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Nation und Nationalstaat in der deutschen Geschichte Zum Gedenktag der Reichsgründung | APuZ 12/1971 | bpb.de

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APuZ 12/1971 Artikel 1 Nation und Nationalstaat in der deutschen Geschichte Zum Gedenktag der Reichsgründung Parlament, Parteien und Regierung im Wilhelminischen Reich 1890-1914 Die Einführung des parlamentarischen Systems in Deutschland 1918

Nation und Nationalstaat in der deutschen Geschichte Zum Gedenktag der Reichsgründung

Theodor Schieder

/ 35 Minuten zu lesen

In großer Unbefangenheit haben europäische Nationen noch nach dem letzten Krieg Gedenktage ihrer Geschichte begangen: die Polen ihr Millenium, die Erinnerung an die Entstehung eines ersten polnischen Staats vor tausend Jahren; die Italiener das Gedächtnis der ein Jahrhundert zurückliegenden Ereignisse des Risorgimento. Nationale Katastrophen, innere politische und gesellschaftliche Umwälzungen von großen Ausmaßen, Unterbrechungen der historischen Kontinuität haben doch das Bewußtsein einer nationalen Tradition nicht zu zerstören vermocht, das bei uns Deutschen am schwersten gelitten hat. Dafür lassen sich manche überzeugende Gründe geltend machen, nicht zuletzt der, daß überall sonst in Europa der Nationalstaat, der eine Schöpfung des 19. und frühen 20 Jahrhunderts gewesen war, wiederhergestellt wurde, während der deutsche Nationalstaat als Folge der deutschen Politik selbst und der durch sie in Europa geschaffenen Konstellationen untergegangen ist. Den hundertsten Geburtstag eines politischen Gebildes zu begehen, das dem Gericht der Geschichte zum Opfer gefallen ist und dessen Wiederherstellung immer mehr im dunkeln einer ungewissen Zukunft sich verliert, wäre ohne Sinn, wenn er nicht den Anlaß zur Besinnung, zum Nachdenken über Nation und Nationalstaat, ihre Bedeutung und ihren Wert in der deutschen Geschichte böte.

I.

Elisabeth Grundmann/Claus-Dieter Krohn: Die Einführung des parlamentarischen Systems in Deutschland 1918............. S. 25 Gert Udo Scheideler: Parlament, Parteien und Regierung im Wilhelminischen Reich 1890— 1914 ... S. 16

Was unter „deutscher Nation" zu verstehen sei, ist von jeher in der deutschen Geschichte umstritten gewesen. Das alte Heilige Römische Reich war sicher kein „nationaler" Staat, was man vom französischen seit dem ausgehenden Mittelalter, vom englischen seit , den Tudors und vom spanischen seit der Vereinigung von Kastilien und Aragon und seit dem Ende der Reconquista trotz aller Einschränkungen durchaus schon sagen kann. Aber die übernationalen Elemente des alten Reichs, repräsentiert vom römisch-deutschen Kaiser als Schutzherrn der universalen Kirche und als Gebieter über große Teile Italiens und Burgunds, wurden im Laufe der Jahrhunderte mehr und mehr geschwächt: die Kirche emanzipierte sich seit dem Investiturstreit vom Kaiser, die Zugehörigkeit Italiens zum Reich wurde mehr und mehr zur Fiktion, auch das überwiegend romanische Burgund ging verloren. Wenn schließlich vom Heiligen Römischen eich „deutscher Nation" gesprochen wurde, so lag darin nicht ein nationaler Anspruch, sondern eher eine Art nationaler Resigna-Nn: man nahm mit dieser Formel davon otiz, daß das Reich sich auf die Gebiete « eutscher Nation", d. h.deutscher Zunge, Vfirengt hatte.

pie Loyalitätsgesinnung gegenüber diesem eich kann man am treffendsten als Reichs-patriotismusbezeichnen, mit deutschem Nationalismus hatte dieser noch wenig zu tun; er war vielmehr die Gesinnung überwiegend der kleinen Reichsstände und ihrer Führungsschichten, also der kleinen Reichsfürsten und Reichsstädte vor allem im Südwesten Deutsch-lands, auf den sich geradezu der Begriff Reich konzentrierte. Die größeren Reichsstände entwickelten eine eigene politische Gesinnung, die sich an der Dynastie oder an einzelnen großen Herrschern wie Friedrich d. Gr. orientierte — er sei „fritzisch" gesinnt gewesen, berichtete darum Goethe —, zum Teil wuchs dieses dynastische Bewußtsein schon in ein allgemeineres Vaterlandsbewußtsein hinein, an dem breitere Schichten teilhaben konnten. So hat Friedrich von Preußen in seinen „Briefen über die Vaterlandsliebe" schon eine Vorstellung von dem Bürger entwickelt, der, jeder in seiner Funktion, für das Gemeinwohl arbeitet. Hier läßt sich erkennen, daß das „Vaterland" zunächst immer nur noch der Machtapparat des Monarchen mit einer besonderen Stellung des Adels und bei strengem ständischen Aufbau der Gesellschaft gewesen ist, daß sich aber doch in außerordentlichen Krisensituationen schon Schicksals-und Erlebnisgemeinschaften mit einer wenn auch nie voll entwickelten überständischen Solidarität entwickeln konnten — wie etwa im Siebenjährigen Krieg in Preußen, in der großen österreichischen Staats-krise nach 1740, in Bayern während des Spanischen Erbfolgekriegs, als sich die Bauern gegen die österreichische Besatzung erhoben.

Während in Frankreich der moderne Staatsbildungsprozeß, der die moderne Nation vorbereitete, dem Gesamtstaat zugute kam, ist in Deutschland die Organisation des Gesamtstaats immer mehr zerfallen, so daß Georg Friedrich Hegel im Jahre 1800 feststellte: Deutschland ist kein Staat mehr. Die Kriterien eines Staats trafen vielmehr für die Teile Deutschlands zu, für Preußen in erster Linie, aber auch mit einem erheblichen Abstand für Bayern und Sachsen. Am ehesten ging noch in den habsburgischen Ländern österreichischer „Partikularismus" und Reichsgesinnung ineinander über.

Gegenüber dem Reichspatriotismus alter Art und dem Staatspatriotismus der Teilstaaten hat sich nun um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert ein deutsches Nationalbewußtsein über einzelstaatliche Grenzen hinweg unter bestimmten Bedingungen und Voraussetzungen ausgebildet.

Vier Punkte sind hier zu beachten:

1. Während der Adel im allgemeinen entweder reichspatriotisch oder dynastisch dachte, entwickelte sich in dem aufstrebenden neuen Bürgertum des ausgehenden 18. Jahrhunderts das Bewußtsein einer gemeinsamen deutschen Kultur, die sich gemeinsame Bildungswerte schuf, eine gemeinsame Philosophie, Prinzipien einer nationalen Kunst und das Bewußtsein einer gemeinsamen Sprache ausbildete. Die deutsche Nationalidee war zuerst die einer deutschen Kulturnation, deren gesellschaftlicher Zusammenhang noch locker war, auf einzelnen punktuellen Zentren wie den kleinen Residenzstädten beruhte und der keine politischen Institutionen entsprachen.

