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Rätemythos und soziale Selbstbestimmung Ein Beitrag zur Verfassungsgeschichte der deutschen Revolution | APuZ 14/1971 | bpb.de

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APuZ 14/1971 Artikel 1 Rätemythos und soziale Selbstbestimmung Ein Beitrag zur Verfassungsgeschichte der deutschen Revolution Der Anarchismus in den Lehren seiner Klassiker

Rätemythos und soziale Selbstbestimmung Ein Beitrag zur Verfassungsgeschichte der deutschen Revolution

Ernst Fraenkel

/ 60 Minuten zu lesen

Vorbemerkung

Ernst Maste:

Der Anarchismus in den Lehren seiner Klassiker ..................................... S. 27

Die nachfolgende Untersuchung war im Februar dieses Jahres für die Veröffentlichung fertig-gestellt. Inzwischen hat der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Heinz-Otto Vetter, am 8. März 1971 in einer sensationellen Rede den Vorschlag unterbreitet, auf der Ebene des Bundes, der Länder sowie auf regionaler Basis paritätisch besetzte Wirtschaftsund Sozialräte zu errichten. Ihnen soll ein umfassendes Informations-und Beratungsrecht, einschließlich des Rechts der Gesetzesinitiative gewährt werden.

Fast gleichzeitig wurde in einem Memorandum des DGB über „Mitbestimmung im gesamtwirtschaftlichen Bereich" der Gedanke der Errichtung von Arbeitnehmerkammern abgelehnt und angeregt, die bestehenden Unternehmerkammern ihres öffentlich-rechtlichen Status zu entkleiden. Die Mitglieder der zu errichtenden Räte sollen nach diesem Plan von den Spitzenverbänden der zuständigen Organisationen entsandt werden. Fernerhin soll den Verbänden ein bindendes Nominie-rungsrecht für die vom Bundespräsidenten zu ernennenden Mitglieder des Bundeswirt-Schafts-und Sozialrats zustehen.

Mit vollem Recht ist in den ersten Zeitungskommentaren darauf verwiesen worden, daß dieses Projekt weitgehend an Ideen anknüpft, die in der großen Rätedebatte des Jahres 1918/19 eine wichtige Rolle gespielt haben. In diesem Zusammenhang muß insbesondere der Name Hugo Sinzheimer genannt werden, dessen gesammelte Aufsätze demnächst in einer von Thilo Ramm besorgten Ausgabe erscheinen werden.

Obwohl der nachfolgende Beitrag primär aus dem Bestreben entstanden ist, das „reine" Rätemodell der „Neuen Linken" auf seine historischen Wurzeln zurückzuführen, mag er auch dazu beitragen, die geschichtlichen Grundlagen aufzudecken, die bewußt oder unbewußt dem neuen Projekt der Gewerkschaften zugrunde liegen.

Da dem Verfasser bei Abfassung dieser Studie nichts Konkretes über diese Pläne bekannt war, fehlt in dieser geschichtlichen Arbeit jegliche Bezugnahme auf die tagespolitischen Aspekte von Problemen, die vor einem halben Jahrhundert die Gemüter so leidenschaftlich bewegt haben und die in der Zwischenzeit nicht die Beachtung fanden, die sie verdienen.

1. Die unbewältigte Vergangenheit der deutschen Revolution 1918— 192

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. Inhalt Die unbewältigte Vergangenheit der deutschen Revolution Die Sowjets als Modell der Räte Die Führerrevolution Triumph und Krise der reformistischen Arbeiterbewegung Die Alternativen der deutschen Revolution Die Entscheidungen zwischen diesen Alternativen Max Cohen-Reuss'Projekt einer zweiten Kammer Ernst Däumig und der Mythos des „reinen“ Rätesystems Hugo Sinzheimer und das Recht der „sozialen Selbstbestimmung“

Die Bilanz

„Der Ruf nach den Räten", der während mehr als vier Jahrzehnten verstummt war, durch-schallt die deutschen Lande — diesmal allerdings nicht in den Arbeiterbezirken und Fabriken, sondern bei Kundgebungen und Demonstrationen protestierender und rebellierender Universitätsassistenten und Studenten. Er ist zum Feldgeschrei und Losungswort der „Neuen Linken" geworden. Der Wiederauferstehung des Rätemythos ging ein neu erwachtes lebendiges Interesse der Geschichtsund Politikwissenschaft an den Vorgängen voraus, die man stark vereinfachend die „Novemberrevolution" zu nennen pflegt. Tatsächlich hat es sich bei dem Kampf um die Räte jedoch um eine Entwicklung gehandelt, die sich über mehrere Jahre erstreckte.

Uber der Beschäftigung mit der „Soldatenratsrevolution" des Spätherbstes 1918 darf die „Arbeiterratsrevolution" nicht vernachlässigt werden, die sich in den Jahren 1919— 1921 abgespielt hat.

Hatten bei ihren Bemühungen, die Ursprünge des Nationalsozialismus aufzudecken, die Zeit-geschichte und Politologie der fünfziger Jahre ihr Hauptaugenmerk auf die „Auflösung der Weimarer Republik" gerichtet, so wandte sie in den sedrziger Jahren ihre Aufmerksamkeit in zunehmendem Maße der Zangengeburt dieses einzigartigen Gebildes zu. So wird denn auch die damalige Revolution sehr viel weniger als Grabgesang auf die Monarchie als vielmehr als Vorspiel-zum Dritten Reich behandelt. Je intensiver dieser Aspekt der Revolutionsgeschichte erforscht wurde und je lebendiger das Interesse war, das die Publizistik an den Ergebnissen dieser Forschung nahm, desto offenkundiger wurde es, daß einige der Wunden, die in den erbitterten Auseinandersetzungen der damaligen Zeit geschlagen wurden, nur äußerlich vernarbt, jedoch keineswegs innerlich geheilt sind.

Nichts spricht dafür, daß die Auseinandersetzungen über die Ursachen und Wirkungen der Militärrevolte von November 1918 die Gemüter noch einmal in Wallung bringen werden. Uber die „Dolchstoß" -Kontroverse ist im Verlauf eines halben Jahrhunderts sehr viel Gras gewachsen. Der „ 9. November“ ist ein historisches Datum unter vielen anderen; er ist nicht länger ein politischer Begriff. Die deutsche Revolution bildet einen integralen Bestandteil der unbewältigten deutschen Vergangenheit — nicht, weil die Soldatenratsrevolution gelungen, sondern die Arbeiterratsrevolution gescheitert ist.

Die Redewendung von der „unbewältigte Vergangenheit" wurde im Jahre 1945 geprägt Sie bezieht sich primär auf eine Periode de deutschen Geschichte, die vermutlich niemal voll und ganz bewältigt werden wird, wei sie in den Kategorien rationalen politischez Denkens und Handelns nicht begriffen wer den kann. Es wäre jedoch irreführend anzu nehmen, daß nur das Unbegreifliche nicht zi bewältigen sei. Der Begriff der unbewältigter Vergangenheit erstreckt sich auf politische Vorgänge, die politisch relevant bleiben, and wenn sie aufgehört haben, politisch aktuel zu sein. Zur unbewältigten Vergangenheit ge hören Vorgänge, die die Phantasie einer Na tion beschäftigen, weil die ihnen zugrunde liegenden Konflikte nicht ausgetragen worder sind. Sie vermögen zur Bildung von Legender zu führen, gerade weil das Volk mit ihner innerlich nicht fertig wird. Die Schreckens herrschaft der Jakobiner und der amerikani sehe Sezessionskrieg stellen ebenso einpräg same Beispiele einer auch in vielen Jahrzehn ten, ja fast Jahrhunderten, nicht bewältigter Vergangenheit dar wie die Vorgänge, dis automatisch die Gedankenassoziation mit Gu stav Noske und der Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts auslösen.

Zur unbewältigten deutschen Vergangenhei gehört aber auch die Erinnerung an die Mün ebener Räterepublik, den Berliner Spartakus aufstand und das Terrorregime, das im Man 1921 Max Hölz in Mitteldeutschland errichte hatte. Unbewältigt wird die Geschichte dei deutschen Revolution nicht zuletzt deshalt bleiben, weil sie in einem inneren Zusammen hang mit der unbewältigten Machtergreifung von 1933 steht. Der These, Ebert und Noske hätten durch ihren vornehmlich mit Waffen gewalt geführten Kampf gegen die Rätebewe gung der gestürzten Militärkaste erneut zui Macht verhülfen und so der nationalistischer Reaktion den Weg geebnet, steht die Behaup tung gegenüber, die Räterevolutionen — unc namentlich die Errichtung der Räterepublik in München — hätten den Anstoß zur Entstehung der nationalsozialistischen Bewegung ge geben und deren Propaganda unbezahlbare Dienste geleistet.

Noch ist es der deutschen Geschichtsschrei bung und Politologie nicht gelungen, eine über zeugende Antwort auf die nach wie vor ak tuelle Streitfrage zu geben, ob der Versuch eine lebensfähige parlamentarisch-demokrati sehe Republik zu errichten, an dem Dogmatis mus der orthodoxen Räteanhänger oder ar dem Rigorismus der orthodoxen Rätegegner gescheitert ist. Ihre hervorragendsten Repräsentanten waren Friedrich Ebert und Karl Legien.

Auf der Konferenz der Vertreter der Verbandsvorstände, die im und Februar 1919 in Berlin getagt hat, sagte Karl Legien: „Das Rätesystem sei überhaupt keine leistungsfähige Organisation, ferner zersplittere es die, Einheit des Berufszweigs und mache entgegen allen Gewerkschaftsanschauungen den Lohn von der Rentabilität des Einzelbetriebs abhängig ... Alle bisherigen Gesetze der Solidarität, des Eintretens gerade für die Schwächeren und ungünstiger gestellten hörten hier auf; jeder nimmt für sich, was er kriegen kann. Ein Bedürfnis für das Rätesystem liege nicht vor, und auch eine organische Eingliederung in den bisherigen Aufbau der Organisationen und Vertretungen der Arbeiter sei kaum denkbar.“ 1)

Inder am 28. Januar 1919 abgehaltenen letzten gemeinsamen Sitzung des Zentralrats und des Kabinetts hat Friedrich Ebert ausgeführt: ,... ob über die Arbeiterräte etwas in die Verfassung hineingebracht werden kann, erscheint mir zweifelhaft; jedenfalls muß aber nach Zusammentritt der Nationalversammlung des Reichs und derjenigen der Einzelstaaten die politische Tätigkeit der Arbeiterräte aufhören. Die weitere Entwicklung wird sich am besten auf dem Wege des Ausbaus des Arbeitskammergesetzes usw. vollziehen.“ 2)

In den Führern der Rätebewegung — und vor allem in Emst Däumig — erblickten sie nicht sehr viel mehr als politische Eintagsfliegen; sie lehnten es strikt ab, mit ihnen in rationalen Aussprachen einen Ausgleich zu suchen. Der einzige dahin gehende systematisch geplante Versuch, der von Kurt Eisner unternommen wurde, war politisch bereits gescheitert, bevor er durch die Ermordung seines Initiators hinfällig und in sein Gegenteil verkehrt worden war.

Das Argument eines so besonnnen Historikers wie Arthur Rosenberg die republikanische Regierung hätte sich ernsthaft bemühen müssen, den Sinn der „neuen volkstümlichen Demokratie“ zu begreifen, um die Räte zu stärken und ihnen die richtige Art der Exekutive zu zeigen, vermag allerdings den Zweifel — nicht auszuräumen, ob auf die Dauer eine Kooperation mit einer Rätebewegung möglich gewesen wäre, die sich stets und von neuem der Führung eines Ernst Däumig anvertraute. Wenn in dieser Untersuchung so häufig von Ernst Däumig die Rede sein wird, geschieht dies nicht zuletzt, weil die Idee des „reinen" Rätewesens sich in seiner Person gleichsam verkörperte.

Emst Däumig ist heute so gut wie vergessen. Ohne ein vertieftes Verständnis der Kämpfe, die er geführt, und der Ziele, die er verfolgt hat, kann die Geschichte der deutschen Revolution jedoch nicht voll begriffen werden. Er ist eine ihrer Schlüsselfiguren. Auf ihn geht auch weitgehend die zum Dogma verhärtete These zurück, die Reformideen der Gegner des deutschen Rätewesens seien schon allein deshalb „reaktionär“ gewesen, weil sie ausschließlich als Reaktionen auf die Idee und Realität des „reinen" Rätewesens entstanden seien.

Diese These ist falsch. Das von dem „Rätespezialisten“ der reformistischen Arbeiterbewegung, Hugo Sinzheimer, noch vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs konzipierte und im Verlauf der Revolution von der SPD und den Gewerkschaften akzeptierte Postulat der „sozialen Selbstbestimmung“ ist im einzelnen in dessen im Jahre 1916 erschienenem Werk „Ein Arbeitstarifgesetz — Die Idee der sozialen Selbstbestimmung im Recht“ entwickelt und in Form eines ausgearbeiteten Gesetz-entwurfs abschließend formuliert worden. Unter der Idee der sozialen Selbstbestimmung im Recht versteht Sinzheimer, „daß frei organisierte Kräfte unmittelbar und planvoll objektives Recht erzeugen und selbständig verwalten"

Es wird im einzelnen zu zeigen sein, wie dieses zuerst im Tarifrecht in Erscheinung getretene Prinzip nach den Plänen seiner Befürworter auf die gesamte Wirtschafts-und Sozialordnung ausgedehnt werden sollte und woran dieses Projekt gescheitert ist.

Die Gegenüberstellung der von Sinzheimer und Däumig entwickelten Rätetheorien, mit denen sich diese Abhandlung besonders beschäftigen wird, ergibt, daß die Sinzheimer sehe Theorie die ältere ist. Sie ist unabhängig von der von Ernst Däumig u. a. propagierten und von der radikalen Arbeiterbewegung mit Leidenschaft verfochtenen Lehre des „reinen* Rätewesens zur Entstehung gelangt. Eine solche Gegenüberstellung dürfte schon allein aus dem Grund gerechtfertigt sein, daß Sinzheimer den. Räteartikel der Weimarer Verfassung (Artikel 165 der Verfassung vom 11. August 1919 [vgl. Anhang]) maßgeblich beeinflußt hat, in dem der Hohe Priester und Totengräber des Rätemythos Ernst Däumig und seine Gesinnungsgenossen eine Perversion des Rätegedankens erblickten.

2. Die Sowjets als Modell der Räte

Es kann nicht die Aufgabe der nachfolgenden Abhandlung sein, die Vor-und Frühgeschichte des Rätewesens auch nur andeutungsweise zu behandeln. Es muß genügen, in Stichworten auf die Assemblees und Associations im Paris der Jahre 1793/94, auf die Pariser Kommune von 1871 und die Sowjets der russischen Revolutionen von 1905 und 1917 zu verweisen. Dabei wird vorausgesetzt, daß der Leser mit der viel erörterten, weil äußerst kontroversen Darstellung der Kommune in Karl Marx'„Bürgerkrieg in Frankreich“ und der Bedeutung dieser Schrift für die Revolutionstheorie Lenins vertraut ist. Es muß genügen darzutun, daß bei der Bildung der ersten deutschen Arbeiterräte, die im April 1917 in Leipzig erfolgte die Existenz der in Verfolg der russischen Revolution des März 1917 gebildeten Sowjets zwar allgemein bekannt, eine detailierte Information über ihre Struktur und ihre Funktionen jedoch noch nicht erhältlich war.

