vielfach bemerkt wurde, die MSPD-Füh-rung an die Spitze der spontanen und ganz und gar nicht von ihr gemachten revolutionären Bewegung, nunmehr allerdings mit der festen Absicht, die Bewegung in den Griff zu bekommen und ihre eigenen Vorstellungen durchzusetzen. Das war am 9. November. Einen Tag später, am 10. November, machte Ebert — 1914 noch der herrschenden Klasse des Kaiserreichs ein unbekannter Mann, nun als ein treuer Deutscher, der sein Vaterland über alles liebt, und als Retter des Volkes erkannt — der Geschichte gegenüber seine Vollzugsmeldung: Die Revolution, erklärte er dem Hollandsch Nieuws Bureau, sei „beendet" Ebert hatte, wie er meinte, die Kontinuität in der Ordnung wiederhergestellt

Welches seine Motive dabei waren, zeigt sein Vorgehen bei der Neubildung der Regierung am 9. November Er wollte den Bruch mit den bürgerlichen Koalitionspartnern vermeiden und diesen zumindest in verdeckter Form einen Einfluß sichern, indem er das Weiter-amtieren der Staatssekretäre durchsetzte, die, nach außen als Fachminister etikettiert, tatsächlich politische Positionen besetzt hielten. Er wollte allerdings das politische Schwergewicht in der Hand der Mehrheits-Sozialdemokraten sichern und die Oktober-Koalition um der die Unabhängigen erweitern, was wegen Einflußnahme auf die Massen notwendig war; er wollte die neue Regierung nur als Ubergangslösung bis zur Wahl der Nationalversammlung. Später erklärte er vor der Nationalversammlung, daß seine Regierung ihr Mandat der Revolution verdanke, deutete aber die Konstituierung der Nationalversammlung als die Rückkehr „auf den Weg der Gesetzmäßigkeit". Die Frage aber, ob Republik oder Monarchie, stand für Ebert, entgegen Äußerungen in der Memoiren-Literatur, am 9. November nicht mehr zur Debatte; was ihm allerdings unabdingbar erschien, war, daß nur die Nationalversammlung die neue Staatsform legitimieren könne. Die durch die Revolution legitimierten Organe — Reichskongreß der Arbeiter-und Soldatenräte, Vollzugs-resp. Zentralrat des Reichskongresses — dagegen hat Ebert nur dazu benutzt, diese seine Politik an der Basis abzusichern

Nach Ebert, so bemerkt W. Besson sollte die neue Republik auf dem Kompromiß zwischen Arbeiterschaft und Bürgertum aufgebaut werden. Seine öffentlichen Reden im Dezember 1918 bringen halb beschwörend, halb versichernd zum Ausdruck, daß die deutsche Revolution keine neue Diktatur und keine neue Knechtschaft über Deutschland bringen, daß das siegreiche Proletariat keine Klassenherrschaft aufrichten werde Daß und wie die herrschende Klasse gegenüber dem „siegreichen Proletariat" ihre Position verteidigen würde, hat Ebert möglicherweise kalkuliert, aber daraus keine Schlüsse gezogen. Das viel-beschriebene Bündnis Ebert-Groener vom 9. November 1918, von Ebert begründet als ein unentbehrliches Element seiner Ordnungspolitik, war hingegen von Seiten der Militärs das konsequente Ergebnis opportunistisch-aggressiver Klassenpolitik.

Faßt man jene Handlungen (oder Nicht-Handlungen), durch die die Kontinuität der Ordnung gewahrt und statt einer sozialen Demokratie eine konservative Republik etabliert wurde, für die weder das wilhelminisch-national geprägte Bürgertum noch die enttäuschte Arbeiterklasse die soziale Basis abgab, zu einem Katalog zusammen, so ergibt sich folgendes: — Die Oktober-Koalition wird via Fachleute-Lösung informell weitergeführt; die Einrichtung der sogenannten Beigeordneten zur Kontrolle der „Fachleute" war demgegenüber eine ineffektive Verlegenheitslösung.

— Die Kontinuität der hohen Bürokratie blieb im ganzen Reich erhalten.

