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Israels außenpolitisches System | APuZ 32/1971 | bpb.de

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APuZ 32/1971 Israels außenpolitisches System Entkolonialisierungsprozeß und Völkerrecht

Israels außenpolitisches System

Michael Brecher

/ 45 Minuten zu lesen

Dieser Beitrag ist das — am Anfang geringfügig gekürzte — Schlußkapitel aus dem in Kürze erscheinenden Buch des Autors, The Foreign Policy System of Israel; Setting, Images, Process, Oxford University Press, London. Der Text wurde von Karl Römer, Bad Godesberg, übersetzt.

Die ersten zwanzig Jahre

Marion Mushkat Entkolonialisierungsprozeß und Völkerrecht ........................................ S. 20

Entscheidungen (oder „Outputs") der Außenpolitik, die das Staatsverhalten konstituieren, sind das Produkt der Interaktion von Kräften (oder „Inputs") zwischen und innerhalb von zwei Umwelten: der operationalen (oder realen) und der psychologischen (oder vorgestellten) Umwelt. Es ist eine Hauptaufgabe der außenpolitischen Analyse, diese beiden Umwelten zu erforschen, ihre Bestandteile zu untersuchen und ihre Konvergenz-und Divergenzpunkte festzustellen. Die operationale Umwelt gibt an, wo die Grenzen des Möglichen im außenpolitischen Entscheiden und Handeln liegen; die psychologische Umwelt zeigt, was denen, die zu entscheiden haben, als wünschenswert erscheint.

Grundpostulat Ein unserer Untersuchung lautet, daß die Folgen einer politischen Entscheidung um so ungünstiger sein werden, je weniger die beiden Umwelten sich decken. Deshalb ist es notwendig, die operationale und die psychologische Umwelt sorgfältig zu untersuchen. Wichtig ist es auch, den Kreis derer zu bestimmen, die in der „hohen Politik", auf strategischer Ebene, die Entscheidungen fällen. Das Einstellungsprisma und die spezifischen Vorstellungen dieser Personen liefern den Schlüssel zum Verständnis der Triebkraft des Staatsverhaltens — der psychologischen Umwelt.

Die operationale wie die psychologische Umwelt kann in eine interne und eine externe Kategorie aufgeschlüsselt werden, die jeweils fünf Komponenten enthalten: Die externe Kategorie umfaßt das globale System, das nahöstliche Untersystem, weitere Untersysteme, die auf das staatlich-politische Verhalten ein-wirken, bilaterale Beziehungen zu dominanten Mächten innerhalb des internationalen Systems und schließlich spezifische bilaterale Beziehungen zu jedem beliebigen Staat in diesem System. Die interne Umwelt-Kategorie enthält folgende Komponenten: die militärische und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, die politische Struktur, Interessengruppen sowie rivalisierende Eliten.

Die Analyse geht von einer Untersuchung der operationalen Umwelt der israelischen Außenpolitik aus, streift das Kommunikationssystem, durch das den Entscheidenden die politische Wirklichkeit vermittelt wird, und wendet sich dann einer Beschreibung der politischen Elite Israels zu, das heißt derjenigen, die durch das politische System legitimiert sind, politisch-strategische Entscheidungen zu treffen. Die Einwirkungen der operationalen Umwelt auf die psychologische Umwelt gab des weiteren Anlaß zu einer Untersuchung über den Prozeß der Formulierung und Durchführung von Entscheidungen im außenpolitischen System Israels. Es sind dabei drei Stadien der politischen Entscheidung voneinander abzuheben: Strategie, Taktik und die Durchführung; in unserer Darstellung liegt das Schwergewicht auf dem ersten Stadium: der Strategie der israelischen Außenpolitik während der ersten zwanzig Jahre seit der Staatsgründung.

Zu welchen Ergebnissen gelangt eine Untersuchung des außenpolitischen Systems Israels? Am besten lassen sie sich unter den skizzierten Kategorien zusammenfassen, die wir zu diesem Zweck noch weiter untergliedern. Wir beginnen mit der operationalen Umwelt.

Das globale System

Das globale System der internationalen Politik unterlag im Untersuchungszeitraum einem ständigen Wandel seiner Struktur und Textur.

Drei Phasen lassen sich unterscheiden: strenge Bipolarität von 1948 bis 1956, lockere Bipolarität von 1956 bis 1962, danach Polyzentrismus. Die Hauptakteure während dieser ganzen Zeit waren die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion, die Supermächte. Sie verfolgten ihre Ziele mit vielfältigen Instrumenten und Institutionen politischer, wirtschaftlicher, psy-chologischer, ideologischer und militärischer Art, im Rahmen der UNO wie auch mit Hilfe regionaler Organisationen und Blöcke, wobei sie mitunter mehr, mitunter weniger offenen Druck ausübten.

Diese Ziele und Methoden berührten die Lebensinteressen aller Staaten, so auch die Israels. Einige Illustrationen dazu werden genügen: — Die Zustimmung der Supermächte war entscheidend für die Annahme des UN-Teilungsbeschlusses im November 1947 und für die Aufnahme Israels in die UNO im Mai 1949.

— Die Militärhilfe des Sowjetblocks für Israel während des Unabhängigkeitskrieges von 1948 war lebenswichtig.

— Umfangreiche Waffenlieferungen des Sowjetblocks an Ägypten in den Jahren 1955 bis 1956 schufen den Zustand der Unsicherheit, der im Sinai-Feldzug kulminierte, und der vereinte Druck Washingtons und Moskaus erzwang den Rückzug Israels aus demGaza-Streifen und von der Sinai-Halbinsel im Jahre 1957.

— Die militärische und politische Unterstützung der Sowjetunion für Ägypten — sowie schwere Fehlkalkulationen — trugen entscheidend zum Ausbruch des Sechstagekrieges bei.

— In den Jahren 1969/70 waren sowohl die Handlungen wie die Unterlassungen der Supermächte abermals ausschlaggebend für eine neue Phase heftiger arabisch-israelischer Konfrontation. Dies und vieles andere läßt ein ständiges Merkmal der operationalen Umwelt der israelischen Außenpolitik erkennen: das unwiderstehliche Eindringen der dominierenden Mächte des globalen Systems in das nahöstliche Untersystem. Die Bedeutung dieses Umweltdrucks lag nie so klar zutage wie in dem Augenblick, da dies geschrieben wurde (Dezember 1970).

Die Weltorganisation im globalen System war auch in Israels äußerer Szenerie allgegenwärtig. Die UNO war Zeugin der Geburt eines modernen jüdischen Staates — manche würden sagen, sie war seine Hebamme. Ihr gelang es, die erste Runde des arabisch-israelischen Krieges zu beenden, und sie unterstützte den Fortgang der Verhandlungen, die zum Waffenstillstand von 1949 führten. Die gemischten Waffenstillstandskommissionen und der Stabschef der UNTSO (United Nations Truce Super-vision Organization = Organisation der Vereinten Nationen zur Überwachung des Waffenstillstandes) legten von Zeit zu Zeit Spannungen im Grenzgebiet bei. Die UNEF (United Nations Emergency Force = Eingreiftruppe der Vereinten Nationen) half in den Jahren 1957 bis 1967, die streitenden Parteien auseinander-zuhalten, bis dann ein unbesonnener Generalsekretär die Lage auffallend falsch beurteilte und zu jener Reihe von Fehlkalkulationen beitrug, die im Sechstagekrieg gipfelten. Seither dreht sich der aus jenem Krieg herrührende diplomatische Konflikt, in den Supermächte, Großmächte, mittlere Mächte und die Parteien selbst verwickelt sind, vorwiegend um die von der UNO sanktionierte Waffenruhe und um die Resolution des Sicherheitsrates vom 22. November 1967. Die Vereinten Nationen waren also stets eine Quelle äußerer Einwirkung auf den arabisch-israelischen Konflikt. Aber im Unterschied zu den USA und zur UdSSR beeinflußten sie — abgesehen von den Jahren 1948/49 — die außenpolitischen Entscheidungen Israels nur unwesentlich.

Die meisten Charakteristika des globalen Systems in den Jahren 1948 bis 1968 waren für die israelische Außenpolitik irrelevant. Betrachtet man die Periode als Ganzes, erlangten nur zwei einen ausschlaggebenden Einfluß auf die israelischen Entscheidungen. Das eine Charakteristikum war das Eindringen der Supermächte und der UNO in die Region und ihre Einwirkung auf den Konflikt. Das andere war eine sich ständig vervollkommnende Zerstörungstechnik, die immer kostspieligere und kompliziertere Waffen hervorbrachte. Israel und die arabischen Staaten erstrebten und erlangten den Besitz solcher Waffen.

Das Untersystem

Als Teil der außenpolitischen Umwelt Israels betrachtet, umfaßt das nahöstliche Untersystem drei konzentrische Kreise von Staaten: einen Kern, bestehend aus Israel und seinen fünf unmittelbaren arabischen Nachbarn; eine Peripherie aus acht Staaten, darunter vier nichtarabischen — Zypern, Äthiopien, dem Iran und der Türkei; und einen äußeren Ring aus sechs Staaten, der sich vom Maghreb bis zum Südjemen erstreckt. Einige Staaten wechselten im Laufe der zwanzig Jahre aus der einen in die andere Kategorie über; einige gingen erst sehr spät in das System ein, aber die Kerngruppe blieb konstant. Der Konflikt war permanent, wobei die Kurve der Gewaltsamkeit dreimal emporschnellte — 1948, 1955/56 und 1967.

Zwei Charakteristika — das eine ein vorübergehendes, das andere ein wohl andauerndes — machen das nahöstliche System zu einer entscheidenden Komponente der außen-politischen Umwelt Israels: die bis zu ständigen Vernichtungsdrohungen gehende Feindschaft der Araber und das tiefe Eindringen einer Supermacht, die Israels erklärten Feinden massive Militärhilfe leistete. Andere wichtige Besonderheiten des Systems sind das steigende Rüstungsniveau, das Israel zu hohen Ausgaben nötigt; Tendenzen zur politischen, wirtschaftlichen und besonders militärischen Integration der arabischen Staaten, die Israels Sicherheit ernstlich gefährden; die politische Instabilität in vielen dieser Staaten, die dazu verleiten konnte, den Krieg gegen Israel als den großen Einiger zu benutzen; und schließlich die Tatsache, daß der Nahe Osten eine Zone offener Rivalität zwischen den Supermächten und ihren Blöcken ist, wobei die Durchdringung ihren Höhepunkt in der dritten Phase, nach dem Krieg von 1967, erreichte. Wie erwähnt, war in der ganzen Periode kein anderes Untersystem von Bedeutung. Westeuropa wurde allerdings als Quelle militärischer und diplomatischer Unterstützung für Israel immer wichtiger, und Anschluß an die EWG zu gewinnen, war ein außenpolitisches Hauptziel der sechziger Jahre.