Dies war selbst noch weitgehend der Fall, als die bolschewistische Revolution vom November 1917 den Ausbruch und Fortgang des großen Streiks (Januar 1918) entscheidend bestimmte. Als im Sommer 1918 in Durchführung des Friedensvertrags von Brest Litowsk Hunderttausenden deutscher Kriegsgefangenen die Rückkehr in die Heimat ermöglicht wurde, dürften ihre Erzählungen sehr viel mehr zur Bildung von Legenden als zum Verständnis der Realitäten des Rätephänomens beigetragen haben.

So lebendig bereits vor Ausbruch der Novemberrevolution von 1918 das Interesse der deutschen Öffentlichkeit an der Wirtschafts-, Sozial-und politischen Struktur der Sowjetunion gewesen sein mag, so war darüber hinaus die Tatsache bedeutsam, daß es in Ruß-land der erfolgreichen Revolution der Arbeiter-und Soldatenräte gelungen war, den Frieden zu erzwingen. Die fast religiöse Inbrunst, mit der, beginnend mit dem Winter 1917/18, das Rätesystem in Deutschland von seinen politisch geschulten Anhängern und seinen politisch ahnungslosen Sympathisanten glorifiziert worden ist, ging primär auf die Friedenssehnsucht der kriegsmüden Massen der Mittelmächte zurück. Sie blieb auch erhalten, nachdem es offenkundig geworden war, daß der Bolschewismus alles andere als eine extrem pazifistische Bewegung darstellt. Zu den auffälligsten Erscheinungsformen des Rätemythos gehört der „timelag", mit dem er seit jeher verbunden war. Rückblickend auf die Räterevolution hat der dem radikalen Flügel der USPD angehörende Abgeordnete Oskar Cohn die sarkastische Redewendung verwandt: „Die Astronomen behaupten, es gäbe Sterne, die so ungeheuer weit von der Erde entfernt sind, daß sie selber schon längst wieder erloschen sind, wenn ihr Licht zur Erde kommt. Solche Sterne sind die Räte in Ruß-land."

Stets und von neuem haben sich die deutschen Anhänger der Räteidee bemüht, das russische Vorbild zu kopieren oder doch soweit wie möglich ihre Politik an das bewun-derte russische Vorbild anzupassen. Die Sowjetunion war der Maßstab, an dem das deutsche politische Geschehen gemessen wurde. . Auf der anderen Seite formulierte die Mehrheitssozialdemokratische Partei", in den Worten von Peter Lösche, „gerade im Hinblick auf das russische Experiment ihre eigene Politik, die die bürgerliche Demokratie, die Parlamentarisierung und Einberufung einer Nationalversammlung in den Mittelpunkt stellte und jede Art von Diktatur, auch die Diktatur der Räte ablehnte . . . Sie sah, daß das, was unter russischen Verhältnissen vielleicht noch Sinn hatte, unter deutschen Bedingungen sinnlos werden mußte."

Friedrich Ebert hatte bereits am 23. September 1918, als es darum ging zu entscheiden, ob die Sozialdemokratie in eine bürgerliche Regierung eintreten solle, die Einschlagung eines antirevolutionären Koalitionskurses unter Berufung auf die Erfahrungen der russischen Revolution mit den Worten empfohlen: „Wollen wir jetzt keine Verständigung mit den bürgerlichen Parteien und der Regierung, dann müssen wir die Dinge laufenlassen, dann greifen wir zur revolutionären Taktik, stellen uns auf die eigenen Füße und überlassen das Schicksal der Partei der Revolution. Wer die Dinge in Rußland erlebt hat, der kann im Interesse des Proletariats nicht wünschen, daß eine solche Entwicklung bei uns eintritt."

Die damals entwickelten Gedanken wurden zum Leitmotiv der Politik der Mehrheitssozialdemokratie und haben bewirkt, daß das Image der Sowjets nicht nur als Idealbild, sondern auch als Schreckgespenst die Einstellung der deutschen Revolution zum Rätewesen maßgeblich bestimmt hat.

In ihrem Kern ist die Rätebewegung ein Protest gegen den Prozeß der Bürokratisierung des gesamten staatlichen und gesellschaftlidien Lebens, wie ihn Max Weber so eindrucksvoll analysiert hat. In den Kategorien Webersdien Denkens stellt als Theorie das Rätewesen eine Erscheinungsform eines reaktionären Romantizismus dar. In einem Brief an die Redaktion der Frankfurter Zeitung vom 1. April 1919 betonte er, daß die Rätebewegung zwar noch nicht abschließend beurteilt werden könne, daß jedoch „ihre Wirkung jetzt erz-reaktionär ist, wirtschaftlich gesehen, ist ja klar"

Andererseits hat Weber die praktische Tätigkeit der Räte zu schätzen gewußt. So heißt es in einem Brief, den er am 18. November 1918 aus Heidelberg an seine Mutter schrieb: „Woran man sich freut, ist die schlichte Sachlichkeit der einfachen Leute von den Gewerkschaften, auch vieler Soldaten z. B. im hiesigen Arbeiter-und Soldatenrat, dem ich zugeteilt bin. Sie haben ihre Sache ganz vorzüglich und ohne alles Gerede gemacht, das muß ich sagen. Die Nation ist eben doch ein Disziplinvolk."

Die Briefstelle beweist, daß der Heidelberger Friedrich Ebert nicht ein Verfälscher, sondern ein Vollzieher des Heidelberger Volkswillens gewesen ist.

Die Faszination, die seit den Tagen der russischen Revolution der Rätegedanke auf ansehnliche Gruppen der deutschen Intelligenz und zeitweise auch auf breite Massen der deutschen Arbeiterschaft ausgeübt hat, beruht nicht zuletzt auf der Kritik, die er im Anschluß an Rousseau an dem Prinzip der Repräsentation geübt hat, das von ihm unablässig als Negation der „wahren" Demokratie enthüllt und bekämpft wird.

Als markanteste Erscheinungsform der modernen plebiszitären Demokratie beruht das „reine" Rätesystem auf der These, das Volk sei nicht nur dazu legimitiert, als Träger der Souveränität zu herrschen, sondern auch dazu berufen, als Inhaber der Exekutivgewalt zu regieren. Unter dieser Annahme bildet das Recht des Volkes, seinen Funktionären bindende Anweisungen zu geben (imperatives Mandat) und sie jederzeit abzuberufen (recall) einen essentiellen Bestandteil einer jeden plebiszitären Demokratie, wie denn auch umgekehrt imperatives Mandat und recall als schlechthin unvereinbar mit jeder Repräsentativdemokratie sind.

Im Widerspruch zu dem Modell einer plebiszitären Demokratie und daher konträr zu dem „reinen" Rätesystem ist es aber auch, hierarchisch strukturierten, bürokratisch organisierten und auf Dauer angelegten Gebilden (Parteien genannt) die Verantwortung für die Nominierung der Kandidaten für öffentliche Ämter einzuräumen und dem Volk das Recht zuzugestehen, unmittelbar zwischen ihnen zu wählen. Seiner Idee nach soll das „reine" Rätesystem durch Ausschaltung des Parteiwe-sens und durch Einführung eines indirekten 'Wahlverfahrens gewährleisten, daß sich keine Fremdkörper zwischen dem Volk als Mandanten und seinen Funktionären als Mandataren einschalten, deren Betätigung zu einer Verfremdung zwischen Regierenden und Regierten zu führen vermag. Demgegenüber beruft sich die Repräsentationsdemokratie auf die These, durch die Abhaltung freier demokratischer Wahlen sei sichergestellt, daß die Ausübung von Hoheitsgewalt mit der Zustimmung der Repräsentierten erfolge.

Die Hypothese, durch ein einwandfrei demokratisches Wahlrecht und Wahlverfahren sei bereits „government with the consent of the people" garantiert und demzufolge das Spannungsverhältnis der historisch konträren Begriffe „Demokratie" und „Repräsentation" aufgehoben, ist das Grunddogma anglo-amerikanischen Verfassungsdenkens. Es bildet auch außerhalb des anglo-amerikanischen Kulturkreises in allen von John Locke beeinflußten Staats-und Gesellschaftssystemen der westlichen Welt einen selbstverständlichen Bestandteil des politischen Denkens. Daher bedarf es einer fundamentalen Erschütterung des Vertrauensverhältnisses zwischen Regierenden und Regierten, um dem Rätegedanken die Chance zu eröffnen, auch in nicht-autokratischen politischen Gebilden als Alternative zur Repräsentativverfassung begriffen zu werden. Ist doch ein Minimum eines solchen Vertrauensverhältnisses unerläßlich, damit ein Repräsentativsystem zu funktionieren vermag

In den Kreisen ihrer Kritiker ging man davon aus, die deutsche Arbeiterbewegung basiere — trotz aller Lippenbekenntnisse zur innerparteilichen plebiszitären Massendemokratie — in Wirklichkeit auf der Herrschaft auf Lebenszeit kooptierter, unabsetzbarer Funktionäre einer präzise funktionierenden proletarischen Oligarchie. Nach dieser Theorie muß dies auch gelten, obwohl die Funktionäre nur auf Zeit gewählt werden.

Nach der gleichen Theorie können in allen Gebilden, die nach radikal-plebiszitären Prinzipien organisiert sind, gewählte Vertreter des Volkes nur solange den Anspruch darauf erheben, als legitime Träger staatlicher Hoheits-und sozialer Organisationsgewalt anerkannt zu werden, als sie in der Lage sind, unter Beweis zu stellen, daß sie sich darauf beschränken, den erklärten bzw.den mutmaßlichen Massenwillen zu vollziehen. *

Unter der Herrschaft eines „reinen" Räte-systems wären alle Räte „Vollzugsräte", die an Aufträge und Weisungen spontan reagierender Massenversammlungen gebunden sind, Das Verfassungsdenken des „reinen" Rätewesens beruht nicht auf Empirie, sondern auf Dialektik. Die Rätetheorie wird aus ihrem immanenten Gegensatz zur Theorie des Parlamentarismus konstruiert. Der Nachdruck, der in der Theorie auf „imperatives Mandat" und „recall" gelegt wird, entspricht in keiner Weise ihrer praktischen Bedeutung, während die Absage an das Prinzip der Unmittelbarkeit der Wahl, die für ein jedes genuines Räte-denken fundamental bedeutsam ist, aus pragmatisch-propagandistischen Gründen im Hintergrund bleibt.

Der Unterschied zwischen einer repräsentativen und einer Räte-Verfassung beruht auf der Hypothese, daß Parlamentarier Repräsentanten einer der Tendenz nach bürokratisierten, Räte dagegen Vertreter einer spontan handelnden, nichtorganisierten Wählerschaft sind.

In dem Augenblick jedoch, in dem unter der Herrschaft eines Rätesystems eine organisierte Gruppe erfolgreich für sich das Monopol in Anspruch nimmt, den Willen des Volkes bzw.der Klasse authentisch zu interpretieren und zu artikulieren, verwandeln sich imperatives Mandat und recall aus Garanten einer plebiszitären Demokratie in Instrumente einer Parteidiktatur.

Unmittelbar von den Sowjets übernahm die deutsche Rätebewegung die Ablehnung des Gewaltenteilungsprinzips, die Absage an das Berufsbeamtentum und die Unabhängigkeit der Justiz, die Hinwendung zur plebiszitären Demokratie, das indirekte Wahlrecht, vor allem aber die Lehre von der Diktatur des Proletariats.

Auf den Einfluß der Sowjets ist es schließlich zurückzuführen, daß sich der Begriff der „formalen Demokratie" zusehends nicht nur als Theorem der Staatstheorie, sondern auch als ein politisches Schlagwort einbürgerte, das dazu berufen war, die Institutionen und Ideologien zu verketzern, die der sozialistischen Arbeiterbewegung bis 1914 sakrosankt gewesen waren. Die Propagierung des „reinen" Räte-systems war nicht zuletzt eine Herausforderung der deutschen Arbeiterbewegung in ihrer historisch geprägten, realen Gestalt.

All dies mag erklären, warum die Polemik des sozialdemokratisch-gewerkschaftlichen „establishment" gegen die Räte weitgehend unter Verwendung historisch-verfassungsrechtlicher Argumente, und die Polemik der Räte gegen dieses „establishment" fast ausnahmslos mittels ökonomisch-soziologischer Kategorien geführt wurde — mit der Wirkung, daß die Antagonisten dieses säkular bedeutsamen Disputs unentwegt aneinander vorbeiredeten. Die Front der Rätebewegung war gegen die Vorstellung gerichtet, soziale Demokratie könne auch anders als durch Artikulierung des einheitlichen Klassenwillens des Proletariats verwirklicht werden; in dem durch Repräsentation sublimierten Willen einer sozial differenzierten Nation erblickten sie dessen Verfälschung.

Dies trat wohl am deutlichsten in den Auseinandersetzungen in Erscheinung, die im Jahre 1919 zwischen dem Austromarxisten Max Adler als Verfasser einer Schrift »Demokratie und Rätesystem", und Hans Kelsen geführt worden ist. Kelsen hat sich in seinem Buch „Sozialismus und Staat" kritisch mit den Ansichten Adlers auseinandergesetzt.

Adler, der sich in seiner Schrift als orthodoxer Anhänger Rousseaus bekennt, geht von der These aus, daß nur dort von demokratischer Selbstbestimmung die Rede sein könne, wo ein einheitliches Volk bestehe. Die parlamentarische Repräsentationsverfassung der klassengespaltenen Gesellschaft stelle daher eine Perversion der Demokratie dar. Wahre Träger der Demokratie seien vielmehr die Arbeiter-räte, weil sie in der Lage seien, als Repräsentanten einer einheitlichen Klasse einen einheitlichen „Gemeinwillen" darzustellen. Adler erblickt in den Arbeiterräten (die nach seiner Ansicht besser „Sozialistenräte" genannt werden sollten) weder Staatsorgane noch Interessenvertreter der arbeitenden Bevölkerung, sondern „neue Kampfformen des sozialistischen Klassenkampfs, . .. revolutionäre Gemeinschaftsinteressen" Er ist bereit, soweit sie in dieser Eigenschaft in Erscheinung treten, ihnen bei der Bestellung der Regierung Veto-, Initiativ-und Mitwirkungsrechte einzuräumen, weil sie „den eigentlich einheitlichen Umwandlungswillen der Gesellschaft gegenüber der zu einer solchen nicht fähigen klassengespaltenen Nationalversammlung besitzen"

Von anderen Erwägungen abgesehen, scheitert die Adlersche Räteromantik bereits an der Prämisse der Existenz eines einheitlichen Volkswillens in der klassenlosen und eines einheit-------— liehen Klassenwillens in der klassengespaltenen Gesellschaft.

Wie Hans Kelsen im einzelnen dargetan hat, ist die Vorstellung, die Masse vermöge „die dem Wollen spezifische initiativschöpferische Funktion jemals aus sich selbst herleiten, Fiktion"

Der Arbeiterschaft mit der Begründung, sie repräsentiere bereits in der klassengespaltenen Gesellschaft die zukunftsträchtigen Elemente einer klassenlosen Gemeinschaft, einen Sonderstatus einzuräumen, bedeutet aber — wie Kelsen zutreffend darlegt — letzten Endes einen Rückfall in das Zeitalter der Aristokratie. „In ihrer Ideologie entkleidet sich jede herrschende Klasse ihres bloßen Klassen-charakters und tritt mit dem Anspruch auf, die ganze Gesellschaft, die . Gesellschaft'schlechtweg zu sein oder doch kraft ihrer besonderen Qualifikation die ganze Gesellschaft zu repräsentieren ... Es mutet darum so seltsam an, wenn der Sozialismus bei der Apologie des proletarischen Klassenstaates sich der gleichen Fiktionen bedient, die er erst kürzlich erbarmungslos zerpflückt hat."

