Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Staat, Gesellschaft, Freiheitswahrung | APuZ 7/1972 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 7/1972 Artikel 1 Staat, Gesellschaft, Freiheitswahrung

Staat, Gesellschaft, Freiheitswahrung

Christian Graf von Krockow

/ 65 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Sphärentrennung von Staat und Gesellschaft als Mittel der Freiheitswahrung ist ein altes, in vielem spezifisch deutsches Thema. Die arbeitsteilige Allianz zwischen modernem Staat und bürgerlicher Erwerbsgesellschaft bildet in der Tat auf dem europäischen Kontinent ein entscheidendes Instrument des historischen „Durchbruchs" der Neuzeit, der zur Industriegesellschaft hinführt. Zugleich handelt es sich um ein Instrument der Konfliktregulierung und -begrenzung, das nach den Erschütterungen der Französischen Revolution im liberalen Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts noch einmal zentrale Bedeutung erlangte. Aber in der entfalteten Industriegesellschaft, im Zeichen fortschreitender „Fundamentalpolitisierung" — der prinzipiellen Veränderbarkeit aller Lebensverhältnisse —/kommt es zur unaufhaltsamen Durchstaatlichung’ der Gesellschaft und zur . Vergesellschaftung'des Staates. Der Sphärentrennung wird dadurch ein Ende bereitet. Sie läßt sich nur noch fiktiv und defensiv im Sinne der Privilegienverteidigung aufrechterhalten; als Mittel gegen die Gefahren des totalen Konflikts und der freiheitsvernichtenden Gewalt erweist sie sich zunehmend als unbrauchbar. Der internationale Vergleich macht indessen deutlich, daß es zur Freiheitswahrung der Gegensatzkonstruktion von Staat und Gesellschaft auch nicht bedarf. Die Begrenzung der Ziele politischen Handelns auf „Vorletztes" diesseits heilsgeschichtlicher Totalität und die Begrenzung der Mittel politischen Handelns durch institutioneile Verfahrens-regelungen machen die Freiheitswahrung in politischen Systemen möglich, die Staat und Gesellschaft als demokratische Gesamtordnungen übergreifen. Es wird dabei zugleich eine Progressivität möglich, die Panikreaktionen und Aggressivität ausschaltet. Die Freiheitswahrung in der positiven Dialektik von liberal-konservativen und progressiven Momenten setzt in jedem Falle aber die Überwindung jenes Staatskonservatismus voraus, der die neuere deutsche Geschichte verhängnisvoll bestimmt hat und der immer wieder in aktionistischer „System" -Negation sein Gegenstück findet.

I. Aktualität und Alternativen der Freiheitswahrung

In zwei wichtigen Beiträgen dieser Zeitschrift haben Ernst-Wolfgang Böckenförde und Gerd-Klaus Kaltenbrunner kürzlich das Problem der Freiheitswahrung in der modernen politischen Ordnung untersucht Die Ansätze sind verschieden. Böckenförde geht von der — relativen — Nichtidentität von Staat und Gesellschaft aus, die gegen kurzschlüssige Gleichsetzung, gegen die Einebnung wichtiger und wesenhafter Differenzen verteidigt werden soll, um einerseits staatliche Institutionen und EntScheidungsprozesse nicht schlechthin dem Druck gesellschaftlicher Interessen erliegen zu lassen und um andererseits für Individuen und soziale Gruppen Freiheitsräume gegen den Totalitätsanspruch staatlich-politischen Zugriffs abzuschirmen. Kaltenbrunner dagegen greift auf die Lehren der Klassiker eines liberalen Konservatismus zurück, auf Denker wie Burke, Chateaubriand, Tocqueville.

Es handelt sich in der Tat, wie die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts gelehrt haben sollten, um eine fundamental wichtige Problematik. Sie gewinnt in dem Maße erneut an Aktualität, in dem — wie berechtigt immer — eine evolutionäre oder revolutionäre „System" -Veränderung allerorts gepredigt wird. Denn es bleibt gefährlich offen oder allen Winden definitorischer — und in der Konsequenz: aktionistischer — Willkür ausgeliefert, was „das System" eigentlich ist; der Drang zur Veränderung scheint sich zunächst einmal auf die Negation des Bestehenden zu konzentrieren, ohne daß zugleich deutlich wird, was ausge-spart, bewahrt — allenfalls im Hegelschen Dreisinne „aufgehoben" — werden soll und vor allem, was die Freiheit in ihrer doppelten Möglichkeit ausmacht, sich gegen das Bestehende zu wenden oder aber bei Bestehendem zu beharren.

Es ist vielleicht nicht überflüssig, daran zu erinnern, welche Rolle „System" und „Systemzeit" einst als diffamierende Schlagworte gegenüber der Weimarer Republik gespielt haben; nur einen Schritt weiter gelangt man zu der von Aldous Huxley sarkastisch formulierten Erfahrung: „Ein Denken in Begriffen von Grundprinzipien bringt ein Tun mit Maschinengewehren mit sich. Eine Regierung mit einem umfassenden Plan zur Verbesserung der menschlichen Gesellschaft ist eine Regierung, die die Folter anwendet. Per contra, wenn man nie Grundprinzipien bedenkt und keinen Plan hat, sondern Situationen behandelt, wie sie entstehen, eine nach der anderen, kann man sich unbewaffnete Polizisten, Redefreiheit und Habeas-corpus-Akte leisten." Es ist leicht, das im Andrang ungelöster Strukturprobleme, angesichts vielfältiger und offensichtlicher Ungerechtigkeiten als Frivolität abzutun, aber es ist eben auch gefährlich, nicht an die Kehrseite und an die Konsequenzen eines moralistischen Aktionismus zu denken. Wird jedenfalls, mit welcher Rechtfertigung immer, das Recht zum politischen Zugriff erst einmal absolut gesetzt, so kann es leicht zu dem kommen, was schon Tocqueville resigniert als französische Erfahrung formulierte: daß nämlich, „sooft man später die absolute Gewalt zu stürzen versuchte, man sich stets damit begnügte, den Kopf der Freiheit auf einen servilen Rumpf zu setzen"

Aber eine Gefahr zutreffend bezeichnen heißt noch längst nicht das rechte Gegenmittel an-geben. Die These, die im folgenden erläutert und belegt werden soll, lautet: Jene Trennung von Staat und Gesellschaft, die man als einen Schutzwall der Freiheitswahrung aufrichten oder restaurieren möchte, bezeichnet selbst dann noch, wenn es so vorsichtig differenzierend und fern einer unkritischen Staats-mythologie geschieht wie bei Böckenförde, ein Residuum antidemokratischer Potentiale, von dem her die neuere deutsche Geschichte so verhängnisvoll bestimmt worden ist und dem sich ein abstrakt aufs Niederreißen gerichteter Aktionismus nur zu konsequent als sein Gegenstück zugesellt. Eine weitere These lautet, daß die „Schwierigkeit“ des Konservatismus, von der Kaltenbrunner spricht: als freiheitswahrender nicht einsichtig und wirkungsfähig zu sein, eben daher rührt, daß Konservatismus in Deutschland notorisch als ein die Trennung von Staat und Gesellschaft betonender, als staatsideologisdi-„überparteilicher" sich maskiert und damit in der Folge sich gerade als parteiischer, als antidemokratischer diskreditiert hat So sehr deshalb Böckenförde und Kaltenbrunner die gleiche Intention zu haben scheinen: ihre Ansätze schließen einander aus; man kann den einen nicht mit dem anderen, sondern nur gegen ihn verwirklichen.

II. Politische Bedingungen der wissenschaftlichen Ansätze

Es geht um eine schwierige, vielschichtige Problematik, die der historischen ebenso wie der vergleichenden und der systematischen Analyse bedarf. Zugleich geht es um eine kontroverse Problematik — keineswegs, wie es Böckenförde einleitend darstellt, um eine unangefochten „herrschende Lehre" von der Einheit von Staat und Gesellschaft, der sich allenfalls Außenseitermeinungen entgegenstellen. Eher gilt das umgekehrte Verhältnis: „Die entscheidenden Wendepunkte unserer neueren Geschichte sind wesentlich dadurch bestimmt, daß in der . herrschenden Lehre'und politischen Meinung Staatsbegriff und Demokratieverständnis auseinanderfallen und entweder in Konfrontation oder doch in ein scharfes Unterordnungsverhältnis zueinander treten. Nur einmal, nach der Wende von 1945, geschah diese Unterordnung nicht eindeutig zugunsten des Staats-und auf Kosten des Demokratiebegriffs. Die Entscheidungen von 1848 und 1866 bis 1871, aber auch die Begründung der . halben Demokratie'von 1918, vollends die Einigungsproklamationen von 1914 und 1933 stehen im Zeichen der Vorstellung vom Vorrang staatlicher Ordnung und Effizienz vor den individuellen und gesellschaftlichen Kräften. Und selbst für die Zeit nach 1945 gilt die Frage, ob nicht die Auffassung vom Primat des Staates vor Demokratie trotz einer vielbemühten Revision des Geschichtsbilds noch immer weithin die Einschätzung bestimmt, ja von Jahr zu Jahr wieder steigenden Kurswert erhält. Der Ruf nach mehr Staatsbewußtsein, das Vordringen einer staatsbezogenen Terminologie in der politischen Rhetorik wie im institutionellen Ausbau der Bundesrepublik, die Auseinandersetzung um die Notstandsgesetzgebung, um das Verhältnis von Staatsschutz und Freiheitsrechten: all dies indiziert eine Fortdauer der alten Problematik auch unter den neuen Verhältnissen der zweiten deutschen Demokratie." Mit dem Demokratiebegriff meint hier Bracher eine politische Ordnung, die „Staat" und „Gesellschaft" gerade nicht einander entgegenstellt, sondern zusammenführt und als gemeinsame, verbindend-verbindliche überwölbt; ob eine mindestens teilweise Sphärentrennung von Staat und Gesellschaft im Zeichen demokratischer Ordnung möglich ist, wie Böckenförde annimmt, das ist die umstrittene Frage.

Entwicklung, Methodik und Selbstverständnis der Wissenschaften spiegeln die politischen Umstände aufs genaueste. Im Verlaufe des 19. Jahrhunderts wird eine übergreifende „Politik“ als Wissenschaft gesprengt und zerstört. An ihre Stelle treten verselbständigte und positivierte Einzeldisziplinen: Staatsrecht, Geschichte, Wirtschaftswissenschaften und — angesichts der deutschen Gewichtsverteilung nicht zufällig verspätet und behindert — Soziologie. Sie stellen sich dar als die Wissenschaften entweder vom Staate als dem „Reich der Freiheit" oder von der Gesellschaft als dem der „Notwendigkeit". Erst nach 1945 kam es zu einer Wende, vermochte sich eine Politikwissenschaft zu etablieren, die nunmehr, angesichts der Zensurmechanismen eines verkürzten, verdrängenden historischen Bewußtseins, als „neue" Wissenschaft, als „westliche Importware" —• im wesentlichen der amerikanischen Besatzungsmacht — erscheinen konnte.

