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über die öffentliche Verantwortung des Schriftstellers | APuZ 9/1971 | bpb.de

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APuZ 9/1971 über die öffentliche Verantwortung des Schriftstellers Zur gesellschaftlichen Rolle des heutigen Schriftstellers Sprache in politischer Rede

über die öffentliche Verantwortung des Schriftstellers

Eberhard Lammert

/ 31 Minuten zu lesen

I.

Martin Doehlemann Zur gesellschaftlichen Rolle des heutigen Schriftstellers .................................. S. 15 Ulrich Gaier Sprache in politischer Rede ............. S. 21

Wer sich heute über die Freiheiten und über die Pflichten der Schriftsteller eine Meinung bilden will, der kann sich weder über einen Mangel an subversiver Ermunterung noch über einen Mangel an öffentlicher und an offizieller Hilfestellung beklagen. Ihm offerieren sich die politischen Spalten der Tageszeitungen, in denen von der Reglementierung widerspenstiger Literaten berichtet, und die Feuilletonseiten, in denen dieselbe bewußtseinsbildende Widerspenstigkeit gerühmt, ja gefordert wird. Literarische Zeitschriften lassen ihn teilhaben am zukunftsfrohen Leichen-schmaus, mit dem die Zunftgenossen selbst die jeweilige Beerdigung kulinarischer Literatur begehen. Literaturpreise und Stiftungen schärfen ihm den Sinn für die öffentliche Würde, und Parlamentsfragen und Interviews nähren seine Ahnung von der Gefahr schriftstellerischer Tätigkeit. Kongresse und Verbandsgründungen der Schriftsteller wiederum beleben in kurzen Abständen sein Gefühl für die Unersetzlichkeit des freien Schriftstellerwortes, und Gerichtsurteile belehren ihn eines besseren.

Die Hartnäckigkeit, mit der die Schriftsteller selbst ihr Berufsethos zur Rede stellen, und die Gereiztheit, mit der es öffentlich verhandelt wird, steht in auffälligem Gegensatz zu dem geringen Gewicht der Schriftsteller als einer sozialen Interessengruppe. Tatsächlich sind die sozialen Belange der Schriftsteller kaum geeignet, die Öffentlichkeit nachhaltig zu beunruhigen. Auch würde es wohl niemandem einfallen zu behaupten, daß das Bruttosozialprodukt unserer Bevölkerung oder die sogenannte Lohn-Preis-Spirale vom Wohl oder Wehe unserer Schriftsteller merklich beeinflußbar sei. Was also steht auf dem Spiel, wenn Schriftsteller von ihrem Recht, zu schreiben was ihnen gefällt oder nötig dünkt, uneingeschränkt Gebrauch machen? Und was um dieselbe Frage krasser, wenngleich hypothetisch zu stellen — was stünde auf dem Spiel, wenn sie einmal allesamt streikten? Wäre es nötig, sie wie die Ärzte, die Eisenbahner, die Bergleute mit Zugeständnissen oder mit Gesetzen zu baldiger Wiederaufnahme ihrer Arbeit zu nötigen?

Tatsächlich klingen die Fragen nur deshalb so befremdlich, weil auf allen Seiten die Unsicherheit über die Rolle und die Tragweite schriftstellerischer Tätigkeit gleich verbreitet ist. Eine Fülle von krassen Uber-und Unterschätzungen dieser Tätigkeit leiten sich aus dieser Unsicherheit her, und ich will gleich sagen, daß es sich dabei nicht um einen naturgegebenen, sondern um einen historisch eingrenzbaren, mithin auch überwindbaren Sachverhalt handelt.

Zunächst in drei Sätzen drei Beispiele aus den sechziger Jahren, die den Sachverhalt kenntlich machen. Als vor der Bundestagswahl 1965 etwa zwanzig Schriftsteller eine Rowohlt-Broschüre mit Alternativvorschlägen zur damaligen Regierungskoalition vorlegten, erfuhren nicht nur die einzelnen Autoren die im Wahlkampf legitime unverblümte Kritik, es wurde darüber hinaus dem ganzen Berufsstand mit einer Heftigkeit, die keinem anderen entfernt zuteil wurde, die Unzulänglichkeit bescheinigt, in so ernsten Dingen wie der Politik öffentlich mitzureden. — Schriftsteller und Schriftstellerverbände, die sich im Konflikt zwischen Prag und Moskau zu Wort meldeten, wurden nicht nur in aller Welt aufmerksam gehört, sie wurden auch in Moskau und zu gegebener Zeit in Prag auffallend rasch und streng zur Verantwortung gezogen. — Für die Aufsässigkeit der Jugend wie für die Rassen-konflikte in den USA werden Schriftsteller wie Allan Ginsberg und Susan Sontag seit Jahren mitverantwortlich gemacht. Gleichwohl brachte ein Kongreß deutscher und amerikanischer Schriftsteller in Princeton im Jahre 1966, mit Ginsberg und Sontag, nur karge und ziemlich ratlose Antworten auf die Frage zustande, welche Rolle denn dem Schriftsteller in der Gesellschaft zukäme, und die ehrlichste Antwort kam damals am Ende von Günter Grass, der die schreibenden Hofnarren so gut wie die Gesinnungsprotestler, von denen jeder seinen eigenen Marx liest, als überlebte Klischees des Schriftstelleramtes abtat.

Die aktuellen Konflikte der Schriftsteller in ihrer Umwelt, aber auch der Meinungsstreit und die mangelnde Sicherheit der Schriftsteller selbst bei der Abwägung ihrer gesellschaftlichen Rolle treten in verschiedenen Gesellschaftssystemen zwar in verschiedenen Formen, aber mit der gleichen Regelmäßigkeit auf. Deshalb wird es gut sein, sich auf ihre gemeinsame Genese zu besinnen, ehe wir gegenwärtige Ansätze zu ihrer Überwindung ins Auge fassen und deren Chancen abschätzen.

II.

Mit der Bildungsemanzipation des europäischen Bürgertums, die der Französischen Revolution voraufging, vergrößerten sich der Aufgabenbereich und zugleich die Verbreitungschancen der sogenannten schönen Literatur in einem bisher nicht gekannten Maße. Die Schulen vermochten weder mit ihrem Lehrsystem noch mit ihrer Kapazität dem neuen Bildungsbegehren gerecht zu werden. Desto stärker wuchs das Bedürfnis nach Selbstunterricht durch Lektüre, in Lesezirkeln und nicht zuletzt durch die Schaubühne. Zwar war die Erkenntnis nicht neu, daß es unorthodoxer und gefälliger Vermittlungsformen bedürfe, um abseits von regulärer Schuldidaktik Bildung zu verbreiten; aber die Entdeckung, daß alle Bildung, elementare wie anspruchsvollste, über Sinneseindrücke und sublimen Sinnenreiz wirksamer zu vermitteln sei, als durch Traktat-und Paragraphenlehre, dankte man erst der zeitgenössischen sensualistischen Pädagogik und Psychologie. So konnte die Schaubühne zur Bildungsinstanz ersten Ranges, konnte die verachtete Liebesgeschichte zum Bildungsroman, konnte das Lied sogar zu einem religiösen Erweckungsinstrument werden, das noch dem Katechismus überlegen war. Man tut gut, sich diesen eminent didaktischen Impuls, der in Europa und speziell in Deutschland mit seinen höchst unterschiedlichen Bildungseinrichtungen die „Kunstepoche" herauf-führte, vor Augen zu halten, wenn man sich anschickt, das Sendungsbewußtsein und auch den Nimbus zu analysieren, mit dem schon seit dem Sturm und Drang die Dichter sich und das Bürgertum den Dichter umgaben.