Max Adler ist in seinem im Jahre 1922 erschienenen Buch „Die Staatsauffassung des Marxismus" auf die Broschüre von 1919 zurückgekommen und hat die Kelsensche Kritik einer Anti-Kritik unterzogen, die jedoch im Methodischen steckengeblieben ist. Dem gelehrten Buch fehlt die Unmittelbarkeit des enthusiastischen politischen Engagements, das 1919 auch Denker vom Format Max Adlers egriffen hatte und ohne dessen Berücksichtigung das Räte-phänomen unverständlich bleiben muß. Im vollen Bewußtsein der Einmaligkeit und Unnachahmlichkeit der russischen Revolution schreibt er: „In dem Bolschewismus und in seinen kühnen todesmutigen Führern Lenin und Trotzky wird das revolutionäre Proletariat nie aufhören, die große Avantgarde der sozialen Revolution zu verehren, die befreiende Gewalt zu segnen, die zuerst den Blutbann des Krieges zerriß, unter dem den Völkern schon fast alle Hoffnung erstickt schien und die große Tat zu begrüßen, durch welche dem Proletariat sein historisches Selbstbewußtsein und seine revolutionäre Entschlossenheit wieder erweckt wurde."

Von den unentwegten Anhängern des reinen Rätewesens, zu denen vor allem auch Ernst Däumig gehörte, hat Paul Szende in einem im Jahre 1921 veröffentlichten Aufsatz über „Die Krise der mitteleuropäischen Revolution" gesagt, daß ein eigentümlicher mystischer Zug ihre Mentalität beherrscht habe. Der Rätegedanke sei für sie „nicht nur das messianische Erlösungswort, sondern auch die Modenaivität der Revolution" gewesen

„Ihnen offenbarte sich die sozialistische Revolution unmittelbar und sie fühlten sich verpflichtet, den Weisungen dieser Offenbarung zu folgen."

Hatten doch — wie Szende im einzelnen ausführt — die stürmischen Ereignisse der Revolutionsjahre bewirkt, daß das gesamte Denken dieser echten Revolutionäre von ihrer in Schwung geratenen Phantasietätigkeit beherrscht wurde. Sie neigten dazu, die realen Tatsachen aus ihrem Bewußtsein auszuschalten, soweit diese nicht im Einklang mit den Vorstellungskomplexen standen, die den Erfolg ihrer Umsturzpläne zu verbürgen versprachen. „Sie standen unter einer starken Suggestion: sie waren durch das Bestehen und die Erfolge der russischen Räterepublik hypnotisiert . . . Sie lebten in dem Glauben, daß alle, welche die Revolution mitgemacht haben, für das Rätesystem mit all seinen wirtschaftlichen Konsequenzen eintreten wollten."

Paul Szende hat die Angehörigen dieses Menschentyps trotz ihres Bekenntnisses zum dialektischen Materialismus sowohl vom psychologischen als auch vom erkenntnistheoretischen Standpunkt ausals Idealisten bezeich net, weil sie „ihre eigenen Vorstellungen, Ge fühle und Begehren in die Welt hinausproji zierten und als Tatsachen wieder zu erkennei wähnten"

Die exemplarische Bedeutung, die währene der deutschen Revolution von Anhängern unt Gegnern des Bolschewismus dem Phänomer der russischen Revolution beigemessen wurde ist nur verständlich, wenn man in Rechnunc stellt, daß beide Seiten mit einem phantastisd verzeichneten Zerrbild des Bolschewismu operierten.

Waren doch auch bei der oberflächlichster Betrachtungsweise die unterschiedlichen Be dingungen nicht zu übersehen, unter denei ein russisches und ein deutsches Rätesysten zur Entstehung gelangen konnten. Die russi sehen Sowjets erlangten, wie Oskar Anweile: wiederholt hervorgehoben hat, ihr kennzeich nendes Gepräge durch den Umstand, daß sie in einem organisatorischen Vakuum entstan den und zu Beginn tätig geworden sind Wc immer sich deutsche Räte bildeten, stießen sie auf ein äußerlich zwar intakt gebliebenes innerlich jedoch morsches Organisationswesen, in dem trotz aller stolzen Traditionen dei Wurm saß, weil das Vertrauensverhältnis zwischen der Mitgliedschaft und ihren Repräsentanten durch deren Kriegs-und Revolutionspolitik erschüttert war.

3. Die Führerrevolution

Auf einen nicht minder bedeutsamen Unterschied zwischen der russischen und deutschen Rätebewegung hat Emil Lederer in dem am 25. November 1918 abgeschlossenen Vorwort zu einem Essay mit den Worten hingewiesen: „Aber die Idee des Sozialismus war in Deutschland nicht getragen von einer starken Schicht der Intellektuellen, die in ihr lebten und in der Revolution die Erfüllung ihrer glühendsten Wünsche fanden; sie wurde aufgenommen von den Partei-und Gewerkschaftsinstanzen, welche — eine soziale Bürokratie — während des Kriegs die Politik und die Ordnung so vielfach unterstützten, die jetzt in der Revolution zusammenbrach."

In Deutschland mußte jeder Versuch, der Rätemythos aus dem Traumland sozialer Utopien in die rauhe Wirklichkeit sozio-ökonomischer Realitäten zu verpflanzen, eine „Führerrevolution" hervorrufen, wie Kurt Brigl Matthiass in seinem Werk „Das Betriebsräte-problem" so überzeugend dargetan hat War doch das Postulat, „alle Macht den Räten'zu übertragen, nur zu realisieren, wenn vorher die Macht der traditionellen Arbeiterorganisationen gebrochen und ihre Theorien als Ideologien enthüllt und als Ketzereien widerlegt waren.

Die Führerrevolution trat auch auf personal-politischem Gebiet in Erscheinung. Namentlict in Leipzig gingen Ortsverwaltungen der Gewerkschaften, in denen die USPD die Mehrheit gewonnen hatte, dazu über, festangestellte Gewerkschaftsbeamte aus politischen Gründen zu entlassen und ihre Stellungen gesinnungstüchtigen Parteigenossen zu übertragen

Der Unmut, der sich während des Krieges bei breiten Massen der organisierten Arbeiterschaft gegen ihre Führer angesammelt hatte, fand sein Gegenstück in dem Ressentiment, das leitende Funktionäre der Gewerkschaften während der Revolution gegen ihre vom Rätemythos besessenen Verbandsmitglieder empfanden. Der Bergarbeiterführer Otto Hue — eine der markantesten Gestalten der deutschen Arbeiterbewegung — hat diesen Gefühlen in den folgenden in der „Sozialen Praxis" vom 17. April 1919 abgedruckten Worten Ausdruck verliehen: „Wer jahrzehntelang in Reih und Glied der Arbeiterbewegung mit-gestritten, mitgelitten und mitgehofft hat, der sieht nun mit tiefstem Schmerz, wie der schon von Lassalle gegeißelte Unverstand drauf und dran ist, alles zu zertrümmern, was opfer-freudige Generationen und Kameraden mühevoll aufgebaut haben. Mandi einer von ihnen möchte heute wünschen, eher gestorben zu sein, damit er einen solch entsetzlichen Selbstmord der Arbeiterklasse nicht miterlebt hätte." Den Charakter der Räterevolution als einer Führerrevolution hat der Redakteur der Frankfurter Zeitung, Arthur Feiler, in vier Zeitungsartikeln im einzelnen dargelegt, die im März 1919 unter dem Titel „Der Ruf nach den Räten“ als Broschüre veröffentlicht worden sind. Von den Gewerkschaften sagt Feiler, sie seien für den Arbeiter „Behörden mit einer großen hierarchisch aufgebauten, straff zentralisierten Bürokratie geworden, die ihn klug und vorsichtig und mit sehr realer, stets nur den nächsten Aufgaben zugewandter Taktik un-begeisternd und gewiß nicht revolutionär lenkt.“ Aber in der revolutionären Situation von 1918 genüge dies nicht, wobei er auf die Diskreditierung der Gewerkschaftsbürokratie durch ihre Kriegspolitik noch nicht einmal ein übergroßes Gewicht legt. In dieser Führerrevolution sieht er vielmehr einen Reflex der allgemeinen Krise unserer Zeit: „Die Revolte des Menschen gegen die Mechanisierung des Lebens."

Es war dem führenden Blatt des deutschen Finanzkapitals Vorbehalten, die Revolution von 1918 als Reaktion auf den Prozeß der Entfremdung des Proletariats zu analysieren. Und so heißt es in dem abschließenden Artikel über „Die Revolution und die Revolte des Menschen" vom 28. März 1919: „Die Revolution ist in Wahrheit auch eine Revolte des Menschen gegen die inneren Zwangsformen des Staates und der Wirtschaft, eine Revolte des Menschen gegen die Entpersönlichung, der Versachlichung seiner Selbst."

Von dem Drang beseelt, darzutun, daß diese Krise tiefer gehe als das Kriegs-und Revolutionserlebnis, entschloß sich Feiler am 26. März 1919 zu dem ungewöhnlichen Schritt, einen Artikel wieder abzudrucken, den er zur Jahreswende 1913/14 in seiner Zeitung (wohlverstanden — in einer „bürgerlichen" Zeitung) publiziert hatte und der von einem Autor verfaßt war, der die Frühschriften von Marx noch nicht kennen konnte, weil sie zur damaligen Zeit zum großen Teil noch nicht veröffentlicht waren.

Dieser in Vorahnung der Apokalypse des Ersten Weltkriegs geschriebene Artikel beginnt mit der Frage, ob wir nicht überhaupt verlernt hätten, unser Leben frei zu leben. Feiler erblickt das entscheidende Merkmal unserer Zeit darin, daß wir nicht leben, sondern gelebt werden: „Es lebt uns!" Und so glaubte er bereits damals feststellen zu können, daß wir in rasender Geschwindigkeit die Besinnung verloren haben und daß die Lokomotive „Kapitalismus" führerlos dahinsause. Die eigentliche Tragik der proletarischen Menschen erblickte er in der seelischen Vereinsamung und Eintönigkeit ihres Daseins. Im Gegensatz zu einer auf der Sonnenseite des Lebens sich breit machenden kleinen Schicht fühle „die übergroße Mehrzahl der Menschen, zwangsläufig in den Betrieb eingespannt, trotz aller materiellen Besserstellung ein ungeheures Defizit an Freiheit und an Würde ... (Sie) finden sich in eine Isolierung gesetzt, die ihnen, den numerierten Teilchen in einem unpersönlichen Organismus, beinahe jede menschliche Beziehung zu menschlichen Wesen nimmt — eine ungeheure Verarmung an inneren Werten und an inneren Freuden ist für sie das Ergebnis des wirtschaftlichen Aufschwungs." „Beinahe jede menschliche Beziehung zu menschlichen Wesen" sei dem proletarischen Menschen genommen."

Sprach hier nicht trotz alledem doch der „bürgerliche“ Arthur Feiler, der die Bedeutung* unterschätzte, die für den Vorkriegsproletarier Partei und Gewerkschaft gehabt haben? Und drohte dem Proletarier der Nachkriegszeit nicht die zusätzliche (nicht minder erschütternde) Tragödie, daß die Organisationen, die er mit unendlicher Liebe und Selbstaufopferung zwecks Aufhebung dieser Entfremdung aufgebaut hatte, ihm zunehmend entfremdet werden?

Ohne persönliches Ressentiment, aber mit verhaltener Leidenschaft bekennt sich Feiler zur „Führerrevolution" im Lager des Proletariats. „Das ist das Faszinierende an dem Rätegedanken: er bringt die Menschen in direkte Aktion, er stellt die Bürokratie kalt, er befreit von der Maschine, denn er hat noch keinen Apparat. Von unten herauf, unmittelbar aus dem Volk heraus und im steten Zusammenhang mit ihm will er den Staat aufbauen. Neue Führer — und was brauchten wir heute nötiger — sollen die Räte heraufführen."

Und was wird aus den alten Führern? Darf, kann eine Gewerkschaft ihre gewählten Führer aus politischen Gründen „maßregeln", ohne aufzuhören, eine „freie Gewerkschaft" zu sein? Und umgekehrt: Darf eine Rätebewegung die altgedienten, in ihren Augen hoffnungslos diskreditierten Gewerkschaftsfunktionäre auf ihren Posten belassen, ohne ihre Mission zu verraten, ohne aufzuhören, eine Rätebewegung zu sein?

Irgend jemand — in Schwabing oder im Berliner Romanischen Cafe — mag damals die Redewendung vom Partei-und Gewerkschafts„bonzen" erfunden haben. Zerschlagung des Bonzentums — das ist die Parole, der sich die radikalen Anhänger der Rätebewegung unter Führung Ernst Däumigs verschreiben, weil ihnen die totale Politisierung der sozialen Konflikte als der geeignete Weg zur Diktatur des Proletariats erschien. Ausgliederung der sozialen Konflikte aus dem Bereich der hohen Politik, das heißt aber die Ergänzung der politischen durch eine Wirt. Schaftsverfassung, das ist das von Hugo Sinz, heimer propagierte Ziel, zu dem sich nach langem Zögern die reformistischen Partei-und Gewerkschaftsführer bekennen sollten, um dergestalt die Rätebewegung „in den Griff zu bekommen" -.

Es ist nicht von ungefähr, daß Arthur Feiler sich darauf beschränkt, aus dem großen Kreis der Männer, die sich an der erregenden Räte-diskussion des Revoloutionswinters beteiligt hatten, zwei Politiker wörtlich zu zitieren: Ernst Däumig und Hugo Sinzheimer. Ernst Däumigs auf dem Parteitag der USPD im März 1919 abgelegtes Bekenntnis lautete: „Wer da sagt Nationalversammlung und Rätesystem, dei will sich nur einer klaren Entscheidung entziehen. Entweder — oder. Wenn man das Rätesystem als politischen Faktor will, muß es auch der herrschende Faktor werden auch in der Gesetzgebung. Und dann muß auch die Rolle der Gewerkschaften indes bisherigen Form ausgespielt sein."

Hugo Sinzheimers Erklärung auf der entscheidend wichtigen Ad-hoc-Konferenz der sozialdemokratischen Führergremien und Nationalversammlungsfraktion vom März 1919 hatte den nachfolgenden Wortlaut: „Eine Spaltung der gesetzgeberischen Tätigkeit in einen sozialen und einen politischen Teil könnte zur Erneuerung des öffentlichen Lebens beitragen der politische Kampf könnte reiner und großes werden, wenn die ökonomisch-sozialen Gegensätze unserer Zeit nur in ihren Grundgedanken in den Parlamenten widerhallten.“

4. Triumph und Krise der reformistischen Arbeiterbewegung

Die reformistischen Arbeiterorganisationen waren aus dem Krieg geschwächt hervorgegangen, weil sie durch ihre Burgfriedenspolitik das Vertrauen weiter Kreise der Arbeiterschaft verloren und die politischen Spaltungen sie bis in das Mark getroffen hatten; sie waren aus dem Krieg verstärkt hervorgegangen, weil sie dank dieser Politik erreicht hatten, daß der Staat die wichtigsten gravamina beseitigte, die der praktischen Gewerkschaftstätigkeit tagtäglich hinderlich im Wege gestanden hatten.