Für die Politikwissenschaft stellt in der Tat die Aufhebung des Gegensatzes von Staat und Gesellschaft eine Lebensfrage dar. Denn, in den Worten Ernst Fraenkels, „wenn Staat und Gesellschaft radikal getrennt sind, bleibt für eigenständige Politikwissenschaft nicht viel zu erforschen. Es hat-dann im Reich der Freiheit die große Stunde der Juristen, im Reich der Notwendigkeit die große Stunde für die Nationalökonomen geschlagen" Politik ist nun einmal unabwendbar ein übergreifendes Phänomen, vor dem die Trennung der Bereiche nicht standhält. Wird die Trennung dennoch versucht, so wirkt sie bewußt oder unbewußt — und bewußt oder unbewußt ist das der Hintersinn des Vorgangs — entpolitisierend. Das gilt auch für die Geschichtswissenschaft, die sich als „politische" angesichts der Sphären-trennung nur verstehen oder vielmehr mißverstehen konnte, weil zeitweilig „Politik mit dem Staatshandeln nahezu vollständig zusammenfiel. Nur dadurch war es möglich, daß sich die Tendenz zur Staatsgeschichte so weitgehend durchsetzte und sich in der Lehre vom Primat der äußeren Politik zu einer Art von historischem Grundgesetz verdichtete."

Gehört nun freilich, wie die historischen und die systematischen Zusammenhänge es gleichermaßen erweisen, die Überwindung des Gegensatzes von Staat und Gesellschaft im Begriff des Politischen zur Existenzbedingung jeder eigenständigen Politikwissenschaft, so wird umgekehrt verständlich, daß Disziplinen, die die Trennung bereits in ihrem Namen enthalten, wie Staatslehre und Staatsrechtslehre, sich gegen die Ansprüche der Politikwissenschaft wie gegen etwas Fremdes und Feindliches zur Wehr setzen und daß vor allem der Versuch gemacht wird, einen selbständigen Staatsbegriff gegen Gesellschaft und Politik mindestens teilweise zu behaupten. Mißtrauen und Gegnerschaft zwischen juristischen Staatswissenschaften und Politikwissenschaft — Detailannäherungen und „Überläufer" in beiden Richtungen natürlich nicht ausschließend —-erweisen sich so gesehen geradezu als struktur-bedingt, gewissermaßen als Berufskrankheiten. Verständlich wird damit auch die wehmütige Rückerinnerung, die das zugeordnete Berufsinteresse deutlich zum Ausdruck bringt: „Die große Zeit der Verwaltung in der deutschen Staatsgeschichte wird immer das 19. Jahrhundert bleiben . . . Für die Verwaltung dieser Zeit, die fast ausschließlich in den Händen der Juristen lag, war der sich ausbildende Dualismus von Staat und Gesellschaft bedeutsam." Und — fast — wird zugleich die Erbitterung verständlich, mit der Forsthoff den „Verdacht" formuliert, es bildeten die „in den westlichen Staaten so heftig propagierten political Sciences" ein westliches Gegenstück zur sowjetischen Ideologie in deren Absicht, die herkömmliche Staatlichkeit zu zerstören

Die ideologiekritische Rückfrage auf das jeweilige Erkenntnisinteresse ist natürlich gegenüber jeder Position möglich, ja unerläßlich, auch gegenüber der politikwissenschaftlichen, zu der sich der Verfasser mit Nachdruck bekennt. Aber solche ideologiekritische Relativierung fällt nicht zusammen mit einem Relativismus, der alles grau in grau und damit als beliebig austauschbar erscheinen läßt; von welcher Position aus sich eine demokratische Ordnung als freiheitswahrende darstellen, begründen, verteidigen läßt — und von welcher nicht —, das ist und bleibt die entscheidende Frage. Ihre Beantwortung soll im folgenden versucht werden von einer politischen, politik-wissenschaftlichen Position aus, die den Begriff des Politischen von vornherein über die Trennung von „Staat" und „Gesellschaft" stellt, womit zugleich ein Bezugsrahmen geschaffen werden'soll, von dem her diese Trennung als historisch bedingte — und inzwischen historisch überholte — einsichtig gemacht werden kann. Geht es dabei zunächst vor allem um eine kritisch-polemische Analyse, so wird im weiteren auf jene Momente der Freiheitswahrung zurückzukommen sein, die Kaltenbrunner am „klassischen" Liberal-Konservatismus glaubt ausmachen zu können.

III. Der Begriff des Politischen und die Fundamentalpolitisierung

Politik ist vielfach kurzweg als „Machtkampf" definiert worden. Aber allenfalls im pathologischen Grenzfall kann es sich um Machtkampf „an sich" handeln; Macht und Machtkampf sind vielmehr Mittel, um entweder bestehende Verhältnisse zu verändern oder aber gegen mögliche, drohende Veränderungen abzuschirmen.

Politik als Kampf um die Veränderung bestehender Verhältnisse oder um deren Bewahrung im Medium möglicher Veränderung enthält nun offensichtlich eine historische Dimension, in der sie selbst sich quantitativ und qualitativ verändert. Denn es wird vorausgesetzt, daß die Verhältnisse überhaupt „machbar" sind und daß damit ihre Veränderbarkeit im Bereich menschlicher Möglichkeiten liegt. Das ist aber keineswegs immer der Fall. Zum Beispiel gibt es noch keine durchgreifende Möglichkeit — abgesehen von ersten Ansätzen dazu —, das Wetter zu „machen". Deshalb gibt es auch noch keine Wetterpolitik, kein Wetterrecht, keinen Wetterminister, keinen Konflikt oder gar Krieg um das Wetter (und eben deshalb bildet das Wetter einen so beliebten, konkurrenzlos unverfänglichen, verbindend-unverbindlichen Gesprächsgegenstand). Im übrigen aber ist nahezu alles, was einst — vor Beginn der neuzeitlichen Entwicklung, die zur Industriegesellschaft hinführt — als „natürlich" oder „gottgegeben" galt und sich allem menschlichen Zugriff entzog, verfügbar, machbar, veränderbar, mindestens beeinflußbar geworden, bis hinein ins scheinbar Natürlichste und Intimste, in die Verhältnisse von Jugend und Alter, Mann und Frau, Geburt, Reife, Krankheit, Tod. überall kann man direkt — etwa durch Medizin — oder indirekt — etwa durch die Steuer-, Straf-oder Sozialgesetzgebung — eingreifen, beeinflussen, ändern. überall treten deshalb zugleich politische Kontroversen und Konflikte auf — man denke nur an die aktuelle Diskussion über die Abtreibung.

In der alten, vorindustriellen Welt waren dagegen die wesentlichen Lebensbedingungen vorgegeben. Niemand, kein Herrscher, kein Herrschaftswechsel oder Krieg konnte etwas daran ändern, daß die große Mehrheit der Menschen auf dem Lande und von der Landwirtschaft leben mußte, eingebettet in die Vor-gegebenheiten des Bodens, des Klimas, in den Rhythmus der Tages-und Jahreszeiten. Audi die Produktionstechniken änderten sich nicht oder doch nur so langsam, daß ihre prinzipielle Veränderbarkeit nicht ins Bewußtsein drang. „Politik" blieb bei alledem notwendig etwas Ephemeres, ein Luxusgut gleichsam für kleine, privilegierte Herrenschichten, für die große Mehrheit aber etwas, das man wie eine zweite Natur duldend hinzunehmen hatte, als gute oder bedrückende Herrschaft wie Sonnenschein oder Mißernte.

Das hat sich grundlegend geändert; beinahe nichts erscheint mehr als fraglos „natürlich". Zugespitzt ausgedrückt: Natur selbst wird mit der modernen Entwicklung etwas, was „künstlich", unter großem Aufwand — auch an politischen Entscheidungsprozessen, man denke an das Stichwort Umweltschutz — bewahrt oder restauriert werden muß; sie wird etwas, was man gegen Eintrittsgeld im zoologischen Garten oder im Naturschutzpark (ein bezeichnendes Wort) besichtigen kann und bei sich selbst wiederum künstlich — zum Beispiel durch Sport — zu bewahren sucht. Wenn deshalb die Formel der philosophischen Anthropologie von der „natürlichen Künstlichkeit“ menschlichen Daseins gilt dann wird, was die Formel meint, doch mit der modernen Entwicklung seit Beginn der Neuzeit zunehmend radikalisiert und damit allererst voll aktualisiert — bis zu dem im 18. Jahrhundert zuerst erreichten Umschlagspunkt hin (Rousseau), von dem an man immer drängender und bedrängter nach künstlicher Natürlichkeit zu suchen beginnt.

Von Marx stammt die berühmte These: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt darauf an, sie zu verändern." Man tut der These und Marx’ Intention kaum Gewalt an, wenn man sie variiert: Bisher konnten die Philosophen die Welt nur verschieden interpretieren; jetzt ist es möglich geworden, sie zu verändern. Marx erkennt die Revolutionierung der Produktivkräfte als die Basis solcher Veränderbarkeit. Aber es handelt sich in unauflösbarer Wechselwirkung — darüber wird gleich eingehender zu sprechen sein — ebenso um eine Revolutionierung des Politischen; in Abwandlung eines Begriffes von Karl Mannheim könnte man deshalb auch von einem ständig fortschreitenden Prozeß der Fundamentalpolitisierung sprechen. Kaum zufällig wird die prinzipielle „Künstlichkeit" bestehender Verhältnisse zunächst und vor allem im politischen Kontext deutlich; die großen naturrechtlichen Vertragskonstruktionen bringen das ebenso zum Ausdruck wie Hobbes’ Bild vom Leviathan als dem „artificial man". Und entgegen der stets wiederkehrenden Behauptung, daß im Gegenentwurf zum Rationalismus der Konservatismus immer das Organische und Natürliche, das „Gewachsene" der Herrschaftsordnungen betone, findet man bei Edmund Burke die dezidierte Formel: „Art is man's nature." Und: „In einem Stadium bloßer Natur gibt es so etwas wie ein Volk nicht. Eine Anzahl von Menschen hat als solche noch keine Kollektivbedeutung. Die Idee eines Volkes ist die Idee einer Korporation. Sie ist vollkommen künstlich und wie alle anderen rechtlichen Fiktionen auf allgemeine Übereinkunft gegründet." „Fundamentalpolitisierung" stellt nun freilich vor allem anderen eine grundlegende Herausforderung dar. Denn je mehr angesichts der prinzipiellen Veränderbarkeit bestehender Verhältnisse politisch relevant wird, desto mehr ist — unabwendbar — prinzipiell auch umstritten, umkämpft, desto mehr gerät in die Zonen des Konflikts — bis hin zu jener in unserem Jahrhundert so drastisch sichtbar gewordenen Grenzlinie der Totalpolitisierung, der totalen Veränderbarkeit, des totalen Konflikts und der totalen Zerstörbarkeit alles Bestehenden. Noch die Aussparung bestimmter Lebensbereiche, ihre Bewahrung vor dem politischen Zugriff, gerät dabei unausweichlich in die Paradoxie der „künstlichen Natürlichkeit", der bewußten und institutionell zu sichernden Ausgrenzung, die selbst einen politischen Akt darstellt: sie gerät unter einen Vorbehalt, dessen Widerruf niemals mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann und damit zu aller-erst die Probleme der Freiheitswahrung so brennend aktuell macht. -— Wie nun der Herausforderung der Fundamentalpolitisierung konstruktiv begegnet werden kann, welche Rolle dabei vor allem Arbeitsteilung und Kooperation von Staat und Gesellschaft spielen, das soll im folgenden dargestellt werden.