Zu den Erscheinungsformen dieser Bildungsbewegung des 18. Jahrhunderts gehört die rapide Ausweitung des Büchermarktes, und die schöne Literatur profitierte davon aus den geschilderten Gründen in doppelter Weise: Einmal entband der weitere und bald anonyme Leserkreis den Schriftsteller allmählich von festen Auftraggebern, also von geistlichen und weltlichen Gönnern. Er konnte unabhängig schreiben, was er zu sagen und zu dichten nötig fand. Zum anderen stieg — das läßt sich an den Meßkatalogen wie an Jahresringen ablesen — der Anteil der poetischen und der Romanliteratur am insgesamt erweiterten Buchmarkt schon bald nach der Jahrhundert-mitte in ebendem Maß, in dem der Anteil an geistlichen Traktaten und Erbauungsbüchern sich minderte.

Die Poesie trat sichtbar genug ihre Herrschaft an, und schneller noch als auf dem Markt und in den Bürgerhäusern tat sie es in den vor-ausgreifenden Träumen der Dichter selbst. Doppelt begünstigt durch die Übereignung einer weltlichen und bald auch parageistlichen Bildungshoheit, nahmen sie neuerlich Maß an Dichterheroen und an mythischen Menschheitserweckern der Vorzeit, an Pindar, an Prometheus und bald auch, und bis in den Expressionismus des 20. Jahrhunderts, an Christus. Rascher und nachhaltiger als das Bürgertum insgesamt reklamierten die Dichter deshalb auch für sich das Recht auf uneingeschränkte Eigenverantwortung für ihre Tätigkeit, und sie taten das im Namen einer selbstgeschaffenen neuen Kunstreligion, die ihnen den Rang des unmittelbaren Wahrheitsschöpfers und -verkünders einräumte. „Der echte Dichter ist allwissend, er ist eine wirkliche Welt im kleinen", so Novalis; „Jeder Roman ist mehr oder weniger eine religiöse Schrift", so Friedrich Schlegel; „Was aber bleibet, stiften die Dichter", so Hölderlin; und dieses starke Generationenerlebnis der Dichter um 1800 hat in der Folge nicht nur die Bildungsgeschichte mitbestimmt, sondern auch den eingangs beschriebenen Konflikt zwischen den Dichtern und ihrer Umwelt sehr rasch hervorgebracht.

Schon von 1800 an suchen die Dichter nicht mehr einen bürgerlichen Beruf, sondern allenfalls ein Asyl in einer profanen Tätigkeit. Kleist beispielsweise flieht jeden festen Be-ruf in der Furcht, sein Dichteramt, das Ungebundenheit voraussetzt, zu verraten. Die Über-zeugung, mit der selbstgeschöpften freien Poesie der Wahrheit näherzukommen als alle hergebrachten Obrigkeiten, bringt den Dichter bald und notwendig in Konflikt mit allen gewichtigen Instanzen des sozialen Lebens: Mit der Kirche, mit dem Staat, mit der bürgerlichen Gesellschaft selbst. Er wird — das ist zugleich der Gewinn und der Preis seiner doppelt beschleunigten Emanzipation — zum Gesellschaftskritiker par excellence, insbesondere zum leidenschaftlichen Kritiker des Bürgertums, das ihn vordem aus seinen speziellen Auftragspflichten löste, ihm aber hernach kein Amt einrichten konnte, das seinem neuen Anspruch entsprach: nämlich ein exterritoriales außerhalb der noch geltenden Obrigkeiten so gut wie außerhalb der ihn nun mehr und mehr beleidigenden Marktzwänge.

Die besonderen Stimulanzien der Produktivität, aber auch die Krisen, Katastrophen und Fluchtreaktionen, die sich aus der Diskrepanz zwischen der so erhöhten Verantwortung für alle menschlichen Belange und der mangelnden sozialen Sicherung der Schriftstellertätigkeit ergeben, sind sämtlich schon an der ersten Dichtergeneration des 19. Jahrhunderts zu studieren. Die mit hohem Kunstverstand sublimierte Kritik aller gegenwärtigen Gesellschaftszustände, mit der Friedrich Schlegel, Brentano, E. T. A. Hoffmann und selbst der junge Eichendorff aufwarten, ist nicht schon mit sozialem oder politischem Engagement zu verwechseln. Sie ist die Kehrseite einer Selbst-verpflichtung zur Unabhängigkeit, zur Autonomie der Kunst, die als die Vorbedingung ihrer Wahrhaftigkeit erscheint. So ist auch die Sozialkritik der großen Konservativen Balzac, Flaubert, Dostojewski nicht weniger scharfsichtig als die der Saint-Simonisten, der Jung-deutschen und später der Zolaschüler. Noch Heinrich Mann erhöht in seinem Zola-Aufsatz den Autor von „J'accuse" zu einem Caesar und Napoleon, mit denen sich gleichermaßen Balzac verglichen hatte, und vom fürstlichen Amte des Dichters redet der Ironiker Thomas Mann noch so ernsthaft wie Novalis seinen Jüngling im „Ofterdingen" reden läßt.

Regelhaft und nicht schon einer bestimmten politischen Entscheidung entspringen aus dem Einsamkeitserlebnis des souveränen Poeten die jähen Umschläge in ein leidenschaftliches Engagement an religiöse und politische Utopien. Sie eröffnen gerade demjenigen, bei dem die erwirkte Bindungslosigkeit in den Zweifel umschlägt, im Bannkreis der eigenen Vorstellungswelt nunmehr sein eigener Zuhörer zu bleiben, die Aussicht, das Organ gemeinsamer Hoffnungen und Verheißungen zu werden und so einen Resonanzraum unter Gleichsinnigen zu gewinnen, der zugleich den Wahrheitsgehalt seiner Poesie auch sozial bestätigt. So zieht es den selbstherrlichen Lord Byron nach Griechenland, um dort der Stimmführer eines sich befreienden Volkes, ja ganzer Völker zu werden. So erhebt noch der junge Rubiner 1917 den Literaten zum Führer einer proletarisch geeinten, zu neuem Anfang erwachten Menschheit.

Ich sagte, daß derlei regelhafter Umschlag in soziales Engagement nicht schon im engeren Sinne politisch motiviert sein muß. Die Probe darauf läßt sich gerade bei Dichtern machen, die sich revolutionsverheißenden politischen Bewegungen anschließen oder verschreiben.

Stellt sich in Zeiten, die einen nahen Umbruch erhoffen lassen, zwischen ihnen und den politischen Vorkämpfern der Befreiung ein enges Bündnis her, dem der Schreibende seine Feder als womöglich mächtige Waffe ganz übereignet, so zerfällt alsbald die Gemeinsamkeit des revolutionsbegeisterten Künstlers mit den Revolutionären — das zeigt sich bei Heinrich Heine so gut wie bei Toller oder Majakowski —, wenn die Revolution praktisch wird und die Utopie sich in der Praxis verunreinigt. Was für die sozialistischen Revolutionen gilt, zeigt sich analog schon während der Nationalbewegung der Freiheitskriege. Derselbe Kleist, der zuerst nichts sein will als der einsam gekrönte Dichter, schenkt 1808 unvermittelt und nachgerade aufdringlich seine „Hermannsschlacht" allen Deutschen, um sie nach dem Muster des spanischen Guerrillakrieges anzuweisen, wie man den Haß auf den Feind im eigenen Lande schürt, und seine Germania-Ode gibt die Tonart an für die Blut-und Todestrunkenheit der jungen Freiheitskämpfer. Derselbe Kleist aber verschwindet nach der Schlacht von Wagram von der politischen Bühne und sucht hernach verzweifelt neue Wege der Selbstbestätigung weitab von politischer Agitation.