2. Diese nationale Bildungsidee, die wir mit der sogenannten deutschen Bewegung verbinden, war in ihren Anfängen nicht auf politische Werte und ihre Verwirklichung gerichtet, eher suchte sie sich von der politischen Wirklichkeit fernzuhalten. Es sind erst die Einwirkungen zweier politischer Grunderlebnisse gewesen, die Verbindungen zur Welt der Politik herstellten: einmal der Einfluß der Französischen Revolution, der trotz späterer Enttäuschungen und innerer Abwehr starke Wirkungen auf die Prägung des politischen Bewußtseins der deutschen bürgerlichen Bildungsschichten ausübte und ihnen zum ersten-mal die Möglichkeit einer selbstbewußten und selbsthandelnden politischen Nation vor Augen führte. Mehr noch aber hat die Napoleonische Fremdherrschaft zur Politisierung des deutschen Bildungsbürgertums beigetragen. Man kann die Verwandlungen des Denkens, die dadurch erzeugt wurden, an Männern wie dem Philosophen Fichte und den Veränderungen seiner Philosophie bis zu den „Reden an die deutsche Nation" verfolgen, 3. Napoleon hatte das alte Reich zum Untergang verurteilt; er benutzte den dynastischen Partikularismus in Deutschland in seinem Interesse zur Ausbildung eines Systems mittlerer Staaten, die sich unter seinem Patronat im „Rheinbund" zusammenschlossen. Der „Rheinbund" wurde für die deutschen Patrioten das Sinnbild zugleich der Fremdherrschaft und seiner schlimmsten Konsequenz, des dem Fremdherrscher gefügigen Fürstentums, dem der Freiherr vom Stein seinen Vorwurf des „Sultanismus", des „Sultanfiebers“ entgegen-schleuderte. Er verabscheute die Unterdrükkung des deutschen Volkes „durch einige dreißig Despoten" fast noch mehr als die Fremdherrschaft selbst, namentlich als er um 1813 zu erkennen meinte, daß jene noch fortdauerte, als die Fremdherrschaft von außen schon wankte und schließlich beseitigt wurde. 4. Das frühe Nationalbewußtsein hatte sich also aus zwei Stimmungen genährt: aus dem Haß gegen die ausländischen Unterdrücker und aus der Ablehnung des „Partikularismus'als des Urfeinds einer deutschen Gesamt-nation. Freiheit wurde zuerst von der relativ kleinen Schicht der deutschen „Patrioten“, die meist dem Bildungsbürgertum, aber auch, Wie der Freiherr vom Stein, dem alten Adel angehörten, als Freiheit von Fremdbestimmung empfunden; Einheit als notwendige Voraussetzung für die Selbstbestimmung der . Nation", die damit als die die deutschen Territorialstaaten, den deutschen „Partikularismus überwindende Kraft erschien. Im Widerstand gegen die „kleinen und souveränen Fürsten ‘ wie ihn Ernst Moritz Arndt proklamierte, steckte auch ein revolutionärer Wille, der mit den Fürsten die alte gesellschaftliche Ordnung treffen wollte: die Fürsten und ihr Anhang an den Höfen, in der Bürokratie, waren das, was in der Französischen Revolution die Privilegierten waren. Aber diese nationaldemo-kratische Tendenz war doch bei weitem nicht so stark wie im Frankreich der Revolution, wenn sie sich auch in dem Maße verstärkte, in dem der Deutsche Bund seit den Karlsbader Beschlüssen von 1819 und dem Kampf und der Verfolgung gegen die nationale und liberale Bewegung und damit die Fürsten zum Träger der Reaktion wurden. Nationales Denken wurde jetzt weithin identisch mit bürgerlicher Emanzipation, liberaler Umgestaltung der Gesellschaft und der Staaten, wobei die Liberalisierung der Teilstaaten, wie sie in den süddeutschen Parlamenten gefordert wurde, als Schritt auf dem Wege zu einem liberal-nationalen Gesamtdeutschland aufgefaßt wurde.

II.

Als im Jahre 1848 die liberale Revolution ausbrach, versuchte sie zugleich ein nationales Programm zu verwirklichen: Sie stand vor der doppelten Aufgabe, einen nationalen Staat zu schaffen und ihm eine liberale Verfassung mit der Sicherung liberaler Grundrechte zu geben. Wiederum hat sich das deutsche Nationalbewußtsein um einige historische Erfahrungen bereichert, die für die Zukunft wichtig wurden. Die erste Erfahrung war die von der Schwierigkeit, ja fast Unmöglichkeit, den Umfang, die Grenzen eines deutschen Nationalstaats festzulegen. Die deutsche Nation war, da sie bisher nur ein Gedanke, ein Programm gewesen und noch in keine Verbindung mit einem konkreten Staat getreten war, unbestimmt, weder sozial noch staatlich-politisch noch geographisch festgelegt, sie lebte nur aus dem starken Willen zur Überwindung ihrer inneren staatlichen Zersplitterung. Wenn die Eingangsstimmung der Frankfurter Nationalversammlung als großdeutsch oder besser als gesamtdeutsch zu bezeichnen ist, so begannen sich allmählich Richtungen auszubilden, Fronten zu klären.

Die Vorstellung, daß alle Deutschen im kommenden Nationalstaat zusammengefaßt werden sollten und dieser reichen sollte, „soweit die deutsche Zunge klingt", wich allmählich dem Willen, eine Staatsnation zu schaffen; dies kam etwa in einer Rede zum Ausdruck, die der Abgeordnete W. Jordan am 4. Juli 1848 im Frankfurter Parlament hielt: „Alle, welche Deutschland bewohnen", so hieß es hier, „sind Deutsche, wenn sie auch nicht Deutsche von Geburt und Sprache sind. Wir dekretieren sie dazu, wir erheben das Wort eutsche zu einer höheren Bedeutung, und das Wort Deutschland wird fortan ein politi-

SCher Begriff." Solche Worte konnte man in einem expansiven territorialen, auch alle nintrdeutschen Bewohner Deutschlands ein-s Meßenden Sinne verstehen. Auf der andren eite ließen sie sich auch dahin auslegen, wie 'es für die meisten preußisch-protestantischen Abgeordneten der liberalen Mitte galt, daß der Nationalstaat auf die Macht und Reichweite der stärksten staatlichen Tradition, der preußischen, eingeschränkt werden sollte. Gerade diese Gruppe war für den starken, geschlossenen Nationalstaat, der Macht haben sollte. Sie war bereit, ihm die Idee eines alle Deutschen umfassenden gesamtdeutschen Staats zu opfern; Preußen sollte für sie ein in Deutschland aufgehendes, unmittelbares Reichsland werden.

Schließlich hat der Nationalstaatsgedanke bei der Verfassungsschöpfung von 1848/49 zwei Grenzen eingehalten: er hat die staatliche Vielfalt Deutschland nicht beseitigen, sondern in einem vom Modell der nordamerikanischen Verfassung angeregten Bundesstaat bewahren wollen. Zum anderen wollte er die Idee der nationalen Einheit nicht zugunsten einer staatlichen Verbindung mit Nichtdeutschen erweichen. Damit war der Verzicht auf die Aufnahme Gesamt-Osterreichs gefordert und die Idee eines „kleindeutschen", auf das soge-nannte „engere Deutschland" beschränkten, unter preußischer Führung stehenden Nationalstaats geboren. Die Großdeutschen orientierten sich demgegenüber nicht mehr in erster Linie an einem völkisch-sprachlichen Gesamt-deutschland, das nur in der Form einer demokratischen Republik gedacht werden konnte, sondern an einem übernational-mitteleuropäischen Großreich, wie es auf österreichischer Seite dem Fürsten Schwarzenberg vorschwebte, und in den mitteleuropäischen Wirtschaftsunionsplänen des Freiherrn von Bruck enthalten war.

Das zweite Grunderlebnis der Frankfurter war ein negatives. Sie mußten erkennen, daß die Schaffung der deutschen Nation aus der Emanzipation von den bestehenden Teilstaaten zum Scheitern verurteilt war. Es siegten in Frankfurt die Teilstaaten, deren Wiederherstellung und erneute Zusammenfassung im restaurierten Deutschen Bund eine Niederlage des nationalen Gedankens, aber auch der bürger-liehen Freiheitsideen gewesen ist. Von dieser Niederlage hat sich das deutsche Bürgertum nie mehr ganz erholt. Entweder wurde jetzt die nationalstaatliche Entwicklung auf den Stand von 1815 zurückgeworfen oder sie wurde von den restaurierten alten Mächten aufgegriffen und in ihrem Sinne vollendet.

Das erste war auch nach dem Scheitern der Revolution undenkbar geworden] um das zweite haben die beiden deutschen Mächte zwischen 1849 und 1866 gerungen: Nacheinander, nebeneinander und gegeneinander versuchten Preußen und Österreich der nationalstaatlichen Forderung entweder durch die nationale Reform des Bundes oder die nationale Revolution gegen den Deutschen Bund näherzukommen. In diesem Ringen war die deutsche Nation selbst nur in begrenztem Umfang Mitspieler, meist Zuschauer, wenn auch die politische Willensbildung seit dem Ende der fünfziger Jahre, seitdem der italienische Nationalkrieg von 1859 die politischen Energien des deutschen Bürgertums wieder geweckt hatte, sich im Zeichen der nationalen Frage vollzog: die seit 1848/49 zu verfolgende Polarisierung der deutschen Politik zeigte sich in der Gründung des kleindeutsch gerichteten Nationalvereins (1859) sowie des großdeutsch orientierten Deutschen Reformvereins (1862). Diese Polarisierung reichte über das Bürgertum hinaus; selbst in der Arbeiterbewegung standen sich großdeutsche und kleindeutsche Gruppen gegenüber: Lassalle mit seinem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (1863) stand auf der Seite der preußisch-kleindeutschen Richtung, Bebel mit der Sächsischen Volkspartei wollte die großdeutsche Demokratie.