IV. Thomas Hobbes'Konstruktion von Staat und Gesellschaft

Niemand hat so klar wie Thomas Hobbes die Problematik prinzipieller Politisierung in ein einziges, ebenso großartiges wie erschreckendes Bild gebannt: bellum omnium contra omnes — Krieg aller gegen alle. Man darf sich freilich nicht dadurch verwirren lassen, daß dieser Zustand des allgemeinen Kampfes als „natürlicher" geschildert wird; es handelt sich um eine Fiktion, eine durch und durch künstliche Konstruktion, gleichsam um eine negative Utopie. Denn es geht nicht um eine unausrottbare, unkontrollierbare Aggressivität im Sinne moderner Trieblehren, sondern um die Ungesichertheit zwischenmenschlicher Beziehungen innerhalb einer bereits als durchgehend dynamisch analysierten, konkurrenzbestimmten Erwerbsgesellschaft, aus der nur, im Gedankenexperiment, alle ihr übergeordneten politischen Entscheidungsinstitütionen entfernt worden sind. In diesem Gedankenexperiment zeigt sich: Gerade wer etwas gewonnen hat, ist, da er den Neid auf sich zieht, doppelt gefährdet und muß stets mehr erwerben, muß vor allem mehr Macht erwerben, um den Gewinn zu behaupten. „So that in the first place, I put forward a general inclination of all man-kind, a perpetual and restless desire of power after power, that ceaseth only in death. And the cause of this is not always that a man hopes for a more intensive delight, than he has already attained to, or that he cannot be content with a moderate power: but because he cannot assure the power and means to live well, which he has present, without the acquisition of more."

Macht ist ein Mittel, die ungewissen Beziehungen zur Umwelt zu stabilisieren durch deren Beherrschung, Unterwerfung. Aber die Macht des einzelnen bleibt immer gekennzeichnet durch Mangel; sie hat konkurrierende andere Macht neben und potentiell stets rebellische Ohn-Macht unter sich. So weiß niemand, was er langfristig zu erwarten hat; fundamentale Erwartungsunsicherheit ist und bleibt das Stigma des „natürlichen" Zustandes, d. h.des Zustandes der doch gerade auf langfristige Investitionsperspektiven hin angelegten bürgerlichen Erwerbsgesellschaft. Es ist überdies keineswegs mehr die Frage, ob der einzelne um Macht kämpfen will oder nicht — er muß, wenn er nicht untergehen will, exakt wie in jenem ökonomischen Zwangsprinzip, als das Marx den Kapitalismus geschildert hat. Und auch ein Verelendungsprinzip fehlt folgerichtig nicht (wir verwenden abermals den Originaltext, da eine Übersetzung die Wucht von Hobbes’ Sprache unmöglich erreichen kann): „In such condition, there is no place for industry; because the fruit thereof is uncertain; and consequently noculture of the earth; no navigation, nor use of Commodities that may be imported by sea; no commodius building; no instruments of moving, and removing, such things as require much force; no knowledge of the face of the earth; no account of time; no arts; no letters; no society; and which is worst of all, continual fear, and danger of violent death; and the life of man, solitary, poor, nasty, brutish, and short."

Damit ist exakt das Dilemma, die Tendenz zur Selbstzerstörung einer in ihren Voraussetzungen und Konsequenzen rational durchkonstruierten bürgerlichen Erwerbsgesellschaft bezeichnet. Dem Dilemma läßt sich nur dann entkommen, wenn dem allgemeinen Machtkampf ein Ende gemacht wird durch die Schaffung eines allen einzelnen wie der Gesamtheit der bürgerlichen Gesellschaft übergeordneten Machtmonopols, eines Monopols, wie Max Weber es nannte, der „legitimen physischen Gewaltsamkeit", das heißt durch den Staat, der eben kraft seines Machtmonopols dem Machtkampf der Bürger ein Ende setzt, indem er Gesetze erläßt, sie zureichend sanktioniert, Vertrag und Eigentum schützt, kurzum die zwischenmenschliche Erwartungsunsicherheit als politische aufhebt — und so den politisch garantierten unpolitischen Konkurrenzkampf geistigen wie materiellen Erwerbs in der bürgerlichen Gesellschaft allererst ermöglicht. Der Bürger muß als Untertan dem absoluten Staat Gehorsam leisten, auf alle politischen Ansprü-die verzichten. Aber dies geschieht in seinem eigenen Interesse; er findet den Schutz, den er zu seiner Lebensentfaltung braucht. Der Gehorsam ist wie der Schutz unteilbar, denn „die Staatsmaschine funktioniert oder sie funktioniert nicht. Im ersten Fall garantiert sie mir die Sicherheit meines physischen Daseins; dafür verlangt sie unbedingten Gehorsam gegen die Gesetze ihres Funktionierens. Alle weiteren Erörterungen führen in einen , vorstaatlichen’ Zustand der Unsicherheit, in dem man schließlich seines physischen Lebens nicht mehr sicher ist, weil die Berufung auf Recht und Wahrheit nicht etwa Frieden schafft, sondern den Krieg erst ganz erbittert und bösartig macht. Jeder behauptet natürlich, das Recht und die Wahrheit auf seiner Seite zu haben. Aber nicht die Behauptung, Recht zu haben, führt zum Frieden, sondern die unwiderstehliche Entscheidung eines sicher funktionierenden, gesetzlichen Zwangssystems, das dem Streit ein Ende macht."

V. Staat und Gesellschaft in historischer Perspektive

Es versteht sich, daß Hobbes’ Konstruktion keineswegs die Wirklichkeit spiegelt; sie kann dies schon deshalb nicht tun, weil sie als ahistorische die Komplexität, die Vielfalt und vielfältige Gebrochenheit geschichtlicher Entwicklungstendenzen und je besonderer Umstände außer Betracht läßt. Dennoch zeigt gerade eine auch nur grobe historische Orientierung die „idealtypische'1 Bedeutung der Konstruktion:

Die großen Herrschaftsformationen des frühen bis hohen Mittelalters stellen ja nicht „Staaten“ im modernen Sinne, sondern Lehnsordnungen dar, und diese scheinen, nachdem die Eroberungs-und Abwehrkämpfe abgeklungen sind, welche die Stämme zur Zusammenfassung ihrer Kräfte zwangen, sich in einem unaufhaltsamen Prozeß der Aufsplitterung, ja des Zerfalls zu befinden. Ein immer gleicher Vorgang spielt sich ab: Die Könige belehnen ihre Vasallen, setzen sie zur Verwaltung bestimmter Gebiete ein; die Vasallen verselbständigen sich und unterliegen wiederum dem Verselbständigungsdrang ihrer Gefolgsleute. Etwa vom Hochmittelalter an aber beginnt eine Umkehr des Prozesses: Auf die Aufsplitterung und partikularistische Aneignung von Herrschaftsgewalten folgt Zentralisation, die allmählich, in harten, mit vielen Rückschlägen verbundenen und über Jahrhunderte währenden Konkurrenz-und Ausscheidungskämpfen, zur „Enteignung" der Partikulargewalten und zur politischen Monopolbildung des Staates, im europäischen Rahmen zur Oligopolbildung der Staaten führt. Der Wendepunkt ist in Frankreich etwa im 11. Jahrhundert anzusetzen (Philipp I., 1060— 1108); die Monopolbildung erreicht im 17. Jahrhundert unter Ludwig XIV. ihren vorläufigen Höhepunkt und Abschluß, wird jedoch in neuer Form im Gefolge der Französischen Revolution und unter Napoleons Herrschaft nochmals vorangetrieben. Deutschland folgt mit großer Verspätung; der Westfälische Frieden besiegelt noch die Aufsplitterung, wenngleich die Re-Integration in Teilgebieten bereits früher einsetzt. Später kommt es zur österreichisch-preußischen Duopolbildung, der erst die Entscheidung von 1866 ein Ende macht. Im übrigen beginnt, nachdem jeweils das Ziel erreicht ist, wiederum ein eigentümlich gegenläufiger Prozeß; der Monopolbildung folgt — oder gesellt sich bei — der Kampf um Enteignung, „Vergesellschaftung" der politischen Gewalt, allerdings unter Beibehaltung der Zentralisation.

Untersucht man zunächst jedoch die mittelalterlichen Aufsplitterungstendenzen, so liegen deren Ursachen auf der Hand: In einer weitgehend natural-und selbstversorgungswirtschaftlich bestimmten Gesellschaft fehlen die Mittel zur Herrschaffszentralisation. Wirkliche Macht reicht kaum weiter, als sie sich aus der ansässigen Bevölkerung mit Lebensmitteln und Dienstleistungen versorgen läßt, und das sind angesichts mangelnder Verkehrsmöglich-keiten oft nur wenige Kilometer. Der Lehnsmann aber, der in ein anderes Gebiet verpflanzt wird, sammelt dort wieder die reale Macht in seinen Händen, so daß seine Verselbständigung kaum aufzuhalten ist und im beständigen Kampf zwar Vielleicht ein Lehnsmann durch einen anderen ersetzt, die Aufsplitterung indessen nur zeitweilig unterbrochen werden kann.