Wie Gerald D. Feldman in seinem wichtiger Werk „Army, Industry and Labor in Ger many 1914— 1918" ausführt, hatten die Ge werkschaften am 30. Juni 1917 eine Peti tion an Bundesrat und Reichstag gesandt, die die gewerkschaftlichen Forderungen auf der Übergang der Kriegs-in die Friedenswirt schäft zum Gegenstand hatte. Sie bestandei in dieser Petition darauf, daß nach Abschlul des Friedens die im Hilfsdienstgesetz vorgese henen Arbeiterausschüsse, Vermittlungs-und Schlichtungsinstanzen beibehalten würden. Sie verlangten erneut, daß Arbeitskammern errichtet würden, denen es obliegen solle, die Interessen der Gesamt-Arbeiterschaft zu vertreten. Die Regierung sollte — so hieß es in der Denkschrift — die soziale Zusammenarbeit zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden fördern und den Abschluß von Tarifverträgen ermutigen. Die Tarifverträge sollten öffentlich-rechtlich anerkannt werden. „Mit dieser Petition", so schreibt Feldman, „eröffneten die Gewerkschaften formell ihren Feldzug für die Beibehaltung der im Krieg erlangten sozialen Errungenschaften."

Dieses Programm, das auf dem Prinzip der Parität basierte, enthält den Kern dessen, was die Gewerkschaften während des Krieges teils verwirklicht, teils vorbereitet und während der Revolution und in Verfolg des Erlasses der Weimarer Verfassung durchzusetzen verstanden haben. Der Erste Weltkrieg erwies sich, wie Ludwig Preller ausgeführt hat, als „der große Schrittmacher der Sozialpolitik". Im Grunde habe es gar nicht einer Revolution bedurft, um die sozialpolitischen Gesetze der Jahre 1918— 1920 zu schaffen; ihre Grundlagen seien tatsächlich ohne Ausnahme während des Krieges gelegt worden; und schließlich hatte die Sozialpolitik der Kriegszeit ihre Krönung in der im November 1918 zwischen den Gewerkschaften und den Arbeitgeberverbänden abgeschlossenen „Arbeitsgemeinschaften" gefunden. Aus der Praxis des Hilfsdienstgesetzes geboren, haftete der „Arbeitsgemeinschaft" in den Augen der Räte der „Ludergeruch" des Burg-friedens an. Selbst wenn man von allen ideologischen Momenten absieht, mußte der lang andauernde Krieg schon allein deshalb zu einer fundamentalen Änderung der Sozialpolitik führen, weil die industrielle Reservearmee verschwunden und die Freizügigkeit der Arbeit abgeschafft war. Anläßlich des Erlasses des Hilfsdienstgesetzes und in Verfolg seiner Durchführung hatten Regierung, Unternehmer und Gewerkschaften sich stillschweigend dahingehend geeinigt, daß durch Einführung sozialer Reformmaßnahmen in den Betrieben eine Vertrauensatmosphäre geschaffen werden solle, durch die die Aufrechterhaltung des Arbeitsfriedens gewährleistet werde.

Heißsporne auf der Arbeitgeberseite haben in dieser Sozialpolitik nichts anderes als eine überbezahlte Anti-Revolutionsprämie, Heiß-sporneauf der Arbeitnehmerseite ein schäbiges anti-revolutionäres Trinkgeld erblickt. Offiziell bekannten sich jedoch alle Beteiligten — einschließlich der Gewerkschaftsbürokratie — zu dem Dogma, daß die Arbeitsgemeinschaft den „Geist von 1914" reflektiere — der gleichen Ideologie, gegen die sich die Novemberrevolution richtete.

Die reformistische Arbeiterbewegung bekannte sich in einem Atem zur Revolution vom 9. November und zur Arbeitsgemeinschaft vom 15. November 1918. Das Vorliegen dieses eklatanten Widerspruchs mußte der Rätebewegung als ein propagandistisches Gottesgeschenk erscheinen, mittels dessen die Arbeiterschaft dazu aufgerufen werden konnte, den Gedanken der Klassenharmonie zu verwerfen, dem sich ihre Führer verschrieben hatten, und den Geist des Klassenkampfes anzubeten, den ihre Führer (trotz aller gegenteiligen Lippenbekenntnisse) aufgegeben hatten. Das reine Rätewesen stellte nicht zuletzt einen leidenschaftlichen Protest gegen die geistige Umstellung dar, der sich die Arbeiterschaft nach Errichtung der Arbeitsgemeinschaft und nach Errichtung der demokratischen Republik unterziehen mußte.

Hatte man sich vor dem Krieg daran gewöhnt, die tarifvertragliche Regelung der Löhne und sonstigen Arbeitsbedingungen als „Waffenstillstand" zu bezeichnen, so kam ihnen nach Ansicht der Rätebewegung bestenfalls die Bedeutung eines sozialpolitischen „cease fire" zu, während die Architekten der „Arbeitsgemeinschaft" sich der Hoffnung hingaben, eine „treuga dei" zustande gebracht zu haben. Gemessen an den Maßstäben der Vorkriegspolitik stellte der 9. November, an dem die Republik ausgerufen, und der 15. November, an dem die „Arbeitsgemeinschaft" perfekt wurde, den höchsten Triumph der reformistischen Arbeiterbewegung dar. Karl Legien hat sie geradezu als „Magna Charta" der Gewerkschaften bezeichnet 41a) — vermutlich in Unkenntnis der Tatsache, daß die Magna Charta (wenn auch nicht ausschließlich) ein Instrument war, durch das sich die Feudalherren ihre Privilegien bestätigen ließen.

Der Doppelcharakter der Arbeitsgemeinschaft als Quelle der sozialen Freiheitsrechte der Arbeitnehmer und als Garant der Machtpositionen der Arbeitgeber tritt äußerlich bereits darin in Erscheinung, daß „Die Vereinbarung zwischen Arbeitgeber-und Arbeitnehmerverbänden vom 15. November 1918" und „Die vorläufige Satzung der Arbeitsgemeinschaft vom 4. Dezember 1918" in verschiedenen Ton-arten geschrieben sind. Die erstere enthält u. a. die Erfüllung der traditionellen sozialpolitischen Forderungen der Gewerkschaften auf Anerkennung als berufene Vertreter der Arbeiterschaft, der Koalitionsfreiheit, des paritätischen Arbeitsnachweises, des Prinzips der kollektiven Regelung der Lohn-und Arbeitsbedingungen, des Arbeiterausschußwesens und (wenn auch nicht ohne Vorbehalt) des 8-Stundentags; die letztere enthält als quid pro quo für den Verzicht auf die Durchführung der sozio-ökonomischen Revolution das Versprechen der uneingeschränkten paritätischen Mitbestimmung im Bereich der Arbeitsgemeinschaft. „Sämtliche Organe werden paritätisch aus Arbeitgebern und Arbeitnehmern gebildet . . (§ 3 vorläufige Satzung).

Von maßgeblicher Bedeutung war, daß die Arbeitsgemeinschaft „die Gemeinschaftsarbeit von Unternehmern und Arbeitnehmern zusammenfassen" und daß sich diese Gemeinschaftsarbeit auf wirtschafts-und sozialpolitische Probleme erstrecken solle

Reichert, dessen Bekundungen besonders bedeutsam waren wegen seiner Position als Geschäftsführer des Vereins deutscher Eisen-und Stahlindustrieller, hat zusammenfassend erklärt: „Was ist der Grundgedanke und das Ziel? Es ist die gemeinsame Lösung aller die Industrie und das Gewerbe Deutschlands berührenden wirtschaftlichen und sozialen, wirtschaftspolitischen und sozialpolitischen Fragen sowie aller sie betreffenden Gesetzgebungsund Verwaltungsangelegenheiten."

Die Arbeitsgemeinschaft war vom Staat und beiden Sozialpartnern als Mittel einer friedlichen Führerrevolution zwecks Vermeidung einer gewaltsamen Sozialrevolution geplant und in Angriff genommen worden. Sie sollte sich jedoch nur allzubald als das Hauptkampf-objekt zwischen den Antagonisten der „Führerrevolution" erweisen.

Hinzu kam, daß man auf beiden Seiten über die bürokratische Behandlung des Hilfsdienst-gesetzes verbittert war und das schlimmste befürchtete, wenn die Demobilmachung mit den gleichen Methoden durchgeführt werde. So einigte man sich auf ein System, das Paul Um-breit als „korporative *Organisationswirtschaft bezeichnet hat 43a).

5. Die Alternativen der deutschen Revolution

Das fast gleichzeitige Entstehen der Rätebewegung, der Republik und der Arbeitsgemeinschaft eröffnete — in der Theorie — die nachfolgenden Alternativen:

1. Durch einen konsequenten Ausbou des „reinen Rätewesens“ die im Oktober 1918 de jure errichtete parlamentarische Demokratie zu eliminieren;

2. durch einen systematischen Abbau des „reinen“ Rätewesens die parlamentarische Demokratie zu konsolidieren;

3. unter Vermeidung extremer Lösungen ein Staatswesen zu etablieren, in dem Elemente des evolutionären Parlamentarismus und des revolutionären Rätewesens miteinander kombiniert waren.

Anhänger der radikalen Eliminierungstheorie waren die Spartakisten (Kommunisten) und in stets zunehmendem Maße der linke Flügel der USPD. Ihr geistiger Führer war Ernst Däumig. Anhänger der kompromißlosen Konsolidierungstheorie waren die bürgerlichen Parteien und in stets abnehmendem Maße die Gewerkschaften und der rechte Flügel der SPD. In der maßgeblichen ersten Phase der Revolution, d. h. bis Anfang März 1919, waren ihre prominentesten Vertreter der damalige Reichs-kanzler Philipp Scheidemann und der Vorsitzende des Allgemeinen deutschen Gewerkschaftsbundes, Carl Legien.

Anhänger der Kombinationstheorie fanden sich vor allem auf dem rechten Flügel der USPD, dem linken Flügel der SPD und in stets zunehmendem Maße bei den Führern der Gewerkschaften. Sie hatten vor der Spaltung der SPD im allgemeinen zum „Zentrum" dieser Partei gehört.

Die bona fide-Anhänger der Kombinationstheorie bildeten ihrerseits drei verschiedene Gruppen:

a) den rechten Flügel der USPD, repräsentiert durch den Parteivorsitzenden Hugo Haase, der dafür eintrat, daß das parlamentarische Regime bestehen blieb und durch die Räte zwar nicht eliminiert, aber weitgehend dominiert würde;

b) der Gruppe um die Sozialistischen Monats-hefte, die sich für die vor allem von Max Cohen-Reuss propagierte Errichtung eines auf dem Rätegedanken basierenden Zweikammerparlaments einsetzen, d. h. bestrebt waren, das parlamentarische Hegime durch Räte zu durchdringen („penetrieren");

c) das Gros der SPD und der Gewerkschaften, das sich nach Ablauf der ersten Phase der Revolution, d. h.seit März 1919, zu dem von Hugo Sinzheimer propagierten Postulat bekannte, die Staatsverfassung durch eine Wirtschaftsverfassung zu ergänzen.

Diese Alternativen sind — wie unten im einzelnen dargelegt werden wird — vor dem Inkrafttreten der Weimarer Verfassung auf zwei Kongressen der Arbeiter-und Soldatenräte, auf je einem Parteitag der SPD und der USPD und auf einer internen Parteikonferenz (Adhoc-Konferenz) der SPD behandelt und entschieden worden.

Hauptgegenstand der Auseinandersetzungen auf dem ersten Rätekongreß (Dezember 1918) war das Problem: Ist das Rätewesen dazu berufen, die parlamentarische Demokratie zu ersetzen oder erschöpft sich seine Funktion darin, ihre Entstehung zu ermöglichen?

Referenten waren der Mehrheitssozialist Max Cohen und der unabhängige Sozialist Ernst Däumig. Der Kongreß billigte mit 400 gegen 50 Stimmen die Resolution Cohen, daß Wahlen zu einer Nationalversammlung am 19. Januar 1919 stattfinden sollten.

Hauptgegenstand der Auseinandersetzungen auf dem zweiten Rätekongreß (April 1919) war das Problem: Ist das Rätewesen dazu berufen, die parlamentarische Demokratie total zu beherrschen, oder erschöpft sich seine Funktion darin, sie partiell zu durchdringen?

Referenten waren wiederum der Mehrheitssozialist Max Cohen und der unabhängige Sozialist Ernst Däumig. Der Kongreß billigte mit großer Mehrheit die Resolution Cohen, daß die parlamentarische Demokratie erhalten und durch Errichtung einer zweiten Kammer ergänzt werden solle.

Hauptgegenstand der Auseinandersetzungen auf der Ad-hoc-Konferenz der SPD (März 1919) war das Problem: Ist das Rätewesen dazu berufen, die parlamentarische Demokratie zu ergänzen oder erschöpft sich seine Funktion darin, sie durch Selbstauflösung der Räte zu stabilisieren?

Die Konferenz billigte die von Sinzheimer entwickelten Grundsätze, daß die politische durch eine Wirtschaftsverfassung ergänzt werden solle.

Hauptgegenstand der Auseinandersetzungen auf dem Weimarer Parteitag der SPD (Juni 1919) war die Frage: Ist das Rätewesen dazu berufen, die parlamentarische Demokratie durch Begründung einer zweiten Kammer zu durchdringen (ResolutionCohen), oder erschöpft sich seine Funktion darin, sie durch Begründung einer selbständigen Wirtschaftsverfassung zu ergänzen?

Referenten waren die Mehrheitssozialisten Max Cohen und Hugo Sinzheimer. Der Parteitag billigte gegen eine Stimme die Richtlinien Sinzheimers.

Hauptgegenstand der Auseinandersetzungen des Berliner Parteitags der USPD (März 1919) war die Frage: Ist das Rätesystem dazu berufen, die parlamentarische Demokratie zu ersetzen, oder soll das Parlament zwar bestehen-bleiben, jedoch vornehmlich darauf beschränkt sein, als ein Kampfmittel zwecks Verwirklichung der Diktatur des Proletariats verwandt zu werden?

Referenten waren Hugo Haase und Ernst Däumig, die sich auf eine Kompromißresolution einigten.

Auf dem Leipziger Parteitag (Dezember 1919) beschloß die USPD ein unter dem maßgeblichen Einfluß von Ernst Däumig zustande gekommenes Aktionsprogramm, dessen entscheidende Sätze lauteten: „Die Unabhängige Sozialdemokratische Partei steht auf dem Boden des Rätesystems. Sie unterstützt alle Bestrebungen der Räteorganisation schon vor der Eroberung der Macht, sie als proletarische Kampforganisation für den Sozialismus auszubauen und in ihr alle Hand-und Kopfarbeiter zusammenzufassen und sie zu schulen für die Diktatur des Proletariats."