— Die Oberste Heeresleitung trat auf und wurde angenommen als gleichberechtigter Partner der Regierung; jeder Domestizierungsversuch von Seiten der Regierung unterblieb. — Die Wirtschaft wird als autonomer Bereich akzeptiert; eine Einflußnahme auf die Vereinbarungen zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften findet nicht statt. Mehr noch, die Unternehmer werden faktisch durch die Losung, daß die Wirtschaft wieder auf ihre kapitalistische Normalform zu bringen sei (ehe an Sozialisierung gedacht werden könnte), als Besitzer der Produktionsmittel bestätigt; djo So-zialisierungskommission wird nur zur Dämpfung der Massenerwartungen eingerichtet, und als Ersatz für Sozialisierung wird den Massen Sozialpolitik angeboten. — Durch die Nicht-Einflußnahme auf die Rekonstruktion des Föderalismus wird das politische Gewicht der Einzelstaaten faktisch vergrößert. Es ist oft genug darauf hingewiesen worden, in welcher außerordentlich schwierigen, ihre Handlungsfreiheit determinierenden Situation sich Ebert und die anderen Volksbeauftragten im November 1918 befunden haben. Dieser Aspekt soll gerade in dieser kritischen Würdigung Eberts nicht unberücksichtigt bleiben: der militärische Zusammenbruch, die katastrophale Wirtschafts-und Ernährungslage, Demobilisierung und Arbeitslosigkeit, die revolutionäre Stimmung unter den Arbeitern und Soldaten, die Abbröckelungstendenzen an den Rändern des Reiches, die außenpolitische Isolierung, die sich bis zu Interventionsdrohungen der Alliierten erstreckte: „Aber all diese Faktoren zusammengenommen bieten noch keine zureichende Erklärung für die Unentschlossenheit, die Passivität und den mangelnden Führungswillen, die sich unverkennbar in der Politik der Regierung der Volks-beauftragten abzeichnen." Diese Faktoren erklärten nicht das Verfehlen einer demokratischen Neuordnung, die z. T. sogar von liberalen bürgerlichen Kreisen für erstrebenswert gehalten wurde, erklären nicht den absoluten Mangel an einer konstruktiven Politik, die den politischen Führungsanspruch gegenüber der bürokratischen, militärischen und wirtschaftlichen Macht der bisher herrschenden Klasse i durchgesetzt hätte. Ein solches Verdikt trifft allerdings nicht nur Ebert und Scheidemann, sondern schließt die USPD-Führer ein, die teilweise die Gefahren und Konsequenzen der Ebertschen Ordnungspolitik sehen, aber überhaupt keine prinzipielle Alternative offerieren, vielmehr zunehmend stärker in den formalen Radikalismus der Vorkriegs-SPD ausweichen

Wer ein solches Verdikt ausspricht, wird seine Berechtigung nachweisen müssen durch das _________ Aufzeigen eines Katalogs realistischer, jedoch versäumter Möglichkeiten

_ Es wurde der Versuch unterlassen, die im Offizierskorps vorhandenen Spannungen bis zur Spaltung zu treiben und die kompromißbereiten Teile zum Aufbau eines Führungskorps als Kern einer republikanischen Armee zu verwenden.

— Versäumt wurde der Ansatz zur Total-revision der Bürokratie im Sinne einer konsequenten Demokratisierung in den ersten Revolutionswochen, wo sie aufgrund der Autorität der neuen Regierung im ganzen Volk noch durchsetzbar und praktikabel gewesen wäre

— Ungenutzt blieb die begrenzte, aber als Anfang nicht uneffektive Möglichkeit der Sozialisierung von Bergbau und Verkehrsbetrieben. — Vor allem: es wurde verzichtet auf das zuverlässige Instrument der Räte für den demokratischen Neuaufbau des Staates, denn für die überwiegende Mehrzahl der deutschen Arbeiter und Soldaten bedeutete das Rätesystem keine Ersetzung, sondern eine Ergänzung der parlamentarischen Demokratie, überdies hätte es mittels der Räte gelingen können, die politische Zersplitterung der Arbeiterbewegung zu namentlich Ebert überwinden. Indem das demokratische Potential der Räte verkannt und größtenteils „eingebildete “ von Gefahren ihnen ausgehen sah, verspielte er die vielleicht größte revolutionäre Chance des November 1918: den Drang nach aktiver demokratischer Selbstverwaltung, manifest in den Räten, sich politisch zum Aufbau einer sozialen Demokratie zunutze zu machen

Die Folge dieser restriktiven Verhaltensweise war, daß die Volksbeauftragten das Vertrauen der revolutionären Arbeiter und Soldaten verloren und damit ihre soziale Basis. Das wiederum führte zu anhaltendem Verfall ihrer politischen Autorität. Daß die Räte ein mit revolutionärer Legitimität ausgestatteter Macht-faktor waren, haben übrigens Ebert und seine Kollegen selbst indirekt zugegeben; trotz ihrer raschen Entscheidung für eine schnelle Einberufung der Nationalversammlung sahen sie sich immer wieder gedrängt, Lippenbekenntnisse zu den Räten als „Träger(n) der politischen Gewalt“ abzulegen. Auch die eigenen Anhänger, die vertrauensvoll mit ihnen den Weg zur Nationalversammlung gehen wollten, wollten gleichzeitig das Gefühl auskosten, „mit der Revolution die Schwelle zu einem neuen Zeitalter überschritten zu haben" Genau dieses Gefühl teilten die Führer mit den Massen nicht. Traditionsverhaftetes Legalitätsdenken, das seinen Ursprung in der Zeit des Sozialistengesetzes hatte, verwehrte ihnen, revolutionäre Legitimität als Voraussetzung ihres Handelns anzunehmen. Ebert hat geradezu alles getan, um die Räte und ihre Organe aus dem politischen Prozeß herauszuhalten. So hat der Zentralrat, als vom Rätekongreß bestelltes souveränes Ersatzparlament, bei der Konstituierung der Nationalversammlung Weimar nicht sein Mandat in einem öffentlichen Akt in die Hände der Nationalversammlung als seiner Rechtsnachfolgerin legen können. Ebert hat diesen Akt verhindert, „der immerhin geeignet gewesen wäre, eines zu demonstrieren: daß sich nämlich das bürgerliche Deutschland nicht am eigenen Zopfe aus Sumpf gezogen sondern dem hatte, daß es die Vertretung der großen Mehrheit der von den Räten repräsentierten deutschen Arbeiter und Soldaten gewesen waren, die sich auf dem Rätekongreß aus freien Stücken für die parlamentarische Demokratie entschieden und damit endgültig den Weg zur Nationalversammlung freigemacht hatten"