Die Initiative der deutschen Politik lag aber bei den alten Gewalten. Seit Bismarcks Regierungsantritt im Herbst 1862 ging sie mehr und mehr auf Preußen über, obwohl dieses durch einen Konflikt mit dem liberalen Bürgertum über die Heeresverfassung innerlich gelähmt zu sein schien. Der nationale Liberalismus und die ihn tragenden bürgerlichen Schichten wa-ren in einer verzweifelten Lage, sie konnten sich an keinem Staat orientieren: Preußen schien unter Bismarck weit davon entfernt, jemals an die Spitze einer liberalen National-politik treten zu wollen, Österreich mußte sich mit Rücksicht auf seine multinationale Struktur dem nationalstaatlichen Prinzip verschließen, die Mittelstaaten waren Repräsentanten eines partikularen Staatsprinzips, das in vollem Widerspruch zur Nationalstaatsidee stand. Diese Lage nützte Bismarck zu einer rücksichtslosen preußischen Machtpolitik aus, die auf die Dauer die äußeren Ziele des kleindeutschen Liberalismus durch die Befreiung der Herzogtümer Schleswig und Holstein von dänischer Herrschaft (1864), durch die Verdrängung Österreichs aus einer nationalen Re. formpolitik (1866), durch die Aufrichtung eines halbfertigen nationalen Staats, des Norddeutschen Bundes, erfüllte. Den Schlußpunkt setzte die Gründung des Deutschen Reiches von 1871.

Seit 1866/67 war es zu einer Interessengemeinschaft des altpreußischen Militärstaats, der seine innere Krise durch eine erfolgreiche nationale Expansion überwand, mit der bürgerlichen Nationalbewegung gekommen. Diese Interessengemeinschaft hat niemals zu einer vollen Harmonie geführt, aber sie war doch mehr als eine bloße Vernunftehe; beide Partner standen auf dem Fundament gemeinsamer Überzeugungen. Sie trafen sich in einer Machtstaatsidee, die für die Altpreußen die Fortsetzung der friderizianischen Politik, für die Liberalen die des nationalen Machtstaatsgedankens im Hegelschen Sinne gewesen ist. Die Nationalitätsidee war für sie nur soweit verbindlich, als sie der Verwirklichung des starken Staats nicht im Wege stand. „Starker Staat" — dies war der Machtstaat, der die Nation auf die Bahn der großen Politik führen sollte, wie es der Historiker Friedrich Christoph Dahlmann schon in der Frankfurter Nationalversammlung formuliert hatte: „Die Bahn der Macht ist die einzige, die den gährenden Freiheitstrieb befriedigen und sättigen wird, der sich bisher selbst nicht erkannt hat. Deutschland muß als solches endlich in die Reihe der politischen Großmächte des Weltteils eintreten ..." Aber unter dem starken Staat wurde auch der liberale Verfassungsstaat verstanden, der den führenden bürgerlichen Schichten ein Mitbestimmungsrecht gab. Im Zusammenwirken der preußischen Monarchie und Militärmacht, der preußischen, immer noch liberalen Reformen aufgeschlossenen Bürokratie und des deutschen nationalen Liberalismus, der die Interessen des kleinen und großen Bürgertums vertrat, schien sich ein Kompromiß anzubahnen, der eine reale Basis auch in der gesellschaftlichen Struktur hatte. , Doch hat das Bündnis, in dessen Zeichen die Reichsgründung stand, lediglich ein Jahrzehnt Dauer gehabt; schon am Ende der siebziger Jahre zerbrach es. Von vornherein war der nationaldeutsche Liberalismus der schwächere Partner gegenüber dem erstarkten friderina nisch-preußischen Machtstaat gewesen. Pie politischen Machtverhältnisse setzten dem 1 beraten Konstitutionalismus, dessen Einflüsse im Verfassungskompromiß von 1867 und 1871 an vielen Stellen zu greifen waren, enge Grenzen. Nicht die Monarchie mit voller parlamentarischer Mitbestimmung wurde im Nationalstaat geschaffen, sondern die „konstitutionelle Monarchie" mit allgemeinem Wahlrecht, Gesetzgebungsrecht des Parlaments, aber Unabhängigkeit der Exekutive von der Legislative. Dieser Ordnung gegenüber blieb der deutsche Liberalismus gespalten: der nationale Staat, den er mitgeschaffen und zeitweise mitgetragen hatte, war zwar in seiner äußeren Ausdehnung, in seinem Machtcharakter eine Erfüllung der nationalen Wünsche, auf der anderen Seite aber ein unvollendetes, unbefriedigendes, die liberalen Werte und Prinzipien verleugnendes Gebilde.

Die liberalen Parteien standen ihm gegenüber ständig in Gefahr, in eine Haltung des reinen Nationalismus und des reinen Liberalismus auseinanderzufallen. Trat so das liberale Bürgertum dem neuen Nationalstaat mit einem Vorbehalt gegenüber, so galt dies noch mehr für die katholisch-konservativen und partikularistischen Kräfte im Westen und Süden Deutschlands, die sich 1870 in der Zentrumspartei sammelten. Diese war nicht eigentlich eine Partei des Protests, aber eine Partei des Vorbehalts einer konfessionellen Minderheit, die grundsätzlich bereit war, die neue Lage anzuerkennen. Auch die altpreußischen Konservativen sind nicht von vornherein kritiklose Bewunderer des Werkes Bismarcks gewesen; vielmehr überwogen auch bei ihnen Vorbehalte, sie sahen in der nationalstaatlichen Reichspolitik zuerst einen Verrat an der altpreußischen Tradition. Der ungeheure Machtzuwachs Preußens durch die nationale Politik ist von ihnen viel später erkannt worden. Erst dann entwickelten sie einen nach außen gerichteten, das monarchische Prinzip mit dem staatlichen Macht-und Expansionsgedanken verbindenden National-gedanken, der geeignet war, die innen-und außenpolitische Sicherung und Expansion des Deutschen Reiches zu tragen.

Als „nationale Fragen" galten für die Konservativen Königtum, Heer und Flotte, äußere Machtexpansion und Kolonien. Was sich bei den Liberalen als Ergebnis eines langen Prozesses aus ihrer Vorstellung von Nation als der im Nationalstaat geeinten Willensgemeinschaft ergab, nahmen die Konservativen vor-4uS indem sie unter dem außen-und mili-^Politischen Machtcharakter des Staates das eigentlich nationale Element verstehen wollten.

So ist es keineswegs nur ein Bedeutungswandel gewesen, der die 1871 noch undenkbare Gleichsetzung von national und konservativ herbeigeführt hat, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts und namentlich seit dem Ende der Monarchie üblich geworden ist. Dieser Wandel war nur möglich auf dem Hintergrund einer politischen und sozialen Entwicklung, die den Nationalstaat immer mehr als „große Macht" hervortreten und die Bestandteile dieser großen Macht als lebenswichtige Voraussetzungen der nationalen Existenz bewerten ließ. Das Bündnis der Reichsgründungszeit zwischen nationalem Bürgertum und preußischer Staatsmacht setzte sich jetzt fort in dem Bündnis wirtschaftlich-großbürgerlicher und militärisch-feudaler Kräfte im Wilhelminischen Zeitalter. Dieses Bündnis hat eine neuartige Bestimmung der „Nation" begründet, die als das Zusammenwirken der „staatserhaltenden", staatsbejahenden Parteien gegen die „Reichsfeinde" schon unter Bismarck bekanntgeworden war.

Wenn Bismarck und seine Nachfolger von Reichsfeinden sprechen, so haben sie jeweils etwas Verschiedenes darunter verstanden: die Reste der Großdeutschen, überhaupt der Besiegten von 1866, der politische Katholizismus und alles was sich an ihn anhängte: bayerische Partikularisten, Welfen, Elsässer und Polen. Immer aber gehörten die Sozialdemokraten dazu. Traten die großdeutsch-katholischen Gegner dem Nationalstaat mit ihrem Erbe übernationaler Reichsideen entgegen, so bekämpften ihn die Sozialisten mit ihrem Programm der Klasseninternationalität.