Peter Weiss, der noch vor fünfzehn Jahren die Sprache als seinen einzigen Fluchtpunkt und als das leichteste Gepäck des Einsamen ausgab, proklamiert zehn Jahre später den Partisanenkampf des Schriftstellers in der kapitalistischen Gesellschaft und schreibt Agitationsstücke, die seine Zuschauer nicht nur zur Kritik, sondern zur gesellschaftsverändernden Aktion mitreißen sollen. Aber er bleibt gleichwohl zwischen Ost und West ein Dichter ohne Land, und seine Absage an den Genossenschaftsverlag der Theaterautoren liest sich wie eine Absage des Weltbewegers an die Handlanger der Weltveränderung.

III.

Ich habe eine Leitlinie des Schriftstellerkonfliktes zwischen Autonomie und leidenschaftlichem sozialen Engagement über anderthalb Jahrhunderte ausgezogen, ohne zunächst die Verschärfungen zu kennzeichnen, die dieser Konflikt in seinen späteren Stadien notwendig erfahren hat.

Wer von den revolutionären Schriftstellern der späten zwanziger oder gar der späten sechziger Jahre unseres Jahrhunderts gäbe es noch zu, daß seine Texte nicht Mittel zu einem anderen Zweck seien, sondern ihre Ziele in sich hätten, wie es Marx 1842 schrieb? Marx konnte dort den Schriftsteller noch dem religiösen Prediger vergleichen, weil erst gegen Ende des Jahrhunderts der repräsentative Wahrheitsanspruch der Dichtung in eine neue und seither fortdauernde Krisis geriet.

Diese Krisis stellte sich ein mit dem Schwund des Bildungsvorsprungs zwischen den Künstlern und anderen Schichten der bürgerlichen Gesellschaft. Zuerst die Naturwissenschaften, hernach die empirische Psychologie ließen gerade bei den gewissenhaftesten Künstlern schon vor 1900 Zweifel aufkommen an dem unmittelbaren Wahrheitsanspruch der selbst-geschaffenen Texte. Andere Medien mit rascherem Nachrichtenfluß nahmen ihnen überdies im Lauf des 20. Jahrhunderts die Funktion der Informationsvermittlung, die noch in der Beschreibungskunst des Naturalismus letzte Triumphe feierte, nahezu völlig ab. Damit aber mußte sich das Problem der Verantwortlichkeit des Autors gegenüber seinen Hörern und Lesern neu und anspruchsvoller als zuvor stellen, zumal der Glaube an das gültige Dichterwort in den Schulen weiter gelehrt und von Lesern aller Bildungsschichten willig weiter gepflegt wurde. Ein neuer Konflikt zwischen dem Bürgertum und den Schriftstellern bahnte sich an, aber nun einer mit gewissermaßen verkehrten Fronten: Gerade das gebildete Bürgertum, dasjenige nämlich, das in Schulen und Universitäten, durch die subventionierten Theater und die Dichterdenkmäler in den öffentlichen Anlagen zur Hinnahme des Dichterwortes noch erzogen worden war, hielt eigensinnig genug an der „Kunstepoche" fest. Es brachte nicht nur einen förmlichen Poesiekult hervor, mit dem es seine Privilegien nunmehr ebenso verteidigte, wie seinerzeit die Dichter mit der Poesie die ihren, es öffnete sich auch williger als je zuvor den Reizen einer poetischen Sozialromantik und einer poetischen Politik, wie seinerzeit und heute noch mitunter die Schriftsteller selbst.

Eine neue Bewegung, den Dichter-Nimbus abzustreifen, bemächtigte sich deshalb gerade der verantwortungsbewußten Autoren, und der Streit, der in der Preußischen Akademie Ende der zwanziger Jahre um den Namen einer Sektion für Dichtkunst oder Literatur ausgetragen wurde, zeigte bereits die kulturellen so gut wie die politischen Konsequenzen des neuen Konfliktes an. Diejenige Gruppe, die eine Abstandnahme von der mythischen Führerrolle forderte, wie sie etwa Kolbenheyer dem Dichter zumaß, und die statt dessen für eine an den Zeitbedürfnissen und auch an der Weimarer Verfassung orientierte republikanische Organisation aller literarisch Tätigen eintrat — also auch der Essayisten, der Kritiker und der publizistischen Tagesschriftsteller — diese Gruppe gewann zwar in der ersten Runde des Streites, 1929, noch die Ober-hand; aber die Umbenennung der Sektion kam schon nicht mehr zustande. Und den Schriftstellern, die dort in Erkenntnis der zeitgeschichtlichen Erfordernisse gegen die offenbarungsgewissen Dichter ihre Stimme erhoben: Heinrich und Thomas Mann, Döblin und Wassermann gegen Kolbenheyer, Schäfer und später Blunck, entzog die deutsche Öffentlichkeit alsbald ihre Sympathie und bald auch ihr Recht, in Deutschland zu schreiben.

Die verkehrte Front, in die nun in Deutschland, aber keineswegs nur hier, die Schriftsteller gegenüber einer dichtungshörigen Öffentlichkeit geraten waren, zwang sie in eine sehr heikle Lage: Gerade die gewissenhaften Stücke-und Romanschreiber mußten in Rücksicht auf mittlerweile exaktere Methoden der Wahrheitsermittlung oder auch der Erkenntniskritik ihren Hörern und Lesern die Illusion einer sicheren Vermittlung von Wahrheiten durch einen poetischen Text entziehen; damit aber mußten sie notwendig zugleich am Ast der Kunst sägen, auf dem sie hoch über der Menge ihres Publikums saßen. Wohlgemerkt gilt das zunächst sowohl für diejenigen, die sich der Wissenschaftlichkeit des dialektischen Materialismus verschreiben, als auch für die politisch anders orientierten Erkenntnistheoretiker, die Ernst mit dem zeitgebotenen Erkenntnisstand machten: für Musil etwa und für Broch und neuerdings für eine Reihe der mit der Mengentheorie experimentierenden Konkretisten. Während die Öffentlichkeit ihnen noch Kunst abfordert, besteht ihre Kunst gerade darin, schreibend das überholte Be6 wußtsein vom Bildungsprivileg einer bestimmten Kunst zu verändern.

Es hat sich gezeigt, daß die Krisis der schönen Literatur keineswegs wie ein unverhoffter Schicksalsschlag über die kunstliebende Bevölkerung komfortabler Länder hereingebrochen ist, sondern daß diese Bevölkerung mit Eifer und Beharrlichkeit, nicht weniger aber auch die Schriftsteller selbst in zunehmend selbstkritischer Verantwortung, diese Krisis herbeigeführt haben.

Die Sache steht nun so, daß vielfach gerade die auf herkömmliche Bildungsvorstellungen eingeschworenen Schichten der mitteleuropäischen Länder — in Krakau übrigens genau so wie in Köln oder in Leipizg, in Linz oder Lyon — die Kunst gegen die abtrünnigen Schriftsteller verteidigen, während deren fortdauernde Unsicherheit über ihre Rolle in der Gesellschaft sich in der „ZEIT" oder im „Kursbuch" periodisch in immer verbisseneren, gleichwohl aber literarisch anmutigen Nekrologen auf die schöne Literatur äußert. Fest steht allerdings, daß auch eine solche Frontstellung noch indirekt bedingt ist, ja sich nur erhalten kann durch die relative Autonomie gegenüber der Gesellschaft, die die Schriftsteller seit zwei Jahrhunderten errangen und verteidigten.

IV.

Neben den historischen Gründen, die für die Verschärfungen und Umkehrungen des Konflikts zwischen den Schriftstellern und der sie umgebenden Gesellschaft in den letzten zwei Jahrhunderten verantwortlich sind, muß noch ein zweiter, weniger zeitgebundener als vielmehr berufsspezifischer Umstand bedacht werden, ehe ein Urteil über die heutigen Kompetenzen der Schriftsteller und damit über ihre öffentliche Verantwortung herbeigeführt werden kann. Es handelt sich um ihre womöglich prinzipiell beschränkte Verantwortlichkeit.