Offenbar fühlten sich die SPD-Führer 1918/19 nur kompetent und sicher auf den Gebieten, auf denen sie vor 1914 ihre Leistungen erbracht hatten, vor allem in der Sozialpolitik und in der politischen Taktik, wie sie das erstrebte Stimmenwachstum erfordert hatte. Selbst in dieser Weise expertokratisch orientiert, verkannten sie dabei, daß es 1918/19 primär nicht auf Expertenwissen ankam, sondern auf ein an einer Konzeption orientiertes realistisches Kalkül und auf die politische Loyalität der Entscheidungsträger. Die sozialistischen Parteien besaßen 1918/19 keine alle Bereiche von Staat und Gesellschaft umfassende realistische Konzeption für ihre Politik. Ohne diese realitätsbezogene Konzeption aber blieb die Kluft zwischen der großen Utopie einer sozialistischen Zukunftsgesellschaft und der desillusionierenden Wirklichkeit eines geschlagenen, hungernden, zerrissenen Volkes unüberbrückbar. Die SPD war deshalb 1918/19 nicht in der Lage, die gesellschaftlichen und bewußtseinsmäßigen Grundlagen für den neuen Staat zu schaffen. Der entscheidende Grund für diese Fehlleistung war der freilich von den restriktiven Wirkungsbedingungen des Klassenstaates vor 1914 nicht zu isolierende, in der deterministischen Interpretation des Marxismus wurzelnde Immobilismus der SPD vor 1914. Zwar blieb der Anspruch auf die revolutionäre Umgestaltung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft und ihres Staates aufrechterhalten, aber in der Weise, daß die Zwangsläufigkeit der Entwicklung hin zum Sozialismus über die notwendige Zwischenstufe der bürgerlichen Demokratie postuliert wurde. Genauso handelte Ebert 1918/19. Von ihm ist die Äußerung überliefert: „Als die Zeit reif war, ist das demokratische Deutschland entstanden. Nun muß die Zeit zum Sozialismus reif werden."

Dabei spielte zweifellos, wie eben schon angedeutet, die halb aufgezwungene, halb willig angenommene subkulturelle Abkapselung eine nicht unwesentliche Rolle, und zwar insofern, als subkulturell lokalisierte Erfahrungen auf den Staat einfach übertragen wurden, wie zum Beispiel das Streben nach permanenter Demonstration äußerer Geschlossenheit. Das Bedürfnis nach Identifikation mit dem nationalen Ganzen wirkte in die gleiche Richtung: Aus der Überzeugung vom Vorrang des Allgemeininteresses und von der Zusammengehörigkeit des politisch geeinten Volkes resultierte das Streben nach „Volksgemeinschaft", und das führte wiederum zu einer Unterschätzung der Klassengegensätze und der Härte des Klassenkampfes in einer revolutionären Situation.

Es mag gerechtfertigt sein, im Hinblick auf die blutigen Auseinandersetzungen im Dezember und Januar 1918/19 davon zu sprechen, daß „bereits in diesem Stadium die unheilvolle Wechselwirkung zwischen den politischen Extremen" einsetzte Doch darf dann auch nicht verschwiegen werden, was diese These, die wieder eine gewisse aktuelle Bedeutung gewonnen hat, relativiert, daß dieser Radikalisie-* rungsprozeß in einem gewissen Ausmaß die Konsequenz der legalistischen Ordnungspolitik Eberts und der anderen Volksbeauftragten gewesen ist.