Militärische Leistungsfähigkeit

In allen realen Meßwerten militärischer Stärke — Geographie, dienstfähige Menschen, für Militärzwecke verfügbare Finanzmittel, Rüstung — waren die Araber vor dem Krieg von 1967 merklich überlegen. Daß Israel in drei Runden des Kampfes den Sieg davontrug, hatte es der Tatsache zu verdanken, daß es gleichfalls einige Trümpfe besaß: geographische Gegebenheiten, ein exakt funktionierendes Frühwarnsystem, einen wirksam arbeitenden Nachrichtendienst, die Strategie der offensiven Verteidigung oder abfangenden Kriegführung, innere Verbindungslinien als Ausgleich für eine winzige Landbasis, schließlich die Tatsache, daß Ägypten und die Staaten, die die arabische Ostfront bilden, nicht direkt aneinandergrenzen.

Der potentiell überlegenen arabischen Mannschaftsstärke konnte Israel stets ein qualitativ höherwertiges Mobilisierungssystem entgegensetzen. Zu dem ist die Tzahal — die Verteidigungsarmee Israels — besser ausgebildet, verfügt über Opferbereitschaft und Siegeswillen und hat eine mehr schöpferischere Führung. Seine geringeren finanziellen Ressourcen macht Israel wett durch nutzbringendere Verwendung, durch Opfer des gesamten Volkes in Form hoher Steuern und durch die ständige Unterstützung des Weltjudentums. Und schließlich — das ist der wichtigste Aktivposten — hatte und hat die Bevölkerung nahezu einhellig das Bewußtsein des Ein Breirah (keine Alternative): so gut wie jeder in Israel ist überzeugt, daß eine Niederlage gleichbedeutend mit Vernichtung wäre. Kurz, die Tatsache der arabischen Überlegenheit in den materiellen Meßwerten militärischer Macht bestimmt in hohem Maße das Denken der politisch Verantwortlichen in Israel und veranlaßt sie, unablässig nach militärischer Rüstung zu streben; sie ist einer der wichtigsten „Inputs“ in das außenpolitische System Israels. Anders ausgedrückt: Israels Verhalten gegenüber der Außenwelt ist weitgehend eine Reaktion auf dieses Ungleichgewicht. Das gilt auch für das Jahr 1971.

Wirtschaftliche Leistungsfähigkeit

In den ersten Jahren war die israelische Wirtschaft ungefestigt. Auch seither ist sie in hohem Grade — hinsichtlich der Arbeitskräfte, der Investitionen, der Rohstoffe und des technologischen Fortschritts — auf ausländische Hilfe angewiesen. Diese Tatsache war mitbestimmend für zwei wichtige Entscheidungen der israelischen Außenpolitik: für den Beschluß, deutsche Wiedergutmachungsleistungen zu fordern und anzunehmen (1950 bis 1952), und für die noch anhaltenden Bemühungen, assoziiertes Mitglied der EWG zu werden.

Eine gesunde, expandierende Wirtschaft war notwendig, um Krieg führen zu können; dieses Erfordernis wirkte als mächtiger Antrieb zu raschem wirtschaftlichen Wachstum. Tatsächlich erreichte Israel eine der höchsten und stabilsten Wachstumsraten der Welt. 1968 übertraf sein Sozialprodukt das jedes arabischen Staates; es war höher als das der vier östlichen arabischen Kernstaaten — Jordanien, Libanon, Syrien und Irak — zusammengenommen.

Zu dem Zeitpunkt, da der arabisch-israelische bewaffnete Konflikt in sein drittes Jahrzehnt eintrat, besaß Israel eine überlegene Wirtschaftskapazität zur Stützung seiner außen-politischen Ziele und zur Unterhaltung seiner Militärmacht. Diese Überlegenheit beruhte teils auf einer höherentwickelten industriellen Struktur, teils auf größerer Unabhängigkeit von der Auslandshilfe, die an politische Bedingungen geknüpft war. Allgemein scheint das Überlebenspotential Israels außer Zweifel zu stehen, sofern nicht eine Supermacht mit massiver und direkter militärischer Gewalt eingreift; denn Israel ist seinen arabischen Feinden in allen vier Grundkomponenten überlegen: in den Streitkräften, in der Wirtschaftskapazität, in der administrativen Kompetenz und vor allem im Willen zur Selbsterhaltung.

Die politische Struktur

Israel hat eine komplexe politische Struktur: sein Parteien-und Wahlsystem; die Institutionen, die Regeln aufstellen und anwenden; das Erbe an konstitutionellen Verfahren, durch welche Entscheidungen autorisiert werden. Ein Aspekt dieser Struktur, die Regierung durch Koalitionen, ist von der Außenpolitik beeinflußt worden, und zwar durch das Prinzip der Komplementarität der politischen Prioritäten. Während die Mapai (Arbeiterpartei) der Außenpolitik den Vorrang gibt, legt die Nationalreligiöse Partei (NRP) das Schwergewicht auf die jüdischen Traditionen: das Ehe-und Scheidungsrecht und dergleichen; diese Prioritäten sind von Anfang an gegeneinander aufgerechnet worden. Die Außenpolitik hat jedoch die Koalitionsbildung nie ernsthaft behindert. Das zeigte Kabinettsumbildung — die mit den linken Abweichlern — nach den Krisen wegen der deutschen Waffenlieferungen 1957 und 1958/59. Die Außenpolitik hat auch in den allgemeinen Wahlen keine entscheidende Rolle gespielt.

Bedeutsamer war der umgekehrte Einfluß — von der politischen Struktur auf die Außenpolitik. Der Koalitionscharakter der israelischen Regierung wirkte dabei als , Umwelt-Input'in das außenpolitische System. In den Jahren 1953 bis 1955 vereitelte Sharett mit Hilfe kleinerer Koalitionsparteien einige beabsichtigte Vergeltungsunternehmen; und Ende der fünfziger Jahre legten die linken Koalitionsmitglieder der Deutschlandpolitik Ben Gurions Hindernisse in den Weg. Auch die Regierungsprozedur wurde durch das Koalitionssystem beeinflußt: heikle Probleme wurden dem Kabinett vorenthalten. Hingegen hatten andere Elemente der politischen Struktur allenfalls periphere Bedeutung für die Außenpolitik: Weder Debatten in der Knesset und ihrem Ausschuß für Auswärtige Angelegenheiten und Sicherheit noch die Wahlen haben außenpolitische Entscheidungen jemals wesentlich verändert.

Interessengruppen und rivalisierende Eliten

Eine Reihe von israelischen Interessengruppen erhebt außenpolitische Forderungen und trägt sie an die Politiker heran, welche die Entscheidungen fällen. Die einflußreichste dieser Gruppen tritt in der Öffentlichkeit am wenigsten hervor: das Verteidigungs-Establishment, zu dem das höhere Offizierskorps gehört. Es drängt ständig darauf, mehr und bessere Waffen für die Tzahal (Israels Verteidigungsarmee) zu beschaffen. Mit weniger Erfolg hat es in Krisenzeiten versucht, Entscheidungen auf strategischer Ebene, das heißt Entscheidungen der hohen Politik, zu beeinflussen. Zum Beispiel bekämpfte es 1957 den Rückzug aus dem Gaza-Streifen und von der Sinai-Halbinsel; im Mai 1967 suchte es eine schnellere militärische Reaktion auf Nassers Herausforderung herbeizuführen.

Das Diaspora-Judentum tritt ebenfalls als Gruppe in Erscheinung, hat aber mit Israels außenpolitischem System nur am Rande zu tun. Wichtiger ist seine Hilfsfunktion bei der Durchführung der israelischen Entscheidungen, die es wahrnimmt, indem es die Regierungen der eigenen Länder drängt, Israel materiell und politisch zu unterstützen. Der bekannteste Repräsentant des Diaspora-Judentums, Nahum Goldmann, hat häufig abweichende Auffassungen vertreten — über die Stellung zur Sowjetunion, über die Bedingungen einer Friedensregelung usw. —, aber mit wenig feststellbarer Wirkung auf die außenpolitischen Entscheidungen Israels. Eine bemerkenswerte Ausnahme aber bildete die Frage der deutschen Wiedergutmachung. Gemeinsam mit vielen anderen drängte Goldmann die Regierung, sich um deutsche Zahlungen zu bemühen und sie anzunehmen.

Auch das Establishment des israelischen Außenministeriums tritt als Interessengruppe auf und verficht seine Meinungen in einer Vielzahl von Fragen, manchmal mit Erfolg, jedoch nicht immer mit Weisheit, so zum Beispiel, als es 1955 die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Peking verhinderte oder als es zu spät die Notwendigkeit erkannte, entschieden gegen die südafrikanische Apartheid-Politik Stellung zu nehmen.

Die genossenschaftlichen Interessengruppen haben praktisch keinen Einfluß auf die außen-politischen Entscheidungen. Die „Land-IsraelBewegung“ hat allerdings seit dem Krieg von 1967 die Handlungsfreiheit der politisch Verantwortlichen in gewissem Maße eingeengt, soweit es um die Bedingungen einer Friedensregelung geht.

Israelische Akademiker und Kommentatoren üben zwar in zunehmendem Umfang Kritik an der Politik Israels gegenüber seinen arabischen Nachbarn, doch gibt es keinen Beleg dafür, daß Entscheidungen von ihnen beeinflußt würden.

Die konkurrierenden politischen Parteien Israels zerfallen in drei große Kategorien: die ideologische Linke, die nationalistische Rechte und die Pragmatiker. Prototypen dieser drei Richtungen sind die Mapam (Arbeiterpartei, mehr links orientiert), die Cherut (Freiheitspartei, bildet zusammen mit der liberalen Partei eine Fraktion) und die Rafi (Arbeiterpartei, gehört zur Mapai-Fraktion). Es konkurrieren jedoch mehr Parteien mit der Mapai um die Macht, als es alternative außenpolitische Orientierungen gibt. Als Index der konkurrierenden Standpunkte kann die Haltung gegenüber „den Arabern" dienen. Die Mapam trat vor 1948 für einen binationalen Staat ein, ging dann über zu einer Politik der Zugeständnisse, der Aussöhnung, des Kompromisses und der Zusammenarbeit und befürwortete nach 1967 eine Konföderation mit Jordanien. Die weiter links stehende und traditionell antizionistische Maki propagiert seit den späten fünfziger Jahren die Anerkennung der nationalen Rechte sowohl der Juden wie auch der Araber. Die militanteste und kompromißloseste Haltung gegenüber „den Arabern“ nahmen die Achdut Haavoda (Arbeiter-Vereinigung; bildet zusammen mit der Mapai und der Mapam eine Fraktion) und die Cherut ein. Die erstere leitete diese Einstellung aus dem Kibbuz-Aktivismus ab, die andere aus der revisionistischen Ideologie.