Sie resultiert aus einer besonderen Eigenschaft ihrer literarischen Produkte, nämlich aus der Uneigentlichkeit aller poetischen Sprache im Vergleich zu anderen Sprachäußerungen. Gleichviel ob ein Autor in einen fiktiven Vorgang oder in Bilder überträgt, was er eigentlich zu sagen meint oder ob er nichts weiter als eben fiktive Vorgänge oder Bilder zu produzieren trachtet — stets gibt er seinen Lesern einen Spielraum für Assoziationen und Auslegungen frei, der prinzipiell größer und unbestimmter, dafür aber auch strenger an den jeweiligen Einbildungshorizont des Lesers gebunden ist als der Auslegungsspielraum, den Texte mit konkretem Mitteilungs-, Meinungsoder gar Vorschrifteninhalt gewähren. Zielen Texte der letzteren Art tendenziell auf ein möglichst eindeutiges Verständnis ihres Inhalts, so bezwecken poetische Texte nicht selten gerade das Gegenteil, und darin liegt nicht zuletzt der Grund für ihre größere Resistenz gegenüber einer bloß aktuellen und historisch übergänglichen Verwertbarkeit. Wer die Wirkungsgeschichte von „Meisterwerken" studiert, kann häufig genug einen direkten Zusammenhang feststellen zwischen ihrer reichen, viel-bezüglichen Auslegbarkeit und der Dauer ihrer Wertschätzung. Das, was schon Platon die Lügenhaftigkeit der Dichter nannte und was noch heute den Spielcharakter auch des ernstesten Gedichtes oder Prosaromans ausmacht: die prinzipielle Mehrdeutigkeit poetischer Bilder und fiktiver Vorgänge, schafft eine zweite Aura der möglichen Anspielungen neben der greifbaren Eindeutigkeit benannter Tatsachen und Ansichten. Diese Aura hat sich erst voll entgrenzt, seit weder eine Moralklausel noch ein durchsichtiger allegorischer Bezug wenigstens die Hauptbedeutung eines poetischen Textes einigermaßen dingfest macht. Als Fritz Teufel in seinem Flugblattprozeß von einem Gutachter gefragt wurde, ob ein Schlußschnörkel auf dem Flugblatt 9 als Träne oder als Blutstropfen aufzufassen sei, vermied er in seiner Antwort jede Festlegung. Derlei Ambivalenzen haben seinen Freispruch mit größerer Sicherheit herbeigeführt als alle Plädoyers über seinen womöglich guten satirischen Absichten.

Immer schon ist die Vieldeutigkeit der uneigentlichen, poetischen Sprache dazu genutzt worden, strikter Zensierung oder unmittelbarer Verfolgung durch drakonische politische Regime zu entgehen. Verschanzt hinter einen reisenden Schiffsarzt „Gulliver" konnte Swift an „several remote nations" unter einer phantastischen Perspektive die unseligen Zustände glossieren, die er daheim im Auge hatte. Montesquieu ließ wohlbedacht zwei vornehme Ausländer in dem fiktiven Arrangement der „Lettres persanes" eine Kritik an Hof und Kirche Frankreichs führen, die direkt geübt wohl schärfere Maßregelung nach sich gezogen hätte als die Interventionen des Kardinals Fleury gegen seine Aufnahme in die Akademie. Noch angesichts eines publizistisch kaum mehr durchbrechbaren Meinungsterrors konnte die „Neue Rundschau" im Jahr der Olympiade 1936 durch den kommentarlosen Abdruck einer Pindar-Ode die derzeitige Perversion der olympischen Spiele zu einer nationalsozialistischen Machtdemonstration charakterisieren, zu der Goebbels die entsprechenden Presseanweisungen ausdrücklich hatte ergehen lassen.

Auch zum Zwecke der Selbsterhöhung und der Mystifikation des Dichterstandes ist indessen der schwer eingrenzbare Symbolwert poetischer Ausdrucksformen zu Zeiten ein willkommenes Instrument. In dem Maße, in dem die Verschlüsselung der positiven Aussage zum Qualitätsmerkmal wird und die Metapher sich schließlich selbst als die zu akzeptierende Substanz anbietet, können Scharlatanerie und meisterlicher Eigensinn einander täuschend ähnlich werden; unter dem Schutz weniger Ernstmeinender können dann Tiefsinn-Erschleieher in beträchtlicher Zahl vom Nimbus des poeta doctus zehren. Der zunehmende Geschmackswert, den in den letzten beiden Jahrhunderten die mysteriöse Vieldeutigkeit vorab in der Lyrik, schließlich aber auch in den „pragmatischen" Erzähl-und Bühnengattungen erhalten hat, macht heute die Öffentlichkeit um so eher geneigt, selbst noch den Hermetiker als einen womöglich exotisch interessanten Grenzfall des Verkünderpoeten gewähren zu lassen.

Desto gereizter reagiert diese auf den hohen Wahrheitsgehalt einer mysteriösen oder gar unverständlichen Dichtersprache vertrauende Öffentlichkeit jedoch, wenn derselbe Autor, von dem sie kunstschön verhüllte Offenbarungen letzter Lebensgeheimnisse verlangt, sich unterfängt, direkt, nicht in poetischer Verschleierung und Verallgemeinerung, zu raten, zu mahnen, zu kritisieren — mit einem Wort: wenn er sich anschickt, in politischen Angelegenheiten unverblümt mitzureden. Man mißt zwar hohe für ihm eine Verantwortung die Verwaltung der letzten Dinge als Pflicht zu, aber man begehrt auf, wenn er in direkter Meinungsäußerung mit dieser Pflicht ernst macht und in ersten und wichtigsten Angelegenheiten der unmittelbaren Gegenwart offen Partei nimmt. Auch heute noch, weit jenseits des schreibenden Hofnarren, den Grass in Princeton in die Vergangenheit abschob, erweist sich die vermeintlich eingeräumte und beschützte Freiheit des Schriftstellers nicht selten als eine Narrenfreiheit, die spätestens an der Grenze der poetischen Fiktion, an der Grenze also einer Bilderbuch-Utopie, ihr Ende hat — in weltanschaulich orthodox und streng regierten Länder schon weit früher.

Damit wären die Komponenten versammelt, deren Akkumulation heute die erhöhte Unsicherheit gegenüber dem Umfang und dem Inhalt der sozialen Befugnisse und Verantwortungen des Schriftstellers zur Folge hat.

V.

Zwei Wege, auf denen Schriftsteller in der Bundesrepublik gegenwärtig versuchen, sich dem Konflikt, der sich aus ihrer noch verbreiteten Sondereinschätzung und der gleichzeitigen Verweigerung einer direkten und aktuellen Wirksamkeit ergibt, zu stellen und ihn womöglich zu überwinden, will ich nun knapp beschreiben. Es handelt sich dabei zugleich um zwei Gattungsschwerpunkte gegenwärtiger literarischer Produktion: um die konkrete Poesie und das Dokumentartheater.

Die gemeinsame Ausgangslage besteht in der in Westeuropa noch weitgehend unbestrittenen Autonomie, sprich Auftragslosigkeit in bezug auf die Selbstbestimmung künstlerischer Arbeit, die, wie gezeigt, als ethisches Gebot erst ein Produkt der Künstleremanzipation des 18. Jahrhunderts ist. Eine unausbleibliche Folge dieser auftragsunabhängigen Selbstbestimmung ist die Betonung der Originalität und gar der Rückzug auf die pure Novität, die Präsentation des neuen, noch nicht dagewesenen Kunstwerks als Rechtfertigung der eigenen Tätigkeit.