Ebert hat nach dem Kapp-Putsch in einem Brief an den schwedischen Sozialdemokraten Branting zum Ausdruck gebracht, daß er sich über die Konsequenzen der 1918/19 bezogenen Position im klaren war, wenngleich er auch exogenen, von seinem Handeln unbeeinflußbaren Faktoren, wie dem Versailler Friedensvertrag, eine überdimensionierte Bedeutung für den desolaten Zustand der Republik beimaß. Jetzt erst — insofern zeigt dieser Brief schlaglichtartig Einsicht und Begrenzung Eberts gleichzeitig — erwog er die Maßnahmen, denen er sich im November 1918 entzogen hatte; jetzt erst schien er zu bedauern, daß die Revolution vom 9. November 1918 „nicht durchgreifender und nachhaltiger wirkte", jene Revolution, die er schon am 10. November 1918 für beendet erklärt hatte: „So ungeheuerlich auch unsere Aufgabe ist, sie wäre halb so schwierig, wenn die Arbeiterschaft einig wäre.

. . . So müssen wir die demokratische Republik, für die wir jahrzehntelang gekämpft haben, nicht nur gegen Rechts, sondern auch gegen Links verteidigen. Gegen Militärputsch und Kommunistenputsch kämpfen wir für die Sicherung der Republik. Es ist nicht ausgeschlossen, daß uns eines Tages die Putschisten von rechts und links in einheitlicher Front gegenüberstehen. Jedenfalls halten wir entschlossen die feste Linie der Demokratie, und wir werden uns durchsetzen. —-Besonders schwierig ist unter diesen Umständen die Schaffung einer zuverlässigen Staatsgewalt, ohne die eben auch die Demokratie nicht leben kann. Die Friedensbedingungen zwingen uns eine Söldnertruppe auf, die für jedes Staatswesen gefährlich ist. Jetzt gilt es vor allem, die offenkundig reaktionären Offiziere aus der Truppe zu entfernen. Beim begreiflichen Mangel an brauchbaren republikanischen Offizieren ist das nicht leicht. Es muß aber durchgeführt werden. Die gleiche Aufräumung muß in der Verwaltung durchgeführt werden. Auch hier ist kein Überfluß an geeigneten Kräften. Leider ist es richtig, daß unsere Universitäten und höheren Schulen Brutstätten der Reaktion sind. Wenn die Revolution hier nicht durchgreifender und nachhaltiger wirkte, so ist das vor allem den Versailler Bedingungen und ihrer Durchführung zu danken. Die Mißhandlung unserer nationalen Unabhängigkeit und die fortgesetzten sadistischen nationalen Demütigungen müssen die nationalen Leiden-schäften aufpeitschen und der nationalistischen Demagogie den Erfolg unter der Jugend sichern. Die Versailler Bedingungen mit ihren wirtschaftlichen und politischen Unmöglichkeiten sind der größte Feind der deutschen Demokratie und der stärkste Antrieb für Communismus und Nationalismus."

Rudolf Wissell, nach dem Ausscheiden der Unabhängigen Eberts Kollege im Rat der Volks-beauftragten, hat schon fast ein Jahr vor diesem auf dem Parteitag der SPD in Weimar 1919 ein Fazit der sozialdemokratischen Politik während der Revolution gezogen, das Eberts Urteil an realitätsbezogener Einsicht weit übertraf: „Trotz der Revolution sieht sich das Volk in seinen Erwartungen enttäuscht. Es ist nicht das geschehen, was das Volk von der Regierung erwartet hat. Wir haben die formale politische Demokratie weiter ausgebaut. Gewiß, aber wir haben doch nichts anderes getan als das Programm fortgeführt, das von der kaiserlich deutschen Regierung des Prinzen Max von Baden schon begonnen worden war. Wir haben die Verfassung fertiggestellt ohne tiefere Anteilnahme der Bevölkerung. Wir konnten den dumpfen Groll, der in den Massen steckt, nicht befriedigen, weil wir kein richtiges Programm hatten. . . . Wir haben im wesentlichen in den alten Formen unseres staatlichen Lebens regiert. Neuen Geist haben wir diesen Formen nur wenig einhauchen können. Wir haben die Revolution nicht so beeinflussen können, als daß Deutschland von einem neuen Geist erfüllt erschiene. . . . Ich glaube, die Geschichte wird, wie über die Nationalversammlung, auch über uns in der Regierung hart und bitter urteilen."

Am 11. Februar 1919 wurde Ebert in Weimar von der Nationalversammlung zum provisorischen Reichspräsidenten gewählt, am 24. Oktober 1922 vom Reichstag auf weitere drei Jahre in seinem Amt bestätigt, weil die politische Situation einen im Ergebnis ungewissen Wahlkampf inopportun erscheinen ließ. Ebert — so bemerkt Theodor Eschenburg (unter Berufung auf Werner Kaltefleiter) — sei im Gegensatz zu Hindenburg, der zwar von der Rechten gewählt worden war, aber auf sie keinen Einfluß hatte, ein starker Präsident gewesen. Hindenburg wurde plebiszitär gewählt, Ebert dagegen wurde, wie schon bemerkt, beide Male durch die parlamentarischen Organe bestellt.