Es ist aber fraglich, ob der Gegensatz ganz auf einen so einfachen Nenner gebracht werden kann. Sicher vertraten die Sozialdemokraten mit dem Proletariat eine Gesellschaftsschicht, die, durch die Industrielle Revolution verursacht, keinen Standort in der bestehenden Ordnung und im bürgerlich-feudalen Nationalstaat hatte. Sosehr sie auf manchen Umwegen und durch Umbildungen der bürgerlichen Ökonomie und Philosophie teilnahmen am geistig-kulturellen Erbe des Bürgertums und seinen Lebensformen, sowenig konnten sie sich jemals ganz außerhalb des Nationalstaats stellen, wollten sie einmal die Macht gewinnen, um diesen für sich zu erobern. So haben schon die Väter des Sozialismus, Marx und vor allem Engels, die Schaffung des Nationalstaats von 1871 in einem dialektischen Sinne bejaht. Engels schrieb 1865: „Die arbeitende Klasse gebraucht zur vollen Entfaltung ihrer politischen Tätigkeit ein weit größeres Feld, als es die Einzelstaaten des heutigen zersplitterten Deutschlands darbieten." Es ist eine ähnliche Argumentation, mit der der bürgerliche Liberalismus den deutschen Partikularismus als Hemmnis des Fortschritts bekämpft hatte, über zwei Jahrzehnte später hat Engels in dem 1887/88 geschriebenen Fragment „Die Rolle der Gewalt in der Geschichte"

diese Interpretation noch schärfer nach der Doktrin des historischen Materialismus gefaßt;

hier wurde die Reichsgründung als die Ergreifung der vorwiegenden oder ausschließlichen Macht durch die Bourgeoisie bezeichnet: „Aber wenn es auch für die ruhige und festgegründete Herrschaft der Bourgeoisie in Deutschland zu spät ist, so war es immer noch im Jahre 1870 die beste Politik im Interesse der besitzenden Klasse überhaupt, auf diese Bourgeoisieherrschaft loszusteuern." Wenn dann der unvermeidliche Kampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat kam, „so vollzog er sich mindestens unter normalen Umständen, wo jeder sehen konnte, um was es sich handelte“. Der Reichsgründungsakt schuf danach also die unverzichtbaren Voraussetzungen für die Entscheidungen des Klassenkampfs.

Es ist offenkundig, daß die Sozialdemokratie bis 1914 an dieser Politik offiziell festgehalten hat, daß sie aber in einem ständigen Prozeß der Anpassung an einen sozialen Reformismus und Revisionismus begriffen war, der dem Verhalten der englischen Labour Party immer näher kam. Man kann weniger theoretisch durch das immer umstritten gebliebene theoretische Programm des Revisionismus als praktisch durch die Mitarbeit von Sozialdemokraten in Gewerkschaften, Sozialpolitik, Kommunen und selbst in Parlamenten einzelner Bundesstaaten von einer unmerklichen Integration der sozialistischen Arbeiterschaft in den Nationalstaat sprechen, die vom Standpunkt eines integralen Sozialismus und seiner rein emanzipatorisch-revolutionären Aufgabe als Verrat abgelehnt wird, tatsächlich aber viele Möglichkeiten einer Veränderung der Grundlagen nationalstaatlicher Politik durch die sozialdemokratische Arbeiterschaft enthielt, wovon als erster bürgerlicher Politiker Friedrich Naumann um die Jahrhundertwende Kenntnis genommen hat.

Die Nation im Kaiserreich war also nicht im idealistischen Sinne eine Macht mit einheitlichem Willen und homogener Struktur, sondern mit Gegensätzen aufgeladen, voller gesellschaftlicher, politischer und ideologischer Antagonismen, deren einheitlicher Berührungspunkt das Ringen um den Nationalstaat gewesen ist. Während die Nation vor 1866/1871 in sich die Gegensätze der Teilstaaten austrug und noch nicht zu einem nationalen gesellschaftlichen System zusammengewachsen war, wurden jetzt die partikulari. stischen Teile zu einem Ganzen verschmolzen, in dem nun aber ganz andere Widersprüche auftraten. Die deutsche Nation nach 1871 war Industrienation mit starken Klassengegensätzen, Wirtschaftsnation mit einer ungeheuren Expansion, aber auch Staatsnation und Raum-nation.

Seit 1871 ist der deutsche Staat ein räumlich fest umgrenztes Gebilde, das im allgemeinen weit hinter dem nationalstaatlichen Raum-bild der 48er Großdeutschen zurückblieb, aber für die Zukunft prägende Kraft haben sollte, Für dieses Gebilde verwendet auch der Verfassungstext von 1871 an vielen Stellen den Namen „Deutschland", der lange ein räumlich nicht genau fixierter, einen Sprach-und Kulturraum bezeichnender Begriff gewesen ist, Seine Bedeutungsschrumpfung ist oft als ein Zeichen politischer Verengung beklagt worden; er war aber die unvermeidliche Folge der staatlichen Konzentration Deutschlands im Nationalstaat. Mit dieser staatlichen Konzentration ging Hand in Hand die Bildung einer nationalen Gesellschaft, die die militärisch-feudalen Züge des alten Preußen mit den großbürgerlichen der modernen Industriewelt zu verschmelzen suchte, wenn diese Verschmelzung auch nie voll gelungen ist. Diese Gesellschaft setzte sich in mancher Hinsicht von der Struktur der deutschsprechenden Bevölkerung in den Nach-barstaaten, auch der österreichischen Deutschen, ab. Der Geograph Alfred Kirchhoff bezeichnete es in einer Broschüre aus dem Jahre 1905 „Zur Verständigung über die Begriffe Nation und Nationalität" als unhistorisch, „wenn Heißsporne in unseren Tagen im Brustton tiefster Entrüstung versichern, die Gleichsetzung von Nation und Staatsbürgerschaft sei eine erst jüngst erfundene Ketzerei, die nur zu heillosen Irrschlüssen führt". Er meinte vielmehr, man gewöhne sich mit der Zeit daran, Abstammung und Sprache in der Nationen-frage auf ihr richtiges Maß einzuschränken und in beiden nicht mehr so einseitig wie früher das allein entscheidende Merkmal zu erblicken. Dafür sieht er in dem „Gefühl der Zusammengehörigkeit und dem zu opferwillig® Taten treibenden Willen, diese gegen jeden Feind zu schirmen", die Elemente, die . erst Völker zu Nationen" erheben, „ja unter Umständen sogar bloße Teilstücke längst bestehender Volksmassen zu nationaler Vereinigung, zur Abschneidung von den Brüdern aufzurufen vermögen. Ganz im Sinne der auch 1848 verwendeten Terminologie bezeichnet Kirchhoff „deutsche Nation" als „rein staats rechtlichen Begriff". Der ältere Sprachgebrau von deutscher Nation als der Zusammenschluß aller derjenigen, die Deutsch als ihre Muttersprache reden, walte zwar gegenwärtig noch vor, es bedürfe aber „einer gewissenhaften Scheidung gegenüber dem besagten Begriff der Reichsnation“.

Für diese Reichsnation ist zweierlei charakteristisch: Sie stellt nur einen Teil der deutschen Sprachgemeinschaft dar, ist also keine „natürliche", sondern eine historische Nation; sie enthält auf der anderen Seite nicht unerhebliche Bestandteile nichtdeutscher Sprachgruppen. Dies ist nun genau die theoretische Beschreibung der deutschen Lage um die Jahrhundertwende, und man erkennt daraus, wie stark die prägende Kraft des Nationalstaats für das nationale Bewußtsein gewesen ist: der . staatsnationale" Zug im deutschen politischen Denken hat sich als Wirkung der Reichsgründung immer stärker durchgesetzt, vor allem auch gegenüber der deutschsprechenden Bevölkerung in den Nachbarländern des Reichs, die jetzt das „Reichsdeutschtum" als etwas Besonderes, von ihr Unterschiedenes zu empfinden beginnen.

Dies lag schon auf der Linie der Bismarckschen Politik, die sehr bestrebt war, den Verdacht zu entkräften, der deutsche Nationalstaat wolle das Nationalitätsprinzip zum Motor seiner weiteren Ausdehnung benutzen. Darum betonte Bismarck die „Saturiertheit" der Reichs-politik und darum hielt er Distanz gegenüber allenVersuchen, ihn zu Interventionen irgendwelcher Art für die bedrängten deutschen Volksteile im Baltikum, in Ungarn zu verleiten. Darum entsagte er auch allen irredentisti-sehen Tendenzen gegenüber Österreich und bekämpfte das Zusammenspiel nationalirredentistischer Kräfte in Österreich und im Reich. Das Gebot der Erhaltung des Vielvölkerstaats der Habsburger Monarchie war für ihn kein Widerspruch zur nationalstaatlichen Politik des Reiches. Beide Mächte galten ihm als historische Staaten. Je mehr sich dann die Idee des Nationalstaats im Reiche verhärtete, desto schwieriger konnte es werden; die Bewahrung des von nationalen Konflikten zerrissenen Völkerstaates Osterreich-Ungarn als eine fast paradoxe Forderung der deutschen Staatsräson aufrechtzuerhalten.