Im Vergleich zu diesen sechs großen Disputationen haben die Aussprachen im Verfassungsausschuß und dem Plenum der Nationalversammlung über den Räteartikel nur einen sehr geringen Eindruck in der öffentlichen Meinung hinterlassen. Referent war Hugo Sinzheimer, der im wesentlichen die gleichen Gedankengänge vortrug wie in seinem Referat auf dem Weimarer Parteitag der SPD. Die dort beschlossenen Grundsätze Sinzheimers sind der Begründung des amtlichen Entwurfs der einschlägigen Verfassungsbestimmung zugrunde gelegt worden. Der Entwurf selbst wurde im Einklang mit den Darlegungen des Berichterstatters Sinzheimer am 2. Juni 1919 von dem Verfassungsausschuß und am 31. Juli 1919 von dem Plenum der Nationalversammlung gebilligt. Er hat in den Artikeln 156 Abs. 2 und 165 („Räteartikel") seinen Niederschlag gefunden. Es kann nicht Aufgabe dieser Abhandlung sein, die viel geschmähten und viel gepriesenen Räteartikel der Weimarer Verfassung einer verfassungsrechtlichen, geschweige denn einer verfassungspolitischen Analyse zu unterziehen — und dies um so weniger, als das komplizierte System von Betriebsarbeiterräten, Bezirksarbeiterräten, Bezirkswirtschafts. Täten, dem Reichsarbeiterrat und dem Reichswirtschaftsrat niemals realisiert worden ist. Der Wortlaut der einschlägigen Verfassungsbestimmungen ist hier im Anhang abgedruckt Erwähnt sei lediglich, daß der Berichterstatter Sinzheimer besonderen Nachdruck auf die politischen Möglichkeiten gelegt hat, die in Art. 156 Abs. 2 der Verfassung enthalten sind.

6. Die Entscheidungen zwischen den Alternativen

Von diesen Tagungen kommen dem ersten Rätekongreß vom 16. bis 21. Dezember 1918 und der Ad-hoc-Konferenz vom 22. und 23. März 1919 die größte Bedeutung zu.

Auf dem ersten Rätekongreß wurde der Antrag Lüdemann, Kahmann, Severing angenommen, der u. a. besagte: „Der Reichskongreß der Arbeiter-und Soldatenräte Deutschlands, der die gesamte politische Macht repräsentiert, überträgt bis zur anderweitigen Regelung durch die Nationalversammlung die gesetzgebende und vollziehende Gewalt dem Rat der Volksbeauftragten . .

Abgelehnt mit 344 gegen 98 Stimmen wurde der Antrag Däumig: „Die Delegiertenversammlung erklärt, daß unter allen Umständen an dem Rätesystem als Grundlage der Verfassung der sozialistischen Republik festgehalten wird und zwar derart, daß den Räten die höchste gesetzgebende und Vollzugsgewalt zusteht ..."

Richard Müller, der ultra-radikale Vorsitzende des Vollzugsrats der Arbeiter-und Soldatenräte, bemerkt hierzu in seinem Buch „Die Novemberrevolution": „Ernst Däumig als Referent gegen die Nationalversammlung und für das Rätesystem vermochte nicht diesem . politischen Selbstmörderklub'den nüchternen, hausbackenen, philiströsen Geist auszutreiben."

Die Würfel über die Zukunft des Rätesystems sind endgültig auf der Ad-hoc-Konferenz der SPD von März 1919 gefallen.

Mit vollem Recht hat Heinrich Herrfahrdt darauf hingewiesen, daß im Februar 1919 ein völliger Umschwung in der Stimmung der Arbeitermassen eingetreten sei: „Man fühlte, daß man mit dem Beschluß des Rätekongresses nicht das Volk, sondern die Parteiorganisationen wieder in den Sattel gehoben hatte . . . Mit der Achtung vor der Nationalversammlung schwand aber zugleich die Achtung vor dem demokratischen Prinzip überhaupt." Nachdem gefährliche Streiks im Ruhrgebiet und in Mitteldeutschland abgeflaut waren, brach ein Generalstreik aus, dessen Ursache im wesentlichen die Rätefrage war. Nach längerem Zögern schlossen sich die Berliner Gewerkschaften dem Generalstreik an. Dies bedeutete aber eine lebensgefährliche Krise des Regimes. Eine Arbeiterregierung — und dies war im Grunde die Regierung Scheidemann —, gegen die ihre eigenen Gewerkschaften einen politischen Generalstreik in die Wege leiten, ist bankrott.

Zur gleichen Zeit und unabhängig von diesem Arbeitskampf tobte in Berlin der offene Bürgerkrieg, dem allein in Lichtenberg 1200 Personen zum Opfer fielen. Ähnliches ereignete sich in Mitteldeutschland und im Ruhrgebiet. Die SPD und die Gewerkschaften verloren in wenigen Tagen mehr an good-will, als sie in Jahrzehnten aufzubauen in der Lage gewesen waren. In weiten Kreisen der Arbeiterschaft verschmolzen Räte-Glorifizierung und Noske-Dämonologie zu einer untrennbaren Einheit.

Unter dem Druck dieser Ereignisse änderte die Regierung Scheidemann ihre Haltung zum Räteproblem. Hatte sie noch am 26. Februar 1919 erklärt: „Kein Mitglied des Kabinetts denkt daran, das Rätesystem in irgendeiner Form, sei es in der Verfassung, sei es in den Verwaltungsapparat, einzugliedern" s 0 stellte sie am 4. März bei einer in Weimar mit Vertretern der streikenden Arbeiter geführten Verhandlung u. a. in Aussicht: „Die Arbeiterräte werden als wirtschaftliche Interessenvertretung grundsätzlich anerkannt und in der Verfassung verankert. Ihre Abgrenzung, Wahl und Aufgaben werden durch ein sofort zu veranlassendes besonderes Gesetz geregelt."

Mit dieser Erklärung stellte sich die Regierung Scheidemann auf den Boden eines programmatischen Artikels, den Friedrich Stampter am 31. Januar 1919 im Vorwärts veröffentlicht hatte. In ihm hatte er das Prinzip proklamiert, daß unter Herrschaft des neu errichteten parlamentarisch-demokratischen Systems „für Arbeiter und Soldatenräte als Inhaber der politischen Macht kein Raum sei": . Die Räte können nur fortbestehen als Selbstverwaltungskörper der Arbeiter und Soldaten im Rahmen der bestehenden Gesetze ohne unmittelbare politische Macht. Ihre Tätigkeit liegt auf dem Boden der Berufsorganisationen. “

Diese Sätze wurden von den Gewerkschaften als Herausforderung angesehen. Carl Legien führte auf der Ad-hoc-Konferenz in drohenden Worten aus, daß die neuerlichen Erklärungen der Regierung „zu Konflikten mit den Arbeiterkreisen führen müßten, die sich bisher stets gegen das Rätesystem erklärt hätten“

Legien drückte die Befürchtung aus, durch diese neue Politik würden gewerkschaftliche Organisationen beseitigt, ohne daß etwas gleichartiges an ihre Stelle gesetzt wurde. Er warf der Regierung „Rechnungsträgerei" vor und erklärte: „Wir Gewerkschaften müssen uns das Recht der Selbständigkeit wahren, müssen jetzt auch gegen die Regierungspolitik auftreten dürfen ... wird das Programm der Regierung durchgeführt, dann hört für die Gewerkschaften die Existenzmöglichkeit auf. Erhalten die Arbeiterräte entsprechend der Zusage der Regierung das Recht, die Lohn-und Arbeitsbedingungen zu regeln, dann haben die Gewerkschaften keine Existenzberechtigung mehr. Dann gibt es nur noch einen Ausweg — den Arbeiterräten auch politische Aufgaben zu geben. Das muß geschehen, wenn die Arbeiterräte in der Verfassung festgelegt werden sollen, weil sie wirtschaftliche Aufgaben ihrer gnzen Natur nach nicht erfüllen können."

Die Entscheidung des ersten Rätekongresses schien in Zweifel gestellt. Die Krise, die zu einer Zerreißprobe der deutschen Arbeiterbewegung zu führen drohte, wurde behoben, als es Hugo Sinzheimer (unterstützt von dem Arbeitsminister Bauer) gelang, Legien davon zu überzeugen, daß in Gestalt der „sozialen Selbstbestimmung" das Rätewesen auf sozialpolitischem Gebiet die Position der Gewerkschaften eher zu stärken als zu schwächen geeignet sei; auf wirtschaftspolitischem Gebiet sei es geeignet, der alten Forderung der Gewerkschaften nach Einführung von Arbeitskammern Rechnung zu tragen.

7. Max Cohen-Reuss'Projekt einer zweiten Kammer

Die zeitgenössische Räteforschung leidet trotz ihrer anderweitigen Verdienste unter dem Mangel, daß sie so gut wie nichts über die Persönlichkeiten der Politiker vorbringt, die als Referenten über das Räteproblem in den säkular wichtigen Diskussionen der Rätekongresse, Parteitage und Parlamentsverhandlungen der Jahre 1918/19 in Erscheinung getreten sind und die Rostra beherrschten: Max Cohen-Reuss, Ernst Däumig und Hugo Sinzheimer. Obwohl sie (allerdings zu verschiedenen Zeiten) dem Reichstag angehört haben, kann keiner von ihnen als ein spezifisch parlamentarischer Politiker angesprochen werden. Max Cohen-Reuss war bei einer Nachwahl im —----------

Jahre 1912 in den Reichstag gekommen, hat es jedoch nicht verstanden, sich in der Fraktion durchzusetzen. Als ständiger Mitarbeiter der Sozialistischen Monatshefte gehörte er zu der kleinen Gruppe der „Kontinentalpolitiker", die vornehmlich anti-britisch eingestellt waren und sich für einen Ausgleich mit Rußland einsetzten. Einer breiteren Öffentlichkeit ist er durch seine kritische Haltung zum Frieden von Brest-Litowsk bekanntgeworden. Obwohl ursprünglich ein Anhänger des linken Flügels der Partei, neigte er, nachdem er Mitarbeiter der von Parvus gegründeten Zeitschrift „Die Glocke" geworden war, in zunehmenden Maße der äußersten Rechten der Partei zu. Bei den Wahlen zur Nationalversammlung fiel er durch.

Die auffallende Tatsache, daß ein mandats-loses Parteimitglied mit relativ wenig Einfluß in den fundamental wichtigen Rätediskussionen der Jahre 1918/19 als Sprecher der SPD-Fraktion beider Rätekongresse in Erscheinung treten konnte, erklärt sich aus seinem erfolgreichen Bemühen, bei den Soldaten-räten Rückhalt zu finden.

Hermann Müller führt hierzu in seinem Buch über „Die Novemberrevolution" aus: „Am 9. November 1918 zog sich Max Cohen-Reuss, der bei den Franzern einmal kurz ausgebildet worden war, seine Uniform an und bekümmerte sich um die Soldaten . . . Cohen gewann so stark das Vertrauen der Soldaten, daß er in den Vollzugsrat gewählt wurde."

Als mit der Auflösung der Armee im Frühjahr 1919 die Soldatenräte verschwanden, war es mit Cohen-Reuss'Einfluß vorbei.

Max Cohen-Reuss ist in die Geschichte eingegangen, weil sein Name mit dem auf seinen Antrag und im Anschluß an sein Referat gefaßten Beschluß des ersten Rätekongresses untrennbar verbunden ist, zum erstmöglichen Termin Wahlen zu einer Nationalversammlung abzuhalten. Max Cohen-Reuss hat in offener Feldschlacht Ernst Däumigs Plan, für absehbare Zeit an der revolutionären Räte-verfassung festzuhalten, zu Fall gebracht. So rasch Cohens politischer Aufstieg gewesen war, so kurzlebig war sein Erfolg. Zwar gelang es ihm, auf dem zweiten Rätekongreß eine Mehrheit für sein Räteprojekt zu finden. Als wenige Wochen später der Weimarer Parteitag der SPD mit nur einer Gegenstimme diesen Beschluß verwarf und die Leitlinien Hugo Sinzheimers annahm, war Cohen-Reuss’ politisches Schicksal besiegelt. Während der Weimarer Republik war er zwar Mitglied des Reichswirtschaftsrats, hat jedoch keinerlei politischen Einfluß ausgeübt. 1933 wanderte er nach Frankreich aus und ist hochbetagt in der Emigration verstorben.

Max Cohens Grundeinstellung zur demokratischen Staatsidee tritt wohl am deutlichsten in der Revolution in Erscheinung die er als Korreferent dem Weimarer Parteitag der SPD vorgelegt hat (Resolution 199) 51a). Sie beginnt mit den Worten: „Die Grundlage der sozialistischen Republik muß die sozialistische Demokratie sein. Die bürgerliche Demokratie wertet in ihrem Vertretersystem die Bevölkerung nach ihrer Zahl. Die sozialistische Demokratie muß deren Ergänzung bringen, indem sie die Bevölkerung auf Grund ihrer Arbeitstätigkeit zu erfassen sucht."

Die Ergänzung der Kopfzahl durch eine organische Demokratie soll nach Cohens Vorschlägen durch Kammern der Arbeit erfolgen " zu denen alle arbeitsleistenden Deutschen nach Berufen gegliedert wahlberechtigt sind.“ Die Delegierten zu den Kammern der Arbeit sollen von Produktionsräten gewählt werden, die für die verschiedenen Gewerbe errichtet werden — und zwar sollen Produktionsräte und Kammern der Arbeit auf den verschiedenen Ebenen (Kreise, Provinzen, Länder und Gesamtrepublik) bestehen. Max Cohens Projekt läuft auf die Schaffung nicht nur eines sondern zahlreicher Zweikammersysteme heraus. „Überall besteht eine allgemeine Volkskammer und eine Kammer der Arbeit" (Resolution 199 Ziffer 6).

Nach anfänglichen propagandistischen Erfolgen ist Max Cohens Rätekonzept nicht nur wegen seines übermäßig komplizierten Charakters sondern auch wegen seiner ständestaatlichen Tendenzen (wenn man von den Sympathiekundgebungen einiger reaktionärer Kreise absieht) auf allgemeine Ablehnung gestoßen. Es hat keinerlei Spuren in der deutschen Verfassungsgeschichte hinterlassen.

8. Ernst Däumigs Theorie des „reinen" Rätesystems

Obwohl eine detaillierte Biographie Ernst Däumigs nicht zu existieren scheint, sollen im folgenden nur diejenigen Phasen seiner Entwicklung behandelt werden, die für das Verständnis seiner Stellungnahme zum Rätewesen von besonderer Bedeutung sind. Eberhard Kolb hat darauf hingewiesen, daß die Grundgedanken des „reinen" Rätesystems unter Däumigs bestimmenden Einfluß ausgearbeitet worden seien. Er bezeichnet Däumig als den hervorragenden Sprecher des linken Flügels 51 der USPD und den entschiedensten Verfechter des „reinen" Rätesystems Däumig, der einer bürgerlichen Familie entstammt, wurde im Jahre 1866 in Merseburg geboren, absolvierte in Halle das Gymnasium und begann dort das Studium der Theologie, das er jedoch nicht abschloß. „Die Lust zum Offizier", die Levi in seinem Nachruf hervorhebt, wurde ausreichend in einer elfjährigen Militärzeit befriedigt, von der er fünf Jahre in der französischen Fremdenlegion verbrachte. Sein lebenslanges Interesse an religionswissenschaftlichen Fragen fand seinen Niederschlag in seiner äußerst regen Beteiligung an den Bestrebungen und Betätigungen der Frei-religiösen Gemeinde, in deren Auftrag er auch ein Buch „Wanderungen durch die Kirchengeschichte" geschrieben hat. Seine Erlebnisse in der Fremdenlegion hat er in dem Buch „Moderne Landsknechte" geschildert, in dem sich die Bemerkung findet: „Heute bezeichnet die öffentliche Meinung diejenigen, welchen es vergönnt ist, nach ihrer Dienstzeit in der Legion nach Deutschland zurückzukehren, und deren sind es herzlich wenige, als geistige und körperliche Wracks."