Die Allgemeinen Zionisten und die Progressiven (= Unabhängige Liberale) stehen beide in ihrer Araber-Politik der Mapai nahe; die ersteren, die später den Namen „Liberale" annahmen, näherten sich jedoch dem härteren Standpunkt der Cherut, als sie sich 1965 mit ihr zur Gachal zusammenschlossen. Die Linken haben zweifellos keinerlei Änderung der von der Mapai beherrschten offiziellen Politik Israels gegenüber den arabischen Staaten bewirkt. Die Parteien der Mitte und die religiösen Parteien stimmten im großen und ganzen mit der Linie der Mapai überein. Wandel und Mäßigung auf dem wichtigsten Gebiet der Außenpolitik wurden vor allem von der

Achdut Haavoda und seit 1967 von der Cherut behindert. In der Koalitionsregierung „von Wand zu Wand" lähmten diese beiden Parteien zusammen mit dem „Falken" -Flügel der Mapai unter Führung von Ministerpräsidentin Meir den Entscheidungsprozeß in der brennendsten Frage des Staates.

Die Kommunikationsmittel

Informationen über die operationale Umwelt erhalten die Personen, die in Israel politische Entscheidungen treffen, vor allem durch Geheimdienstberichte, diplomatische Telegramme, Zeitungen und den Rundfunk. Die erstgenannten Quellen sind hauptsächlich wichtig für das Militär und die Elite der hohen Politik, die zweiten für die Beamten des Außenministeriums. Presse-und Rundfunk-meldungen sind die unentbehrliche Quelle der täglichen, ja stündlichen Information über die äußere Umwelt Israels.

Die beiden Medien Presse und Rundfunk sind dabei als komplementäre und nicht als kon-kurrierende Informationsquellen anzusehen. Wer sich nur aus der Zeitung Haarez allein oder auch aus den beiden Blättern Haarez und Maariv unterrichtet, erhält -ein begrenztes Tat sachenbild vermittelt. Das gleiche gilt für jede andere Zweierkombination aus den beiden führenden Tageszeitungen und den fast stündlichen Nachrichtensendungen des Rundfunk-senders Kol Yisrael. Nur eine Kombination aller drei Quellen liefert eine ausreichende Informationsgrundlage. Diplomatische und nachrichtendienstliche Berichte sowie eine Auswahl aus der Auslandspresse bilden für diejenigen, die zu entscheiden haben, eine notwendige Ergänzung.

Die Elite der hohen Politik

Wer traf in der israelischen Außenpolitik der Jahre 1948 bis 1968 die Entscheidungen auf strategischer Ebene? Die Elite der hohen Politik (zu unterscheiden von den technischen Eliten, welche die Entscheidungen durchführen) bestand aus einer kleinen, relativ homogenen Gruppe von 18 Personen. Zwei Drittel von ihnen kamen im Zarenreich — in Westrußland und auf dem Gebiet des späteren unabhängigen Polen — zur Welt, die Hälfte davon vor 1900. Tonangebend in dieser Elite waren in den ersten zwanzig Jahren der Unabhängigkeit Personen, die während der ZweitenAliya (Einwanderung von 1904 bis 1914) in Palästina eintrafen, und mit ihnen die Mentalität der Zweiten Aliya. Nur vier waren Sabras („Kaktus", in Israel geborene), nämlich Allon, Dayan, Rabin und Yadin; sie alle hatten sich ihre Sporen in der Tzahal (Verteidigungsarmee) verdient und waren vor allem im militär-und sicherheitspolitischen Sektor der Außenpolitik einflußreich.

Innerhalb der Elite der hohen Politik gab es einen inneren Kreis von neun Personen, die zu verschiedenen Zeiten ausschlaggebende

Rollen bei der Formulierung der Entscheidungen auf strategischer Ebene spielten: Ben Gurion und Sharett, die in der ersten Phase, 1948 bis 1956, als Duumvirat fungierten; Eschkol und Sapir während des größten Teils der Periode in der Wirtschaftspolitik und Eschkol als Erster unter Gleichen in der Außenpolitik von 1963 bis 1969; Meir, die einzige Frau in der Gruppe, ab 1956 besonders im politisch-diplomatischen Bereich; Dayan, Peres und Allon in Militärangelegenheiten, die beiden ersten in der Ben-Gurion-Ära nach dem Sinai-Feldzug, Dayan auch zuvor und danach, Allon seit Beginn der sechziger Jahre; schließlich Eban als Außenminister seit Anfang 1966.

In Wirklichkeit bestand der innere Kreis aus zwei durch Lebensalter, Herkunft und Weltanschauung voneinander geschiedenen Gruppen: einer „alten Garde" osteuropäischer Pioniere aus der Zweiten Aliya, die einem ideologischen Gemisch aus Zionismus und humanistischem Sozialismus anhingen, und einer „jungen Garde" von pragmatisch und technokratisch gesinnten Sabras oder Fast-Sabras.

Das Einstellungsprisma

Ein weiteres Grundpostulat unserer Untersuchung lautet: Außenpolitische Entscheidungen haben ihren Ursprung in dem Bild von der Umwelt, das sich die verantwortlichen Politiker der Kerngruppe machen. Die Art und Weise, wie die Mitglieder des inneren Kreises filtern, die Informationen bezeichnen wir als Einstellungsprisma. Dieses Prisma erhält seine Form durch verschiedene, in Wechselwirkung befindliche Kräfte in der Gesellschaft: die politische Kultur, das historische Erbe und die persönlichen Eigenschaften der entscheidenden Politiker.

Das dominierende Element der politischen Kultur ist für Israels inneren Kreis sein Judentum. Die Tatsache und das Bewußtsein, Jude zu sein, schafft in der Tat ein einzigartiges Prisma; seine Bestandteile sind:

— der Begriff der Judenheit als Welt-Volk, dessen integrierender Bestandteil Israel ist; — die Idee von Israel als der Bastion des Weltjudentums, entsprechenden Rechten mit und Pflichten;

— die Erinnerung an das jüdische Altertum und seine Verbindung mit Israel;

— die Geltendmachung der legitimen Rolle Israels als Wahrer der kollektiven und individuellen Interessen derer, die der Massenvernichtung entkamen;

— die Erwartung, das Weltjudentum werde bei der Wiederansiedlung eines Teils des jüdischen Volkes in seinem Heimatland helfen; — die „Zwei-Lager-These", die in der Judenheit den einzigen sicheren und zuverlässigen Bundesgenossen Israels sieht.

Diese Motive fanden Ausdruck in den Reflexionen verantwortlicher Politiker über grundlegende außenpolitische Probleme, von denen wir vier erwähnt haben: die Apartheid-Frage in der UNO, das Problem der sowjetischen Juden, die Hakenkreuz-Schmierereien von 1959 und den Fall Eichmann. Das Judentum war bei diesen Entscheidungen der dominierende Faktor aus beiden Umwelten.

Eine andere Dimension des Judentums in der israelischen Außenpolitik war das messianische Sendungsbewußtsein, das seinen stärksten Ausdruck in Ben Gurions Konzept fand, .den Völkern das Licht zu bringen"; die Bedeutung dieser Auffassung zeigten am klarsten die Entscheidungen über Afrika. Andere Elemente der politischen Kultur Israels, die sich auf die Außenpolitik auswirkten, waren die osteuropäische Herkunft und die sozialistische Ideologie von Mitgliedern der politischen Elite. So waren die Werte des sozialistischen Idealismus des 19. Jahrhunderts eine Haupttriebkraft der israelischen Politik gegenüber der Dritten Welt. Sie waren auch mitbestimmend dafür, daß Israel die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu dem faschistischen Regime Spaniens ablehnte. Für diesen Zusammenhang gibt es noch weitere Illustrationen. Vom historischen Erbe bestimmt wurde vor allem eine Überzeugung der verantwortlichen Politiker: die auf der uralten Erwartung einer Heimkehr beruhende Vorstellung von einer jüdischen Gegenwart im Heiligen Land. Sie führte zur ersten und wichtigsten außenpolitischen Entscheidung, zur Proklamation der Unabhängigkeit. Die Vorstellungen und die politischen Entscheidungen nach 1948 wurden auch von jüngeren historischen Erfahrungen beeinflußt — den Erfahrungen aus der Zeit des britischen Mandats. Aus jener Zeit stammt das Bewußtsein der Notwendigkeit, die Interessen Israels und des Weltjudentums miteinander in Einklang zu bringen, und ebenso datieren von daher die Reibungen zwischen den Vertretern einer mehr zurückhaltenden und einer aktiveren Richtung in der israelischen Außenpolitik.

Den Inhalt der Entscheidungen beeinflußten auch die persönlichen Prädispositionen der verantwortlichen Politiker, besonders die Dichotomie von Extremismus und Kompromiß, von Starrheit und Flexibilität. An dem einen Ende dieses Persönlichkeits-Spektrums standen Ben Gurion und Dayan, am anderen Sharett und Eban. Meir, Alton und Peres sowie — in geringerem Maße — Eschkol gehörten zur „härteren" Richtung, Sapir zur „weicheren". Ferner bestand ein Gegensatz zwischen „Wortmenschen" und „Tatmenschen", wobei allerdings einige der letzteren (Ben Gurion, Allon, Peres) auch mit dem Wort umzugehen wußten. Schließlich gab es den übermächtigen „BG-Komplex", unter dem alle israelischen Politiker bis zu Ben Gurions Jahre Rücktritt im 1963 — und viele noch länger wird der — litten. „Was Alte sagen" war eine entscheidende Frage vor jedem wichtigeren Beschluß.

Zu alledem kamen dann noch die frühesten Lebenserfahrungen der ersten Generation der politischen Führer Israels — Erfahrungen aus der Zeit vor ihrer Heimkehr nach Zion. Der osteuropäische Ghetto-Jude hatte ein selbstgenügsames und ruhiges Leben geführt, war aber isoliert und unberührt von den Entwicklungen außerhalb seines abgeschlossenen gesellschaftlichen Milieus geblieben. Als er nach Palästina kam, dachte er nur an den Wiederaufbau von Zion. Er wußte nichts von „den Arabern", und im großen und ganzen waren sie ihm als Volk, Kultur und Gesellschaft gleichgültig. Ben Gurion und andere Gründer-väter hegten die Vorstellung von einer historischen, unvermeidlichen Konfrontation zwischen zwei Welten, der arabischen und der jüdischen. Und dieses verzerrte Bild von einer geschlossenen, geeinten, homogenen „arabischen Welt" trug dazu bei, die Kluft zu vertiefen. Allgemein haben die Führer der Zweiten Aliya — mit der beachtenswerten Ausnahme Sharetts — „die Araber" nie verstanden, und sie haben sich auch kaum darum bemüht.