Er verdankte seine Wahl der Autorität von Institutionen, deren Zusammensetzung im Augenblick der Wahl des Reichspräsidenten nicht mehr mit Sicherheit den tatsächlichen politischen Machtverhältnissen entsprach.

Eberts präsidiale Autorität beruhte also gerade nicht auf einer politischen „Hausmacht", sondern auf einer Verbindung mehrerer Faktoren: auf dem dem Präsidenten verfassungsmäßig zustehenden Macht-und Ordnungsinstrumentarium (Art. 48, Ernennung und Entlassung des Reichskanzlers und der Minister, Reichstagsauflösung), das den im konservativen Sinne stabilisierten gesellschaftlichen Machtverhältnissen korrespondierte, und auf seinem persönlichen Profil eines die Kontinuität der Ordnung wahrenden Mannes der politischen Mitte.

Diese „Mitte" verschob sich unter dem Zwang der gesellschaftlichen Machtverhältnisse und angesichts Eberts geringer realer politischer Macht oft genug weit nach rechts. Erinnert sei, um das eklatanteste Beispiel zu erwähnen, an die unterschiedliche Behandlung des rechts-putschistischen Bayern und der sozialistisch-kommunistisch regierten Länder Sachsen und Thüringen im Jahre 1923. Ebert war mehrmals, so auch im Jahre 1923, geneigt, sein Amt niederzulegen, aber er blieb insofern Gefangener seiner eigenen Politik, als jedesmal eine Reichspräsidentenkrise wahrscheinlich das Ende der Republik zur Folge gehabt hätte. Es darf hingegen auch nicht übersehen werden, daß der militante Anti-Bolschewismus, an dem Ebert konsequent partizipierte, zeitweise eine gewisse ideologische Klammerfunktion zwischen den sozial antagonistischen Trägern der politischen Herrschaft besaß.

Ebert hatte einst sein Amt angetreten, den einen versichernd, daß er sich bemühen werde, sein Amt „gerecht und unparteilich" zu führen als „der Beauftragte des ganzen deutschen Volkes", „nicht als Vormann einer einzigen Partei", und die anderen daran erinnernd, daß er als „ein Sohn des Arbeiterstandes, aufgewachsen in der Gedankenwelt des Sozialismus", weder seinen Ursprung noch seine Über-zeugung jemals zu verleugnen gesonnen sei Während er sich bemühte, diesem Amt gerecht zu werden, für das es, was heute leicht übersehen wird, kein Vorbild gab, geriet er zunehmend politisch und persönlich in eine Isolation, die nicht mehr zu durchbrechen war. Für die Arbeiter war, um einen damals gebräuchlichen Slogan zu verwenden, die Republik nicht viel: der Sozialismus blieb ihr Ziel, während die sich zunehmend stabilisierende alte herrschende Klasse des Kaiserreichs den Prozeß der Verfälschung der parlamentarisch-demokratischen Republik in ein bürokratisch funktionierendes, plebiszitär manipuliertes, konstitutionell-autoritäres System der staatlichen Ordnung in Gang setzte. Während die einen ihn als Arbeiterverräter beschimpften, verleumdeten die anderen den ehemaligen Sattlergesellen und „Kneipwirt" als Landes-und Vaterlandsverräter. Ebert, ein Mann wenig über fünfzig Jahre alt, als er 1925 zermürbt und verbittert stirbt, hat, wie seine Reaktion auf die Unmenge von Verleumdungen und Prozessen bekundet, nur noch durch die Identifikation seiner Person mit der Republik zu leben vermocht, die Beleidigungsklage des Präsidenten wurde für diesen zum Instrument für den Fortbestand der Republik überhaupt W. Besson bemerkt, daß die wirkliche Rehabilitierung Eberts „für die Nation im Grunde nie stattgefunden" hat: „Im Herzen dieses Volkes, das er über alles geliebt hat, lebt er nicht." Wem Pathos und Kategorien dieser Aussage nicht unzulänglich sind, wird Besson zustimmen mögen. Rehabilitiert wurde Ebert indessen in gewisser Hinsicht doch, nämlich unter dem Zeichen des verschärften ideologischen Ost-West-Konfliktes und der Abwehr der Einsicht, daß das Reich nun endgültig verspielt war. Nun hatten Ebert und die MSPD-Führung (und mit ihnen die demokratische Mehrheit der deutschen Arbeiterschaft) im November 1918 die „freiheitliche Ordnung" gegen die „bolschewistische Gefahr" verteidigt und den Bestand des Reiches gesichert. Die SPD selbst hat sich sehr viel zögernder — parallel mit der Aufgabe ihrer prinzipiellen Opposition — mit Ebert identifiziert. Hatten noch 1957 Willy Brandt und Richard Löwenthal in ihrer Ernst Reuter-Biographie auf die „tiefere Einsicht" der Mehrheit der Delegierten auf dem Rätekongreß gegenüber den „Realpolitikern" um Ebert hingewiesen, da sie die Entmachtung der alten militärischen Führungsschicht als Voraussetzung der parlamentarisehen Demokratie forderten so wurde mit der Bildung der Großen Koalition im Jahre 1966 das Bewußtsein dafür wach, daß die Partei sich wie 1918 wieder opfern müsse, um das Vaterland zu retten.