In den Augen des kaiserlichen Deutschland war ein Bürgersohn, der sich der Sozialdemokratie anschloß, ein Theologiestudent, der ohne abgeschlossenes Studium in der Frei-religiösen Gemeinde sich als Laienprediger betätigte, und ein königlich-preußischer Offiziersanwärter, der in der Fremdenlegion landete, eine „verkrachte Existenz". Ernst Däumigs soziale Entwurzelung war nicht die Folge des allgemeinen Entfremdungsprozesses; seine Entfremdung war die Folge einer selbstgewählten Entwurzelung. Däumigs literarische Publikationen haben weder wissenschaftlichen noch künstlerischen Ehrgeiz; sie sind populäre Aufklärungsliteratur und lassen jedes Bestreben vermissen, die Bahnen klischeehaften Denkens zu verlassen. Theoretisches Denken lag Ernst Däumig fern. Er war ein monomaner politisch-radikaler und ideologisch-freidenkerischer Agitator — un terrible simplificateur. Seine politische Karriere begann Däumig als sozialdemokratischer Provinzredakteur in Halle, Erfurt und Gera. Im Jahre 1911 kam er zur Redaktion des „Vorwärts".

In den ersten Kriegstagen unterzeichnete Däumig mit einigen seiner Redaktionskollegen eine Verwahrung -gen die Haltung der Fraktion am 4. Augus 914. Als der „Vorwärts" im Jahre 1916 vom Parteivorstand unter Kuratel gestellt wurde, mußte er ausscheiden. Er war führend in den Vorbereitungen zur Errichtung der USPD beteiligt und Redakteur des ersten Mitteilungsblatts dieser Partei. Während der letzten Kriegsjahre war Däumig Mitglied der Berliner „revolutionären Obleute“ — einer revolutionären Geheimorganisation, die mit den Sowjets von 1905 und 1917 verglichen werden kann. Zuletzt war er als Nachfolger Richard Müllers deren Vorsitzender. Auf dem Berliner Parteitag der USPD (März 1919) wurde er zum Mitglied des Parteivorstandes und auf dem Leipziger Parteitag der USPD (Dezember 1919) gemeinsam mit Artur Crispin zum Vorsitzenden dieser Partei gewählt, nachdem er jeweils über Rätefragen referiert hatte. Im Einklang mit seiner Haltung als Führer des extrem linken Flügels der USPD setzte er sich für den Eintritt der USPD in die „Dritte Internationale“ ein. Er befürwortete die Annahme der „Neunzehn Punkte“, die der zweite Komintern-Kongreß am 24. Juli 1920 als Bedingung für den Eintritt einer Arbeiterpartei in die 3. Internationale aufgestellt hatte. Sie kamen einer politischen Entmündigung der nicht-russischen Mitgliedsparteien gleich. Als es hierüber auf dem Parteitag in Halle (Oktober 1920) zu einer Spaltung der USPD kam, schloß sich Däumig der KPD an, deren Vorsitzender (gemeinsam mit Paul Levi) er wurde. Zusammen mit Levi verließ er nach dem Märzputsch des Jahres 1921 die KPD, schloß sich zunächst einer Splittergruppe (KAPD) und nach deren Scheitern erneut der inzwischen völlig bedeutungslos gewordenen USPD an. Die Wiedervereinigung der USPD mit der SPD hat der am 5. Juli 1922 verstorbene Däumig nicht mehr erlebt.

So schwankend dieser ständige Parteiwechsel auf den ersten Blick zu sein scheint, so konsequent war er doch für einen Politiker, dessen politischer Doktrinarismus auf einen Punkt fixiert war: das Rätewesen. Er ließ sich von der fixen Idee der Identifizierung des reinen Rätewesens mit der Verwirklichung der Revolution leiten. Die Errichtung der uneingeschränkten Räteherrschaft war ihm gleichbedeutend mit der Diktatur des Proletariats und der durch sie automatisch zu bewirkenden Umwandlung der kapitalistischen in die sozialistische Gesellschaftsordnung. Däumig hat den Wert des Rätewesens verabsolutiert: es war ihm nicht Mittel zum Zweck, es bedeutete ihm die Inkarnation der sozialistischen Idee.

Der Rätemythos Ernst Däumigs hat während der Revolutions-und Inflationszeit einen alle anderen proletarischen Bestrebungen überschattenden Einfluß ausgeübt. Sein Prophet war weder ein Proletarier noch ein Intellektueller, sondern ein Paria der Gesellschaft.

Er war nicht der einzige Paria-Demagoge seiner Zeit! Andererseits ist der Rätemythos letzthin für Däumigs ständigen Parteienwechsel verantwortlich. Es fehlte ihm an dem ausreichenden Zynismus, das „reine" Rätewesen zur Attrappe für die diktatorische Herrschaft einer Partei-bürokratie zu degradieren: Auf die Dauer könnte jedoch keine Partei existieren, wenn sie ernsthaft den Organisationsanarchismus des „reinen" Rätewesens realisieren wollte. Ernst Däumigs Tragödie war es, daß er dazu berufen schien, die innere Widersprüchlichkeit einer nach Räteprinzipien strukturierten sozialistischen Partei ad oculos zu demonstrieren. Wenn von Oertzen ausführt, daß drei Ausprägungen des Rätesystems bestanden hätten: die Räte als Kampforgane, als Interessenvertretungen und als Staatsorgane so existierte für Däumig nur die erste Ausprägung. In seinem Artikel „Der Rätegedanke und seine Verwirklichung" heißt es: „Im Räte-system soll zunächst die Diktatur des Proletariats organisatorisch vorbereitet werden. Zum zweiten soll mit ihm die politische Macht erkämpft und zum dritten nach erfolgtem Sieg die Diktatur des Proletariats im Wirtschaftsprozeß sowohl wie im Staatsapparat durchgeführt werden." Hieraus ergibt sich, daß „reine" Räteorganisationen nicht auf dem Boden der kapitalistischen Produktion errichtet werden können.

Der unermüdliche Agitator Ernst Däumig hat sich ebenso aktiv als Redner wie als Journalist und namentlich als Herausgeber der Wochenschrift „Der Arbeiterrat" in steter Zusammenarbeit mit seinem Gesinnungsfreund Richard Müller betätigt.

Der Berliner Rechtsanwalt Ludwig Bendix, der einige Monate als Parteiloser an dem „Arbeiterrat" mitgearbeitet hat, hat Däumig den Vorwurf gemacht, er habe sich bei Angabe des politischen Zwecks der Räteorganisation in allgemeinen Redewendungen verloren, „bei denen sich nichts und alles denken läßt, eine virtuose Eigentümlichkeit dieses politischen Magiers, die mit Recht viele ästhethisch Veranlagte und leider auch viele urteilslose Zuhörer und Leser in Verzückung versetzen kann und dem Verschmachtenden in der Wüste unseres politischen Lebens eine Fata Morgana vortäuscht, da sie außerstande ist, den Hungrigen wirkliches Brot zu geben"

Er war nicht der einzige politische Magier seiner Zeit! Däumigs Haß galt den Soldatenräten, die er weitgehend für das Scheitern der Novemberrevolution verantwortlich gemacht hat. Waren doch die Soldatenräte im erheblichen Umfang die Stütze der SPD in den lokalen A-und S-Räten und auf den Rätekongressen. Sie waren sehr viel stärker daran interessiert, Weihnachten „bei Muttern" zu verbringen als die Weltrevolution zu verwirklichen.

In einer Reichstagsrede vom 18. März 1921 führte er aus': „Wenn die Soldatenräte nur einen Schimmer von der Aufgabe gehabt hätten, die sie als revolutionäres Element hatten, dann säßen Sie nicht hier. Die Soldaten-räte . . . hatten zu 99 °/o keine Ahnung von dem staatsrechtlichen, politischen und sozialen Inhalt der Räteidee, und weil sie noch vollständig in den alten Traditionen befangen waren, brüllten sie am 19. Dezember 1918 im Rätekongreß nach der Nationalversammlung. Und dann haben wir gesehen, daß ihnen ein Stück ihrer revolutionären Errungenschaften nach dem anderen abgenommen wurde."

Träger des Rätegedankens kann nach Däumig nur das Protelariat sein, das in der Räte-organisation keine kapitalistischen Vertreter dulden darf. Verwirklicht werden aber könne der Rätegedanke nicht mit den Mitteln des Parlamentarismus, sondern lediglich in den Keimzellen der kapitalistischen Produktion — den Betrieben — und nur mittels der ständigen aktiven Anteilnahme des Proletariats. Hieraus ergäbe sich aber, daß den Organen der Räteorganisation keine langfristigen Vollmachten erteilt werden dürften und nur das Proletariat als Ganzes berufen sei, den Räte-gedanken zu verwirklichen

Dies aber ist das Credo Ernst Däumigs: „Alle Versuche, Räteorganisationen im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft und auf dem Boden der kapitalistischen Produktion zu errichten, werden entweder Zerrbilder ergeben, oder werden an den vorwärts strebenden Tendenzen des Rätegedankens scheitern. Eine Räte-organisation kann nur ein proletarisch-sozialistisches Kampfgebilde sein, dazu bestimmt, die kapitalistische Produktion und den auf ihm errichteten Obrigkeitsstaat, selbst wenn er eine republikanische Fassade hat, zu beseitigen und an ihre Stelle die sozialistische Produktion und ein sich selbst verwaltendes Gemeinwesen zu setzen."

An diesen Thesen hat Ernst Däumig auch festgehalten, nachdem der erste Rätekongreß sie implicite verworfen hatte. Das Bekenntnis zu diesen Thesen hat ihn motiviert, keine Regierungsfunktion zu übernehmen, da keine Gewähr dafür bestand, daß die Regierung im Einklang mit seiner Vorstellung von den Räten als proletarischen Kampforganisationen geführt würde.

Wie der zweimalige Kanzler der Weimarer Republik Hermann Müller in seinem Buch „Die Novemberrevolution" ausführt, wurde Däumig am 9. November 1918 zum Nachfolger des Kriegsministers Scheuch vorgeschlagen, lehnte diese Position jedoch mit dem Bemerken ab, er wolle „sich im Kriegsministerium nicht begraben lassen". Auch das Angebot, im Kriegsministerium als Beigeordneter zu fungieren, wies er zurück, „weil er nicht zum Verräter der Revolution werden wollte".

Nachdem die deutsche Sozialdemokratie ein halbes Jahrhundert ihr Dasein in einem politischen Getto verbracht hatte, hatten ihre Anhänger ein gestörtes Verhältnis zur Macht. Sie haben sie entweder verschmäht (Däumig) oder mißbraucht (Noske). Die USPD, die es von sich wies, im Zentralrat (der Spitzen-organisation der Arbeiter-und Soldatenräte) vertreten zu sein, die im entscheidenden Augenblick ihre Vertreter aus dem Rat der Volksbeauftragten zurückzog, litt unter dem Komplex der Machtimpotenz, der sie zu einer Politik der Machtabstinenz veranlaßte.

Es ist aber auch möglich, Däumigs ablehnende Haltung auf seinen Rätefetischismus zurückzuführen. Von der These ausgehend, daß die Betriebsarbeiterschaft ein Monopol auf die Vornahme echt revolutionärer Aktionen besitze, ist die Ausübung deligierter proletarischer Macht lediglich dann „revolutionärlegitim", wenn ihre Träger mittels eines indirekten Wahlverfahrens bestellt worden sind, das durch imperatives Mandat und recall gegen Mißachtung des Wählerwillens gesichert ist. Liegt doch für Däumig der einzigartige Wert des Rätesystems in seiner Funktion, als allein zuverlässiger Transmissionsriemen zwischen den Belegschaften, den von ihnen direkt gewählten Betriebsräten und den Räten auf den jeweils höheren Stufen der staatlich-gesellschaftlichen Pyramide zu dienen. Politische Aktivität in einer hierarchisch strukturierten Behörde mußte für Däumig als Absage an das reine Rätesystem erscheinen, deren gerade er sich nicht schuldig machen durfte.

9. Hugo Sinzheimer und das Recht der sozialen Selbstbestimmung

Zu den erstaunlichsten Erscheinungen der großen Rätediskussionen der Jahre 1918/19 gehört die Tatsache, daß sich bei den öffentlichen Disputationen dieser vital wichtigen Fragen weder die Parteien noch die Gewerkschaften von ihren prominenten, allseits bekannten Führern, sondern von bis dahin in der breiten Öffentlichkeit relativ unbekannten Persönlichkeiten repräsentieren ließen. Dies gilt auch für den „Rätespezialisten" der SPD, Hugo Sinzheimer, der ein politischer homo novus war, als er im Februar 1919 sein Nationalversammlungsmandat antrat. Seinen raschen politischen Aufstieg verdankte er (wie bereits dargetan) dem Umstand, daß er auf der Weimarer Ad-hoc-Konferenz der SPD in die Bresche sprang, als die Position der SPD in der Rätefrage hoffnungslos verfahren schien.

Eine Gesamtwürdigung der Persönlichkeit Hugo Sinzheimers unterbleibt hier, da eine solche in Gestalt einer an der Universität rankfurt gehaltenen Gedenkrede des Verfassers bereits vorliegt

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Es muß genügen darauf zu verweisen, daß Sinzheimer in Frankfurt jahrzehntelang als Anwalt tätig gewesen war und sich gleicherweise als Strafverteidiger und Gewerkschaftsanwalt hervorgetan hat. Durch Abfassung mehrerer grundlegend wichtiger arbeitsrechtlicher Werke, insbesondere „Der korporative Arbeitsnormenvertrag" und dem (noch vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges fertiggestellten) Werk „Ein Arbeitstarifgesetz — Die Idee der Selbstbestimmung im Recht" hat er maßgeblich dazu beigetragen, die Rechtsnatur des Tarifvertrages zu klären.

Sinzheimer war Mitglied der Nationalversammlung und ihres Verfassungsausschusses; er war Professor des Arbeitsrechts in Frankfurt und später in Amsterdam und Leiden. Er ist im Jahre 1945 in Holland, das ihm nach seiner Vertreibung aus Deutschland Asyl gewährt hatte, im Alter von 70 Jahren gestorben. Sinzheimers Theorie der sozialen Selbstbestimmung stellt eine Parallelerscheinung der Bemühungen seiner englischen Zeitgenossen, der Pluralisten Figgis, Maitland, Barker und Laski dar. Wie Sinzheimer in „Ein Arbeitstarifgesetz" ausdrücklich hervorhebt, hat er die entscheidenden Anregungen zu seiner Lehre von der sozialen Selbstbestimmung aus den abschließenden Ausführungen Georg Jellineks in dessen Schrift „Verfassungsänderungen und Verfassungswandlungen" gewonnen. Sinzheimer hat einen Eckstein des Jellinekschen Gedankengebäudes zum Grundstein seines eigenen Systems gemacht.