Die Vorstellungen der Elite

Alle diese prismatischen Elemente fanden ihren Niederschlag in den Auffassungen von der Welt, welche die einflußreichsten Gestalter der israelischen Außenpolitik äußerten. Das ergab der detaillierte Vergleich der im inneren Kreis herrschenden Vorstellungen, den wir am Ende des II. Teils der oben genannten Publikation vornahmen. Es genügt, hier die wichtigsten Ergebnisse zu rekapitulieren. 1. Die Auffassungen Ben Gurions und die Sharetts bildeten während der Periode 1948 bis 1968 für alle anderen Mitglieder des inneren Kreises die beiden Endpunkte des Kontinuums — den Pol des Mutes einerseits, den Pol der Vorsicht andererseits. 2. Die Unterschiede in Ben Gurions und Sharetts Vorstellungen vom globalen System waren politisch bedeutsamer als ihre Gemeinsamkeiten. Beide erkannten die Bipolarität des Systems und die zentrale Rolle des Konflikts zwischen den Supermächten; beide traten auch zunächst für eineNichtidentifikation mit einem der beiden Blöcke, später dann, nach Ausbruch des Korea-Krieges, für den engeren Anschluß an den Westen ein. Ben Gurions Haltung war jedoch mehr „innen-geleitet", diejenige Sharetts mehr „außen-geleitet"; das heißt, Sharett maß Worten und Taten des Auslandes viel mehr Bedeutung bei als Ben Gurion. Meir, Dayan und Peres folgten Ben Gurions Vorbild und betrachteten Entwicklungen im globalen System ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der eng aufgefaßten israelischen Sicherheitsinteressen. Eban schloß sich in dieser Hinsicht wie in den meisten anderen Sharett an. Allons Bild von den Supermächten war gefärbt durch seine ideologische Vorliebe für die Politik der Blockfreiheit. 3. Ben Gurion schätzte die weltpolitische Rolle der UNO gering und tat ihren Beitrag zur Schaffung Israels als Fiktion ab. Ebenso urteilten Dayan, Peres und — nicht ganz so scharf — Meir und Allon. Demgegenüber maßen Sharett und Eban der UNO große Bedeutung im israelisch-arabischen Konflikt und in der internationalen Politik überhaupt bei. 4. Ben Gurion betrachtete die Dritte Welt unter dem Gesichtspunkt der historischen Bewegung des Antikolonialismus, von der Israel ein Teil war. Israels Beziehungen zu den neuen Staaten bestimmte er im Sinne der Mission, „den Völkern das Licht zu bringen“. Sowohl er wie Sharett erkannten die politisch-diplomatische Bedeutung der Dritten Welt für Israel; Meir fügte dem Afrikabild dieser Politiker und in ihren entsprechenden politischen Auffassungen eine humanitäre Dimension hinzu. Anderen Mitgliedern des inneren Kreises erschien die Dritte Welt peripher, abgesehen von Allons speziellem Interesse für Indien. 5. Es bestand völlige Übereinstimmung darüber, daß das Weltjudentum für Israel lebenswichtig ist — und umgekehrt. Während aber Ben Gurion einen scharfen Trennungsstrich zwischen den „zwei Lagern" zog — Israel und Judentum auf der einen, alle übrigen auf der anderen Seite — und die Vorrangstellung Israels als Bollwerk des jüdischen Volkes verfocht, zeigte Sharett ein größeres Verständnis für die Interessen und Bedürfnisse des Diaspora-Judentums und mehr Toleranz und Vertrauen gegenüber den Gojim. Dayan und Peres vertraten in dieser Hinsicht zumindest bis in die späten sechziger Jahre den Standpunkt Ben Gurions; Eban und Sapir hingegen teilten die Auffassungen Sharetts. Eschkol näherte sich nach dem Krieg von 1967 der „Zwei-Lager" -These Ben Gurions. Meir und Allon respektierten in stärkerem Maße die autonomen Rechte des Diaspora-Judentums und seinen bedeutenden Beitrag zum Aufstieg Israels. 6. Ben Gurion, Sharett, Eban und Allon verstanden unter dem „Nahen Osten" ein System oder eine Region zwischenstaatlicher Politik; andere Mitglieder des inneren Kreises setzten ihn vollständig mit „den Arabern'gleich. 7. In diesem Punkt bestand der größte Gegensatz zwischen den Auffassungen Ben Gurions und denen Sharetts sowie ihrer jeweiligen Anhänger. Ben Gurion betrachtete „die Araber" als unversöhnliche Feinde und befürwortete ständige Gewaltanwendung, bis sie schließlich kraft „höherer Gewalt" das Lebens-recht Israels anerkennen würden. Sharett, der entschiedenste Weizmannist in der Außenpolitik, sah in „den Arabern" ein Volk, nicht einfach einen Feind; er forderte Flexibilität und vernünftiges Streben nach Aussöhnung durch einen Kompromiß. Meir ist die extremste Ben-Gurionistin — sie ist es sogar in höherem Maße als ihr Mentor selbst, der sich nach dem Sechstagekrieg in dieser Kernfrage den Auffassungen und der politischen Linie Sharetts näherte. Peres vertritt gleichfalls etwa den Standpunkt, den Ben Gurion vor 1967 inne-hatte. Eban ist der führende Exponent des Weizmannismus im inneren Kreis; Sapir hat sich ihm angeschlossen. Dayan kombiniert den Ben-Gurionismus mit Verständnis für die Befürchtungen und Bestrebungen der Araber. Und Allon legt ben-gurionistische Härte an den Tag, zeigt aber zugleich, daß er sich der Notwendigkeit einer Aussöhnung bewußt ist.

Das Bild von einem Kontinuum zwischen den beiden Polen , Mut'und . Vorsicht'oder , Ben-Gurionismus'und . Weizmannismus'ist nur in allgemeinem Sinne zutreffend. Die Auffassungen der Mitglieder des inneren Kreises sind differenziert und komplex; es gibt viele Überschneidungen und Konvergenzen in den Ansichten sowohl über globale wie über nahöstliche und arabische Probleme. Die Formulierung Eine Musterung der Literatur über Analysen zur Außenpolitik ergab, daß der Begriff „EntScheidung" von vielen benutzt, aber nur von wenigen eingehend untersucht wird; häufig wird er als Synonym für „Politik" gebraucht. Und wo Entscheidungen analysiert werden, ge-schieht es von vielfältigen Ansätzen aus. Es wurde deshalb notwendig, eine explizite, all-gemeingültige Definition von „Entscheidung" zu geben und Typen von außenpolitischen Entscheidungen zu klassifizieren. Drei Indikatoren wurden miteinander kombiniert: ein Zeitkontinuum, ein Initiations-Reaktions-Spektrum und eine Wichtigkeitsskala. Eine außen-politischeEntscheidung wurde demgemäß definiert als das Auswahlen einer Option aus mehreren wahrgenommenen Alternativen, die zu einer bestimmten Handlungsweise im internationalen System führt. Entscheidungen werden von Individuen oder Gruppen getroffen, die durch das politische Sytsem autorisiert sind, auf einem bestimmten Gebiet der auswärtigen Beziehungen zu handeln.

Außenpolitische Entscheidungen werden zu genau angebbaren Zeitpunkten gefällt; aber die Zeitspanne zwischen dem Anstoß und der Wahl einer Option kann einen Tag bis mehrere Monate betragen. Zudem können Initiation und Reaktion von ganz unterschiedlichem Gewicht sein. Aber die Zeitspanne, das Mischungsverhältnis von Initiation und Reaktion und die Wichtigkeit der Entscheidung hängen miteinander zusammen, und sie lieferten uns die Grundlage für eine dreigliedrige Typologie der Entscheidungen:

Strategische Entscheidungen wurden definiert als weitreichende politische Akte, wobei als Maßstab die Bedeutung für das außenpolitische System eines Staates als Ganzes, die Dauer der Wirkung und das Vorhandensein eines Bündels von Hilfsentscheidungen dienen. Taktische Entscheidungen sind solche, die einen weitreichenden politischen Akt operationalisieren. Und Durchführungs-Entscheidungen sind die Einzelfestlegungen, die Tag für Tag auf Grund höherer Kernentscheidungen getroffen werden. Das Belegmaterial zeigte, daß in der israelischen Politik bei den Durchführungs-Entscheidungen der Anteil des Reagierens auf Anstöße am höchsten und die Zeitspanne zwischen Anstoß und Wahl am kürzesten ist. Strategische Entscheidungen wiesen viel mehr Initiative und viel längere Zeitspannen auf. Und taktische Entscheidungen waren durch ganz unterschiedliche Veranlassungen und Zeitspannen gekennzeichnet.

Die Analyse der wesentlichen Strukturen des Entscheidungsprozesses der israelischen Außenpolitik und der Hauptpersonen, die an ihm teilnahmen, führte zu folgenden Ergebnissen:

1. Was die vier Paare in den Spitzenpositionen angeht, so war das Verhältnis zwischen Eschkol und Meir (1963 bis 1966) fast ausgewogen. Der größte Abstand an Status und Einfluß bestand zwischen Ben Gurion und Meir (1956 bis 1963). Groß war auch der Abstand — jedoch aus anderen Gründen — zwischen Eschkol und Eban (1966 bis 1969). Das komplexeste und bedeutsamste Verhältnis war das zwischen Ben Gurion und Sharett (1948 bis 1956).

2. Es gab ständig Spannungen und häufig Konflikte zwischen den Regierungsstellen, die am unmittelbarsten mit der Außen-und Sicherheitspolitik befaßt waren — dem Außenministerium und dem Verteidigungsministerium. Die Gründe waren individueller, politischer und institutioneller Art, das heißt, persönliche Gegensätze waren verquickt mit unterschiedlichen Standpunkten und Auseinandersetzungen um Einfluß auf Entscheidungen der hohen Politik. Seinen Höhepunkt erreichte der Konflikt in der Periode 1957 bis 1963, als sich Meir und Peres als Antagonisten gegenüberstanden. Damals hatte er jedoch einen sehr viel komplexeren Charakter; vier Komponenten waren beteiligt, die sich gegenseitig verstärkten: der persönliche Gegensatz, der Generationskonflikt, der Kompetenzstreit zwischen den beiden Ministerien und die Rivalität um die Nachfolge Ben Gurions.

3. Das Kabinett befaßte sich ständig und oft intensiv mit Außenpolitik — eine logische Folge des permanenten Konflikts zwischen Israel und seinen Nachbarn. Von 1948 bis Ende 1953 war die Politik, wie erwähnt, in den Händen des Duumvirats Ben Gurion-Sharett; das Kabinett fügte sich den Entscheidungen der beiden. Von 1954 bis Mitte 1956 war das Kabinett einflußreich, weil Ben Gurion sich „zurückgezogen“ hatte und Sharett alle wichtigen außenpolitischen Fragen der Regierung als Ganzes vorzulegen pflegte. 1956 übernahm Ben Gurion wieder die Führung und behielt sie bis zu seinem endgültigen Rücktritt im Juni 1963. Unter Eschkol erlangte ein neuer Ministerausschuß für Verteidigungsfragen Bedeutung. In der Krise vom Mai 1967 erhielt das Gesamtkabinett dann wieder seine Funktion als operatives Entscheidungsorgan der Außenpolitik.