Gleichzeitig mit der Anerkennung der historischen Leistung der deutschen Arbeiterbewegung wurde das traditionelle Geschichtsbild der alten deutsch-nationalen Historiographie revidiert. Die „November-Verbrecher", voran Ebert, wurden nun zu würdigen Söhnen des deutschen Volkes aus dem Arbeiterstand, die sich mit Staat und Nation statt mit ihrer Klasse identifizierten, umstilisiert. Dieses derart modifizierte Geschichtsbild trug bzw. trägt wesentlich dazu bei, „eine höchst erwünschte Tradition" zu schaffen, ja das Restaurative in der demokratischen Entwicklung nach 1945 in der Bundesrepublik mit dem Hinweis auf den konservativen Grundzug der deutschen Demokratie zu legitimieren, den in kritischer Zeit bewahrt zu haben, wesentlich Eberts Verdienst war.

Damit wird retrospektiv Eberts historische Rolle einschätzbar: Konnte 1918/19 schon gar nicht von einer sozialistischen Revolution die Rede sein, so wurde selbst die 1848 unvollendete bürgerliche Revolution 1918 nicht zu Ende geführt. Erst die Folgewirkungen des Nationalsozialismus haben die Ergebnisse der bürgerlichen Revolution zwangsweise erbracht — freilich auch wieder merkwürdig gebrochen, wenn man sich an die stark kleinbürgerliche Imprägnierung der Führungsschichten der Bundesrepublik nach 1945 erinnert, in der noch immer das nachwirkte, was einst das „Ebertinische" an Ebert konstituierte. Unter solchen Aspekten wäre Eberts historische Leistung am sinnvollsten im Rahmen einer Theorie der politischen Bedeutung der Mittelschichten in Deutschland einzubringen.

Vor 100 Jahren wurde Friedrich Ebert geboren — wenn es auch nicht viel gibt, was aus der kritischen Perspektive der Spätergeborenen an seinen politischen Leistungen feierlich zu würdigen wäre: wer könnte sich dem menschlichen Berührtsein von der Tragik des Schicksals eines redlichen Mannes entziehen, dessen Leben in vieler Beziehung exemplarisch deutsch war.

Fussnoten

Fußnoten

  1. An biographischer Literatur wurden für diesen Aufsatz vorzugsweise verwendet: Georg Kotowski, Friedrich Ebert. Eine politische Biographie, Bd. 1: her Aufstieg eines deutschen Arbeiterführers 1871— 1917, Wiesbaden 1963; ders.: Ebert, in: Neue deutsche Biographie, Bd. 4, S. 254 ff.; Waldemar Besson, Friedrich Ebert. Verdienst und Grenze,

  2. Zu Friedrich Engels vgl.den Artikel, der am 1. 3. 1885 im Londoner „Commonwealth" resp. in der „Neuen Zelt“ v. Juni 1885 erschien und den er in das Vorwort der Neuauflage seines Buches „Die Lage der arbeitenden Klasse in England" (1845, 1892) aufnahm; Robert Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens, l. Aufl. 1911, Neudruck der 2. Aufl. Stuttgart 1970; für Lenin vgl.den Aufsatz: „Der Zusammenbruch der Internationale" aus dem Jahre 1915 sowie die Vorrede aus dem Jahre 1920 zu seinem Buch: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus; Wolfgang Abendroth, Das Problem der innerparteilichen und innerverbandliehen Demokratie in der Bundesrepublik, in: ders„ Antagonistische Gesellschaft und politische Demokratie, Neuwied—Berlin 1967; ders., Aufstieg und Krise der deutschen Sozialdemokratie. Das Problem der Zweckentfremdung einer politischen Partei durch die Anpassungstendenz von Institutionen an vorgegebene Machtverhältnisse, Frankfurt 1964.

  3. Vgl. zu dem gesamten Komplex Fritz Sternberg, Anmerkungen zu Marx — heute, Frankfurt 1965.

  4. Erich Matthias, Eberhard Pikart (Bearbeiter), Die Reichstagsfraktion der deutschen Sozialdemokratie 1898-1918 = Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. Erste Reihe. Von der konstitutionellen Monarchie zur Parlamentarischen Republik, Bd. 3/1, II, Düsseldorf 1966, Einleitung, insbes. LXXXVIII f.

  5. Ebenda S. LXXXIX.

  6. Karl-Ernst Moring, Die Sozialdemokratische Partei in Bremen 1890— 1914. Reformismus und Radikalismus in der Sozialdemokratischen Partei Bremens, Hannover 1968, S. 65.