Der Tendenzumschwung wird ermöglicht durch die allgemeine Wirtschaftsentwicklung, die mit einer Verbesserung der Verkehrsmöglichkeiten Hand in Hand und in der — das ist geht von zentraler Bedeutung — Naturalwirtschaft Geldwirtschaft allmählich durch die überlagert wird. Denn die Verfügung über Geldmittel ermöglicht die Akkumulation eines „Mehrwertes" von Macht über die „natürlichen" Ressourcen hinaus; es wird möglich, hauptberufliche Verwaltungsfachleute und Waffenträger einzustellen, die, von der Zentralgewalt besoldet und von der Besoldung lebend, auch von der Zentralgewalt abhängig sind und abhängig bleiben. Der Kampf um Finanzquellen ist daher in den einsetzenden Konkurrenz-und Ausscheidungskämpfen von besonderer Wichtigkeit, der Konflikt um das Steuermonopol und schließlich seine Durchsetzung entscheidend, denn finanzielle und politisch-militärische Macht erweisen sich immer eindeutiger als die zwei Seiten derselben Sache: der Herrschaft. Ist die Entwicklung erst einmal in Gang gekommen, so läuft sie, nach den Worten von Norbert Elias, „ab wie ein Uhrwerk": „Ein Menschengeflecht, in dem kraft der Größe ihrer Machtmittel relativ viele Einheiten miteinander konkurrieren, neigt dazu, diese Gleichgewichtslage u verlassen und sich einer anderen zu nähern, bei der immer weniger Einheiten miteinander konkurrieren können; sie nähert sich mit anderen Worten einer Lage, bei der eine gesellschaftliche Einheit durch Akkumulation ein Monopol über die umstrittenen Machtchancen erlangt." Der spätere, „nur" wirtschaftliche Konkurrenzkampf im entfalteten Kapitalismus, der zur Monopolbildung oder jedenfalls zur Oligopolbildung wirtschaftlicher Macht in den ver-schiedenen Marktbereichen drängt, erweist sich daher als Sonderfall eines allgemeineren Vorganges, und er setzt die arbeitsteilig auf politischem Gebiet vollzogene Monopol-bildung „legitimen physischen Zwanges" bereits voraus. Wer im übrigen die Monopolstellung erringt, ob diese oder jene Dynastie — später: diese oder jene Firma —, läßt sich nicht Voraussagen, sondern ist abhängig von den Umständen, von Zufällen, von der besonderen Tüchtigkeit oder Untüchtigkeit der Führungsfamilien. Aber dies bleibt auch unwesentlich gegenüber dem Vorgang insgesamt, der eben mit nahezu mechanischer Zwangshaftigkeit abrollt

Auf dem Wege zum Territorialstaat sieht sich nun die fürstliche Gewalt auf das Bürgertum als seinen Verbündeten in mehrfacher Weise verwiesen. Zum einen kann das Bürgertum ein Gegengewicht bilden gegen die nach wie vor starken Kräfte des Feudalismus, die es zu überwinden gilt. Zum zweiten liefert das Bürgertum Fachkräfte zur Entwicklung des Verwaltungsapparates und des Gerichtswesens; vor allem der akademisch qualifizierte Jurist beginnt damit seinen Siegeszug und wächst im Selbstverständnis zu einer zentralen „staatstragenden" Kraft heran. Man könnte auch sagen, daß das Bildungsbürgertum-, oft noch vor dem Wirtschaftsbürgertum, zwar verhüllt, aber darum nur um so wirksamer zur Entwicklung einer Klassenherrschaft ansetzt. Zum dritten und vor allem bedarf der Territorialstaat zu seiner Durchsetzung und Behauptung nun einmal in immer wachsendem Maße der Finanzmittel, die im wesentlichen nur das städtische und zunehmend auf wirtschaftliche Dynamik hin orientierte Bürgertum liefern kann.

Betrachtet man die Dinge in umgekehrter Blickrichtung, so liegt ebenfalls auf der Hand, daß der arrondierte Flächenstaat als der gegebene Verbündete, ja schließlich — nachdem die Träume von der Souveränität der Einzel-städte oder der Städtebünde zerstoben sind — als die Existenz-und Entfaltungsbedingung schlechthin des Bürgertums angesehen werden muß. Denn nur im rational verwalteten, durch einheitliche Gesetzgebung und professionalisiert-berechenbare Rechtsprechung ausgezeichneten Flächenstaat wird ein immer weiter auszweigendes, langfristig angelegtes, auf Inve-stieren und Akkumulieren bedachtes Wirt-schaftshandeln überhaupt möglich. Der starke, über die Gesellschaft hinausgehobene Staat kann vor allem mit seinem Machtapparat den Landfrieden in einer Weise verwirklichen und garantieren, wie das dem reinen Stadtbürgertum selbst in den größten Bünden niemals möglich war — nicht einmal in den Städten selbst, in denen das Handelspatriziat nur eine Interessenpartei unter anderen darstellte und zum Beispiel die Zünfte Sperriegel gegen eine Dynamisierung der Produktionsverhältnisse aufrichteten, deren Aufsprengung wiederum übergeordneter Macht bedurfte. Mit einem Satz: Einzig der machtvolle, mit dem Gewaltsamkeitsmonopol ausgestattete Staat kann das Eigentum garantieren, das die besondere Form des Kapitals angenommen hat oder anzunehmen im Begriff steht. Der Staat gibt diese Garantie um so zuverlässiger ab, als er selbst, obwohl sozial gesehen durchaus nichtbürgerlichen Ursprungs, sich als auf die kapitalisti-sche Entwicklung vital angewiesen erkennen lernt und daher diese Entwicklung nach Kräften fördert, ja sie selbst in die Hand nimmt — Stichwort Merkantilismus —, wo ihre Eigendynamik noch schwach ist.

Im Gegensatz zum Bürger-Krieg wird der zwischenstaatliche Krieg, da es eben nicht zur europäischen Monopolbildung, sondern nur zur Oligopolbildung kommt, allerdings nicht abgeschafft — ganz im Gegenteil. Gleichwohl leistet der moderne Staat einen bedeutsamen, ja historisch einzigartigen Beitrag zur Begrenzung des Krieges, vor allem zur Begrenzung seiner Auswirkungen auf die Gesellschaft. Denn die Monopolisierung der legitimen physischen Gewaltsamkeit durch den Staat hebt diese Gewaltsamkeit von der Gesellschaft ab; der Krieg wird zur Sache der Regierungen und der Berufsarmeen. Idealiter soll der Untertan es kaum bemerken müssen, wenn sein Souverän Krieg führt und, völlig unbehelligt, das „feindliche" Land bereisen können. Tatsächlich macht es im Ergebnis für die Bewohner Schlesiens wenig aus, ob sie Untertanen Maria Theresias bleiben oder zu Untertanen des Königs von Preußen werden, und die ostpreußischen Stände huldigen im Siebenjährigen Krieg ohne viele Skrupel — und ohne prinzipielle Eingriffe in ihre Lebensverhältnisse — der Besatzungsmacht, d. h.der Zarin. Was dies alles praktisch bedeutet, macht jeder Vergleich mit den Wirren und Kriegen des 16. und 17. Jahrhunderts deutlich, in denen der Staat noch um die Durchsetzung seines Monopols kämpft. Im Gefolge der Französischen Revolution kommt es zwar zu einer tiefgreifenden Erschütterung, aber im 19. Jahrhundert wird im Zeichen des liberalen Konstitutionalismus doch noch einmal eine Wiederherstellung des „klassischen“ neuzeitlichen Verhältnisses erreicht, so daß sich im vergleichenden Rückblick vom 20. Jahrhundert her auch noch die Kriege etwa der Reichsgründungszeit recht idyllisch ausnehmen.

VI. Eigentum oder Menschenrechte? Der konstitutionelle Kompromiß

In der großen historischen Allianz des Staates und der bürgerlichen Erwerbsgesellschaft vollzieht sich die neuzeitliche Durchbruchsbewe-gung, die schließlich zur Industriegesellschaft hinführt; gleichsam zwischen zwei Mühlsteinen werden alle mittleren, retardierenden Gewalten allmählich aufgerieben. Dies schließt nicht aus, daß es zwischen dem absoluten Staat und der bürgerlichen Gesellschaft zu schwerwiegenden Konflikten kommt, kommen muß — um so unausweichlicher, je mehr das Bürgertum wirtschaftlich erstarkt und die Diskrepanz zwischen seiner wirtschaftlichen Macht und seiner politischen Ohnmacht sich bemerkbar macht. Schon John Locke, der Philosoph der „glorreichen" Revolution, hat sich scharf gegen Hobbes, den Philosophen der „großen" Revolution, gewandt. Der absolute, über die Gesellschaft erhobene Staat soll ja nach Hob-bes die Sicherheit der bürgerlichen Gesellschaft gewährleisten. Darin liegt sein einziger Sinn. Aber es gibt keine Garantien gegen willkürliche Übergriffe dieses Staates. Und „das wäre, als ob die Menschen, wenn sie den natürlichen Zustand verlassen und eine Gesellschaft gründen, alle außer einem den Gesetzen unterworfen sein sollten ünd dieser eine alle Freiheit des natürlichen Zustandes behalten sollte — vermehrt durch Macht und zügellos geworden durch Straffreiheit. Es hieße annehmen, die Menschen wären so töricht, sich gegen den Schaden von Iltissen und Füchsen versichern zu lassen, um gleichzeitig damit einverstanden zu seih — nein: es für Sicherheit zu erachten! — sich von Löwen verschlingen zu lassen."

Entsprechendes gilt für die Herrschaft durch Eroberung, die Hobbes ausdrücklich anerkannt hatte, gesetzt nur, daß sie erfolgreich sei, also als Entscheidungs-und Sanktionsmechanismus sich als wirksam erweise. „Sollte ein Räuber in mein Haus dringen und, den Dolch an meiner Kehle, mich zwingen, ihm meinen Besitz zu überschreiben, würde ihm das irgendeinen rechtlichen Anspruch verschaffen? Genau solchen Anspruch hat der ungerechte Eroberer kraft des Schwertes, das mich zur Unterwerfung zwingt." Mag nun die Eroberung von außen oder von innen kommen, gegen sie bleibt stets das Recht zum Aufstand, denn wer um der Ruhe und Ordnung willen dieses Recht verneint, „könnte ebensogut behaupten, daß ehrliche Leute kein Recht haben, Räubern und Piraten Widerstand zu leisten, weil das vielleicht Unordnung und Blutvergießen verursachen könnte" Die Lösung, die Locke vorschlägt, läuft Hobbes'Vorstellungen genau entgegen: Es ist eine Kontrolle und Begrenzung der Staatsgewalt durch Gewaltenteilung nötig, vor allem eine Trennung von Legislative und Exekutive, wobei die Legislative von den Bürgern durch Wahl bestimmt werden muß und jeweils nur in den Grenzen des Wählerauftrags tätig werden darf.

Es geht also um die konstitutionelle'Ordnung als Alternative zur absoluten Staatsgewalt Damit wird jedoch keineswegs, wie deutsche Staatsapologeten meinen, eine „Krise" der Staatsgewalt eingeleitet oder gar die Selbst-zerstörung der bürgerlichen Gesellschaft und ein „Ende aller Sicherheit" heraufbeschworen. Ganz im Gegenteil: Auch Locke und seinen Nachfolgern geht es um Sicherheit, um die erweiterte und gefestigte Sicherheit bürgerlicher Lebensordnung. Nachdem die staatliche Schutzmacht erst einmal etabliert und konsolidiert ist, geht es darum, die Gesellschaft gegen willkürliche — vom Standpunkt des Wirtschafts-und Besitzbürgertums aus willkürliche — Staatseingriffe zu schützen. Das ist entscheidend die Frage nach dem Recht auf Steuerbewilligung und -Verweigerung.