4. Die Analyse der israelischen Entscheidungen über deutsche Waffenlieferungen (1957 und 1958 bis 1959) bestätigt, daß zahlreiche Organe bei der Formuli rung der Entscheidungen auf strategischer Ebene mitwirken. Am wichtigsten waren das Kabinett, das Verteidigungsministerium, Parteikomitees, die Presse und in letzter Instanz die Knesset. Audi weniger bekannte Organe spielten eine Rolle, namentlich der Knesset-Ausschuß für Auswärtige Angelegenheiten und Sicherheit sowie Havereinu, eine informelle Führungsgruppe der Mapai.

Die Durchführung Wie alle Staaten bedient sich Israel zur Durchführung außenpolitischer Entscheidungen verschiedener Methoden bzw. Institutionen (Staatsoberhaupt und Regierungschef, die Hi-stadruth, die Sendungen in arabischer Sprache von Kol Yisrael oder die jüdischen Gemeinden in der Diaspora, um nur einige Beispiele zu nennen). Die meisten von Tag zu Tag anfallenden Entscheidungen werden vom Außenministerium und von der technischen Elite des Auswärtigen Dienstes getroffen. An dem komplexen Entscheidungsprozeß sind ein halbes Dutzend Schichten der Bürokratie beteiligt, die in aufsteigender Ordnung vom Abteilungsleiter über den stellvertretenden Generaldirektor und den Generaldirektor bis zum Außenminister reichen.

Die technische Elite des Auswärtigen Dienstes umfaßte in den Jahren 1948 bis 1968 87 Personen. Es handelte sich um eine vorwiegend im Ausland geborene und im Ausland erzogene Gruppe, deren führende Mitglieder erst spät (nach 1945) nach Israel gekommen waren. Diese Personen hatten ihre Lehrzeit hauptsächlich in der Politischen Abteilung der Jewish Agency absolviert. Ihre Hochschulbildung war besser als die ranggleicher Beamter in anderen Zweigen der Bürokratie.

Die technische Parallel-Elite umfaßte in den ersten zwanzig Jahren 57 Personen. Im Gegensatz zur technischen Elite des Auswärtigen Dienstes war ein höherer Anteil ihrer Mitglieder in Israel geboren, sehr viel mehr waren als Kinder oder Halbwüchsige nach Palästina gekommen; eine größere Anzahl hatte ihre Ausbildung in Israel empfangen, und die große Mehrheit war durch die wichtigsten Institutionen der Nationbildung, die Haganah (Organisation der jüdischen Gemeinden in Palästina vor der Zeit der Staatsgründung, vor allem zu Zwecken der Verteidigung) und die Tzahal, gegangen. Hier ist eine der Ursachen für die unterschiedliche Einstellung der beiden Eliten zu außenpolitischen Fragen und für die ständigen Reibungen zwischen ihnen zu suchen. Nach Meinung der israelischen Öffentlichkeit hatte übrigens das Außenministerium viel weniger Erfolg aufzuweisen als das Verteidigungs-Establishment.

Die verantwortlichen israelischen Politiker unterlagen in ihren außenpolitischen Handlungs. möglichkeiten gewissen Einschränkungen Diese Einschränkungen sollen hier unter dem Gesichtspunkt der Hauptkomponenten eines außenpolitischen Systems zusammengestellt werden: 1. Israel ist seinem Selbstverständnis nach ein jüdischer Staat; sein historisches Erbe und seine raison d'etre verbinden es unauflöslich mit den jüdischen Gemeinschaften in aller Welt. (Globales System). 2. Israel ist auf die Militär-und Wirtschafts, hilfe sowie auf die diplomatische Unterstützung einer oder mehrerer Super-und Groß-mächte angewiesen. (Globales System, militärische Leistungsfähigkeit, wirtschaftliche Leistungsfähigkeit). 3. Angesichts der Stimmenzahl, über welche die arabische, die sowjetische und die blockfreie Staatengruppe zusammen in der UNO verfügen, ist seit dem Anfang der sechziger Jahre ein pro-israelischer Beschluß in der Vollversammlung oder im Sicherheitsrat unmöglich (Globales System). 4. Israel ist Im Kern des nahöstlichen Systems völlig isoliert und seine Sicherheit ist ständig bedroht; dieser Zustand sowie seine geographische Lage nötigen es, sich unablässig um Militärhilfe zu bemühen. (Untersystem, militärische Leistungsfähigkeit).

5. Die Bevölkerungszahl der arabischen Staaten übertrifft diejenige Israels um ein Vielfaches. Israel hat daher anhaltenden Bedarf an Einwanderern, um sein militärisches und ökonomisches Menschenpotential zu vermehren. (Untersystem, militärische Leistungsfähigkeit, wirtschaftliche Leistungsfähigkeit).

6. Regierung durch Koalitionen ist ein feststehendes Element des politischen Systems Israels. Die außenpolitischen Wahlmöglichkeiten werden dadurch eingeschränkt. (Politische Struktur).

7. Das politische Denken und Verhalten Israels wird bestimmt von dem Grundsatz „Ein Brel-rah“ (Keine Alternative). (Psychologische Umwelt). 8. Das historische Erbe und die arabische Feindschaft nötigen die Israelis zu Aktivismus und Militanz. (Prozeß).

Einige dieser Punkte (1, 7, 8) sind für die verantwortlichen Politiker Israels Glaubens-sätze. Andere haben ihren Ursprung in der operationalen Umwelt. Blickt man auf die zwei Jahrzehnte zurück, so kann man sagen, daß der innere Kreis Israels mehrere Dinge richtig erfaßt hat:

die von den arabischen Staaten ausgehende handgreifliche Bedrohung — ihre Stärke, ihren Ernst und ihre Allgegenwart;

Israels Isolierung im Kerngebiet des Nahen Ostens und seit dem Krieg von 1967 zunehmend auch im globalen System;

seine Abhängigkeit von unsicheren ausländischen Quellen hinsichtlich des lebenswichtigen militärischen Bedarfs;

das Fehlen einer „Breirah“ (Alternative) zur Selbstverteidigung gegen die drohende Ver-nichtung.

Diese und andere Charakteristika der Umwelt zeigen ein hohes Maß an Kongruenz von Vorstellung und Wirklichkeit für die gesamte Periode.

Israels Auffassungen in der Kernfrage „der Araber" und seine dementsprechende Politik seit 1948 lassen eine allgemeine These über langfristiges Staatsverhalten zu: Die psychologische Umwelt einer Gruppe, die außenpolitische Entscheidungen trifft, ist in hohem Maße ein Produkt oder Spiegelbild der operationalen Umwelt. Ist die Wirklichkeit über einen längeren Zeitraum hin hart, schroff und abweisend, so wird auch die Auffassung von der Wirklichkeit hart, schroff und abweisend sein. Das schöpferische Potential derer, die zu entscheiden haben, wird dadurch beträchtlich eingeengt. Ihre Vorstellungen wirken auf die operationale Umwelt zurück und machen sie noch schroffer — und diese Wechselwirkung setzt sich ständig fort. Das Ergebnis ist, daß eine Beilegung des Konflikts immer unwahrscheinlicher wird.

Aus dieser These folgen zwei andere Sätze:

Es wird schwierig, in einer der beiden Umwelten einen Wandel einzuleiten, und erst recht, ihn in Gang zu halten. Und vor allem: Wandel ist nur möglich durch einen qualitativen Sprung in der einen oder anderen Umwelt. Für den arabisch-israelischen Konflikt bedeutet dies, daß der qualitative Sprung in den Auffassungen der entscheidenden Politiker stattfinden muß, denn ein grundlegender Wandel in der operationalen Umwelt ist auf kurze Sicht unwahrscheinlich. Der Wandel müßte nicht (und würde fast sicher auch nicht) gleichzeitig in den Auffassungen der entscheidenden Politiker Israels, Ägyptens, der Vereinigten Staaten, der Sowjetunion und der palästinensischen Araber eintreten. (Die Ansichten anderer Teilnehmer, wie Frankreichs und Großbritanniens, sind angesichts der Machtkonstellation im dritten Jahrzehnt des langwierigen Konflikts nur von peripherer Bedeutung.) Der Wandel in den Vorstellungen eines Akteurs könnte schon den Anstoß zu einem allgemeinen Prozeß des Umdenkens geben.

Wie sind nun die Aussichten für einen Wandel der Vorstellungen, die Israels Außenpolitik zugrunde liegen? Zwei Hauptergebnisse unserer Untersuchung — die Stabilität der Vorstellungsmuster und die minimale Zirkulation in den entscheidenden Eliten — lassen sie als gering erscheinen. Aber diese Feststellung und die Einsicht, daß die beiden Umwelten der israelischen Außenpolitik sich gegenseitig in ihrer negativen Wirkung steigern, spricht die entscheidenden Politiker nicht davon frei, keine Neuerungen zu wagen. Die innenpolitische Umwelt war nicht weniger schroff und abweisend, besonders in den ersten Jahren; aber hier ging man mit bemerkenswertem Erfolg neue Wege in der Aufnahme von Einwanderern, im Aufbau der Nation, in Technologie und Strategie und in der Mobilisierung von Menschen und Mitteln für die wirtschaftliche Entwicklung. Nicht ohne Grund ist Israel als „Wunder in der Wüste" gefeiert — oder geschmäht — worden.

Auch der Analytiker trägt Verantwortung •— über die Beschreibung, Erklärung und Voraussage des staatlichen Verhaltens hinaus. Er hat die Pflicht, seine Einschätzung dieses Verhaltens darzulegen, im vorliegenden Falle also des israelischen Verhaltens auf dem lebenswichtigen Gebiet der Außenpolitik. Hier hat es denkwürdige Erfolge und denkwürdige Mißerfolge gegeben. Und diese Mißerfolge sind nach Ansicht des Verfassers zu bedeutsam, um sie allein aus der determinististischen Wechselwirkung der beiden Umwelten zu erklären; denn Entscheidungen werden von Menschen gefällt, nicht von Umwelten.

Die folgenden Bemerkungen und Einstufungen stützen sich auf eine etwa zehnjährige Suche nach der Wahrheit über die israelische Außenpolitik und auf ein doppeltes Postulat: daß Werturteilen eine strenge Analyse vorangehen muß und daß umgekehrt der wissenschaftlichen Untersuchung eine Bewertung folgen muß.

Im Untersuchungszeitraum erzielte die israelische Außenpolitik fünf große Erfolge:

die sofortige Anerkennung und Unterstützung durch die Supermächte in der kritischen Phase der Staatsbildung (1948 bis 1949);

die frühe Aufnahme in die Vereinten Nationen, das heißt Legitimierung zu einer Zeit, als noch viele alte und neue Staaten ausgeschlossen blieben; die Herstellung diplomatischer Beziehungen mit der großen Mehrheit aller Staaten;

ein positives Image und eine gefestigte Präsenz im nachkolonialen Afrika;

ein de-facto-Bündnis mit Frankreich, das von 1955 bis 1966 entscheidende militärische und diplomatische Unterstützung gewährte, sowie massive ökonomische und militärische Unterstützung durch die USA.