  7. Vgl. Arthur Rosenberg, Die Entstehung der Weimarer Republik. 1. Aufl. 1928, neu herausgegeben von K. Kersten Frankfurt 1961; vgl. von Erich Matthias zuletzt die Einleitung zu: Die Regierung der Volksbeauftragten 1918/19. Bearbeitet von Susanne Miller u. Heinrich Potthoff = Quellen der Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. Erste Reihe: Von der konstitutionellen Monarchie zur parlamentarischen Republik Bd. 6/1, Düsseldorf 1969.

  8. Vgl. Matthias, Pikart, Reichstagsfraktion S. LXXXIX.

  9. Vgl. Kotowski, Ebert S. 56, 186; Besson, Ebert S. 23, 39; Moring, Die Sozialdemokratische Partei in Bremen S. 95.

  10. Moring, Die Sozialdemokratische Partei in Bremen S. 66.

  11. Moring, Ebenda S. 76; eine ähnliche Interpretation erlaubt auch Eberts Rede, die er im November 1902 zu den Bürgerschaftswahlen hielt, zit. bei Kotowski, Ebert S. 144 ff.

  12. Moring, Die Sozialdemokratische Partei in Bremen S. 95.

  13. Friedrich Ebert, Schriften, Aufzeichnungen, Reden. Bd. 1. Dresden 1926, S. 263 f.

  14. Am 5. 10. 1913 schrieb V. Adler an K. Kautsky: „Aber die eigentlich deutsche Politik ist befriedigend geordnet u. insbesondere freut mich, daß Ebert auf den Posten gestellt wurde, den er, das bin ich sicher, von Jahr zu Jahr besser ausfüllen wird!“ — Kautsky antwortete darauf am 8. 10. 1913: „Dein Urteil über Ebert möchte ich nicht ganz unterschreiben. Es ist sicher ein Mann von großer Intelligenz und Tatkraft, dabei aber sehr herrisch und eifersüchtig, und, wie mich dünkt, in nicht rein Praktischen Dingen etwas beschränkt. Er ist sehr eifersüchtig auf Haase und hat mit ihm wegen bloßer Etikettfragen schon Konflikte gehabt. Er ist im Vorstand sehr nützlich, aber es ist fraglich, ob er gerade als engerer Kollege Haases am richtigen Platz ist. Und bei der Leitung der Abstimmung über den Fall Radek zeigte er sich mehr despotisch als klug ...“ Zit. in: Victor Adler: Briefwechsel mit August Bebel und Karl Kautsky. Wien 1954, S. 581, 585.

  15. Zit. bei Besson, Ebert S. 50 f.

  16. Vgl. dazu Kotowski, Ebert S. 234; Agnes Blänsdort, Friedrich Ebert und die Internationale, in: Archiv für Sozialgeschichte Bd. 9, 1969.

  17. Die deutschen Sozialisten, voran Bebel, hatten seit jeher den Standpunkt eingenommen, daß Deutschland die Aufgabe der Verteidigung der europäischen Kultur gegen den Zarismus zufalle und daß die deutschen Sozialisten sich an einem solchen Kampf beteiligen müßten, denn Rußlands Sieg bedeute die Niederlage der Sozialdemokratie (so schon Bebel aut dem Erfurter Parteitag 1891). Diese Auffassung mochte bestenfalls bis zum russisch-japanischen Krieg 1904/05 und bis zur rus. sischen Revolution von 1905, als sich der Zarismus als ein Koloß auf tönernen Füßen erwies, eine gewisse Berechtigung haben; gefühlsmäßig blieb das zaristische Schreckgespenst immer wirksam als Teilstück eines verborgenen deutsch-sozialdemokratischen Patriotismus. Vgl. für den Gesamtzusammenhang Helga Grebing, Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, dtv Bd. 47, München 1970, S. 134 ff.

  18. Besson, Ebert S. 55.

  19. Vgl. Blänsdorf, Ebert und die Internationale 8. 340 ff.

  20. Vgl. Erich Matthias, Susanne Miller, Hermann Weber, Politik und Ziele der deutschen Sozialisten im Ersten Weltkrieg. Manuskript Juli 1970, S. 3, 4; Besson, Ebert S. 51.

  21. Matthias, Miller, Weber, Politik und Ziele S. 12, 13.

  22. Besson, Ebert S. 53.

  23. Vgl. Grebing, Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung S. 141.

  24. Vgl. hierzu Kotowski, Ebert, Kap. VII: Krieg und Parteispaltung S. 218— 266.

  25. Die Revolutionären Obleute war die Organisation der oppositionellen Vertrauensleute der Gewerkschaften in den Großbetrieben; sie sympathisierten mit der USPD.