Auch die Nachfolger Bismarcks haben im wesentlichen an dieser Politik festgehalten, die der protestantisch-preußischen Linie des neudeutschen Reichsnationalismus entsprach. Als m Jahre 1905 der deutsche Botschafter in ashington nach Berlin meldete, der ameri-Kanische Präsident würde eine Ausdehnung er deutschen Machtsphäre nach dem Südosten bei einem Ableben Kaiser Franz Josefs nicht ungern sehen, antwortete der Reichs-kanzler ablehnend: „Die Verwirklichung dieses Gedankens würde keinen Machtzuwachs, sondern eine Schwächung und eine ungeheure Gefahr für den Bestand des Deutschen Reiches bedeuten, namentlich vom protestantischen Standpunkt aus." Schon Jahrzehnte früher, im Dezember 1871, hatte Heinrich von Treitschke davon gesprochen, daß es keineswegs für den deutschen Nationalstolz demütigend sei, daß in der Mitte des Weltteils zwei große Kaiserreiche bestehen, „das eine paritätisch und rein deutsch, das andere katholisch und vielsprachig". Diese „Zweistaatentheorie" war die fast logische Folge der Ereignisse von 1866— 1871. Sie ist weder groß-deutsch noch kleindeutsch im älteren Sinn, sondern will das Miteinander und Gegeneinander der beiden deutschen Mächte in ein Nebeneinander auflösen. Jeder großdeutsche Irredentismus soll durch die Staatsräson der beiden Reiche eingedämmt, ja überhaupt beseitigt werden.

Nun haben sich aber neben dem staats-oder reichsnationalen Gedanken, der der Ausdruck für die wachsende Verdichtung der im Reich zusammengeschlossenen Volksteile ist, in den achtziger und neunziger Jahren neuartige expansive und aggressive Nationalbewegungen bemerkbar gemacht, die das sich konsolidierende reichsdeutsche Staatsbewußtsein zu unterlaufen begannen. Auch sie haben mit dem alten Großdeutschtum nur wenig mehr gemein. Den Gedanken vom unvollendeten Nationalstaat verstehen sie nur noch selten im Sinne des Nationalitätsprinzips, weit mehr im Sinne eines im Zeichen des Imperialismus gewachsenen nationalen Prestigegedankens; nicht Na-tionalirredentismus, sondern Nationalimperialismus wurde hier die Parole.

Es kommt zu einer eigenartigen Vermischung völkisch-nationaler und imperialistischer Ziele, die ihren organisatorischen Mittelpunkt im Alldeutschen Verband fand. Schon in dessen Gründungsaufruf von 1891 sind die beiden Ziele nebeneinander genannt: sowohl die „Pflege und Unterstützung deutsch-nationaler Bestrebungen in allen Ländern, wo Angehörige unseres Volkes um die Behauptung ihrer Eigenart zu kämpfen haben", wie auch die „Zusammenfassung aller deutschen Elemente auf der Erde für diese Ziele". In diesem all-deutschen Programm ist der Anschluß der deutschen Österreicher nicht offen gefordert, er ist auch zweifellos nicht der wichtigste Punkt, der Nachdruck liegt auf dem, was in der Sprache der Zeit als „Weltpolitik" bezeichnet wurde; sie ist die Außenseite einer ungeheuren wirtschaftlichen und industriellen Expansion, hat aber auch starke nationalistische Wurzeln. Die besondere Note dieser Weltpolitik, des deutschen Nationalimperialismus, findet sich in der Vorstellung, daß es die historisch vorbestimmte Aufgabe des deutschen Nationalstaats sei, seine Erfüllung in der Schaffung einer „Weltmacht" zu suchen. Dies hat der Soziologe Max Weber in seiner Freiburger Antrittsrede von 1895 in klassischen Worten gesagt, die für viele andere Äußerungen stehen: „Wir müssen begreifen, daß die Einigung Deutschlands ein Jugendstreich war, den die Nation auf ihre alten Tage beging und seiner Kostspieligkeit halber besser unterlassen hätte, wenn sie der Abschluß und nicht der Ausgangspunkt einer deutschen Weltmachtpolitik sein sollte."

Es war eine große geschichtliche Leistung der deutschen Nationalstaatsschöpfung gewesen, daß sie den Deutschen ein selbst noch bis heute nachwirkendes Raumbild für ihr nationales Dasein gegeben hat; in den letztlich utopischen Grenzen und gestaltlosen Weltmachtideen des All-Deutschtums geht dies verloren. Sowohl von pangermanischen Ideologien nach Housten Stewart Chamberlain wie auch vom biologischen Rassedenken durchsetzt, enden sie in ihren extremsten, schon Hitler vorwegnehmenden Formulierungen bei der Weltmission eines „pangermanischen Weltreichs deutscher Nation". So wenig solche Spekulationen damals schon als die Anschauung breiter Kreise mißverstanden werden dürfen, so ist doch auf jeden Fall die beschränkende, mäßige Funktion der Bismarckischen Reichsgründung preisgegeben und um ihren historischen Sinn gebracht worden.

Ganz gewiß ist die alldeutsche Politik nicht zum offiziellen Regierungsprogramm in der Ära des Reichskanzlers Bülow erhoben worden, aber ihr Einfluß war doch spürbar. Die amtliche Reichspolitik steht auf dem schwan kenden Untergrund unklarer nationaler Stimmungen, sie wird dadurch unsicher, ihre Entscheidungen werden unstet. Nur aus einer inneren Gebrochenheit des deutschen Nationalstaatsdenkens in der Phase der deutsche!! Weltpolitik kann man es sich erklären, dal im Jahre 1914 nach dem Ausbruch des Krieges die weltpolitischen Ziele der bisherigen Politik ohne Bedenken aufgegeben wurden und an ihre Stelle jetzt ausschließlich Ziele einer kontinentalen Expansion traten. Die erschrek kende Unsicherheit in der Erkenntnis der Lebens-und Daseinsbedingungen des deutschen Nationalstaats setzt sich dann fort in der Diskussion der deutschen Kriegsziele während des Ersten Weltkriegs, in der dann zum erstenmal der Normanspruch des Nationalstaats problematisch wird und mit veralteten und unzulänglichen Mitteln neue übernationale Modelle erörtert werden. Bei einzelnen, wie in Friedrich Naumanns Mitteleuropa-Idee, klingen schon neue, mehr partnerschaftliche, vom Nationalimperialismus alter Art wegführende Vorstellungen an; in der offiziellen Politik dynastischer Angliederungen in den baltischen Ländern, in Litauen und Polen ist nichts in die Zukunft Weisendes zu finden.

III.

Das Verhältnis von Nation und Staat hat sich in der Weimarer Republik in vieler Hinsicht gewandelt. Die konservativen Träger des Nationalstaats im Kaiserreich hatten den Rückhalt an der Monarchie, an einer die gesellschaftliche Ordnung bestimmenden Armee verloren. Bei den Nationalliberalen war es zu einem weitgehenden wirtschaftlichen Ruin der Mittelschichten des Bildungsbürgertums in der Inflation und der Weltwirtschaftskrise gekommen. Auch wenn die alten Parteien, die Konservativen und Nationalliberalen, unter neuem Namen als Deutschnationale Volkspartei und Deutsche Volkspartei wieder erstanden, war ihre Stellung zum Staat und im Staat eine andere geworden: Die „Reichsfeinde" von 1871 übernahmen zunächst die Reichsführung in der Weimarer Koalition, für längere Dauer die Führung in Preußen.

Das Reich verlor mit den durch den Versailler Vertrag gezogenen Grenzen die fremden Nationalitäten fast vollständig, aber auch einige Millionen deutscher Reichsbürger, denen das nationale Selbstbestimmungsrecht ebenso vor enthalten wurde wie den Deutschen in Österreich. Das Deutsche Reich — das diesen Namen behielt — wurde zur Republik, das „deutsche Volk einig in seinen Stämmen" gab sich eine parlamentarisch-liberale Verfassung, der Weg zu einer nationalen Demokratie schien offen zu sein, aber er ist nicht entschieden und mit Ausdauer beschritten worden.

Die alten Gewalten stürzen so rasch und W derstandslos wie siebzig Jahre vorher in der Revolution von 1848, aber eine neue Ornung konnte nur durch einen Kompromiß.sehen den die Revolution tragenden Kräften der Sozialdemokratie mit den bürgerlichen Parteien der Linken und der Mitte und mit Unterstützung der das Heer in die Heimat zurückführenden Heeresleitung und der Bürokratie in allen ihren Rängen aufgerichtet werden. Die Weimarer Verfassung ist ein Ausdruck dieser Situation: Sie konstituiert eine liberale Demokratie im Geiste der Verfassungsideen von 1848, mit plebiszitären Elementen, ohne wirksame sozialistische Elemente. Durch Krieg, Inflation und Weltwirtschaftskrise war in den mittleren Schichten eine weitgehende Nivellierung infolge großer Kapital-und Eigentumsverluste hergestellt worden, aber es erwies sich, daß das einst das Kaiserreich mittragende mittlere Bürgertum dadurch nicht veranlaßt wurde, die Republik zu akzeptieren. Es stellte vielmehr in Protesthaltung die Kader einer inneren Opposition, die sich bald zur völligen Negation der Verfassungsordnung radikalisierte, angetrieben von den durch den Krieg aus der bürgerlichen Ordnung gerissenen Soldaten. Eine „Tory-Demokratie" aus den konservativen Kräften nach dem englischen Vorbild entwickelte sich nicht, es kam vielmehr zu einer erneuten politischen Polarisierung in der Nation, gegenüber dem Kaiserreich im umgekehrten Sinne, bei einer immer schwächer werdenden Mitte. „National“ sein hieß dann das „System" von Weimar ablehnen, dem als schwerster Vorwurf der „Dolchstoß" von 1918 sowie die Annahme und Erfüllung des Versailler Vertrages gemacht wurde.