Das waren keine geringen Erfolge. Ihnen standen jedoch Mißerfolge in den ersten vier der hier aufgezählten Bereiche gegenüber. Und ein weiterer Mißerfolg ohne positives Gegenstück besteht darin, daß der Frieden noch immer nicht näher gerückt ist. Diesen Fehlschlägen wollen wir uns jetzt zuwenden und dabei Hypothesen über die Ursachen des Versagens aufstellen.

Israels Unabhängigkeit wurde erleichtert durch das seltene Schauspiel einer „Zusammenarbeit" der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion in der internationalen Politik der ersten Nachkriegsjahre. Israel erhielt die diplomatische Anerkennung, politische Unterstützung und vom Sowjetblock Militärhilfe. Kein anderer neuer Staat wurde unter so günstigen politischen Umständen gegründet. Doch binnen zwei Jahren war dieses einzigartige Guthaben vertan. Zum Teil wirkten hier Kräfte, auf die Israel keinen Einfluß hatte — die zunehmende Bipolarität im globalen System und der nach dem Ausbruch des Korea-Krieges einsetzende Zwang, „Farbe zu bekennen“. Aber in nicht geringem Maße ist diese Entwicklung auch auf Entscheidungen zurückzuführen, die aus den Vorstellungen der Elite und aus ihren falschen Berechnungen erwuchsen.

Wie viele andere Staaten, die hier einen Präzedenzfall für ihre eigene Sicherheit sahen, unterstützte Israel die Resolutionen des Welt-sicherheitsrates über Korea im Juni/Juli 1950. Aber die überschwenglichen Bekundungen der Solidarität mit der „freien Welt", die Sharett und Eban in den Debatten der Vollversammlung 1950 und 1951 abgaben, gingen weit über das hinaus, was für ein neues, kleines Mitglied der UNO notwendig war. Recht besehen, handelte es sich dabei nicht um bloße Rhetorik, sondern um bewußte Akte in dem unablässigen Streben nach einer amerikanischen Garantie oder einem Bündnisvertrag mit den USA. Dieses Ziel beherrschte die israelische Außenpolitik von 1951 bis 1955 und wurde seither mit unterschiedlicher Intensität weiterverfolgt. Es wurde nicht erreicht, denn die Vereinigten Staaten haben es beharrlich abgelehnt, formelle öffentliche Verpflichtungen einzugehen, die einer Sicherheitsgarantie gleichkämen. Direkte Militärhilfe erhielt Israel erst ab Anfang der sechziger Jahre. Die Nachteile dieser Außenpolitik waren erheblich. Einer davon war Israels allmähliche Isolierung von der Dritten Welt der Blockfreien; auf diesen Punkt wird später eingegangen werden. Bedeutungsvoller war aus dem Blickwinkel von 1970 die Tatsache, daß mit der proamerikanischen Stellungnahme im Korea-Konflikt die Entfremdung von der anderen Supermacht begann. Gewiß waren die Exzesse während der letzten Jahre Stalins in hohem Grade provozierend. Aber die Sowjetunion war nicht das einzige Land, in dem es Antisemitismus gab. Und Hitlers Massenvernichtung hinderte Israel nicht daran, Wiedergutmachung von Deutschland anzunehmen — eine Entscheidung, die vom Standpunkt des nationalen Interesses gerechtfertigt war. Um die Abkühlung des Verhältnisses zu den Sowjets zu begründen, wird darauf verwiesen, daß Moskau 1950 eine israelische Bitte um Wirtschaftshilfe abschlug. Dazu ist jedoch zu bemerken, daß die Sowjetunion vor 1956 keinem Staat außerhalb des kommunistischen Blocks Auslandshilfe gewährte. Es gibt auch keinen Beweis dafür, daß die Identifizierung mit dem Westen — im Geist, in den Werten, Ideen und Institutionen — Aktivposten in ausreicher Zahl erbracht hätte, die den Verzicht auf die Unterstützung oder zumindest die Nicht-Feindschaft einer Supermacht aufwiegen konnten.

Man hat argumentiert, auf Grund der späteren sowjetischen Haltung zum arabisch-israelischen Konflikt habe diese Kritik bloß „akademische" Bedeutung. Das ist eine Scheinargumentation ex post facto. Der Fehler wird noch verschlimmert durch die unter den verantwortlichen israelischen Politikern weitverbreitete Ansicht, was Israel tue, habe keinerlei Einfluß auf die Entscheidungen der „feindlichen Kräfte". Diese Auffassung mag bequem sein, steht jedoch in Widerspruch zu den Tatsachen: Dem Verhalten Israels wird, besonders seit dem Sechstagekrieg, große Bedeutung bei anderen internationalen Akteuren beigemessen, die Großmächte eingeschlossen. Israels Politik gegenüber den Supermächten ist nur teilweise aus einer Fehleinschätzung der nationalen Interessen zu erklären Eine tiefere Ursache liegt im Weltbild der entscheidenden Politiker. Die Elite der hohen Politik wurde völlig von der Mapai dominiert, deren Führer im Antikommunismus der sozialdemokratischen und zionistischen Ideologie großgeworden waren; sie waren, wie erwähnt, Kinder der ersten russischen Revolution von 1905. Die sowjetische Feindseligkeit gegen-über dem jüdischen Nationalismus von 1917 an vertiefte das Mißtrauen. Die Unterstützung des kommunistischen Blocks in den Jahren 1947 bis 1949 war zwar willkommen, wurde jedoch als vorübergehende Abweichung von einer ideologischen Norm aufgefaßt. Das war sie auch; aber außenpolitische Entscheidungen sind oft das Produkt von Zweckmäßigkeitserwägungen, und das schließt nicht die Verfolgung langfristiger Ziele auf der Grundlage gemeinsamer Interessen aus. Israel unternahm keine konsequenten Bemühungen in dieser Richtung. Vielmehr wurde die Ablehnung der Wirtschaftshilfe (1950) als Bestätigung dafür aufgefaßt, daß die Sowjetunion, wie erwartet, zu einer feindseligen Haltung zurückgekehrt sei.

Israelische Führer begannen, die Behandlung der sowjetischen Juden mit der deutschen Vernichtungsaktion gegen das europäische Judentum zu vergleichen. Hier sollen nicht etwa die unverhüllt antiisraelische Politik der Sowjetunion und die schlechte Behandlung der sowjetischen Juden ignoriert werden. Es soll nur festgestellt werden, daß Beziehungen zwischen Staaten, auch zwischen einer Super-macht und einem kleinen Land, das Resultat von Wechselwirkungen sind — Wechselwirkungen von artikulierten Vorstellungen, Haltungen und Entscheidungen. Anders ausgedrückt: Die entscheidenden Politiker Israels fühlten sich viel stärker dem Westen verbunden und handelten bei erster Gelegenheit dementsprechend. Ihre Weltanschauung, bestärkt durch ein fragwürdiges Sicherheitskalkül, veranlaßte sie — nach Ansicht des Verfassers —, einen wertvollen machtpolitischen Aktivposten aus der Hand zu geben.

Ein anderer Aktivposten, den Israel sich entgleiten ließ, war die UNO. Im Laufe der sechziger Jahre geriet es innerhalb der Weltorganisation in zunehmende Isolierung, was in verurteilenden Resolutionen des Sicherheitsrates und der Vollversammlung zum Ausdruck kam. Die politische Arithmetik der UNO wurde für Israel immer ungünstiger, aber statt den Versuch zu machen, dieser Tendenz entgegenzuwirken, reagierte es mit einer Festungsmentalität. Ein Grund für diese mißliche Lage war seine bewußte Identifizierung mit dem Westen: Als die afrikanischen und asiatischen Länder in der Weltorganisation das zahlenmäßige Übergewicht gewannen, war Israels Isolierung besiegelt, weil es sich nicht den Blockfreien hatte anschließen wollen.

Das Problem hat tiefere Wurzeln — in den ambivalenten Auffassungen führender israelischer Politiker von der UNO. Die vorherrschende Ansicht kam In Ben Gurions abschätzigen Worten „oom shmoom“ (Wortspiel, dem Sinn nach: die UNO [= oom] habe keine Bedeutung) zum Ausdruck. Diese Kurzsichtigkeit ist in der Tat zu kritisieren, denn bei all ihren Mängeln war die UNO für Israels Streben nach Legitimierung und Anerkennung eine Stütze. Und ob ihre Rolle nun maximal war, wie für Sharett, oder minimal, wie für Ben Gurion, jedenfalls kann der Beitrag der Vereinten Nationen für Israels Unabhängigkeit nicht einfach abgetan werden. Israelische Kritiker weisen mit Recht darauf hin, daß die Weltorganisation sich als unfähig erwiesen hat, den Krieg zu verhindern, im Nahen Osten wie anderwärts; daß sie nicht imstande ist, Israels Sicherheit zu garantieren; daß sie das Verhalten Israels häufiger und schärfer kritisiert als das seiner Gegner. Aber wer die Bedeutung der UNO dermaßen herabsetzt, wie das israelische Politiker getan haben, urteilt genauso falsch wie Stalin, als er die Frage nach dem Einfluß der katholischen Kirche mit der geringschätzigen Bemerkung abtat: „Wieviel Divisionen hat der Papst?“ Um es nochmals zu sagen: Aus einem machtpolitischen Aktivposten wurde ein Passivposten; und dazu trug bei, daß die Rolle der UNO bei der Herbeiführung der israelischen Unabhängigkeit unterschätzt wurde, daß man von einem engstirnigen Sicherheitskalkül ausging und daß man die Weltorganisation fälschlich als machtlos und dem Judenstaat feindlich ansah.