Denn in der Koalition von Staat und Gesellschaft, in der Relation von Schutz und Gehorsam entspricht der Schutzleistung des Staates die Steuerleistung der Gesellschaft. Kann nun der Staat, kann der monarchische Beamten-apparat — dessen entscheidende Kommandoposten durchweg der Adel besetzt hält, der also weithin noch auf nichtbürgerliche Ursprünge zurückverweist — die Steuern nach Höhe, Verteilung und Verwendungszweck beliebig festsetzen, so muß dies in dem Maße als willkürlicher Eingriff ins Eigentum erscheinen, in dem einerseits der staatliche Finanzbedarf — zum Beispiel für die Rüstung und für den Krieg — ständig steigt und in dem andererseits das Bürgertum so erstarkt, daß es tatsächlich immer höhere Leistungen zu erbringen vermag, so daß das Mißverhältnis zwischen seiner wirtschaftlichen Macht und seiner politischen Ohnmacht sich zunehmend bemerkbar macht.

Die Forderung gegen den Staat richtet sich deshalb einmal auf Offenlegung seines Handelns, mindestens soweit es die finanziellen Grundlagen betrifft, zunächst und vor allem also — modern ausgedrückt — auf Budgetöffentlich-keit. Denn nur mit ihrer Hilfe läßt sich beurteilen, ob die steuerlichen Eingriffe „gerecht" sind, übrigens erweist sich die Budgetöffentlichkeit auf weitere Sicht auch für den Staat als vorteilhaft, weil sie das Fundament des Staats-kredits bildet; diese Erkenntnis setzt freilich einen langen und schmerzhaften „Lernprozeß" voraus, erleichtert aber schließlich den konstitutionellen Kompromiß. Zum anderen geht es um das Recht der Steuerbewilligung durch die Stände, vor allem um das Recht des „dritten" Standes, der dabei die ständischen Schranken mehr und mehr sprengt, weil er sich einerseits gegen die Privilegien der vorgeordneten Stände wendet und andererseits vom Standpunkt seiner steuerlichen Leistungskraft tatsächlich mehr und mehr in die Rolle der Nation einrückt.

Die großen Kämpfe zwischen modernem Staat und bürgerlicher — vor allem in England wegen seiner besonderen Adelsverfassung auch: adlig-bürgerlicher — Gesellschaft sind folgerichtig im Kern, zumindest aber im Ansatz Kämpfe um die politische Mitsprache des Bürgertums im Sinne seines Steuerbewilligungsredits mittels parlamentarischer Repräsentation. Das gilt für England im 17. Jahrhundert ebenso wie für die amerikanischen Kolonien im Verhältnis zum Mutterland und für Frankreich ihr späten 18. Jahrhundert wie schließlich noch für den preußischen Verfassungskonflikt der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts, und die „idealtypische" Lösung ist eben der konstitutionelle Kompromiß, der die überkommene Staatsgewalt zwar keineswegs zerstört, wohl aber sie unter die Kontrolle der bürgerlichen Gesellschaft beugt.

Eigentlich ist es sogar unangemessen, von »Kompromiß" zu sprechen, denn das würde voraussetzen, daß es sich um eine immer nur aufgeschobene, vorläufige Entscheidung, um eine Augenblickslösung im Ringen prinzipiell gegensätzlicher Kräfte handelt, von der der einen Kraft oder der anderen Kraft schließlich der volle Sieg zufallen muß. In historischer Perspektive gleichsam rückwärtsgewandter Prophetie, von einem Standpunkt aus, der nicht mehr Eigentum und Steuern sondern Menschenrechte und demokratische Selbstbestimmung ins Zentrum rückt, mag es auch so erscheinen. Aber für Locke und für seine Nachfolger — vielfach bis ins 19. Jahrhundert — ist es ganz klar, daß nicht der Mensch, sondern das Eigentum seinem Wesen nach mit dem Staate verbunden ist, daß, präzise gesprochen, der Schutz des Kapitals der Sinn des Staates ist Diese These ist vom Standpunkt des „Besitzindividualismus" so einleuchtend wie funktionsgerecht; sie unterscheidet sich vom altständischen Gedanken der politischen Ordnung als unmittelbarer Selbstverwaltungsorganisation der Privilegierten und Besitzenden durch die Entwicklung der Funktionsdifferenzierung und Arbeitsteilung zwischen Staat und Gesellschaft.

Der Konstitutionalismus wäre deshalb statt als Kompromiß wohl besser als erneuerte Koalition zwischen Staatsgewalt und bürgerlicher Gesellschaft zu benennen. Die Koalition wird erneuert auf ökonomisch weiterentwickelter und insofern veränderter Grundlage, aber nach wie vor als jene grundlegende Relation von Schutz und Gehorsam, welche die Sicherung zwischenmenschlicher Erwartungen und Verhaltensformen, den Schutz von Vertrag und Eigentum im Zeichen der bürgerlichen Konkurrenz-und Erwerbsgesellschaft zum Ziel hat. Zwischen den liberal-konstitutionellen Vorstellungen und denen, die für die moderne Industriegesellschaft jedenfalls im Sinne ihrer Proklamationen charakteristisch sind, klafft hingegen der Abgrund eines Wechsels der Legitimationsgrundlage. Dieser Abgrund mag lange durch Kompromisse überbrückt werden. Aber je länger, desto mehr erweisen sich die noch so kühnen Brückenkonstruktionen als baufällig; immer neu errichtet, stürzen sie immer wieder ein, ihre Konstrukteure mit sich in die Tiefe reißend. Der Sachverhalt wird bereits — und einmal mehr exemplarisch — an der französischen Entwicklung seit 1789 deutlich. Denn einerseits geht es um das Recht des „Dritten Standes" und folgerichtig in der Verfassungskonstruktion um ein Zensuswahlrecht. Andererseits und zugleich geht es jedoch um die Nation und vor allem um die Proklamation von Menschenrechten. Das eine widerstreitet notwendig dem anderen, und zwar nicht nur in der Rhetorik oder als Legitimationsprinzip, sondern auch in der sozialen Realität. Sobald daher die einigenden Feinde — der alte Staat und die alte Ständeordnung — besiegt sind, tritt der Gegensatz zwischen dem Groß-und Besitz-bürgertum auf der einen Seite und auf der anderen dem Kleinbürgertum und der — zumal in der Paris bereits politisch bedeutsamen — Menge der Besitzlosen und der Arbeiterschaft mit aller Schärfe hervor. Jeder behauptet, „das Ganze", die Nation zu repräsentieren und deshalb Anspruch auf die Staats-organisation in seinem Sinne zu haben; aber niemand vermag den Anspruch voll einzulösen. So kommt es zu einer notorischen Unstabilität aller Verfassungsversuche, einem rapiden Verschleiß politischer Ordnungsformen: ein Zustand, der, eigentümlich zementiert, Frankreich keinesweg nur für die Jahre unmittelbar nach 1789 kennzeichnet. Beispielhaft und mit einer Aktualität, die bei Änderung der Jahreszahl und weniger Details als tiefdringende Analyse der Weimarer Verfassungsordnung erscheinen könnte, hat Lorenz von Stein den Sachverhalt an der Konstitution von 1795 dargestellt:

„Die Verfassung von 1795 war gewiß ein Meisterstück von politischer Berechnung. Alles griff auf das schönste ineinander; alle Prinzipien schienen wohlverwahrt; man hätte trefflich unter solcher Staatsordnung leben können. Allein fragen wir nun, welche gesellschaftliche Ordnung dieselbe ausdrückte, welches gesellschaftliche Element die beiden Hauptorgane, die beiden Räte und das Direktorium darstellten, so finden wir keine Antwort. Ihr Charakter war, daß sie nichts vertrat, aber alles zuließ. Die Folge war, daß sich eine Partei der Formen dieser Verfassung bemächtigte und auf streng gesetzlichem, verfassungsmäßigem Wege das gesellschaftlich Unmögliche, die Herstellung des alten Rechts, versuchte. So entstand durch die Verfassung eine Revolution, die sonst nur gegen die Verfassung entsteht, und die Verfassung ging faktisch zugrunde. — Wenn das nun wahr ist, so entsteht die Frage: welche Verfassung war denn möglich zu jener Zeit? In der Tat — es war noch gar keine Verfassung möglich. Es mag dies ein kühnes Urteil scheinen; es ist dennoch das einzig richtige. Denn wo war die Ordnung der Gesellschaft, welcher eine solche Verfassung hätte entsprechen sollen? Ganz offenbar war eine solche Ordnung noch gar nicht entstanden . .. Und was für diese Zeit gilt, das muß als maßgebend für jede Zeit ähnlicher Umwälzung gelten. Wo nur eine doktrinäre Verfassung möglich ist, da ist überhaupt noch keine Verfassung möglich.“

VII. Zwischenbilanz

Versuchen wir an dieser Stelle eine Zwischenbilanz: Die historisch einzigartige Form der Trennung von Staat und Gesellschaft, wie sie sich in wichtigen Gebieten Kontinentaleuropas seit dem späten Mittelalter anbahnt und im Verlaufe der Neuzeit durchsetzt, diese Trennung, die als Funktionendifferenzierung und Arbeitsteilung zugleich eine Form der Kooperation darstellt, hat sich als entscheidendes Instrument des „Durchbruchs" aus der alten, traditionsbestimmten Ordnung in eine neue, dynamische Epoche erwiesen, dazu bestimmt, das Zeitalter der Industrialisierung heraufzuführen. Der Ausbildung berechenbarer, kompetenter Verwaltung und Rechtsprechung durch Berufsbeamte im arrondierten Flächenstaat, der Durchsetzung des Land-und Bürger-friedens kraft der Monopolisierung legitimer physischer Gewaltsamkeit, abgestützt durch ein Berufsheer, der Bändigung, Eingrenzung zugleich des Krieges durch seine weitgehende Abhebung von der Gesellschaft — dem allen entspricht die Entwicklung rationalen Wirtschaftshandelns und Produzierens, die Ausbildung einer „langfristigen Investitionsperspektive", mit der die bürgerliche Gesellschaft, zum prinzipiell individualisierten geistigen und materiellen Konkurrenzkampf befriedet und freigesetzt, jene Revolutionierung der Produktivkräfte erreicht, die rückblickend kein anderer als Marx im „Kommunistischen Manifest" so beredt, um nicht zu sagen bewundernd geschildert hat.

Mit der Gesamtentwicklung, mit der durchgesetzten Trennung der staatlichen Sphäre als öffentlich-politischer von der gesellschaftlichen als privat-unpolitischer ergeben sich neben dein Schutz der materiellen Interessen des Bürgertums überdies ideelle Errungenschaften, die kaum hoch genug veranschlagt werden können und zugleich mit der wirtschaftlichen eine geistige Dynamik freisetzen; es sei nur an die Stichworte Toleranz und Gewissensfreiheit erinnert, und kaum zufällig ist John Locke, der den Schutz des Eigentums zum Sinn des Staates erklärt, auch der große Anwalt des Toleranzprinzips.