Jellinek geht in den einschlägigen Darlegungen seiner Schrift davon aus, daß sich die moderne Gesellschaft in einem Prozeß der fortschreitenden Selbstorganisation befinde. Die sich immer stärker differenzierenden menschlichen Interessen würden sehr viel mehr durch „die einzelnen einander mannigfach durchkreuzenden Gruppen" zusammengefaßt und repräsentiert als durch das Zentralparlament. Heute schon gäbe es eine Schaffung von Normen, die zwar nicht juristisch, jedoch sozial, die Wirkung von Gesetzen habe, obwohl sie ausschließlich auf dem Wege der sozialen Selbstbestimmung entstanden seien. Er verweist in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf das Tarifwesen.

An dieser Stelle setzt Sinzheimers soziologisch fundierte Rechtstheorie der sozialen Selbstbestimmung ein, wie sie in dem Kapitel „Die Idee der sozialen Selbstbestimmung im Recht" in dem Werk „Ein Arbeitstarifgesetz", der wichtigsten Quelle für das Verständnis seines politischen Denkens, dargestellt worden ist Als Rechtssoziologe war Sinzheimer mit dem in der Vorkriegszeit viel erörterten Widerspruch zwischen der Rechts-und Gesellschaftsordnung vertraut, wie aus seiner Schrift „Die soziologische Methode in der Privatrechts-wissenschaft" hervorgeht. Er glaubte, diesen Widerspruch durch den Hinweis auf die Trennung der rechterzeugenden von der rechtsetzenden Kraft erklären zu können Völlig überwunden könne dieser Widerspruch nur werden, wenn es den freiorganisierten Kräften der Gesellschaft ermöglicht werde, unmittelbar und planvoll objektives Recht zu erzeugen und selbständig zu verwalten. „Wir nennen diesen Gedanken die Idee der Selbstbestimmung im Recht."

Sinzheimer erhob die Forderung, daß neben die staatliche eine autonome sozialrechtliche Ordnung treten solle. Durch die Mitwirkung der Verbände könne der Gedanke der sozialen Parität optimal verwirklicht werden; sie sei geeignet, die durch hoheitsrechtlichen Dekre. tinismus (ein Ausdruck Karl Renners) und individualrechtlichen Dirigismus gewährleistete soziale Hegemonie der Kapitaleigner abzulösen. Die Einsicht in diese Zusammenhänge dürfe aber nicht dazu führen, daß der Staat ausgeschaltet werde; denn die soziale Selbstbestimmung könne sich doch nur im Rahmen der geltenden Gesetze äußern und wäre an die Organisetionsformen gebunden, die ihr der Staat zur Verfügung stellte. Andernfalls bestünde keine Gewähr dafür, daß den Interessen aller Beteiligten Rechnung getragen werde. Und so gelangt Sinzheimer zu dem Postulat: „Man sucht nach Formen einer neuen sozialen Willensbildung außerhalb des Parlaments."

Der Staat solle darauf verzichten, detaillierte Entscheidungsnormen zu erlassen, sich vielmehr darauf beschränken, „den autonomen Kräften Formen der Betätigung zur Verfügung zu stellen, in denen sie selber diese Normen erschaffen und verwalten können“ Hierdurch werde die Fremdheit des Rechts dem sozialen Leben gegenüber gelöst und eine größere rechtliche Durchdringung der sozialen Beziehungen ermöglicht.

Eine wirksame Rechtsetzung durch autonome Willensbildung kann aber nur erreicht werden, wenn die gesellschaftlichen Bedingungen, von denen sie abhängen, einer Normierung unterzogen worden sind: „Dies aber ist der Gedanke des sozialen Parlamentarismus, den wir von dem Bild der sozialen Selbstbestimmung im Recht sich abheben sehen. Die Willensbildung in den ökonomisch-sozialen Verhältnissen trennt sich von der staatlichen Willensbildung und treibt zu einer Organisation, die ihre eigenen Normen sucht. Bei der sozialen Selbstbestimmung handelt es sich demnach nicht darum, die Träger der sozio-ökonomischen Kräfte als Staatsorgane zu etablieren und in den Staat zu integrieren; es handelt sich vielmehr darum, diese Kräfte tunlichst aus dem staatlichen Willensbildungsprozeß auszuklammern und ihnen als Gebilden der autonomen Sozialordnung eil Maximum von öffentlichen Aufgaben anzuver trauen.

Der Pluralist Sinzheimer gehört dem reformi stischen Flügel der Arbeiterbewegung an. „De Pluralismus ist die Staatstheorie des Reformismus."

Die paritätische Regelung der Löhne und sonstigen Arbeitsbedingungen hängt in der Luft, wenn sie nicht, wie Sinzheimer im einzelnen darlegt, einen Teil einer autonomen Wirt-

schaftsverfassung bildet. Letztere sollte von Wirtschaftsräten getragen werden, in denen alle Kräfte Zusammenwirken, die an der Produktion beteiligt sind. So heißt es denn in Sinzheimers Referat auf dem Weimarer Parteitag der SPD: „Das für uns Wichtige ist, daß in ihnen die Arbeiter an der Leitung der Produktion beteiligt werden sollen. Der Arbeiter tritt aus der Arbeitssphäre und wird Mitleiter an der Produktion als Produzent. Das Wirtschaftliche, das bisher über ihn von fremder Hand gesteuert worden ist, wird in den Wirtschaftsräten mit ihm und durch ihn gestaltet."

Das Rätedenken Sinzheimers kreist um die Idee der Mitbestimmung. Er vertraut darauf, daß, wenn der Arbeiter in den Betrieb auch wirtschaftlich eingegliedert ist, eine Chance bestehe, eine Verbindung zwischen dem Arbeiter und seiner Arbeit wiederherzustellen, „nach der im tiefsten Innern die Arbeiterschaft strebt"

Durch alle Publikationen Sinzheimers zum Räteproblem zieht sich wie ein roter Faden der Gedanke, es sei unerläßlich, das Räteproblem auch als sozialethisches und sozialpsychologisches Phänomen zu begreifen. So heißt es denn in dem Bericht, den er dem Verfassungsausschuß der Nationalversammlung am 2. Juni 1919 erstattet hat: „Man kann ohne weiteres zugeben und muß anerkennen, daß in der Räte-bewegung eine starke ideale Strömung mit-spricht, eine unendliche Sehnsucht, aus den schrecklichen Verhältnissen, in denen die Menschen sich befinden herauszukommen, eine Art von Erlösungsgedanken."

Man hat Sinzheimer den Vorwurf gemacht, seine großen Referate litten an einer gewissen Unbestimmtheit, sobald es darum gehe, konkret die Funktionen aufzuzeigen, die im Rahmen der geplanten Wirtschaftsverfassung den Wirtschaftsräten zufallen sollten. Der damaige Reichskanzler Scheidemann hat auf der Ad-hoc-Konferenz der SPD von der dort gehaltenen Rede Sinzheimers gesagt, „sie sei gewiß sehr geistreich gewesen, aber zum großen Teil war sie doch nur eine geistreiche Spielerei"

Um so bedeutsamer für das Verständnis der Sinzheimerschen Konzeption der sozialen Selbstbestimmung ist deshalb ein programmatischer Artikel, den er in der Revolutionsnummer der Zeitschrift „Die Tat" unter dem Titel „Die Zukunft der Arbeiterräte — Eine Frage der sozialen Demokratie" veröffentlicht hat.

Zusätzlich zu den bei anderen Gelegenheiten entwickelten mehr theoretischen Gedanken über die Notwendigkeit einer sozialen Rechts-bildung führt er hier konkret aus: „In der Organisation des wirtschaftlichen Wiederaufbaus wird eine gemeinschaftliche Industrie-verwaltung besonders wichtig sein. Rohstoff-verteilung, Absatzregelung, Zuweisung von öffentlichen Aufträgen, Betriebsmethoden zur rationalen Verwendung der Arbeitsplätze, Stillegung überflüssiger Betriebe werden immer mehr gemeinsam Angelegenheiten der Industrie, nicht nur Sorgen der einzelnen Betriebe. Die Industrieverwaltung kann nicht das Werk einer bürokratischen Staatsverwaltung, sie soll aber auch nicht das alleinige Werk der vereinigten Betriebsinhaber sein." Um sicherzustellen, daß die hiermit verknüpften Arbeiter-und Angestellteninteressen nicht zu kurz kommen, sei es unerläßlich, die Arbeiterräte als selbständige Organe in die Industrieverwaltung einzugliedern.

Die auf Sinzheimers Referat basierenden Beschlüsse des Weimarer Parteitags der SPD besagen, daß 1. die von den Arbeiterräten vindizierten gesamtpolitischen Funktionen politischer Art bei dem Staat verbleiben;

2. die von den Arbeiterräten in Anspruch genommenen sozialpolitischen Funktionen bei den Gewerkschaften als Interessenvertretern der Arbeiter liegen, die sich bei Ausübung dieser Tätigkeit auf die betrieblichen Arbeiter-räte stützen;

3. die von den Arbeiterräten angestrebte Teilnahme an Fragen der Produktion weitgehend autonomen Wirtschaftsräten übertragen werden sollten, in denen die Arbeiterschaft maßgebend vertreten ist.

In der 62. Sitzung der Nationalversammlung vom 21. Juli 1919 hat Sinzheimer seinen Standpunkt hinsichtlich des Verhältnisses von Ar-beits-und Wirtschaftsräten abschließend formuliert. Gleichzeitig hat er seinen Gegensatz zu dem auf dem integralen Klassenkampf beruhenden „reinen" Rätesystem wie folgt zum Ausdruck gebracht: „Im Wirtschaftsleben besteht aber nicht nur ein Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital, sondern auch eine Gemeinschaft. Diese Gemeinschaft wird begründet durch das Produktionsinteresse der Arbeitgeber und Arbeitnehmer."

Sinzheimer erblickte in den Arbeiterräten öffentlich-rechtliche Vertretungen, die „als einseitige Interessenvertretungen der Arbeiterschaft den geschäftlichen Einfluß der Arbeiterschaft zu erhöhen und zur Geltung zu bringen haben", im Gegensatz zu den Wirtschaftsräten, denen die Funktion zufällt, „die gemeinsamen Produktionsaufgaben, an denen Arbeitgeber und Arbeiter interessiert sind, zur Geltung zu bringen"

Der Rätespezialist der SPD und der Gewerkschaften war ein Nicht-Marxist.

Sinzheimer war bereit, von Marx die Lehre von der Einheit der Arbeiterbewegung und ihres Befreiungskampfes zu übernehmen, „wenn wir sie auch mit neuem idealistischen Geist erfüllen können und wollen" Der Lebenswille der Rätebewegung sei — so führte Sinzheimer auf der Ad-hoc-Konferenz aus — darauf gerichtet, organisch zum Ausdruck zu bringen, daß die Arbeiter nicht nur Arbeiter sein wollten, vielmehr bestrebt seien, an der wirtschaftlichen Verwaltung gleichberechtigt mitzuwirken

Sinzheimers vor dem Krieg entworfenes Projekt der „sozialen Selbstbestimmung" beruhte auf der Prämisse, daß die autonomen Verbände Träger der geplanten Wirtschaftsund Sozialordnung sein sollten. Diese Idee schloß stillschweigend das Postulat ein, den Verbänden auch das Recht einzuräumen, die Funktionäre dieser sozialen Verfassungsordnung zu bestellen. (In einem im Jahre 1929 in der Zeitschrift „Die Gesellschaft" veröffentlichten Artikel „Kollektive Demokratie" 82a) habe ich versucht, die verfassungspolitische Bedeutung dieses Präsentations-bzw. Nominationsrecht darzutun.)

Soziale Selbstbestimmung, die zur Zeit ihrer Konzipierung das non plus ultra einer progressiven Sozialordnung darstellte, wurde während der Revolution nicht zuletzt deshalb als erzreaktionär verschrieen, weil sie das (der „reinen" Rätebewegung wesensmäßige) indirekte Wahlverfahren durch das Prinzip der „kollektiven Demokratie" zu ersetzen versuchte. Das Projekt Sinzheimers fand während des Krieges in dem Modell der Arbeitsgemeinschaft seine praktisch höchst unvollkommene, jedoch prinzipiell höchst bedeutsame Verwirklichung.

Die Anhänger der sozialen Selbstbestimmung waren nicht stark genug, um die Aufnahme von Bestimmungen in die Verfassung durchzusetzen, die ihren Vorstellungen über die Bestellung der Funktionäre einer künftigen Wirtschafts-und Sozialordnung entsprachen. Sie waren aber stark genug zu verhindern, daß diese Wahlen nach Sowjetprinzipien vor sich gehen sollten. Mit Recht hat Tatarin Tarnheyden darauf hingewiesen, daß „eine organische Verbindung zwischen den Betriebsarbeiterräten und den Räten höherer Ordnung in der Verfassung nicht vorgesehen sei"

Nur allzu bald sollte sich jedoch herausstellen, daß diese aus dem Verfassungstext ausgeklammerte Frage höchst platonisch war, weil mit Ausnahme des vorläufigen Reichswirtschaftsrats Räte oberhalb der Betriebs-ebene niemals errichtet worden sind.

In der am 5. Mai 1920 erlassenen Verordnung über den vorläufigen Reichswirtschaftsrat ist bezeichnenderweise vorgesehen, daß dessen Arbeitgeber-und Arbeitnehmermitglieder in der Regel von den Zentralarbeitsgemeinschaften zu benennen sind. Wie Karl Korsch dargelegt hat, sei unter dem wohlklingenden Namen des Rätesystems etwas anderes in der Verfassung verankert worden, nämlich ein treues Abbild der Arbeitsgemeinschaft. Dieser Feststellung hätte Sinzheimer vermutlich im Prinzip nicht widersprochen, jedoch darauf hingewiesen, daß nach seiner Vorstellung die Arbeitsgemeinschaften nicht berufen seien, die in der Verfassung vorgesehenen Wirtschaftsräte voll und ganz zu ersetzen, weil letztere nicht nur Arbeitgeber-und Arbeitnehmer, sondern „alle Beteiligten“ umfassen sollten

In einer „kritischen Übersicht der sozialen Bewegung“, die sich mit der Gewerkschaftsbewegung 1918/19 beschäftigt, hat Emil Lederer dargelegt, die auf dem Verbandstag der Metallarbeiter von 1919 ausgebootete Mehrheit habe den Standpunkt vertreten, in den Arbeisgemeinschaften dürfe nur das „in System gebrachte Verhandeln mit dem Unternehmer" erblickt werden. „Jede Gewerkschaft müsse mit dem Arbeitgeber verhandeln. Warum soll man dann nicht auch über die Verteilung der Rohstoffe, über handelspolitische Fragen, über sozialpolitische Fragen, über Innen-und Außenhandel, über die Produktion, über die Produktivität der einzelnen Betriebe sprechen, wie es die Arbeitsgemeinschaft vorsehe?"

Dies dürfte auch dem Standpunkt der Anhänger der Theorie der sozialen Selbstbestimmung und der Mehrheit der Gewerkschaftsführer außerhalb des besonders radikalen Metallarbeiterverbands entsprochen haben. Ihnen mußte der Gedanke absurd erscheinen, einen Ausgleich zwischen Räten als Instrumenten des Klassenkampfes zwecks Verwirklichung der Diktatur des Proletariats und Räten als Instrumenten der Tarifpolitik zwecks Verwirklichung der Klassenparität herzustellen.

„Reines“ Rätesystem und soziale Selbstbestimmung waren unvereinbar, weil letztere von der Prämisse ausging, daß es nicht nur antagonistische, sondern auch konforme Interessen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern gebe.