Ein Gesamtbild der diplomatischen Beziehungen Israels ist eindrucksvoll: in Ländern Nord-und Südamerikas, West-und (bis 1967) Ost-europas sowie Afrikas ist es nahezu überall vertreten. Es bleiben jedoch auffallende Lükken, besonders in Asien. In einigen Fällen handelt es sich dabei um mohammedanische Staaten, wie Afghanistan, Pakistan, Malaysia und Indonesien. Der Meinung, diese Länder stünden auf der anderen Seite der Barrikade, sie seien „natürliche Verbündete“ der arabischen Staaten, steht die Tatsache entgegen, daß Israel mit anderen Moslem-Staaten, wie der Türkei, dem Iran und Nigeria, durchaus Beziehungen unterhalten kann. Es wird überzeugend argumentiert, in Süd-und Südostasien lasse sich in die arabisch-islamische Allianz keine Bresche schlagen. Aber gegenüber den beiden volkreichsten Staaten der Erde hat Israel eine phantasielose Politik getrieben. Ob Indien bald nach seiner Anerkennung Israels im September 1950 eine voll ausgebaute diplomatische Mission akzeptiert hätte, ist nicht zu klären. Offenkundig ist jedoch, daß Sharett mit seinem Beharren auf einem bloßen „Prinzip" der Gegenseitigkeit es den Quertreibern in Delhi erleichterte, sich durchzusetzen. (Danach wies die indische Regierung alle Normalisierungsversuche in — wie viele israelische Politiker meinen — unredlicher Weise zurück.) Noch ungeschickter war, daß Israel ein Angebot Pekings, formelle Beziehungen aufzunehmen, Anfang 1955 ablehnte. Die Folgen dieser Entscheidung sind schwer zu ermessen. Ihre Verteidiger argumentieren auch hier wieder ex post facto: Chinas spätere proarabische Politik, so meinen sie, hätte eine israelische Präsenz in Peking ohnehin zunichte gemacht. Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Es gab damals keine chinesisch-arabischen Beziehungen. Die Bandung-Konferenz stand kurz vor ihrer Eröffnung. Die Aufnahme von Beziehungen mit China hätte recht wohl die Haltung Indiens gegenüber Israel beeinflussen können, denn zu jener Zeit bestand noch zwischen China und Indien Freundschaft. Vielleicht wäre Israel zur ersten afro-asiatischen Konferenz eingeladen worden. Und das wiederum hätte seine Aufnahme in den Kreis der Dritten Welt erleichtert — ohne seine freundschaftliche Verbindung mit dem Westen zu beeinträchtigen. Jedenfalls wurde alles, was hätte entstehen können, durch Mangel an Voraussicht, und im Falle Indiens durch sturen Formalismus, im Keime erstickt. In beiden Fällen handelte es sich um „verpaßte Gelegenheiten" und politische Fehler ersten Ranges.

Die unmittelbare Ursache der negativen Entscheidung hinsichtlich Chinas war eine Fehleinschätzung der mutmaßlichen Reaktion der USA, die, so fürchtete man, ihre Wirtschafts-und Militärhilfe kürzen könnten. (In Wirklichkeit erklärten hohe amerikanische Regierungsbeamte ausdrücklich, es hätte weder Entzug des Wohlwollens noch Sanktionen gegeben, wenn Israel auf den chinesischen Annäherungsversuch eingegangen wäre.) Wie kam es nun zu diesem Fehlverhalten? Ein Grund war die geltende politische Linie: Die israelischen Politiker suchten ängstlich alles zu vermeiden, was dem angestrebten Ziel einer amerikanischen Sicherheitsgarantie im Wege sein konnte. Ein anderer Grund war mangelnde Vertrautheit mit Asien im allgemeinen und China im besonderen: Sharett, Eban und andere, welche die Entscheidung fällten, waren nach Herkunft, Bildung, Sehweise und Neigung Europäer; die Welt östlich des Iran — und vor allem ihre Bedeutung in der internationalen Politik — lag offenbar jenseits ihres Horizonts. Innerhalb des Außenministeriums war diese Einstellung noch stärker verbreitet. All das deutet auf eine dritte Quelle der Fehleinschätzung mit weiteren Implikationen — die Auffassung der entscheidenden israelischen Politiker von der Bündnis-freiheit. Israel ist niemals formell gebunden gewesen, Es ist eines der wenigen Staaten, die keinem Pakt, keinem Block, keiner Allianz und keiner regionalen Organisation angehören. Es hat auch keine Sicherheitsgarantie einer Super-macht. Es gehört nicht einmal zu einer Kultur-oder Sprachgemeinschaft. Es steht wirklich allein. Die verantwortlichen Politiker Israels haben also etwas Einzigartiges erreicht: alle Nachteile der Bündnisfreiheit und keinen einzigen der Vorteile der Gebundenheit! Israel ist von der Gruppe der Blockfreien in der UNO und andernorts ausgeschlossen; gleichzeitig ist ihm die Mitgliedschaft in allen westlichen Bündnissen verwehrt.

Das war nicht immer so. Von 1948 bis 1950 hielt sich Israel an den Grundsatz der Nicht-Identifizierung, eines der Hauptprinzipien der ersten Koalitionsregierung. Darauf folgte, wie erwähnt, ein de-facto-Anschluß an den Westen, Dieser Umschwung wurde ausgelöst durch das Bedürfnis nach Waffen und Wirtschaftshilfe, rationalisiert durch die Vorstellung von der wiedererwachten sowjetischen Feindseligkeit und erleichtert durch die Indifferenz gegenüber der Dritten Welt. Dieser letzte Aspekt verdient Aufmerksamkeit, zumal er in Analysen der israelischen Außenpolitik meist vernachlässigt wird, und zwar von Praktikern und Wissenschaftlern gleichermaßen.

Unter dem Gesichtspunkt der sozialen Kräfte betrachtet, welche die Weltpolitik unserer Gegenwart prägen, ist Israel der territoriale Ausdruck der jüdischen nationalen Befreiungsbewegung. Dieser Terminus wird jedoch in den Reden und Schriften seiner Führer sowie in den staatlichen Propagandamaterialien sorgfältig vermieden. Es handelt sich dabei weder um ein Versehen noch um eine bloße Ausdrucksnuance. Vielmehr symbolisiert es den Wiederwillen der führenden israelischen Politiker, ihren Kampf mit der antikolonialen Revolte zu identifizieren. Entweder begreifen sie eine fundamentale Wahrheit nicht, oder sie zögern, sie zuzugeben: die Wahrheit nämiich, daß Israels Unabhängigkeit Teil einer globalen Bewegung der nationalen Befreiung in der Ära des Niedergangs der imperialen Herrschaft Europas ist. Nicht zufällig kam die Unabhängigkeit im Jahre 1948 zur gleichen Zeit, als England das „Kronjuwel" des Empire, Indien, aus der Hand gab. Die Israelis suchten indessen einen tieferen Sinn des „Wunders der Wiedergeburt in den historischen und theologischen Wurzeln des jüdischen Volkes. Es war eine falsche Dichotomie: Diese Wurzeln waren seit Jahrtausenden vorhanden, aber sie brauchten eine Umwelt, in der die nationale Unabhängigkeit durchgesetzt werden konnte. Die politische Konsequenz war eine Isolierung von der sich herausbildenden Dritten Welt. Israel tat kaum etwas in Asie, um diese natürliche Verbindung zu festigen, und fand sich mehr und mehr von der wachsenden multinationalen Kraft der Blockfreien ausgeschlossen. Erst später reagierte es positiv auf die zweite Welle des Antikolonialismus, die in Afrika Ende der fünfziger Jahre einsetzte. Aber um diese Zeit war das Bild eines „westlichen“ Israels schon voll ausgebildet. Die Araber und ihre sowjetischen Gönner brauchten dieses Bild nur noch propagandistisch auszubeuten. Manche nennen diese Analyse „akademisch", weil die Mitgliedschaft im Klub der Blockfreien belanglos sei, verglichen mit der jetzt bezogenen Militär-und Wirtschaftshilfe. Aber dieses Argument stimmt nicht: Die Tatsachen zeigen, daß Blockfreiheit keineswegs ein Hindernis für Unterstützung durch die Supermächte ist — sie kann höchstens zu mehr Unterstützung führen! Abermals wurde ein machtpolitischer Aktivposten verschleudert, denn Israel besaß die Voraussetzungen der Blockfreiheit par exellence.

Es wäre nicht richtig, Israel und seine Außenpolitik hauptverantwortlich für den langwierigen Krieg mit seinen arabischen Nachbarn zu machen. Was den Frieden bisher verhindert hat, ist nach Meinung des Verfassers zweifellos und vor allem anderen die Intransigenz der Araber, genauer: ihre Weigerung, die Existenz Israels als legitim, legal und permanent anzuerkennen. Die Frage, auf die es in diesem Zusammenhang ankommt, lautet: Hat die israelische Politik dazu beigetragen, diese psychologische Sperre abzubauen? Die Tatsachen deuten stark auf eine negative Antwort. Dieses Versagen gibt Anlaß zu größter Besorgnis, denn das Verhältnis zu den Arabern bildet die Kernfrage der israelischen Außenpolitik.

Mut und Phantasie sind Eigenschaften, die dem Volk von Israel zu Recht zugeschrieben werden. Die Chancen, sich gegen die ungeheure zahlenmäßige Überlegenheit der Araber zu behaupten, standen schlecht — ganz gewiß im Jahre 1948. Der Notwendigkeit, jederzeit auf einen Angriff gefaßt zu sein, wurde eine . Festungsdemokratie“ gerecht, die individuelle Freiheit mit sozialem Zusammenhalt, wirtschaftlichem Aufschwung und politischer Stabilität zu vereinen wußte. Doch in Israels Kampf für den Frieden sind jene Eigenschaften nicht so leicht festzustellen.

Es kann keinen Zweifel daran geben, daß Israel als Nation leidenschaftlich Frieden und Verständigung, ja mehr noch, Versöhnung und Zusammenarbeit mit den arabischen Nachbarn wünscht: Jeder, der in Israel gelebt hat, ist von der Aufrichtigkeit dieses Strebens überzeugt. Aber diejenigen, die Israels Außenpolitik machen und verkünden, haben bisher wenig Originalität darin bewiesen, über Absichtserklärungen hinaus zu konkreten Friedensvorschlägen vorzustoßen. Die Ministerpräsidenten Ben Gurion und Mer haben immer wieder erklärt, sie seien bereit, jederzeit an jedem beliebigen Ort Friedensverhandlungen mit den arabischen Staaten zu führen. Das mag eine vernünftige Haltung in einem normalen Konflikt sein, aber für das spezielle Konfliktverhältnis, in dem sich Israel befindet, bewegt sie sich zu sehr im Rahmen des Hergebrachten. Das wird auch in Israel selbst empfunden, besonders unter Studenten und Hochschullehrern.

Zu keiner Zeit gab es einen so auffallenden Mangel an politischer Phantasie wie in der Periode seit dem Sechstagekrieg. (Die Stagnation illustrieren jedoch auch andere Beispiele: 1952 hielt Eban vor der UNO-Vollversammlung eine große Grundsatzrede unter dem Titel „Plan für den Frieden"; dreizehn Jahre später brachte Eschkol die gleichen Thesen als „neuen Ansatz" vor!) Die große Geste, die im Sommer 1967 aus der totalen Sackgasse herausgeführt hätte, kam nicht zustande — vielleicht war sie in der Euphorie des totalen Sieges politisch nicht möglich. In den folgenden drei Jahren legten sich die verantwortlichen israelischen Politiker in irrationaler Weise auf gewisse verbale Formeln fest, namentlich „direkte Verhandlungen" und Umgruppierung der Kräfte"; doch niemals fiel das Wort „Rückzug", das durch den Einfluß dominierender Kreise verpönt war. Das war ein merkwüriger Verzicht auf Logik und Konsequenz, denn Israel hatte von Anfang an die Resolution des Sicherheitsrates vom November 1967 gebilligt, die ausdrücklich den „Rückzug aus den (im Juni-Krieg) besetzten Gebieten" erwähnte. Diese Taktik erzeugte den (falschen) Eindruck, Israels Insistieren auf Methodenfragen sei eine List, um die Verhandlungen, die unvermeidlich in einen Rückzug münden müßten, hinauszuzögern. Die Unverständlichkeit dieser Taktik wurde noch gesteigert durch die Tatsache, daß eine klare Mehrheit in der Regierung wie im Lande bereit war, im Rahmen einer echten Friedensregelungwesentliche territoriale Zugeständnisse zu machen.