Dies ist eine Not, aus der sich leicht auch eine Tugend machen läßt: die Verantwortung für die Erneuerung der allgemeinen Sprachzustände. In solchem Zusammenhang liegt es nahe, die Pionierleistung des Schriftstellers bei der Aufdeckung und Sprengung konventionell verfestigter Sprachnormen zu betonen und die modellhafte Erneuerung des allgemeinen Verständigungsmediums Sprache als seinen besonderen, öffentlichen Auftrag zu bestimmen. Ich nenne Helmut Heissenbüttel stellvertretend für eine größere Anzahl von Schriftstellern, die eine Veränderung der Sprachfähigkeit und also die Erweiterung des Denk-und Sprechvermögens sich zur Aufgabe gesetzt haben. Hier setzt sich unter mancherlei Verwandlungen eine idealistische Sprachtheorie bis ins 20. Jahrhundert fort, der sich schon die Romantiker bei der Fertigung von inhaltsoffener, purer Klang-und Echo-Poesie bedienten: das Vertrauen in die Einheit oder die Reunion von Sprach-und Erkenntnisvermögen und die Hoffnung darauf, das produktive Ingenium des Schriftstellers vermöchte durch die Erfindung oder mindestens durch die Konstellation überraschender Sprachfügungen verschüttete Wahrheiten aufzudecken und bislang nicht faßbare aussprechbar und kommunikabel zu machen. Die dazu nötige Destruktion der erkenntnisverstellenden Sprachklischees wird freilich heute mit ungleich strengerer, atomistischer Gründlichkeit betrieben. Wie die Romantiker aber in ihrer Klangpoesie mit Vorliebe auf eine vermeintlich ursprüngliche Volkssprache zurückgriffen, um die eigene subjektive Phantasie möglichst zu überschreiten, so wird im heutigen Einmann-Sprachlabor möglichst das Integral der Umgangssprache statistisch sortiert oder nach den Regeln der Mengentheorie gruppiert, um die Subjektivität des modernen Sprachkonstrukteurs zu überlisten.

Helmut Heissenbüttel hat die meiste Mühe darauf verwandt, eine Theorie und also eine öffentliche Rechtfertigung für dieses Laborieren mit der Sprache zu liefern. Konkrete Poesie soll nicht mehr der Träger von eingegebenen Bedeutungen sein, weil nur eine legitime Wissensüberlegenheit des Autors solche Bedeutungsvorgabe rechtfertigte. Gerade weil dieser vormals grundsätzlich vorausgesetzte Erkenntnisvorsprung des poetischen Genies von einem gewissenhaften Autor heute abgewiesen werden muß, hat dieser Autor sich ebenso strengen Objektivierungsmaßnahmen wie der Wissenschaftler zu unterwerfen. Heissenbüttel teilt denn auch zwischen Wissenschaft und Dichtung Aufgabenbereiche auf, versucht aber — und da beginnt denn doch die Selbstverteidigung des alten Verkünderanspruchs — beide Tätigkeiten so einander zuzuordnen, daß dem Wissenschaftler die Ordnung des Erkannten, dem Schriftsteller dagegen die Erschließung der Erkenntniswege und die Veränderung des Erkenntnisvermögens als Aufgabe zufällt. Man sieht: dies ist der Versuch, mindestens den erkenntniskritischen Primat der Dichtung, den Joyce und Musil zäh verteidigten, zu erhalten.

Die Mutmaßung, in solchen Argumenten rationalisiere sich ein verdeckter oder nicht erkannter Zunft-Egoismus, richtet sich nicht nur darauf, daß hier womöglich ein altes Vorrecht seine späte Neubefestigung erfahren soll. Die gegen Heissenbüttel und gegen eine ganze Reihe von Vertretern der konkreten Poesie vorgebrachten Vorwürfe gleichen in bemerkenswertem Maße denjenigen, die heute gegen die zweckfreie Wissenschaft und in behender Verallgemeinerung nicht selten gegen die gesamte Grundlagenforschung gewandt werden. Immerhin können die Elaborate konkreter Poesie und auch die Entwürfe einer topologischen Prosa — etwa Jürgen Beckers „Felder" und „Ränder" — mit den experimentellen Ergebnissen eines Laboratoriums der Kernphysik oder der Gehirnforschung verglichen werden, die womöglich anderwärts unabsehbaren praktischen Wert erhalten. Unter dieser Perspektive verlieren schnellfertige Urteile über eine mangelnde Publikumsbezogenheit dieser Literatur viel von ihrem Gewicht. Dieter Wellershoff hat neuerdings in seinen Essays über „Literatur und Veränderung" den Realitätsbezug aller schriftstellerischen Arbeit dadurch schärfer zu bezeichnen versucht, daß er sie der Simulationstechnik experimenteller Wissenschaft, insbesondere in der Raumfahrt-forschung, verglich. Für den Autor wie für den Leser eröffnet Literatur, so meint Wellershoff, „ein Spielfeld für ein fiktives Handeln, in dem man ... die Grenzen seiner praktischen Erfahrung überschreitet, ohne ein wirkliches Risiko einzugehen". Ein einfaches Beispiel: „Der Leser eines Abenteuerromans läßt sich auf die waghalsigsten Unternehmungen ein, weil er weiß, daß er dabei nicht umkommen wird." Lakonischer ist unser literarisches Vergnügen an tragischen Gegenständen tatsächlich nie auf den Begriff gebracht worden. „Gegenüber der etablierten Lebenspraxis" — so Wellershoff — „vertritt also die Literatur die unausgeschrittenen und verdrängten Möglichkeiten des Menschen ... und bedient damit offenbar Bedürfnisse nach mehr Leben, nach weiteren und veränderten Erfahrungen, die gewöhnlich von der Praxis frustriert werden." Das ist eine alte, auf das heutige Vokabular geschickt zugeschnittene Definition des Mehrwerts von poetischer gegenüber direkt zweck-bezogener Literatur. Wieder wird hier, wie vormals, der Dichter zum Ausspäher, Versammler und Exerziermeister neuer und reicherer Lebenserfahrungen. Freilich mit einem wichtigen Vorbehalt, der den Nimbus des Außerordentlichen klug einschränkt: Der Simulator von Lebenserfahrungen hat es leichter als jeder realiter Handelnde; er darf allenfalls im Sprachmaßstab, muß aber nicht im Lebens-maßstab auskosten, was er sich und seinen Lesern an physischen wie intellektuellen Abenteuern und als Lehrmeister der Bewußtseinserweiterung zumutet.

Zweierlei Einwände gegen die so verstandene soziale Hilfestellung der Experimentalliteratur sind jedoch heute bedenkenswerter als um 1800, wo sie in der Formel der progressiven Universalpoesie erstmals ihre theoretische Rechtfertigung fand.

1. Experimente und Versuchsanordnungen entspringen nicht, wie die Schöpfungsästhetik und die Wissenschaftstheorie des 19. Jahrhunderts glauben machen konnten, allein unmittelbarer Inspiration oder den Naturgegebenheiten des behandelten Gegenstandes. Sie ent-springen auch — manche meinen heute: nur — unterschwelligen Rechtfertigungs-, Überzeugungs-oder Beherrschungsinteressen. Die Poeten der Romantik hielten damit in Sachen der Poesie keineswegs hinter dem Berge. Nichts weniger als das „ganze verkehrte Wesen" der Welt meinte Novalis mit der Kraft der Poesie verbannen zu können, und mit nicht geringerer Macht sollte auch Eichendorffs poetisches „Zauberwort" die Natur selbst sprechen und damit erkennbar machen. Diese Poeten glaubten freilich auch an den absoluten Erkenntnisvorsprung der poetischen gegenüber allen anderen Formen der Einsicht. Wir sahen bei Heissenbüttel gerade diese Vorstellung erhalten in einer Zeit, in der sie mit größerem Recht als um 1800 bestritten werden kann. Deshalb ist hier wie in der weithin isoliert und spezialisiert betriebenen Grundlagenforschung heute ein schärferes Regulativ, mindestens eines der Selbstkontrolle, notwendig, um das Experimentieren vor purer Innovations-und Veränderungstrance zu schützen. Sonst tritt an die Stelle des begründet wichtigen, neuen Textes der chaotisierende Terror von Texten, die bloß Interesse beanspruchen, weil sie neu sind — eine Art literarischer Konsumzwang mit immer kürzerem Saisonwechsel, der das ermüdende Publikum entgegen der eigenen Theorie nur zur Resignation oder zu jähem Wechsel literarischer Moden anleitet.