Die Belastung der Republik durch einen Vertrag, der nach fast einhelliger Auffassung aller Parteien in dieser Zeit die Lebensgrundlage des Reiches zerstörte, erwies sich als die schwerste Hypothek des neuen Systems. So gut wie alle Parteien wurden dadurch auf die Bahn des Revisionismus gedrängt und betrieben mit verschiedener Nuancierung und mit verschiedenen Schwerpunkten nationale Politik mit dem Ziele der Wiederherstellung nationalstaatlicher Souveränität, Beseitigung der unerfüllbaren Reparationsverpflichtungen, Herstellung militärischer Gleichberechtigung und Revidierung der nationalstaatlichen Grenzen vor allem im Osten. Auch das Görlitzer Programm der SPD Von 1921 enthielt ausdrücklich die Forderung der Revision des Friedensvertrags von Versailles „im Sinne wirtschaftlicher Erleichterung und Anerkennung der nationalen Lebens-rechte . Der Reichskanzler Josef Wirth ver-

and das Programm der Erfüllungspolitik gegenüber dem Westen mit aktiver Revisions-

P itik gegenüber Polen, und Stresemann vermied in den Locarno-Verträgen von 1925, in denen für die Aufrechterhaltung der territorialen und politischen Ordnung am Rhein die „zweite deutsche Unterschrift unter Versailles" geleistet wurde, die Leistung einer ähnlichen Garantie für die deutsch-polnischen Grenzen. Man kann geradezu unterstellen, daß jede Form der Erfüllungspolitik namentlich in der Reparationsfrage mit revisionistischen Zielsetzungen, d. h. mit der Absicht des Nachweises der Unerfüllbarkeit, betrieben wurde. Die Teilnahme an der Abrüstungspolitik längst vor der Einberufung der Abrüstungskonferenz von 1932 hielt die Fiktion der Abrüstung der anderen Mächte nur aufrecht, um den Nachweis ihrer Unmöglichkeit zu erbringen und damit eine politische Basis für die Herstellung deutscher Gleichberechtigung durch eine deutsche Aufrüstung zu schaffen. Der Unterschied zwischen der Revisionspolitik der Weimarer Parteien und der der „nationalen Opposition", wie sie sich dann zuerst unter Führung Hugenbergs in der Harzburger Front formierte, war anfänglich noch mehr ein Unterschied in den Methoden eines legalistischen und illegalen Revisionismus, sehr bald aber auch im Ziele. Die Politik der Linken und der Mitte war bereit, für den deutschen Nationalstaat auf weitere Machtziele zu verzichten und die Rolle Deutschlands anzuerkennen, wie sie ihm durch den Ausgang des Krieges zugefallen war. Auf der Rechten war Revisionspolitik sehr bald nur noch die Vorstufe für Weltpolitik im Geiste der Vorkriegszeit. Die Einheit von nationalem Prinzip und Staatsmacht wurde hier nicht preisgegeben, sie wirkte über die Niederlage fort und wurde auch von einer gleichbleibenden Schicht getragen. Hier unterschied sich Hitler nur graduell, nicht prinzipiell vom „bürgerlichen" Nationalismus eines Hugenberg.

Bedenkt man trotz aller Fehlschläge des Weimarer Staats die positiven Ergebnisse seiner Politik, so ergibt sich zweierlei:

1. Es ist ihm gelungen, die Reichseinheit zu erhalten und damit die Einheit des Nationalstaats von 1871 sozusagen zum zweitenmal zu begründen. Seine Gefährdungen, die Möglichkeit seines Auseinanderbrechens hielten von 1919 bis 1923 an. Gegen die national-staatliche Einheit traten Separatismen verschiedener Art auf: am wenigsten solche mit historischer Wurzel, höchstens in Verbindung mit ideologischen Tendenzen, dann separatistische Bewegungen, die von Besatzungsmächten hervorgerufen und unterstützt wurden wie in der Pfalz und im Rheinland durch Frankreich. Alle diese Bewegungen sind im Grunde gescheitert an der politisch-histori-sehen Konsistenz der zuletzt durch die gemeinsamen Erlebnisse des Krieges zusammen-gezwungenen Reichsnation. 2. Diese Konsistenz hat sich weiter verdichtet durch die Verfassung und Verfassungspolitik seit 1919. Wenn es zu den großen historischen Überraschungen des Umbruchs von 1918/19 gehört hatte, daß die monarchischen Bundesstaaten nach dem Ende der Monarchien als Länder weiterexistierten und selbst sozialistische Regierungen wie die von Kurt Eisner in Bayern diese Tendenz stützten, so ist doch nicht zu übersehen, daß die unitarisdien Elemente gegenüber dem Kaiserreich erheblich verstärkt wurden. Spätere Reformen wie die Reichsfinanzreform Erzbergers haben die Tendenz zum „dezentralisierten Einheitsstaat'weiter verstärkt, nicht zuletzt dann auch die Notverordnungspolitik seit 1930. In Verwaltung und Verfassungspolitik ist die Weimarer Epoche eine Ära verstärkter national-staatlicher Politik, während in Parteien-und Gesellschaftspolitik Tendenzen zur Polarisierung bis an die Grenze der Auflösung des Staats hervortreten.

IV.

Die innere Schwäche der Weimarer Republik, ihre Unfähigkeit, sich mit ihren Leistungen im öffentlichen Bewußtsein durchzusetzen, für sie zu werben und auch die Wähler der fluktuierenden Schichten des mittleren Bürgertums für sich zu gewinnen, ist eine der entscheidenden Ursachen für den Aufstieg und die Machtergreifung Hitlers. Es ist hier nicht der Ort, in eine ausführliche Analyse des NS-Staats einzutreten, es kann nur danach gefragt werden, was für unsere Fragestellung bedeutsam ist.

Der Nationalsozialismus hat sich in vielfacher Hinsicht als ein System einer Politik deklariert, durch das die bisherige verfehlte deutsche Politik überwunden Und die nationale Vollendung der deutschen Geschichte erst hergestellt werden sollte. Dies sollte mit der Überwindung der inneren Gegensätze des liberalen Parteienstaats, der Schaffung der inneren Einheit einer nationalen Volksgemeinschaft beginnen und mit der Aufrichtung eines nationalen Führerstaats enden, in dem der wahre Gehalt einer nationalen Politik in der Person des charismatischen Führers seinen einzigen Ausdruck finden sollte. Mit revolutionären und gewaltsamen Methoden wurde der Pluralismus der Parteien und Organisationen, die sich in der Republik gebildet hatten, beseitigt und das Monopol der einzigen Staatspartei hergestellt. Zu einer vollen Abgrenzung und Rangordnung im Verhältnis von Staat und Partei ist es indessen nie gekommen. An die Stelle überwundener Dualismen wie der zwischen Reich und Preußen trat jetzt der neue zwischen den staatlichen Verwaltungs-und den Parteiorganen, der vor allem im Laufe des Krieges zu einer wachsenden Durchsetzung der staatlichen Institutionen mit Vertretern einzelner Parteiorganisationen führte, die untereinander in stärkster Rivalität standen.

Die Aufhebung aller Widersprüche der deutschen Geschichte, die verheißen worden war kam nie zustande; weder die schon von den 48er Demokraten verfochtene und 1919 erneut belebte Forderung des nationalen Einheitsstaats noch die Überwindung der inneren sozialen und kulturellen Gegensätze, die Herstellung der einen Nation, sondern das Ende des NS-Staats stand im Zeichen der anarchischen Polykratie institutionell ungesicherter kommissarischer Machtausübung im System eines immer weniger effektiven Führerabsolutismus. Die monokratische Partei, selbst in unzählige Kliquen und Organisationen zerfallen, identifizierte das Schicksal der Nation mit sich, und Hitler war entschlossen, mit dem Untergang des Nationalsozialismus den Untergang der deutschen Nation herbeizuführen Diese Rechnung ist für den deutschen Nationalstaat aufgegangen; ob auch für die Nation als einen gesellschaftliche und staatliche Ordnungen übergreifenden und durch letzte Reste gleicher Wertvorstellungen verbundenen Verband, ist die für die Zukunft entscheidende Frage.