Ironischerweise war es Ben Gurion, der einzige führende israelische Politiker mit historischem Blick, der bereits im Juni 1967 öffent-lich für den Rückzug aus allen besetzten Gebieten mit Ausnahme Jerusalems und der Golan-Höhen eintrat und auch konsequent bei diesem Standpunkt blieb. Aber er hatte den Gipfel der Macht schon verlassen, als er diese von Mut und Phantasie zeugende Haltung einnahm. Seine Nachfolger gingen den Weg des Ben-Gurionismus, sie folgten nicht dem Alters-denken Ben Gurions. Es gibt auch keine Anzeichen dafür, daß man sich mit Erfindungsreichtum bemüht hätte, Formeln für die Lösung spezifischer Probleme zu entwerfen, außer Dayans „Offene-Brücken-Politik" am West-Ufer. Das Axiom von einem vereinigten Jerusalem als Hauptstadt Israels entbindet die Politiker nicht von der Verantwortung, die legitimen arabischen Interessen an einer „Präsenz" in Jerusalem zu erkennen. Das gleiche gilt für Scharm-el-Scheik, Gaza und die Golan-Höhen. Legitime israelische Sicherheitsbedürfnisse gebieten, diese Territorien nicht wieder ägyptischer und syrischer Kontrolle zu unterstellen — aber muß das unbedingt heißen, daß sie für alle Zeiten unter einseitiger israelischer Herrschaft bleiben sollen?

Der Bankerott dieser „Politik" wurde deutlich offenbar im August 1970, als Israel die amerikanische „Friedensinitiative" (den Rogers-Plan) annahm. Damit ließ es seine Festlegung auf „direkte Verhandlungen" fallen, brach den Bann, der das Wort „Rückzug" umgab, und bekräftigte sein Einverständnis mit der Resolution des Sicherheitsrates vom November 1967. Hier zeigte sich schlagend, daß die verantwortlichen israelischen Politiker eine Situation hatten eintreten lassen, in der Druck von außen — von den Vereinigten Staaten — eine israelische strategische Entscheidung bestimmen konnte. Zudem war Israel diplomatisch mehr isoliert als je zuvor in seiner Geschichte.

Die Israelis neigen dazu, diese Isolierung als unwesentlich abzutun und sie auf lügnerische Verleumdung in einer Welt des Antisemitismus zurückzuführen — ein logischer Folgesatz aus der „Zwei-Lager" -These. Es stimmt, daß Israel für seinen Fortbestand und sein Gedeihen letztlich auf Selbsthilfe angewiesen ist, das heißt auf die Stärke der Tzahal und auf die Moral seines Volkes — wobei freilich die militärische Leistungsfähigkeit doch von ausländischer Hilfe abhängt. Es stimmt auch, daß Verfolgung und Antisemitismus in der jüdischen Geschichte eine zentrale Rolle gespielt haben. Aber diese Realität enthebt den Analytiker und den Politiker nicht der Aufgabe, zu fragen, ob nicht vielleicht Israels eigenes Verhalten dazu beigetragen hat, daß es in diese diplomatische Sackgasse geraten ist.

Die verantwortlichen Politiker haben diese Frage anscheinend nicht gestellt — das ist eines der Ergebnisse unserer Untersuchung. Sie haben damit versäumt, eine lebenswichtige Führungsaufgabe zu erfüllen, nämlich klischeefreie Selbstanalyse zu treiben. In dem Glauben, daß Israel so gut wie keine Schuld an seiner Isolierung trage und auch nichts dagegen tun könne, haben sie an Geld und Arbeitskraft für den Kampf um die Überzeugung von Menschen gespart. Man scheint sich zu sagen: Da die Dritte Welt und die Neue Linke Israel nun einmal hassen oder den arabisch-israelischen Konflikt nicht verstehen, warum soll man sich da noch damit abgeben, diese Ansichten zu bekämpfen! Und soweit etwas getan wird, ein positives Image Israels zu schaffen, fehlt diesen Bemühungen der Glanz und Erfindungsreichtum, den das israelische Militär an den Tag legt. Westlich orientierte Politiker und Intellektuelle wenden sich an die Establishments westlicher Staaten, die von der Legitimität der Lebensinteressen Israels nicht überzeugt zu werden brauchen. Die übrige Welt wird ignoriert.

Diese Einstellungen beruhen letztlich auf den in der Elite verbreiteten Auffassungen über die globale und regionale Politik in der Zeit nach dem Krieg von 1967:

a) Fehleinschätzung der Ziele, Absichten und Politik der USA, und damit einhergehend Nichtanpassung an die Realität der „Unparteilichkeit" ;

b) fortgesetzte Herabsetzung der UNO, verstärkt durch zunehmende Antipathie;

c) immer schärfere Polarisierung der äußeren Kräfte im Sinne der „Zwei-Lager" -These;

d) Vorherrschaft des „Sicherheitskomplexes', der alle wichtigen außenpolitischen Entscheidungen durchdringt, auch wenn die betreffende Frage gar nichts oder nur am Rande mit „Sicherheit" zu tun hat;

e) starres Festhalten an dem ben-gurionistisehen Bild von „den Arabern" als den unversöhnlichen Feinden Israels, „die nur die Sprache der Gewalt verstehen".

Dieses Bild von „den Arabern" enthielt ein großes Stück Wahrheit, aber es ist in einer Welt des Wandels zu konstant. Das will sagen, die Realität der arabischen Feindseligkeit, die zu flagrant ist, als daß sie noch weiterer Beweise bedarf, wurde verhärtet durch eine israelische Politik, die anscheinend den vor sich gehenden Wandel nicht zur Kenntnis nahm: den Wandel im militärischen Kräfteverhältnis, der es als unklug erscheinen ließ, sich immer weiter so zu verhalten, als wäre Israel die schwächere Partei in dem Konflikt; den durch die Machtergreifung Nassers herbeigeführten Wandel im politischen System Ägyptens und die niemals voll genutzte Möglichkeit, zu einem Ausgleich der Lebensinteressen zu gelangen; den Wandel im Charakter „Palästinas“, das heißt die Entstehung einer echten palästinensisch-arabischen nationalistischen Bewegung, vor allem nach dem Sechstagekrieg (sie war geradezu ein Nebenprodukt jenes traumatischen Geschehens); und schließlich den Wandel im Charakter der an der arabisch-israelischen Konfrontation beteiligten politischen Kräfte, das heißt die Tatsache, daß Israel, unabhängig von möglichen Arrangements mit Ägypten, Jordanien, Syrien und Irak, den palästinensisch-arabischen Nationalismus wird anerkennen müssen und daß Israel und das arabische Palästina als unabhängige Staaten in den historischen Grenzen von Erez Israel — die das Gebiet Israels nach dem Sechstagekrieg und Jordanien umschließen — nebeneinander werden leben müssen.

Was im Denken der führenden israelischen Politiker über den arabisch-israelischen Konflikt bisher fehlt, ist jene historische Vision, die den Staat Israel zur Realität gemacht hat. Nur Ben Gurion hat — freilich nicht immer — diesen Weitblick bewiesen und sich für Koexistenz und Verständigung mit „den Arabern" ausgesprochen. Auch die Befürworter der „Vorsicht" haben keine fruchtbaren Ideen entwickelt, wie das Ziel, das sie als historisch notwendig anerkennen, zu erreichen wäre. Die Hauptverantwortung für die Lage trägt der arabische Nationalismus mit seinem unreifen Charakter, Selbsttäuschungen und seiner Unfähigkeit, die Rechtmäßigkeit einer nationalen Befreiungsbewegung der Juden im historischen Heimatland anzuerkennen. Doch auf die arabischen Versuche, Israel zu vernichten — gleich bei seiner Entstehung und seither immerzu — haben die Israelis geantwortet, indem sie bei der Verteidigung und beim Aufbau der Nation Erfindungsreichtum zeigten und ganz neue Wege gingen. Eine vergleichbare Reaktion in der Außenpolitik hat es nicht gegeben, weder im nahöstlichen noch im globalen System, an denen beiden Israel aktiv beteiligt ist. Das Ergebnis ist, daß sich Israel Ende 1970 in einem Zustand fast völliger Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten befand.

Insgesamt hat Israel in den zwei ersten Jahrzehnten hinsichtlich seines militärischen und wirtschaftlichen Leistungsvermögens gewaltige Fortschritte gemacht, sowohl in absoluten Werten als auch im Vergleich mit dem vereinigten Potential seiner arabischen Gegner. Darüber hinaus hat es die Probleme der Natlonwerdung gemeistert und einen eindrucksvollen sozialen Zusammenhalt geschaffen. Während des ganzen Zeitraums war sein politisches System eine Insel der Demokratie in einem Meer von Aufruhr und Autoritarismus. Und wenige Gesellschaften haben eine so hohe Stufe des Humanismus, der sozialen Gleichheit, der individuellen Freiheit und der Kontrolle des Volkes über das Schicksal des Landes erreicht.

Aber diesen Erfolgen steht nichts Gleichwertiges in der Sphäre der Außenpolitik gegenüber. Das höchste Ziel, der Frieden, ist noch nicht erreicht. Ihm steht hauptsächlich die arabische Intransigenz, in zunehmendem Maße auch die Feindseligkeit der Sowjetunion entgegen. Mitbeteiligt an diesem Mißlingen sind aber auch die grundlegenden außenpolitischen Entscheidungen, welche die Führer Israels auf Grund ihrer Auffassung von der Umwelt getroffen haben. Der qualitative Sprung in der psychologischen Umwelt bleibt eine historische Aufgabe, die noch zu erfüllen ist.

Fussnoten

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Michael Brecher, geboren in Montreal, Kanada. 1946 B. A. an der McGill University, 1953 Ph. D. an der Yale University. Seit 1953 Professor für Politische Wissenschaften an der McGill University, gegenwärtig Gastprofessur für Internationale Beziehungen an der Hebrew University, Jerusalem. Veröffentlichungen u. a.: Nehru. A political Biography, 1959 (deutsch: München 1963); The New States of. Asia, 1963; India and World Politics, 1968.