2. Ungeklärt, wenngleich Behauptung und Gegenbehauptung sich jagen, ist die Frage nach dem Verhältnis der spielerisch-experimentellen Literatur zur praktischen Umgangssprache und allgemeiner zur Lebenspraxis der Gesellschaft, der sie vorgesetzt wird. Die Frage, die auch Wellershoff anschnitt, lautet grob gesprochen: Trägt derlei Literatur Muster des praktischen Handelns vor, leitet sie zu kritischem Handeln an oder reagiert sie Handlungsimpulse ab? Zwischen dem ersten und dem zweiten Modus, der Verhaltens-Suggestion oder der Erziehung zur Kritik, wissen wir heute die sprachlichen und ästhetischen Praktiken hinreichend zu trennen, und wir kennen die gefährlichen Machtmittel, die der poetischen Suggestionssprache innewohnen. Ob aber poetische Literatur schlechthin ein direktes praktisches Handeln stimuliert oder absorbiert, das ist eine nicht gelöste, und, wie ich am zweiten Beispiel zeigen möchte, eine zwangsläufig aporetische, mithin im strengen Sinne nur demagogisch verwendbare Frage.

Ta söchlich haben Mißtrauen und Unsicherheit in der Einschätzung der reellen Wirkungsmöglichkeiten schöner Literatur am lärmenden Abzug der Literaten vom Parnaß nicht geringen Anteil. Immerhin führt der Zweifel an der Wirkung von noch so kritischer oder satirischer Dichtung auch nach ernsthafter Selbstprüfung Autoren immer wieder dahin, der poetisch-vieldeutigen Schreibweise zu entsagen zugunsten einer möglichst unmittelbaren Dokumentation sozialer Realitäten und damit zur Betätigung eines direkten politischen, sozialen, humanen Engagements. Dabei legt der eingangs dargelegte Konflikt heute den literarischen Partisanenkampf näher als die agitatorische Bekräftigung des schon Anerkannten und Legitimen. Das ist in Ländern mit einer verfestigt sozialistischen Gesellschaftsordnung im Prinzip nicht anders als in kapitalorientierten Systemen.

Rolf Hochhuth und Peter Weiss haben ein solches Dokumentationsethos entwickelt, das ihnen gebietet, zugleich genau und parteilich die Mißstände und Verbrechen der Zeit dem Tribunal einer breiten Öffentlichkeit, exakter gesagt, eines Theater-, Rundfunk-, Fernsehund Lesepublikums auszusetzen. Wer an erste Erprobungen eines Hochhuths neuen politischen Theaters oder an die über Dutzende von Fernsehstationen verbreitete „Ermittlung" von Peter Weiss denkt, wird sich erinnern, daß Mitte der sechziger Jahre kein anderes Instrument eher geeignet war, die öffentliche Diskussion und auch die Selbstanalyse der Kriegsverbrechen unter vielen beteiligten Völkern neu zu erwecken und (für Monate) wirksam zu fördern.

Einen Sprung nach vorn, und einen sehr problematischen, machte Weiss dann mit dem Versuch, nicht vergangene Übel zur Nachbetrachtung aufzustellen und damit allenfalls paradigmatisch deren Fortbestehen anzuprangern, sondern gegenwärtige Übel beim Schopf zu nehmen und mit einer verschärften Agitationstechnik zu ihrer praktischen Beseitigung aufzufordern. So mit dem „Lusitanischen Popanz" und, wiederum einen Schritt direkter, mit dem „Viet Nam Diskurs". Er setzte sich dabei, wie er selbst in seinen „Notizen zum dokumentarischen Theater" vermerkt, ein Fernziel, das bereits die Agitpropliteratur seit den späten zwanziger Jahren und zuvor schon die Expressionisten aufgestellt hatten: nämlich in Fabriken, Schulen und Sportarenen den „proletarischen" Massen die Notwendigkeit solidarischen Handelns unmittelbar vor Augen zu führen.

Der Mißerfolg dieses Konzepts beruht nur zum Teil auf dem Umstand, daß sich in einer pluralistischen Gesellschaft die Massenbasis für solche Veranstaltungen nicht ohne weiteres herstellen läßt. Das Dilemma dieser Literatur wurde vielmehr dort am deutlichsten, wo eine solche Basis andeutungsweise vorhanden zu sein schien, nämlich bei der Aufführung des Vietnam-Stückes in der Berliner Schaubühne am Halleschen Tor, vor einem mindestens revolutionär stimulierbaren Publikum und mit Hilfe von Schauspielern, die zu agitatorischem Spiel in allem Ernst bereit waren. Besonders im Zweiten Teil mit seinen zu direktem Befreiungskampf aufrufenden Texten versetzte das Stück nicht nur das Publikum in eine ziellose Rage gegen die bloße Texthandlung, es trieb vor allem die Schauspieler selbst in einen ausweglosen Widerspruch. Sind wir angesichts eines Stückes, mußten sie sich fragen, das uns so rigoros die Notwendigkeit der Tat verkünden läßt, noch berechtigt, zum zweiten oder zehnten Mal die Befreiung Vietnams zu spielen, wenn wir hernach nicht sofort die Befreiung Vietnams an Ort und Stelle praktisch betreiben? Weiss selber war vorsichtig genug, seine Theaterstücke als ein Modell der Praxis von dieser selbst abzuheben. Es zeigte sich aber, daß dort, wo — wie in dieser Aufführung — von der Literatur ein unvermittelter Praxisbezug erstrebt wurde, diese Literatur sich selbst, gerade beim bestgemeinten Agitationsspiel, überflüssig macht, weil die Akteure wie die Agitierten das Vehikel Kunst schließlich für einen Umweg oder gar eine Schwelle vor der Praxis halten müssen. Dies aber ist früher oder später das Geschick aller Poesie und Prosa, die sich vor allem anderen als Instrument direkter politischer Agitation und Aktion verstehen will. Sie drängt aus der Kunst heraus und kann dann freilich durch angemessenere, das heißt, direkt handlungsanweisende Texte ersetzt werden.

Wenn deshalb Peter Weiss seinem Stück in einem anderen literarischen Genre einen unmittelbaren Erfahrungsbericht, nämlich „Notizen zum kulturellen Leben der Demokratischen Republik Viet Nam", nachschickte, so verfuhr er nur besonnen, indem er damit zugleich sein Stück vor einer falschen Verwertung stärker absicherte. Freilich setzte er sich mit dieser Art von schriftstellerischer Tätigkeit auch entschlossen über den Schutzzaun hinweg, hinter dem sich der Poet seine relative Unangreifbarkeit zu bewahren suchte.

Wer deshalb nun glaubt, den Partisanen leichter jagen zu können, weil seine Meinungen schwarz auf weiß belegbar sind, der tut gut daran, abzuwägen, daß mit diesem Schritt — das gleiche Thema auf dem Podest des Schriftstellers und als Publizist abzuhandeln — eine erwünschte Klärung sich vollzieht, der man Nachfolge wünscht.

Literarische Gattungen nach ihrem Wirkungskreis abzusondern, war nicht nur eine Forderung der aufklärerischen Poetik, sondern schon eine Regel der Gebrauchsliteratur in der scheinbar kunstarmen, in Wahrheit wortmächtigen Reformationszeit. Damit wird die Verantwortung des Dichters auf einen besonderen Spielraum literarischer Freiheit eingeschränkt, derselbe Autor kann jedoch in seiner politischen Verantwortung wie jeder Bürger beim Wort genommen werden. Der Partisan ist damit auf dem Wege, neben anderen eine wichtige Berufspflicht, nämlich die der öffentlich bekundeten politischen Stellungnahme und Aktivität, wahrzunehmen.