  26. Matthias, Miller, Weber, Politik und Ziele S. 8.

  27. Ebenda S. 17.

  28. Ebert, Schriften Bd. 2, S. 90.

  29. Matthias, Miller, Weber, Politik und Ziele S. 20; 'gl-auch Wolfgang Malanowski, November-Revolution 1918. Die Rolle der SPD (= Ullstein Buch Ml), 1969, S. 64 f.

  30. Matthias, Pikart, Reichstagsfraktion S. 518.

  31. Vgl.den bei Besson, Ebert S. 68 zitierten Brief Hindenburgs.

  32. Vgl. Malanowski, November-Revolution S. 73.

  33. In diesem Sinne interpretiert auch Fritz Fischer in seinem Vorwort zu Malanowski, November-Revolution (S. 12) die SPD-Politik während der Revolution.

  34. Vgl. Matthias’Einleitung zu: Die Regierung der Volksbeauftragten S. XXII ff.

  35. So entschied sich der Kongreß der Arbeiter-und Soldatenräte am 19. 12. 1918 mit 344 gegen 98 Stimmen für die Einberufung der Nationalversammlung.

  36. Vgl. Besson, Ebert S. 68.

  37. Vgl. Ebert, Schriften Bd. 2, S. 120, 139.

  38. Matthias, Einleitung zu: Die Regierung der Volksbeauftragten S. CXXV.

  39. Matthias, ebenda S. XXVI, CXXVIII; vgl. auch Grebing, Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung S. 146 ff.

  40. Vgl. Helga Grebing, Konservative Republik oder soziale Demokratie?, in: Gewerkschaftliche Monatshefte H. 1, 1969; erscheint 1971 in erweiterter Fassung in dem Band der Neuen wissenschaftlichen Bibliothek: Vom Kaiserreich zur Republik. Hrsg. v. Eberhard Kolb.

  41. Diese Politik hat Carl Severing in Preußen durchgeführt, vgl. dazu Wolfgang Runge, Politik und Beamtentum im Parteienstaat — Die Demokratisierung der politischen Beamten in Preußen zwischen 1918 und 1933, Stuttgart 1965.

  42. Vgl. hierzu vor allem Eberhard Kolb, Die Arbeiterräte in der deutschen Innenpolitik 1918— 1919, Düsseldorf 1962.

  43. Matthias, Einleitung zu: Die Regierung der Volksbeauftragten S. CVII.

  44. Matthias, ebenda S. CXIX.

  45. Zit. bei Hans Schieck, Der Kampf um die deutsche Wirtschaftspolitik nach dem Novemberumsturz 1918, Phil. Diss. Heidelberg 1958, S. 149.

  46. So Gerhard A Ritter zit. bei Malanowski, November-Revolution S. 74.

  47. Original aus dem Branting-Nachlaß zit. bei Wansdorf, Ebert und die Internationale S. 425.

  48. Aus dem Parteitagsprotokoll zitiert (aber fälschlich auf 1920 datiert) bei Arthur Rosenberg, Geschichte der Weimarer Republik. 1. Aufl. 1935, neu hrsg. v. K. Kersten, Frankfurt 1961, S. 89.

  49. Theodor Eschenburg in der Besprechung des Buches von Werner Kaltefleiter, Die Funktion des Staatsoberhauptes in der parlamentarischen Demokratie, Opladen 1970, in: Die Zeit v. 11. 12. 1970.

  50. Vgl. Ebert, Schriften Bd. 2, S. 157.

  51. Vgl. Wolfgang Birkenfeld, Der Rufmord am Reichspräsidenten, in: Archiv für Sozialgeschichte Bd. 5, 1965.

  52. Besson, Ebert S. 91.

  53. Willy Brandt, Richard Löwenthal, Ernst Reuter, München 1957, S. 117.

  54. Reinhard Rürup, Rätebewegung und Revolution in Deutschland 1918/19, in: Neue Politische Literatur H. 3, 1967, S. 304.

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Helga Grebing, Dr. phil., geb. 1930 in Berlin; Studium der Geschichte, Germanistik, Philosophie, Staatsrecht, Psychologie; Promotion 1953. Tätigkeit als Verlagslektorin und Redakteurin sowie in verschiedenen Positionen der politischen Jugend-und Erwachsenenbildung; 1970 Habilitation im Fach „Politikwissenschaft"; gegenwärtig Dozentin an der Universität Frankfurt und Lehrbeauftragte an der Universität Göttingen. Veröffentlichungen u. a.: Der Nationalsozialismus. Ursprung und Wesen, 1959, 1965 16; Geschichte der deutschen Parteien, 1962; Gesdiichte der deutschen Arbeiterbewegung, 1966, 1970 (engl. 1969); Konservative Kritik an der Demokratie in der Bundesrepublik seit 1945, erscheint 1971; mit Iring Fetscher und Günter Dill Herausgeberin und Mitautorin von: Der Sozialismus. Vom Klassenkampf zum Wohlfahrtsstaat, 1969; Herausgeberin von Gottschalch/Karrenberg/Stegmann: Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland, 1969.