Zur Überwindung der Verfehlungen der Vergangenheit gehörte nach den Vorstellungen des Nationalsozialismus das im Parteiprogramm verkündete Ziel, alle Deutschen in einem großdeutschen Staat zu vereinigen und für alle Deutschen die nationale Selbstbestimmung zu gewinnen. Hitler hat die Selbstbestimmung mit militärischer Gewalt hergestel in Österreich, im Sudetenland, in Memel, in Danzig, aber die historische Forschung 2 längst nachzuweisen vermocht, daß die natio nale Revisionspolitik in ihrer großdeutscen Form, die sich von der traditionellen Peu ßisch-konservativen in wesentlichen Punkten unterschied, nur das Sprungbrett für 6105 kontinentale Großreichsbildung herste sollte. Diese hat Hitler offen seit dem 111 marsch in Prag im März 1939 verfolgt; sie gipfelte in einem kontinentalen Herrschaftssystem in allen Formen abgestufter Unterwerfung mit Generalgouvernement, Protektorat, Reichskommissariaten, Satellitenstaaten.

Hitler sprach in „Mein Kampf“ von einem „germanischen Reich deutscher Nation", eine Formulierung, die die Tatsache verschleierte, daß in diesem den germanischen Nationen nur die Stellung von Hilfsvölkem, den nicht-germanischen Völkern die von Heloten unter einer Herrennation zugedacht war. Die „Tischgespräche" Hitlers enthalten dafür manche erschreckende Formulierung. Es gibt keinen Zweifel, daß solche Pläne, die vor Hitler kein deutscher Staatsmann offen zu nennen gewagt hatte, den Nationalstaat in seiner Substanz aufgelöst haben. Man hat es hier mit der Anwendung des Rassegedankens auf eine imperialistische Politik zu tun. Vorstellungen vom Herrenvolk, von Herrenrasse, vom Herren-recht des weißen Mannes sind schon in der kolonialistischen Politik der imperialistischen Mächte etwa bei Cecil Rhodes aufgetaucht, wie Hannah Arendt nachgewiesen hat. Auf die nationalsozialistische, speziell Hitlersche Ideologie hat davon manches abgefärbt, der Rassismus ist durch den Nationalsozialismus auf die kontinental-europäischen Verhältnisse mit ihrem völlig anderen System gleichartiger und auf gleicher Kulturstufe stehender Völker übertragen worden.

Der viel weiter gespannte Begriff der Rasse ermöglichte es, über die Nation hinauszugehen und eine Begründung für eine politische Elite innerhalb und außerhalb der Nation zu geben. Der für den Hitlerschen Nationalsozialismus kennzeichnende Zug ist es, daß der Rassebegriff an einer Gegenrasse, dem Judentum, entwickelt wurde, dessen Vernichtung zum letzten Ziel der Politik wurde. Bei der Judenpolitik des Nationalsozialismus, angefangen beim anfänglichen Boykott, der rechtlichen und tatsächlichen Ausgliederung aus der Nation bis zur Endlösung der physischen Vernichtung, handelt es sich um den mit eise-ner Konsequenz verfolgten Kernpunkt der nationalsozialistischen Doktrin und politischen Praxis. In dem Kapitel „Volk und Rasse“ von „Mein Kampf“ hat Hitler das Judentum als den Gegenpol seiner arisch-germanischen Weltherrschaftspolitik gekennzeichnet, von dieser Grundstellung aus führt ein gerader Weg zur „Endlösung" der Judenfrage. Letztlich ist daran aber der deutsche Nationalstaat zugrunde gegangen, dem nicht erst die Sieger von 1945 das Urteil sprechen mußten; die Hitlersche Kriegspolitik hatte ihm schon vorher seinen Untergang bereitet.

V.

Hitlers großgermanisches Reich war mit dem deutschen Nationalstaat in seiner monarchischen und republikanischen Form nicht identisch, aber der Sturz des NS-Imperiums riß auch den Nationalstaat mit sich. Zielte der Wille der Restbevölkerung, die noch vom deutschen Volk im Jahre 1945 übrig war, auf die Auflösung des deutschen Nationalstaats, und wurde diese von den Siegermächten gewollt?

Politische Willensäußerungen vernehmlich auszusprechen, war dem deutschen Volk bei der Betäubung, von der es nach dem Ende der NS-Herrschaft ergriffen war, verwehrt, ahnr alles, was an politischen Erklärungen über die Zukunft unmittelbar nach dem Kriege bekanntgeworden ist, deutet darauf hin, daß der Fortbestand eines politischen Zu-sammenhangs, der die Deutschen umfassen sollte, zu den wenigen noch nicht in Zweifel gSzogenen Grundtatbeständen gehörte. Vereinzelte Forderungen nach Selbständigkeit einzelner Länder ändern an diesem Gesamteindruck so gut wie nichts, Entscheidungen wie der Ausgang der 2. Volksabstimmung im Saargebiet 1955 bestätigen ihn. Der Aufbau eines neuen politischen Lebens von lokaler und regionaler Basis zu Zusammenfassungen in einzelne Besatzungszonen und zonale Verbindungen wie in der britisch-amerikanischen Bizone ergab sich aus den politischen Verhältnissen und wurde nicht als endgültig angesehen.

Probleme entstanden erst im Augenblick der Gründung der Bundesrepublik, die sich als transitorisches oder provisorisches Staatswesen verstand, das auch für jene Deutschen zu handeln beanspruchte, denen an der Schaffung des Grundgesetzes „mitzuwirken versagt war", und das die Aufforderung an das „gesamte Deutsche Volk“ richtete, „in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden". Auf der anderen Seite sprach auch die erste Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 7. Oktober 1949 von Deutschland als einer „unteilbaren demokratischen Republik“, die sich auf den deutschen Ländern aufbaut. Zwei-fellos ist also bei der Entstehung der beiden deutschen Teilstaaten von einem auf beiden Seiten vorhandenen, sich zur offenen Konfrontation steigenden Willen, eine gesamtdeutsche Ordnung aufzubauen, auszugehen, wobei von Anfang an die große Mehrheit der Nation für den westlichen, auf einer freiheitlichen Grundordnung aufbauenden Staat optierte. Diese klare Option hat dazu geführt, daß die Politik der Bundesrepublik, deren Ergebnis die innere und äußere Stabilisierung des westdeutschen Teilstaates gewesen ist, von der Mehrheit der Bevölkerung als nationale deutsche Gesamt-politik verstanden wurde.

Die zweite Frage ist, wieweit die Siegermächte den Untergang eines einheitlichen deutschen Staates und die Teilung Deutschlands zu ihrem Kriegsziel machten und wieweit also die Teilung Deutschlands zu den von Anfang an feststehenden „Ergebnissen des Zweiten Weltkriegs" gehörte. Der Plan eines dismemberment, einer Zerstückelung Deutschlands als Mittel zur endgültigen Verhinderung einer deutschen Aggression ist im Kreise des amerikanischen Präsidenten Roosevelt seit dem Jahre 1943 erörtert worden und wurde auf der interalliierten Konferenz von Teheran zur Beratung einer neugebildeten European Advisory Commission übergeben. Die Vorstellungen von einem dismemberment differierten zwischen Roosevelt und Churchill erheblich, aber das Dismemberment-Programm verschwand bis zum Kriegsende nicht aus der Diskussion in den verschiedensten Beratungsgremien. Auf der Jalta-Konferenz im Februar 1945 wurde es noch, wenn auch mit geringerem Nachdruck als in Teheran, vom amerikanischen Präsidenten vertreten, während Churchill bereits hinhaltenden Widerstand leistete. Ein eigens bestelltes Dismemberment Committee legte im März 1945 einen Bericht vor, in dem unter den zur Sicherung gegen eine erneute deutsche Aggression vorgesehenen Maßnahmen die Aufteilung Deutschlands bereits an die letzte Stelle gerückt war. Der Eindruck, daß hier unter Verwendung der seit langem gebrauchten Formeln über die Teilungspläne Scheingefechte geführt wurden, die eigentlich der Teilung des Einflusses der Groß-mächte über Europa galten, drängt sich immer mehr auf. Nach weiteren Verhandlungen wurde auch der in Jalta beschlossene Text der Kapitulationsurkunde, der noch die Forderung des dismemberment erwähnt hatte, zurückgezogen. Stalin hatte sich inzwischen in einem Tagesbefehl an die Rote Armee vom 1. Mai 1945 in verschlüsselter Form vom Teilungsgedanken distanziert, die angelsächsischen Mächte folgten darin nach, die USA in eindeutiger Form nach dem Regierungsantritt des Präsidenten Truman. Jetzt setzten sich die Kräfte im State Department durch, die schon seit langem die Zerschlagung der deutschen Einheit als ein auch für die Sicherheit der USA gefährliches Unternehmen abgelehnt hatten. In einem dem Präsidenten Truman auf der Potsdamer Konferenz vorgelegten Memorandum über das Problem „Germany-Partition" wurde die Teilung Deutschlands aus zwei Gründen abgelehnt: Einmal könne von einem eindeutigen Willen des deutschen Volkes ausgegangen werden, seine im Jahre 1871 geschaffene Einheit nicht zu verlieren; es gebe keine Gruppe in Deutschland, die diese Einheit ablehne. Sodann wird auf die verheerenden Folgen eines „economic dismemberment" hingewiesen -für Deutschland und Europa insgesamt. Überlegungen der amerikanischen Sicherheitspolitik, Sorge vor einem neuerweckten deutschen Nationalismus und vor einem wirtschaftlichen europäischen Chaos waren es, die den Amerikanern eine Politik nahelegte, die Rest-Deutschland als Einheit behandeln ließ. Dies ist auch zum Teil in die Formulierungen des Potsdamer Protokolls der drei Siegermächte eingegangen, in dem das Wort von „Germany as a whole“ wenigstens in wirtschaftlicher Hinsicht sich findet.