Günter Grass hat diese Trennung bisher am energischsten theoretisch begründet und praktisch demonstriert. Sie ist womöglich geeignet, den Schriftsteller von morgen stärker zu entkrampfen als es heute noch denkbar scheint. Den zeitkritischen Romanen und Stücken von Grass, zuletzt dem Doppel-Opus „Davor" und „Örtlich betäubt", hat man mangelnde Eindeutigkeit der politischen Stellungnahme, eine Beschränkung auf bloße Diagnostik, vorgeworfen. Was immer man diesen beiden Werken vorwerfen kann — dies ist sicher einer der unangemessensten Vorwürfe. Denn Grass wählt hier, und noch ausdrücklicher in seiner Lyrik, die poetische Schreibart und damit eine Schreibart der Anspielung, des vielfältigen Deutungsangebots. Derselbe Grass ist in seinen Wahlkampfreden, in seiner Wahlhilfe-Organisation ein politisch agierender Bürger, der an Eindeutigkeit und Entschiedenheit seiner politischen Interessen, wie immer man sie beurteilt, nichts zu wünschen übrig läßt. Dies hat nicht zuletzt Martin Walser, der in politischen Angelegenheiten gewiß nicht sein Gefolgsmann ist, ihm als die Fähigkeit, an die Stelle des gesellschaftskritischen Rituals eine angemessene politische Praxis zu setzen, erst vor Jahresfrist im „Kursbuch" 20 rückhaltlos bescheinigt.

Was das „gesellschaftskritische Ritual" angeht, zu dem zum Ärger Martin Walsers sich ein guter Teil heutiger Schriftsteller noch verpflichtet sieht, so habe ich seine historischen Vorbedingungen auszuleuchten versucht. Die Lösung aus umgrenzten Arbeitsaufträgen und die Übernahme des umfassenden Auftrages, für alle Menschen gleicher Zunge Vorsprecher in ihren wichtigsten Lebensfragen zu sein, hat dem Künstler zwischen feudalen, bürgerlichen und proletarischen Gesellschaftsklassen zu einer Autonomie verhülfen, die aller früh-und hochmarxistischen Klassentheorie widerstreitet. Mindestens seit dem 19. Jahrhundert galten für den Künstler im Allgemeinbewußtsein und zuvor schon faktisch nachgerade andere Rechte als für jedes andere Mitglied der Ge-Seilschaft. Von ferne kann man das mit der Doppelung von kanonischem und profanem Recht im Mittelalter vergleichen, die auf einer besonderen, lange Zeit auch geistigen Vormachtstellung der Geistlichen beruhte. Von seinen Rechten hat der Dichter als Dichterfürst, als Dandy, als Bohemien auch sozial den äußersten Gebrauch gemacht. Dem Anspruch auf besondere Vorrechte entsprach jedoch nicht — wie für den mittelalterlichen Geistlichen — eine besondere obrigkeitliche Sicherung. So hat der Mangel eines eingegrenzten Platzes in der modernen Gesellschaft den Schriftsteller auch in besonderem Maße schutzlos gemacht und entsprechend empfindlich gegen öffentliche Kritik.

Inzwischen spricht übrigens manches dafür, daß die intellektuelle Jugend, gleichfalls — wenn auch mehr aus Not als aus Lust — aus speziellen Gesellschaftsaufträgen entlassen, den von den Künstlern geltend gemachten Anspruch auf zweierlei Gesetz sich übereignet hat. Auf sich gezogen hat sie freilich damit auch die gleichen Reaktionsneurosen von Obrigkeit und. öffentlicher Meinung.

Was die Schriftsteller angeht, so ist wiederum der Fall des fürwahr nicht extremistischen Günter Grass besonders sprechend. Man muß sich nur eine Seite von Leserbriefen im „Spiegel" aus der Wahlkampfperiode von 1969 vorhalten, um zu sehen, daß man auch heute noch nicht ungestraft als Schriftsteller unter Bürgern wandeln kann. Kein Beamter, kein Arbeiter und nicht einmal ein Wirtschaftsmagnat würde so viele hitzige Verdächtigungen auf sich ziehen, wenn er sich — etwa in Wahlkampfzeiten — in der Öffentlichkeit politisch betätigte. Diese Gereiztheit ist der Preis, mit dem die Schriftsteller einstweilen noch ihre Sonderstellung von ehedem zu bezahlen haben.

Diese oft allergische Mischung von Aufmerksamkeit und Unmut, die man einem politisch sich betätigenden Schriftsteller entgegenbringt, ist nur abzubauen, wenn auch von Seiten der Öffentlichkeit das vielfach unbewußte Vorurteil abgelegt wird, daß der Dichter oder Schriftsteller mit dem Weltgeiste auf besonders vertrautem Fuße stehe und also auch eine besondere politische Verantwortung trage. Es gibt, so meint es wohl auch unser Grundgesetz und schon die Weimarer Verfassung, keine politische Verantwortung des Schriftstellers, die sich von der aller anderen Bürger abhöbe. Wer sie fordert, befestigt nur den von der „Kunstepoche" her noch zäh sich haltenden Begriff von der Außerordentlichkeit des Dichters unter den Menschen. Er entstand, wie ich zu zeigen suchte, nicht unnützerweise, aber er ist heute für die Betroffenen selbst, wie immer sie ihn unwillkürlich weiterpflegen, eher eine Last geworden.

Dagegen ist eine besondere öffentliche Verantwortung des Schriftstellers tatsächlich zu umschreiben. Dabei handelt es sich aber nicht um eine individuelle, sondern um eine berufsspezifische, also arbeitsteilige Verantwortung innerhalb der Gesellschaft. Sie resultiert aus dem Umstand, daß die Arbeit des Schriftstellers darauf angelegt ist, Publizität zu gewinnen. Was er schreibt, und sei es auch ein persönliches Liebesgedicht oder eine Erfahrung mit seinen Nachbarn, das ist, so bald es gedruckt wird, dazu bestimmt, Tausende von Lesern zu erreichen. Sagt er im Fernsehen seine persönliche Meinung, spricht er unter Umständen zu Millionen. Nimmt er auf diesem Wege seine Bürgerrechte wahr, so tritt allerdings die Publizität, die er sich als Schriftsteller gewinnen konnte, als Multiplikator seiner öffentlichen Wirksamkeit mit ins Spiel, und dieses besondere Gehör, das ihm seine Berufsarbeit verschafft, lädt ihm tatsächlich auch eine besondere öffentliche Verantwortung auf.

Der Beruf, nicht nur Verfertiger, sondern auch Kommunikator von Vorstellungen, Anschauungen, Meinungen und Phantasiegebilden zu sein, verpflichtet ihn in einer Zeit, in der die technischen Mittel, in die Öffentlichkeit zu wirken, sich jäh vermehren, zu einer spezifischen und von Fall zu Fall konkreten Wahrnehmung dieser Verantwortung. Nur unterscheidet sich, wie schon die Beispielreihe zeigte, in diesem Punkte keineswegs mehr der „schaffende" Dichter prinzipiell von dem „nur" literarisch bzw. publizistisch Tätigen, wie es die restaurativen Dichter am Ende der Weimarer Republik noch im Sinne hatten.

VI.