Es besteht also aller Anlaß, die Trennung von Staat und Gesellschaft, wie sie sich in der neueren europäischen Geschichte ergeben hat, nicht allein im Rückblick zu würdigen, sondern ebenso auf der Frage zu beharren, wie das einmal Errungene unter gewandelten Verhältnissen bewahrt, allenfalls im Hegelschen Drei-sinne „aufgehoben" werden kann. Welche Barbarei auf den Plan tritt, welche Zerstörungen die Konflikte des Zeitalters der Fundamentalpolitisierung zu bewirken vermögen, wenn die neuzeitlichen Errungenschaften mißachtet werden, bedarf angesichts der bitteren Erfahrungen des 20. Jahrhunderts keiner Erörterung.

Aber eine ganz andere Frage ist es, ob man eigentlich noch an der überkommenen Funktionenteilung von Staat und Gesellschaft festhalten kann, wenn der Wandel der Umstände sie hinfällig gemacht hat, ob man dann nicht womöglich gerade das provoziert, was man zu vermeiden trachtet: zerstörerischen Konflikt, Unfreiheit, Willkür, Barbarei. Der Wechsel der grundlegenden Legitimationsprinzipien, der im Dilemma der Französischen Revolution zuerst und exemplarisch sichtbar wird, wirft jedenfalls Probleme auf, die anzeigen, daß man den liberalen Konstitutionalismus nicht ohne weiteres fortschreiben kann zum modernen Sozialstaat Und zu einer demokratischen Ordnung, die Menschenrechte als ihr ideelles Fundament proklamiert

Zunächst sollen einige der Umstände wenigstens skizziert werden, die den Einsturz des alten Verhältnisses von Staat und Gesellschaft signalisieren bzw. die ihn verursacht haben, um dann nach alternativen Möglichkeiten der Freiheitswahrung Ausschau zu halten.

VIII. Die Durchdringung von Staat und Gesellschaft

Wohl am drastischsten hat im 20. Jahrhundert das Problem des Krieges demonstriert, daß nicht länger gilt, was als selbstverständliche Errungenschaft neuzeitlicher Zivilisationsentwicklung angesehen worden war. Schon mit dem Ersten, erst recht aber mit dem Zweiten Weltkrieg wurde deutlich, daß die überkommene Trennung von Staat Und Gesellschaft — übersetzbar in die Begriffe „Front" und „Heimat“ — nicht länger sich durchhalten ließ. Der Krieg machte so große Rüstungsanstrengungen erforderlich, daß er nach der „totalen Mobilmachung“ aller gesellschaftlichen Kräfte verlangte. Das galt zunächst materiell (Kriegswirtschaft, Blockade), eben damit aber auch geistig (Propaganda). Indem jedoch die Gesamt-gesellschaft für den Krieg mobilisiert wurde, mobilisiert werden mußte, geriet sie folgerichtig selbst zum direkten Kriegsobjekt (Bombenkrieg). Deutlichstes Zeichen für das Verfließen der Grenzen von Staat und Gesellschaft war im übrigen das Aufkommen von Widerstands-und Partisanenbewegungen, in denen die Gesellschaft sozusagen unmittelbar zur Waffe griff. Ihr konsequentes, fatales Gegenstück fand diese Entwicklung in staatlich gelenkten Diffamierungs-und Vernichtungsfeldzügen gegen bestimmte soziale Gruppen: nationale Minderheiten, Juden, Kommunisten, Kapitalisten usw. Und am Ende stellte sich sogar der Friede als „kalte", auf die politisch-gesellschaftliche Gesamtverfassung zielende Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln dar.

Im 20. Jahrhundert wird indessen lediglich manifest, was längst zuvor sich angekündigt und vorbereitet hatte. Die allgemeine Wehrpflicht, die den absolutistischen Berufsarmeen ein Ende bereitet, ist ein Sproß der Französischen Revolution. Sie ist nur denkbar unter der Voraussetzung prinzipieller politischer Aktivierung und Integrierung aller im Namen der Nation — und sie signalisiert den ungeheuren Machtzuwachs des Staates im Zeichen des Nationalismus. Damit wird aber wiederum die Frage des Grundlagenwechsels der Legitimationsprinzipien akut, von der bereits gesprochen wurde; die erforderliche unmittelbare Staatsbürgerschait läßt sich schwerlich herstellen und sichern im Zeichen eines Besitzbürgertums, das sich in seiner politischen Repräsentation allein nach dem Maße der Steuerkraft, also des Eigentums und Einkommens, mit dem Staat vermittelt.

In gleicher Weise hatte sich bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als „soziale Frage" das materielle Substrat des neuartigen Legitimationszwanges angekündigt. Und wiederum wird im 20. Jahrhundert die Notwendigkeit der Entwicklung des Staates zum Wirtschafts-und Sozialstaat, zum Gesellschaftsstaat im weitesten Sinne manifest. Um nur Stichworte zu nennen Kein moderner Industriestaat kann mehr auf Wirtschaftsein-griffe, etwa auf Konjunkturlenkung und Strukturpolitik, verzichten. Der Staat muß immer größere, tendenziell umfassende soziale Sicherungssysteme entwickeln; Bildung und Forschung erweisen sich als ein Politikum ersten Ranges; Verkehrserschließung, Städteplanung, Gesundheitsfürsorge, Umweltschutz werden lebenswichtig, und man könnte mit solcher Aufzählung lange fortfahren.

Unabweisbare Notwendigkeiten lassen den Staat stets tiefer in die Gesellschaft eindringgen. Und weil das so ist, muß umgekehrt die Gesellschaft — genauer: müssen die sozialen Gruppen, Verbände, Parteien, in denen sich Anschauungen und Interessen zur politischen Aktion organisieren — immer tiefer in den Staat eindringen, um ihn möglichst im eigenen Sinne zu beeinflussen und ihren Anteil am „Kuchen" des Produktivitätszuwachses zu ergattern, mindestens um gegenüber konkurrierenden Gruppen nicht in Nachteil zu geraten. Daß neuerdings sogar Beamte sich gewerkschaftlich organisieren und das Streikrecht fordern, während andere Gruppen sich dem Beamtenstatus möglichst anzunähern trachten, ist nur ein besonders markanter Ausdruck des allgemeinen Sachverhaltes, daß Staat und Gesellschaft sich immer weniger und am Ende nur noch fiktiv als wesensverschiedene Sphären voneinander trennen lassen. Zusammengefaßt: Der immer fortschreitende Prozeß der Fundamentalpolitisierung durchbricht die „Auffangstellung" der Trennung von Staat und Gesellschaft; er schmilzt die Sphären ins gleiche Medium, eben des Politischen, ein.

Daß bei alledem die Unabhängigkeit des Regierungshandelns ebenso betroffen wird wie die der Individuen, ist offensichtlich; der Sachverhalt soll am Phänomen des Nationalismus noch etwas näher veranschaulicht werden. Die nationale Inanspruchnahme besagt ja, daß jeder einzelne vom Schicksal der Nation nicht nur hinnehmend betroffen sein, sondern an ihm tätigen Anteil nehmen soll; er wird damit in dem Maße seiner politischen Aktivierung emotional engagiert. Dies schafft Verpflichtungen für die Regierungen, wie immer sie aussehen mögen; ihr Handeln muß als mit dem nationalen Interesse identisch erscheinen. Sie mögen versuchen, die nationalen Stimmungen zu lenken, aber das ist ein schwieriges und vielschichtiges Unterfangen, das rasche und drastische Wendungen nahezu unmöglich macht. Und nicht nur Regierungen, sondern ganze Regierungssysteme, von denen man meint, daß sie dem nationalen Interesse widerstreiten, werden sich kaum behaupten können.

Umgekehrt schaffen Integration und Aktivierung aber auch dem Individuum im Zeichen des Nationalismus neue, in dieser Weise vorher unbekannte Verpflichtungen. Jeder soll dazu beitragen, Ansehen und Würde der Nation zu wahren, jeder soll für ihre Interessen eintreten und sie nötigenfalls mit Gut und Blut verteidigen. Und damit wird das Handeln im nationalen Interesse wie für die Regierungen so auch für die Bürger zum kritischen Maßstab: Einzelne oder Gruppen, die diesem nationalen Interesse, wie es im Zusammenspiel von Regierungsgewalt und „allgemeinem Volksempfinden" jeweils sich darstellt, zuwiderhandeln, von der nationalen Solidarität — sei es auch nur in deren Vorstellung — sich ausschließen, werden von ihr ausgeschlossen, als „Verräter", „Defaitisten" oder „vaterlandslose Gesellen" diffamiert und am Ende zu Opfern von Feme und Verfolgung.

Um allen Versuchungen des Pharisäertums vorzubeugen, sei zugleich betont: Es ändert an dem Sachverhalt gar nichts, wenn man an die Stelle der nationalen Solidarität etwa proletarische Klassensolidarität oder sonst irgendeine Form von politischer Integrationsideologie setzt.

IX. Das deutsche Dilemma

Wie prekär es angesichts der geschilderten Entwicklung um die Freiheit von einzelnen und Gruppen bestellt ist, wie akut, ja vordringlich das Problem der Freiheitswahrung sich stellt, braucht wohl nicht weiter ausgeführt zu werden. Und es ist durchaus verständlich, wenn man auf Lösungsversuche zurückgreift, die in der Vergangenheit sich bewährt zu haben scheinen, wenn man vor allem, in Abwandlung und Modernisierung der Hob-besschen Konstruktion, die — relative — Trennung von Staat und Gesellschaft beizubehalten oder wiederherzustellen trachtet. Aber es ist unsere These, daß gerade dieser Weg nicht mehr beschritten werden kann, daß es sich, wie die deutsche Geschichte seit dem 19. Jahrhundert belegt, um einen Irrweg, um eine ganz und gar unzeitgemäße Übertragung handelt, so daß man wider Willen genau in das hinein-gerät, was man vermeiden möchte: in die vollendete Unfreiheit der totalen Gewalt.

Die Problematik der „verspäteten Nation", deren politische Einigung nicht aus dem Elan der bürgerlichen Fortschrittsbewegung hervorging, sondern aus der militärischen Macht des alten Obrigkeitsstaates, ist oft geschildert worden. Und nicht nur südlich der Mainlinie hat man beklagt, daß Deutschland nach 1871 zunehmend „verpreußte". Nun lag die Größe ebenso wie das Verhängnis Preußens eben darin, in größtmöglicher Annäherung reiner Staat zu sein — nicht Nation und auch nicht politisch-gesellschaftlich profiliert im Sinne einer bürgerlichen Revolution. Dieser Umstand mußte sich im Zuge der fortschreitenden Fundamentalpolitisierung sozusagen als Vakuum bemerkbar machen, das nach Auffüllung verlangte. Insofern könnte man geradezu von einer bismarckisch-preußischen „Flucht nach vorn", zur Nation hin sprechen; durch die nationale Einigung wurde das Bürgertum mit dem Obrigkeitsstaat ausgesöhnt — und, so ließe sich in Umkehrung der üblichen Vorstellung hinzufügen, Preußen „eingedeutscht".