Es läßt vermuten, daß es das gemeinsame konkurrierende Interesse der Siegennächte an der Gestaltung der deutschen Frage gewesen ist was die deutsche Frage am Leben hielt Es stand im Jahre 1945 noch nicht fest, in welchem Umfang dies auch für die weitere Zukunft gelten sollte. Die eigentlichen Entscheidungen hatten sich inzwischen ohnehin längst von dem theoretischen Geplänkel über die Zerstückelung Deutschlands in die Realität der Besatzungszonen der zuerst drei, dann mit Frankreich vier Mächte verschoben und der dadurch geschaffenen und die weitere Zukunft bestimmenden militärischen Aufteilung, die in den östlichen Gebieten Deutschlands schon die politische Abtrennung vorwegnehmen sollte. Historische Begründungen lassen sich für diese Teilungslinien nicht finden; sie sind von den Zwängen der Weltpolitik, und nicht von der Geschichte gezogen. Historische Qualität haben sie höchstens insofern, als sie den bisher schmerzhaftesten Ausdruck für die seit Jahrhunderten bestehende Verflechtung der deutschen Frage in die große Politik darstellen. Was aber war unter deutscher Nation im Jahre 1945 und in den darauf folgenden Jah ren zu verstehen? Es haben sich in dieser tet nicht nur gewaltige soziale Veränderung® und Besitzverschiebungen vor allem in der sowjetischen Besatzungszone, aber keineswegs nur in dieser vollzogen, sondern die Flucht und Austreibung der deutschen Volks-zugehörigen aus den deutschen Ostgebieten, aus Polen, der Tschechoslowakei, Ungarn, zum Teil auch aus Rumänien und Jugoslawien, schließlich die Abwanderung Hunderttausender von Deutschen aus der DDR in die Bundesrepublik haben eine Substanzveränderung verursacht, welche die durch die industrielle Revolution schon seit dem frühen 19. Jahrhundert in Gang gebrachte Ost-West-Wande-rung in ungeheuer gesteigerten Dimensionen diesmal unter Anwendung von Zwang und mit politischer Motivierung fortsetzte. Mindestens jeder fünfte Deutsche in der Bundesrepublik hat seine angestammte Heimat außerhalb des Staatsgebiets des westlichen Deutschland. Millionen von Deutschen wurden in die beiden Teile des ehemaligen Reichsgebiets überführt, die die engere reichsdeutsche Geschichte seit 1866 nicht mitgemacht hatten oder überhaupt noch nie unter deutscher Herrschaft gestanden hatten. Ihre Integration in die Gesellschaft des westdeutschen Staats vollzog sich im Zeichen eines enormen wirtschaftlichen Aufschwungs und einer diesen Aufschwung begünstigenden Verfassung.

Staatliche Teilung und Bevölkerungskonzentration im westlichen Teil Deutschlands stehen sich als gleichzeitige, aber konträre Ereignisse der deutschen Nationalgeschichte nach 1945 gegenüber. Dazu kommen die in einem Vierteljahrhundert entstandenen Verfestigungen staatlicher Strukturen in den beiden Teilen Deutschlands, denen wegen fundamentaler ideologischer und gesellschaftspolitischer Divergenzen ein um ein Vielfaches höherer Wirkungsgrad zukommt, als wenn es sich nur um eine einfache administrative Trennung handeln würde, um einen staatlichen Partikularismus alter Art. Der Begriff der deutschen Nation, die im Verlauf der deutschen Geschichte immer in irgendeiner Form an eine nationale Gesamtordnung von welcher Dichtigkeit auch immer geknüpft war, hat sich von dieser Verbindung gelöst und ist zu einem Begriff geworden, der zur Zeit nur noch die Hoffnung auf ein Nebeneinander offenhält: es ist die Nation, die aus dem Nationalstaat herkommt, aber jetzt ohne Nationalstaat ist.

Man könnte davon sprechen, daß sich innerhalb der deutschen Nation zwei politische „Nationalitäten" mit tiefgehenden Unterschieden der politischen und gesellschaftlichen Ordnung entwickelt haben, die allerdings noch in verschiedener Weise von der Gemeinsamkeit ihres Ursprungs ausgehen. Selbst gegenüber einem Gegner, der nicht zum Partner werden will, sich selbst zum „sozialistischen deutschen Nationalstaat“ erklärt und jede Gemeinschaft mit der überlieferten Form der Nation ablehnt, bleibt es die unabdingbare Aufgabe der freien Teile der Nation, die Möglichkeit einer Gemeinsamkeit der Zukunft in freier Selbstbestimmung niemals auszuschließen.

Der Weg zu einer nationalen Selbstbestimmung mag für viele unbegehbar, unüberschaubar geworden sein, er mag von vornherein einen gemeinsamen Nationalstaat in alter Form aus den Erwägungen ausklammern — dies alles entbindet nicht, in Gedanken und Tat den schmalen Pfad offenzuhalten, der sich vorerst noch im Dunkel der Zukunft verliert, dessen Kompaß aber immer noch die Idee einer deutschen Nation ist.

Die Geschichte der Deutschen stand nur ein knappes dreiviertel Jahrhundert zwischen 1871 und 1945 im Zeichen einer geschlossenen nationalstaatlichen Ordnung, die noch dazu in dieser knappen Zeitspanne mehrere Metamorphosen durchlaufen hat. Diesem Zeitraum stehen viele Jahrhunderte anderer politischer Gestaltungen gegenüber, in denen die deutsche Nation existiert hat, ohne daß sie jemals ganz ihre Zusammengehörigkeit verlor. Es ist des Nachdenkens wert, ob sich daraus Erwartungen, vielleicht Hoffnungen für eine Zukunft ergeben können, in der andere als nationalstaatliche Verbindungen und Zusammenschlüsse dominierend sein werden, ohne daß die Nation preisgegeben wird.

Fussnoten

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Theodor Schieder, Dr. phil., Ordinarius f. Mittlere u. Neuere Geschichte an der Universität Köln; geb. am 11. April 1908 in Ottingen/Bayern; 1933 Promotion in München, Habilitation 1939 in Königsberg, 1943 o. Prof, an der Universität Königsberg, 1948 an der Universität Köln. Präsident der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften; Mitglied der Akademie der Wissenschaft und Literatur in Mainz, der Rheinisch-Westfälischen Akademie in Düsseldorf, Vorsitzender des Verbandes der Historiker Deutschlands. Veröffentlichungen u. a.: Die kleindeutsche Partei in Bayern in den Kämpfen um die nationale Einheit 1863 bis 1871 (1936); Staat und Gesellschaft im Wandel unserer Zeit (19702); Das Deutsche Kaiserreich von 1871 als Nationalstaat (1961); Geschichte als Wissenschaft (19682); Begegnungen mit der Geschichte (1962); Zum Problem des Staatenpluralismus in der modernen Welt (1969). — Herausgeber der „Historischen Zeitschrift" und des „Handbuchs der Europäischen Geschichte"; Reichs-gründung 1870/71. Tatsachen, Kontroversen, Interpretationen, zusammen mit E. Deuerlein (1970); Kritische Edition von L. v. Ranke, Die Epoche der neueren Geschichte, zusammen mit H. Berding (1971).