Aus den sichtbaren Anstrengungen heutiger Schriftsteller, dem Teufelskreis eines historischen Konflikts zu entrinnen, folgt keineswegs zwingend eine Verwischung aller Unterschiede zwischen verschiedenen literarischen Berufen oder etwa poetischen und nichpoetischen Äußerungsformen; wohl aber ein Abbau traditioneller Rangunterschiede zwischen ganzen Berufssparten. Was die Schriftsteller im engeren Sinne angeht, so verbindet sich verB • ständlicherweise mit einem Prozeß der gesellschaftlichen Eingliederung das Bedürfnis nach einer sozialen Sicherung all derer, die nicht die Stars des Büchermarktes und des Fernsehgeschäftes sind. Dem entspricht deutlich die Konzeption des Ende 1970 in Stuttgart neu begründeten Schriftstellerverbandes. Schon sein Motto: „Einigkeit der Einzelgänger — Schriftsteller in der Arbeitswelt", verspannt die Schriftstellergeschichte der letzten beiden Jahrhunderte mit einer neuen Einschätzung der öffentlichen Rolle, die die heutige Gesellschaft dem Schriftsteller zumessen soll.

Nicht mehr als das gute oder schlechte „Gewissen der Nation", aber auch nicht als Rand-figuren der holzverarbeitenden Industrie wollten die dort versammelten Schriftsteller sich selbst verstehen, geschweige denn verstanden wissen.

Hier scheint eine Gelenkstelle zwischen der „Kunstepoche" mit allen ihren immer krasser gewordenen Abbauneurosen und einer Epoche nüchterner, wenn auch darum keineswegs konfliktfreier Sozialpartnerschaft der Schriftsteller innerhalb der gesamten Gesellschaft erreicht. Es verdient alle Aufmerksamkeit, daß dieser Schritt gleichzeitig von zwei Seiten her erfolgt ist. Erstmals haben sich nicht nur diejenigen Autoren, die der Öffentlichkeit kaum bekannt sind und deren karge Einkünfte sie natürlicherweise zu Interessenten eines Schutzverbandes machten, sondern auch diejenigen, die im Licht stehen und deren Auflagen sechsstellig sind, zu einem genossenschaftlichen Berufsverband ausdrücklich und aktiv bekannt. Und erstmals hat — noch im Jahrzehnt des „Pinscher" -Odiums — derjenige Politiker, dessen Funktion es ist, die Richtlinien der Politik zu bestimmen, vor Schriftstellern deren berufsspezifische und politisch wünschbare Verantwortung gegenüber der Öffentlichkeit umrissen.

Brandt war gut beraten, die Distanz bewußt zu halten, die den Schriftsteller von der unmittelbar praktischen Betätigung auch des Politikers trennt. Nur dank dieser Distanz kann in der Tat der Gewinn aus einem konfliktreichen historischen Prozeß gewahrt werden, in dem die Schriftsteller ungebeten, aber genötigt, die Kritik d. . sittlichen Normen und der praktischen Verhaltensweisen der Gesellschaft sich zur Aufgabe machten. Auch darin, daß er dem Schriftsteller die Sorge für das Niveau des allgemeinen Sprachgebrauchs als seine anteilige Pflicht an der Verwaltung öffentlicher Angelegenheiten zumaß, hat Brandt nur eine von Lessing bis zu Heissenbüttel reichende Tradition ausgenommen. Aber r hat darüber hinaus auch jene neuerlich gesteigerte Verantwortung bezeichnet, die sich aus der Expansion aller Publikationsmedien für den Schriftsteller als politisch handelnden Bürger herleitet: In den für die gesamte Gesellschaft jeweils wichtigsten Angelegenheiten komme es den Schriftstellern zu, die politische Ignoranz einzudämmen durch vervielfachte und verbreitete Stimmen der vernünftigen Aufklärung.

Schöne Worte und Wünsche zur Eröffnung eines neuen Arbeitsverhältnisses zwischen den Schriftstellern und der Öffentlichkeit in einem Lande, aus dem seit anderthalb Jahrhunderten mehr Schriftsteller in den Elfenbeinturm oder ins Ausland emigrierten als ihm gut tat. Man wird die schönen Worte und Wünsche nicht schon für Tatbestände nehmen. Auch der Kanzler kann allenfalls die Richtung der Politik angeben, und ob die Schriftsteller allesamt und mit einem Schlage nunmehr vernünftig reden, steht dahin, und die Frage ist, ob das überhaupt zu wünschen sei. Doch ein besonders wichtiger Bereich, in dem den Schriftstellern öffentliche Verantwortung zugemutet oder auch übertragen werden könnte, ist durch die Gunst der Stunde, nämlich durch den gerade abzuschließenden und kontroversen Polenvertrag, auf derselben Stuttgarter Tagung zur Sprache gekommen, und er verdient, eigens bedacht zu werden.

Gleichviel, ob jedes Dichterwort schon an sich ein „Sesam öffne dich" zu einer verschütteten Lebenswahrheit ist: Die letzten Jahre haben gezeigt, daß Schriftsteller über die Grenzen der Blöcke hinweg noch ihren Dialog führen können, wenn die heißen und die kalten Drähte der offiziellen Beziehungen verwickelt, brüchig oder tot daliegen. Von Land zu Land und zwischen den verschiedenen bezifferten „Welten" den Dialog aufrechtzuerhalten, wenn selbst die Notenwechsel der Regierungen stokken, und Brücken der Verständigung und der gegenseitigen Aufmerksamkeit dort aufzubauen, wo mächtige Interessenten die Bevölkerung ganzer Länder in verkrusteten Ideologien samt deren Sprachregelungen befangen halten, das könnte die Hauptaufgabe der Schriftsteller werden in einer Zukunft, in der viele Völker auf näheres Zusammenleben angewiesen sind, ohne schon eine gemeinsame, überregionale Sprache gefunden zu haben.

Dabei könnte sich herausstellen, daß auch die Dichter, die sich selbst, nach einer schwindelnden Berg-und Talfahrt ihres sozialen Nimbus während der letzten beiden Jahrhunderte, lieber hinter dem Titel Schriftsteller, Stücke-B Schreiber, Literaturproduzent verschanzen, Leute sind, die heute und morgen noch gebraucht werden und die deshalb nicht mehr auf dem Absätze kehrt machen müssen, wenn man sie bei ihrem Namen nennt. Denn in einer Welt, in der die Kommunikation zwischen denen, die Recht suchen und denen, die es besitzen, aber auch die sprachliche Kommunika-tion ganzer Völker untereinander mit der wirtschaftlichen und technischen Entfaltung nicht Schrift hält, haben auch die Dichter genug zu tun. Dabei könnte das alte Wort von der poetischen Lizenz, die dem Dichter das sonst Verpönte oder Unterdrückte in prägnanten Bildern zu sagen erlaubt, einen neuen und guten Klang gewinnen.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Eberhard Lämmert, Dr. phil., geb. 1924 in Bonn, Ordinarius für Deutsche Philologie und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Heidelberg; Gastprofessuren in Aarhus (Dänemark) und Princeton (USA); seit einer Reihe von Jahren u. a. in Gremien der Westdeutschen Rektorenkonferenz und des Wissenschaftsrates maßgeblich an einer Reform der philologischen Studiengänge beteiligt. Veröffentlichungen u. a.: Bauformen des Erzählens, 1955, 19704; Reimsprecherkunst im Spätmittelalter, 1970; (Hrsg.), Wilhelm Scherer — Erich Schmidt, Briefwechsel, 1963; (Hrsg.), Friedrich v. Blanckenburg, Versuch über den Roman, 1965; Zur Eröffnung einer Diskussion über Fragen des germanistischen Studiums, in: Bildung und Erziehung, 1964; Germanistik — eine deutsche Wissenschaft, in dem gleichnamigen Band der edition suhrkamp, 1967, 19694; Das Ende der Germanistik und ihre Zukunft, in: Ansichten einer neuen Germanistik, 1969, 19704; Ein neues Konzept für das Studium der deutschen Sprache und Literatur, 1971; Aufsätze zur Literaturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts; Mitherausgeber des Jahrbuchs für Internationale Germanistik.