Gleichwohl blieb die Tatsache, daß es sich um eine „Großmacht ohne Staatsidee" handelte, eben ohne politisch-gesellschaftliches Profil: der Inhalt ein Nationalstaat, zum eigentlich nichts hatte als den Glanz seiner Macht. Die Symbole des Reiches blieben innenpolitisch leer, wie die Schlacht von Sedan als populärer Nationalfeiertag Sarkastisch hat Thomas Mann vom „General Dr. von Staat" gesprochen. Und durch diese innenpolitische Leere — nicht als Nationalstaat überhaupt, der sich zunächst wider Erwarten reibungslos, ja stabilisierend in Europa einfügte — unterschied sich das Reich von anderen Nationalstaaten. Diese besaßen, durch Stichworte wie Fortschritt, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Toleranz, Demokratie lediglich symbolisiert, durchweg die politisch-gesellschaftliche Profilierung, die Deutschland mangelte; ihr Nationalbewußtsein und ihr Nationalstolz beruhten darauf, bestimmten, als vorbildlich, allgemein-gültig, fortschrittlich erlebten Prinzipien des politischen Gemeinwesens historisch zum Durchbruch verholten zu haben und diese Prinzipien fortan in der Welt gewissermaßen statthalterartig zu vertreten Ähnliches'gilt — mutatis mutandis — übrigens auch für die späteren sozialistischen Revolutionen und besonders für die Begründung des „Sowjetpatriotismus".

Die innenpolitische Schwäche des Reiches wurde mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges noch im vordergründigen Aufschwung dramatisch sichtbar. Denn die „Ideen von 1914", mit denen mah der Propaganda der Entente-mächte und deh „Ideen von 1789" polemisch zu begegnen suchte: die spezifische deutsche Freiheit, die zu verteidigen man sich aufgerufen fühlte, sie war eben nicht politisch-gesellschaftlich konturiert, sondern die Freiheit des Unpolitischseins — eine Freiheit, die auf der Sphärentrennung von Staat und Gesellschaft beruhte In den „Betrachtungen eines Unpolitischen" brachte Thomas Mann den Sachverhalt schon im Titel so treffend zum Ausdruck wie in seiner Formel von der „machtgeschützten Innerlichkeit". „Ich bekenne mich tief überzeugt", schrieb er „daß das deutsche Volk die politische Demokratie niemals wird lieben können aus dem einfachen Grunde, weil es die Politik selbst nicht lieben kann, und daß der vielverschrieene , Obrigkeitsstaat’ die dem deutschen Volk angemessene, zukömmliche und von ihm im Grunde gewollte Staatsform ist und bleibt ... Der Unterschied von Geist und Politik enthält den von Kultur und Zivilisation, von Seele und Gesellschaft, von Freiheit und Stimmrecht, von Kunst und Literatur; und Deutschtum, das ist Kultur, Seele, Freiheit, Kunst und nicht Zivilisation, Gesellschaft, Stimmrecht, Literatur."

Hinzuzufügen wäre allerdings, daß es sich keineswegs um eine besondere „Art" und Wesenheit der Deutschen handelte und handelt, sondern urh das Resultat geschichtlicher Entscheidungen, von denen eine der wichtigsten im Scheitern der bürgerlichen Revolution und in der nationalen Einigung durch die militärische Macht des alten Obrigkeitsstaates zu suchen ist. Hinzu kommt, daß die Fortführung der arbeitsteiligen Kooperation von Staat und bürgerlicher Gesellschaft sich in dem Maße, wie sie ihre eigene, produktive Epoche überschreitet, ihrem Sinne nach wandelt: Aus dem Fortschritt, aus der Freiheitseroberung wird Defensive, Flucht vor der Freiheit, wird schließlich Reaktion und Repression. Denn die verspätete Anlehnung des Bürgertums an den Obrigkeitsstaat richtet ihre polemische Spitze gegen die aufkommende, immer stärker werdende Arbeiterbewegung, welche eigentlich ja nur die alten bürgerlichen Fortschrittsideale beim Worte nimmt und zu realisieren versucht. Indem man — und das gilt je länger desto deutlicher — die wesensmäßige Trennung von Staat und Gesellschaft behauptet, sucht man allen politischen Forderungen, besonders allen Demokratisierungsforderungen, die von der Gesellschaft her vorgetragen werden, die Spitze abzubrechen, mehr noch, sie als „unnational" zu diffamieren und zu unterdrücken.

Das ist, schlimm genug, nicht ohne Konsequenz, nachdem die nationale Einheit auf die konstitutionell fortgeführte Trennung von Staat und Gesellschaft dem Ansatz nach gegründet worden war. Die Verketzerung und Verfolgung der „Reichsfeinde" und „vaterlandslosen Gesellen" belegt den Tatbestand, und die imperiale Wendung zur „Weltmacht", die in den Weltkrieg mündet, wendet die Repression nur ablenkend als Aggression nach außen. Integration durch Aggression, durch die Ausbildung von Freund-Feind-Klischees, muß den Mangel an substantieller politischer Integration im gesellschaftlichen Raume ersetzen.

Die Geschichte der Weimarer Republik bestätigt den Sachverhalt im Grunde nur noch einmal im radikalisierten Wiederholungszwang. Es kommt zur verhängnisvollen Gegensatz-konstruktion von Nationalstaat und Demokratie, die — sofern nicht überhaupt als blanker Verrat, als schlechthin „undeutsch" abge-stempelt — allenfalls als eine „Staatsform" geduldet wird, womit indessen alles, was auf die Verbindung von Staat und Gesellschaft zielt — wie der Parlamentarismus und das Parteien-wesen —, bereits wieder der Diffamierung preisgegeben ist.

Die „nationale Erhebung" schließlich vollzieht sich folgerichtig als Liquidierung der Demokratie, als Installierung der so radikal repressiven wie aggressiven „Volksgemeinschaft"; als einzige Richtpunkte der Politik bleiben Macht, Machtkampf, „Kampf ums Dasein". Dabei sollte in der Beurteilung auch nicht übersehen werden, wie wenig Schutz den Menschenrechten und der persönlichen Freiheit sogar ein intakter Staatsapparat — wie er ja 1933 durchaus vorhanden war! — im Zeitalter fortgeschrittener Fundamentalpolitisierung zu bieten vermag: Je größer das durch die überdauernde Sphärentrennung von Staat und Gesellschaft geschaffene politische Vakuum, desto mächtiger zugleich der Drang, es ideologisch zu füllen — und desto explosiver und destruktiver schließlich der Vorgang der Auffüllung. Das sollte als geschichtliche Lehre bedenken, wer die Demokratie auf eine Staatsform einschränken und damit progressiver, der Fundamentalpolitisierung synchroner Demokratisierung eine „Wesens" -Grenze setzen möchte; radikale „System" -Feindschaft, über die man dann — und heute wieder — zu klagen hat, wird auf diese Weise allererst provoziert.

X. Anmerkungen zum Rechtsstaat und zur politischen Bildung

Zwei Anmerkungen mögen diese kritischen Überlegungen abschließen. Die erste betrifft den Rechtsstaat, auf dessen vorbildliche Entwicklung in Deutschland man immer wieder hingewiesen hat, nicht zuletzt im Sinne seiner freiheitswahrenden Funktionen. Der berechtigte Stolz soll nicht geschmälert werden; auf die freiheitswahrende Bedeutung des formgerechten Verfahrens wird noch zurückzukommen sein. Als rein etatistisches Ordnungsinstrument aber kann die Rechtsstaat-lichkeit leicht zur Waffe verkürzt werden. Passende Formeln sind rasch zur Hand und rasch auch mit autoritärem politischem Hintersinn verbunden: „Autoritas, non veritas facit le-gem"

(Thomas Hobbes), „Autorität, nicht Majorität!“ (Friedrich Julius Stahl). Carl Schmitt, der zur Zeit der Weimarer Republik solchen Dezisionismus entwickelte, hat gesagt, „daß es gerade in den wichtigsten Dingen wichtiger ist, daß entschieden wird, als wie entschieden wird" Von hier aus ist es nicht mehr weit bis zur Rechtfertigung der Mordserie des Jahres 1934 unter dem Titel: „Der Führer schützt das Recht"

Es geht indessen nicht um die fatalen Entgleisungen eines einzelnen, sei er auch ein noch immer oder wieder höchst einflußreicher Staatsrechtslehrer, dem umfangreiche Festschriften dargebracht werden, sondern um ein prinzipielles Problem: Wird der Rechtsstaat mittels der Trennung von Staat und Gesellschaft von politischen Gehalten abgeschnitten, so muß dies fast zwangsläufig — wie keineswegs nur die Geschichte der politischen Justiz in der Weimarer Republik es ausweist — als inhaltsleere Ordnungsmacht sich antidemokratisch auswirken. Schon die positivistischen Kernformeln des führenden Staatsrechtslehrers im Kaiserreich, Paul Laband, liegen im Grunde jedem Zugriff offen: „Recht ist, was Gesetz ist. Gesetz ist, was in einem formgerechten Verfahren erlassen ist." Später kann es heißen, es sei „das Wort Rechtsstaat ein Pleonasmus ... Die Regel, daß Zwang nur geübt werden solle, wenn und wie der Despot befiehlt, ist ebenso eine Rechtsregel wie die, daß Zwang nur geübt werden soll, wenn und wie die Volksversammlung es beschließt. Beides sind — vom Standpunkt eines positiven Rechtsbegriffes — gleichwertige Ursprungshypothesen. — Hier aber liegt der entscheidende Punkt! Ethisch-politische Vorurteile sind es, die dem Staats-und Rechtstheoretiker diese beiden Ursprungshypothesen nicht als gleichwertig erscheinen lassen. Man geht — meist unbewußt — von einem naturrechtlichen Rechtsbegriff aus." Diese Sätze stammen nicht etwa von einem Verächter, sondern von einem Verteidiger der Demokratie, von Hans Kelsen Sie zeigen um so drastischer, zu welcher politischen Hilflosigkeit, zu welchen Konsequenzen die konsequente, in diesem Falle methodologisch begründete Trennung der Sphären von Staat und Gesellschaft führt.