Karl Korschs Diktum, nicht die Räte, sondern die Arbeitsgemeinschaft sei in der Verfassung „verankert", das m. E. zutreffend ist, zieht das Fazit aus der Niederwerfung der Räterevolution von Februar/März 1919. Die berechtigte Empörung, die die hierbei verwandten Methoden ausgelöst haben, hat bis zum heutigen Tage vielfach den Blick für die gesamtpolitische Bedeutung dieses Vorgangs getrübt. Eine revolutionäre Bewegung kann aber nicht allein schon dadurch ihre historische Berechtigung dartun, daß sie auf die Brutalität verweist, mit der sie unterdrückt worden ist.

10. Die Bilanz

Die Bilanz der großen Auseinandersetzung zwischen „reinem" Rätesystem und „sozialer Selbstbestimmung" schließt — wenn auch nicht völlig — negativ ab. Das „reine" Rätesystem ist ein Traum, die soziale Selbstbestimmung ein Torso geblieben. Das „reine" Rätewesen, wie es Ernst Däumig vorgeschwebt hat, war im Verlauf der Geschichte der Weimarer Republik zur Legende geworden, die zur Zeit der Begründung der Bonner Republik verblaßt war. Die von akademischen Kreisen versuchten Wiederbelebungsbemühungen, die in der jüngsten Vergangenheit vorgenommen wurden, haben in der deutschen Arbeiterschaft bisher keinen Widerhall gefunden; das jugoslawische Rätemodell beruht auf anderen Voraussetzungen und verfolgt andere Ziele als das „reine" Rätewesen.

Soweit von einer Renaissance der Räteideologie die Rede sein kann, ist sie primär als Ausfluß einer weitverbreiteten Verdrossenheit mit der Repräsentativdemokratie und aus dem Be-streben zu erklären, durch Neubelebung der Tradition einer plebiszitären Demokratie die Vision einer herrschaftslosen Gesellschaft ihres utopischen Charakters zu entkleiden.

Durch ihren leidenschaftlichen Kampf gegen den Versuch, das Postulat der proletarischen Klassendiktatur durch die Idee einer auf Parität beruhenden Klassenharmonie zu ersetzen, haben die Anhänger des „reinen“ Rätewesens in der Weimarer Zeit maßgeblich dazu beigetragen, daß unter dem Druck ihrer radikalen Elemente die Gewerkschaften die Arbeitsgemeinschaften aufgekündigt haben. Die Abkehr von der Arbeitsgemeinschaft bedeutete zugleich die Absage an die Konzeption eines Rätesystems wie sie in Artikel 165 der Weimarer Verfassung niedergelegt worden war. Hieran konnte auch der Erlaß des Betriebsräte-gesetzes mit seinen Arbeiter-, Angestellten-und Betriebsräten und die Errichtung eines vorläufigen Reichswirtschaftsrats nichts Nennenswertes ändern — und dies um so weniger, als die in der Verfassung vorgesehenen sonstigen „Räte" niemals zustande gekommen sind. Überreste aus der Ideologie der Arbeitsgemeinschaft sind jedoch in Gestalt des Gedankens der „Mitbestimmung“ lebendig geblieben, trotz der Verketzerung, der diese Vorstel-lung in der Weimarer Zeit ausgesetzt war und trotz der Diffamierung durch den Nationalsozialismus, der sich nicht nur in Staat und Partei, sondern auch in Betrieb und Unternehmen dem „Führerprinzip“ verschrieben hatte. Autoritäres Führerprinzip und paritätische Mitbestimmung sind aber sich ausschließende Gegensätze.

Angesichts der Bedeutung, die heute dem Gedanken der Parität zukommt, ist es ein dringendes Gebot der Stunde, die Vergangenheit der deutschen Revolution von 1918/19 auch insoweit zu „bewältigen", als es sich um die Auseinandersetzung zwischen „reinem" Räte-system und „sozialer Selbstbestimmung" gehandelt hat.

Anhang: „Räteartikel" der Weimarer Verfassung

Artikel 156 Das Reich kann durch Gesetz, unbeschadet der Entschädigung, in sinngemäßer Anwendung der für Enteignung geltenden Bestimmungen, für die Vergesellschaftung geeignete private wirtschaftliche Unternehmungen in Gemein-eigentum überführen. Es kann sich selbst, die Länder oder die Gemeinden an der Verwaltung wirtschaftlicher Unternehmungen und Verbände beteiligen oder sich daran in anderer Weise einen bestimmenden Einfluß sichern. Das Reich kann ferner im Falle dringenden Bedürfnisses zum Zwecke der Gemeinwirtschaft durch Gesetz wirtschaftliche Unternehmungen und Verbände auf der Grundlage der Selbstverwaltung zusammenschließen mit dem Ziele, die Mitwirkung aller schaffenden Volks-teile zu sichern, Arbeitgeber und Arbeitnehmer an der Verwaltung zu beteiligen und Erzeugung, Herstellung, Verteilung, Verwendung, Preisgestaltung sowie Ein-und Ausfuhr der Wirtschaftsgüter nach gemeinwirtschaftlichen Grundsätzen zu regeln.

Die Erwerbs-und Wirtschaftsgenossenschaften und deren Vereinigungen sind auf ihr Verlangen unter Berücksichtigung ihrer Verfassung und Eigenart in die Gemeinwirtschaft einzugliedern.

Artikel 165 Die Arbeiter und Angestellten sind dazu berufen, gleichberechtigt in Gemeinschaft mit den Unternehmern an der Regelung der Lohn-und Arbeitsbedingungen sowie an der gesamten wirtschaftlichen Entwicklung der produktiven Kräfte mitzuwirken. Die beiderseitigen Organisationen und ihre Vereinbarungen werden anerkannt.

Die Arbeiter und Angestellten erhalten zur Wahrnehmung ihrer sozialen und wirtschaftlichen Interessen gesetzliche Vertretungen in Betriebsarbeiterräten sowie in nach Wirtschaftsgebieten gegliederten Bezirksarbeiterräten und in einem Reichsarbeiterrat.

Die Bezirksarbeiterräte und der Reichsarbeiterrat treten zur Erfüllung der gesamten wirtschaftlichen Aufgaben und zur Mitwirkung bei der Ausführung der Sozialisierungsgesetze mit den Vertretungen der Unternehmer und sonst beteiligter Volkskreise zu Bezirkswirtschaftsräten und zu einem Reichswirtschaftsrat zusammen. Die Bezirkswirtschaftsräte und der Reichswirtschaftsrat sind so zu gestalten, daß alle wichtigen Berufsgruppen entsprechend ihrer wirtschaftlichen und sozialen Bedeutung darin vertreten sind.

Sozialpolitische und wirtschaftspolitische Gesetzentwürfe von grundlegender Bedeutung sollen von der Reichsregierung vor der Einbringung dem Reichswirtschaftsrate zur Begutachtung vorgelegt werden. Der Reichswirtschaftsrat hat das Recht, selbst solche Gesetzesvorlagen zu beantragen. Stimmt ihnen die Reichsregierung nicht zu, so hat sie trotzdem die Vorlage unter Darlegung ihres Standpunktes beim Reichstag einzubringen. Der Reichswirtschaftsrat kann die Vorlage durch eines seiner Mitglieder vor dem Reichstag vertreten lassen.

Den Arbeiter-und Wirtschaftsräten können auf den ihnen überwiesenen Gebieten Kontroll-und Verwaltungsbefugnisse übertragen werden.

Aufbau und Aufgabe der Arbeiter-und Wirtschaftsräte sowie ihr Verhältnis zu anderen sozialen Selbstverwaltungskörpern zu regeln, ist ausschließlich Sache des Reichs.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Korrespondenzblatt der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands 1919, S. 47.

  2. Die Regierung der Volksbeauftragten 1918/19.

  3. Arthur Rosenberg, Die Geschichte der Weimarer " epublik, Frankfurt 1953, S. 62.

  4. Leipzig 1916, S. 181 ff.

  5. A. a. O., S. 186.

  6. Vgl. hierzu Walter Tormin, Zwischen Rätediktatur und sozialer Demokratie, Düsseldorf 1956, S. 46.

  7. Zitiert in: Tormin, a. a. O., S. 28.

  8. Der Bolschewismus im Urteil der deutschen So? a'demokratie, Berlin 1967, S. 169.

  9. Zitiert nach Hans Herzfeld, Die deutsche Sozialdemokratie und jig Auflösung der nationalen Einneitsfront im Weltkrieg, Leipzig 1928, S. 127.

  10. Max Weber, Gesammelte politische Schriften, München 1921, S. 486.

  11. Ebenda, S. 284.

  12. J. J. Rousseau, Contrat Social, Buch 3, Kap. 15.

  13. Vgl Ernst Fraenkel, Strukturanalyse der modernen Demokratie, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament B 49/69, S. 13.

  14. Max Adler, Demokratie und Rätesystem, Wien 1919, insbes. S. 7 ff.

  15. Hans Kelsen, Sozialismus und Staat, Leipzig

  16. M. Adler, a. a. °-. S. 23.

  17. ebenda, S. 32.

  18. H. Kelsen, a. a. O., S. 138.

  19. H. Kelsen, a. a.. O., S. 124/25.

  20. Wien 1922, S. 122 ff.

  21. M. Adler, Demokratie und Rätesystem, S. 12.

  22. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 47, S. 337 ff.

  23. Paul Szende, a. a. O., S. 358.

  24. Ebenda, S. 356.

  25. Ebenda, S. 356 L

  26. Ebenda, S. 356.

  27. Oskar Auweiler, Die Rätebewegung 1905— 1921 Leiden 1958, insbes. S. 53 ff. u. S. 136 ff.

  28. Emil Lederer, Einige Gedanken zur Soziologie der Revolutionen, Leipzig 1918 S. 7.

  29. Berlin u. Leipzig 1926, S. 24 ff.

  30. Vgl. hierzu: Correspondenzblatt der General-Kommission der Gewerkschaften Deutschlands, 29. aahrgang, S. 63, 135, 145— 147, 176, 190— 192.

  31. Arthur Feiler, Der Ruf nach den Räten, S. 30.

  32. Ebenda, S. 19.

  33. S. 27.

  34. S. 20.

  35. Feiler, S. 21.

  36. Ebenda, S. 30.

  37. Zitiert bei Feiler, a. a. O., S. 11.

  38. Zitiert bei Feiler, a. a. O., S. 17.

  39. Princeton 1966.

  40. Feldman, a. a. O., S. 379.

  41. Sozialpolitik in der Weimarer Republik, Stutt-gart 1949, S. 85.

  42. Reichert, Entstehung, Bedeutung und Ziel der Arbeitsgemeinschaft, Berlin 1919, S. 14.

  43. Ebenda, S. 15.

  44. Wien 1925, S. 99; dort auch der volle Wortlaut der oben zitierten Anträge.

  45. Das Problem der berufsständischen Vertretung, Stuttgart u. Berlin 1921, S. 114.

  46. Vossische Zeitung v. 26. 2. 1919.

  47. Wortlaut der umfangreichen Erklärung in: Corgspondenzblatt der Generalkommission der Ge-Wekschaften Deutschlands v. 15. 3. 1919, S. 102.

  48. Friedrich Stampfer, Demokratie und Revolution, ^Vorwärts v. 31. 1. 1919,

  49. Protokoll der Parteikonferenz In Weimar am “. /23. 3. 1919, s. 32.

  50. Ebenda.

  51. Berlin 1928, S. 99.

  52. Eberhard Kolb, Rätewirklichkeit und Räteideologie in der deutschen Revolution von 1918/19, Stuttgart 1968, S. 102 f. Die eindruckvollste Würdigung Däumigs findet sich in dem stilistisch vollendeten Nachruf, den P. L. (Paul Levi?) am 6. '1922 in der USPD-Zeitung „Die Freiheit" veröffentlicht hat.

  53. Halle 1904, S. 4.

  54. Peter v. Oertzen, Betriebsräte in der Novemberrevolution, Düsseldorf 1963, S. 333.

  55. In: Unabhängiges sozialdemokratisches Jahrbuch für Politik und proletarische Kultur. Die Revolution, > 920, S. 84— 97, insbes. S. 94.

  56. Ludwig Bendix, Bausteine der Räteverfassung, Berlin 1919, S. 144.

  57. Verhandlungen des Reichstags, Bd. 348, S. 3208.

  58. Rätegedanke, a. a. O., S. 86 f

  59. Ebenda, S. 84.

  60. Berlin 1928, S. 102 ff.

  61. Ernst Fraenkel, Hugo Sinzheimer, in: Juristen-Leitung 1958, S. 457 ff.

  62. Leipzig 1907/08.

  63. München u. Leipzig 1916.

  64. A. a. O„ S. 199.

  65. Berlin 1906, insbes. S. 67 ff.

  66. A. a. O., S. 181— 202.

  67. München 1909.

  68. Sinzheimer, Ein Arbeitstarifgesetz, S. 186.

  69. Ebenda.

  70. Ebenda, S. 198.

  71. Ebenda, S. 193.

  72. Ebenda, S. 197.

  73. Ernst Fraenkel, Strukturanalyse der modernen Demokratie, in; Xus Politik und Zeitgeschichte, 8 49/69, S. 23.

  74. Das Rätesystem, Berlin 1919, S. 13.

  75. Ebenda, S. 29.

  76. Aktenstück Nr. 391, S. 50.

  77. Protokoll, a. a. O., S. 38.

  78. Die Zukunft der Arbeiterräte — Eine Frage der sozialen Demokratie, in: Die Tat.

  79. Heilfron, Die deutsche Nationalversammlung, Berlin 1919, S. 4262.

  80. Ebenda.

  81. Bericht Sinzheimers an den Verfassungsausschuß der Nationalversammlung vom 2. 6. 1919, Aktenstück 391, S. 50.

  82. Protokoll, a. a. O., S. 33.

  83. Tatarin Tarnheyden, Berufsverbände und Wirtschaftsdemokratie, Berlin 1930, S. 84.

  84. RGBl. 1920, S. 858. „

  85. Karl Korsch, Arbeitsrecht für Betriebsräte, Benin 1922, S. 90.

  86. Sinzheimer, Das Rätesystem, a. a. O., S. 15.

  87. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpoli«k 47. Bd., 1920— 1921, S. 219 ff., insbes. S. 262.

  88. Ebenda, S. 262.

Weitere Inhalte

Ernst Fraenkel, Dr. jur. und Dr. phil. honoris causa der Universität Bern, o. Professor für die Wissenschaft von der Politik (emerit.), geb. 26. Dezember 1898 in Köln. Veröffentlichungen u. a.: USA, Weltmacht wider Willen, Berlin 1957; Staat und Politik (mit Karl-Dietrich Bracher), Frankfurt 1964 3; Die repräsentative und plebiszitäre Komponente im demokratischen Verfassungsstaat, Tübingen 1958; Amerika im Spiegel deutschen politischen Denkens, Köln/Opladen 1958; Das amerikanische Regierungssystem, Köln/Opladen 1963 2; Öffentliche Meinung und internationale Politik, Tübingen 1962; Deutschland und die westlichen Demokratien, Stuttgart 1968 ; * The Dual State — Contributions to the Theory of Dictatorship, 1969 2; Military Occupation and the Rule of Law — Occupation Government in the Rhineland 1918— 1923, 1944.