Die zweite Anmerkung betrifft Probleme der politischen Bildung. Daß bloße Staats-und Institutionenkunde im demokratischen Sinne wenig oder nichts erreicht, ist zunehmend deutlich geworden. Doch was will man eigentlich tun und was läßt sich erreichen, wenn Staat und Gesellschaft trotz gewisser Einschränkungen und Relativierungen wesensverschiedene Sphären sind und bleiben sollen? Sarkastisch ausgedrückt: Im äußersten Falle des — zum Glück unwahrscheinlichen — Unterrichts-erfolges kann man folgerichtig eigentlich nur zu einer Art von Schizophrenie gelangen. Denn der Staatsbürger soll wach, informiert, kritisch, aktiv sein; aber für den Gesellschaftsbürger — also den Menschen in der Fülle seiner alltäglichen Lebensbezüge—darf das keine Auswirkungen haben. Was soll daraus folgen als entweder Resignation oder Rebellion? Das Bemühen um politische Bildung steht deshalb vor einer Alternative: Es sollte entweder als fruchtlos besser aufgegeben werden, zumal solche Fruchtlosigkeit, auf die Dauer schwer erträglich, die Gefahr des Umschlags in irgendeine Form von ideologischem Dogmatismus, in völlig unkritische Indoktrination heraufbeschwört. Oder politische Bildung muß den Bann negativer deutscher Traditionen brechen, als praktisches Bemühen um Demokratisierung auch und gerade im Alltäglichen, also bei sich selbst, in Unterricht und Schule, ansetzen.

XI. Alternativen im internationalen Vergleich

Die Frage nach dem Verhältnis von Staat und Gesellschaft ist eine Kern-lind Schicksalsfrage der neueren deutschen Geschichte — sie hat etwas spezifisch Deutsches an sich. Denn „ist es nicht bezeichnend, daß dieselbe Frage auf englische, amerikanische, selbst französische Verhältnisse bezogen keinen vergleichbaren Erkenntniswert besitzt, weil dort die Vorstellung vom Staat als souverän ordnender Einheit jenseits der gesellschaftlichen und politischen Gruppen nicht vorhanden war oder durch erfolgreiche Revolutionen abgebaut worden ist?" Es mag dahingestellt bleiben, ob die französische Problematik nicht doch gewisse Ähnlichkeiten mit der deutschen aufweist, aber allein die Tatsache, daß es Gemeinwesen gibt, die sich erfolgreich — vorsichtig ausgedrückt: insgesamt erfolgreicher als Deutschland — um politische Freiheitswahrung bemüht haben, ohne dabei auf die Gegensatz-konstruktion von Staat und Gesellschaft zu verfallen, sollte zögern lassen, vom „Ende aller Sicherheit" und von totalitärer Gewalt zu reden, sofern nicht eine gewisse Sphärentrennung von Staat und Gesellschaft durchgehalten oder restauriert wird. Auf der Suche nach Alternativen sollen drei Beispiele — das englische, das amerikanische und das eidgenössische — im folgenden wenigstens andeutungsweise erörtert werden. 1. England In England sind alle Versuche der Durchsetzung einer absolutistischen Staatsmacht frühzeitig gescheitert. Dafür dürfte die Kombination einer Vielzahl von Faktoren verantwortlich sein: die Schwächung feudaler Gewalten in selbstmörderischen Kämpfen, die Eigenart der Adelsverfassung, die gerade durch die scharfe Ausprägung der Primogenitur eine Offenheit zum Bürgertum hin ermöglichte, die konfessionelle Entwicklung, die frühzeitige und erfolgreiche Wirtschaftsentfaltung im modernen Sinne, die insulare Lage, welche die Unterhaltung eines großen stehenden Heeres ebenso überflüssig machte wie eine straffe, zentralistische Verwaltungsorganisation. Manches andere mag noch hinzukommen. In der Summe wird man sagen können, daß die Kräfte, die zur modernen Entwicklung trieben, so stark, die retardierenden aber so schwach waren, daß es gar nicht erst des absoluten, der Gesellschaft übergeordneten Staates bedurfte, um diese zu unterdrücken und jenen zum Durchbruch zu verhelfen. Dennoch — oder eben deswegen — kam es zu einer in vieler Hinsicht außerordentlich konservativen Prägung der Verfassungsordnung. In ihrem Mittelpunkt stand spätestens seit der „glorreichen" Revolution von 1688 eindeutig das Parlament, das zwar ganz und gar nicht als „demokratisch" repräsentativ angesehen werden konnte, an das jedoch die spätere, im Endergebnis auf Demokratie Entwicklung evolutionär anzuknüpfen vermochte.

In diesem Vorgang wird bereits ein Grund-akkord des großen Themas der Freiheitswahrung spürbar: Einzeihe Institutionen können wohl im Ablauf der Zeiten, beinahe unmerklich, ihrem Sinne, ihrer Funktion nach sich wandeln; sie können auch durch vorsichtige Eingriffe ergänzt, beschnitten, weiterentwickelt werden. Aber keine noch so mächtige Regierung und keine noch so eindruckvolle Parlamentsmehrheit sollen befugt sein, wesentliche Verfassungsinstitutionen, in denen sich prak-tische Erfahrungen speicherten und die sich praktisch bewährt haben, einfach umzustoßen und durch Neuartiges zu ersetzen. Denn gerade auf der Unumstößlichkeit der wesentlichen Verfassungsinstitutionen beruht die Ereiheit, Weil mit den überkommenen, bewährten Institutionen dem Despotismus, der Willkür des Machtgebrauchs unüberwindbare Hindernisse entgegengetürmt werden. Und solange über diesen Sachverhalt Konsens besteht — was immer sonst zwischen den Parteien, zwischen Regierung und Opposition die Anlässe zu Dissens und Konflikt sein mö-gen —, solange werden auch an den bestehenden Institutionen, zu denen nicht zuletzt die „Spielregeln" des politischen Verhaltens gehören, alle freiheitsgefährdenden Willkürmaßnahmen sich zuverlässig brechen, weil sich der Machtmißbrauch mit seiner einzig wirksamen Ahndung, mit dem Machtentzug, konfrontiert sieht.

Wohl niemand hat den englischen Grundsätzen der Freiheitswahrung mit größerer Beredsamkeit Ausdruck verliehen als Edmund Burke, der Klassiker des liberalen Konservatismus schlechthin, in seinem Eintreten für die Rechte der amerikanischen Kolonien gegen die Maßnahmen von Regierung und Parlamentsmehrheit übrigens wohl noch einprägsamer als in seinem Kampf gegen die Französische Revolution. Einen umstrittenen, konfliktauslösenden Besteuerungsvorschlag lehnte er nicht nur ab, „because it is a mere project. It is a thing new, unheard of; supported by no experience; justified by no analogy; without example of our ancestors, or root in the Constitution" sondern Burke zeigte zugleich, daß jede Gewalt gegenüber den Kolonien, die sich über überkommene Rechte und Institutionen in ihrer Willkür, in ihrem Despotismus das Prinzip der Freiheit selbst gefährdet, und zwar auf dem Umwege über die Kolonien im Mutterlande selbst „For, in order to prove that the Americans have no right to their liberties, we are every day endeavoring to subvert the maxims which preserve the whole spirit of our own. To prove that the Americans ought not to be free, we are oblidged to depreciate the value of freedom itself; and we never seem to gain a paltry advantage Over them in debate, without attacking some of those principles, or deriding some of those feelings, for which our ancestors have shed their blood." Bei alledem ist nichts leichter, als den Nachweis zu führen, daß Burke in seinem Kampf gegen die Französische Revolution höchst zeit-bedingt unzeitgemäße Privilegien verteidigte. Aber das nimmt den von ihm formulierten Prinzipien der Freiheitswahrung durch institutioneile Sicherungen, die der Willkür Schranken setzen, nichts von ihrer Bedeutung. Und von Bedeutung ist es in unserem Zusammenhang, daß sich Burkes Polemik entscheidend gerade gegen den latenten Despotismus einer Staatsgewalt richtet, die sich von ihrer Verankerung in den gesellschaftlichen Interessen emanzipiert. Burke nimmt dabei bereits die noch tiefere, zwei Menschenalter später von Alexis de Tocqueville formulierte Einsicht vorweg, daß durch die despotische Verwaltungswillkür des alten Staates die revolutionäre Willkür entscheidend vorbereitet wurde, welche ihrerseits zum Umschlag in die Tyrannenwillkür der Ruhe und Ordnung um jeden Preis drängte 2. Die Vereinigten Staaten Der Satz, daß es des starken, der Gesellschaft übergeordneten Staates nicht bedurfte, um den „Durchbruch" zur modernen Entwicklung zu erzwingen, gilt für die Vereinigten Staaten natürlich noch mehr als für England. In Nordamerika ist die moderne Gesellschaft, eine Gesellschaft „ohne Mittelalter", von Anfang an da — und sie ist vor dem Staat da. Verfassung und „government" — nicht „Staat" — sollen deshalb lediglich Instrumente sein, um Individuen und Gruppen einen optimalen „pursuit of happiness" möglich zu machen; nicht zufällig stellt schon die Unabhängigkeitserklärung diesen „pursuit of happiness" als ein zentrales Grundrecht dar, an dem jede Regierung alsrein bloßes Hilfsinstrument sich kritisch messen lassen muß. Das notorische Mißtrauen gegen jede Verselbständigung des Staatsapparates kommt im übrigen in der zögernden, nach europäischem Verständnis stets verspäteten und bis zur Gegenwart unzulänglichen Ent-Wicklung einer kompetenten, hauptberuflichen Beamtenschaft zum Ausdruck.

Was den Amerikanern im Vergleich vor allem mit dem englischen Beispiel fehlt, ist freilich die Geschichtsmächtigkeit von Traditionen, in denen die zentralen politischen Institutionen zuverlässig verankert werden können. Es bedarf daher zur Freiheitswahrung des sorgsam ausbalancierten Verfassungssystems der „Hemmungen und Gegengewichte". Was dies bedeutet, wie es darum geht, eine Konzentration und mit ihr eine Verselbständigung der Staatsmacht dadurch zu verhindern, daß die Gewaltenteilung nicht bloß mechanisch durchgeführt, sondern durch soziale Interessen abgestützt wird, haben die Autoren der „Federalist Papers" klassisch formuliert: „Die wichtigste Sicherung gegen die allmähliche Konzentration der verschiedenen Gewalten in einem Zweig besteht darin, dafür zu sorgen, daß die Männer, welche die einzelnen Zweige verwalten, die notwendigen verfassungsmäßigen Mittel besitzen und ein persönliches Interesse daran haben, sich den Übergriffen der anderen Zweige zu widersetzen. In diesem wie in allen anderen Fällen müssen die Maßnahmen zur Verteidigung der voraussichtlichen Stärke des Angriffs entsprechen. Ehrgeiz muß durch Ehrgeiz unschädlich gemacht werden. Das persönliche Interesse muß mit den verfassungsmäßigen Rechten des Amtes Hand in Hand gehen. Es mag ein schlechtes Licht auf die menschliche Natur werfen, daß solche Kniffe notwendig sein sollten, um Mißbräuche in der Regierung hintanzuhalten. Aber setzt nicht schon die Tatsache, daß Regierung überhaupt nötig ist, die menschliche Natur in ein schlechtes Licht? Wenn die Menschen Engel wären, so bedürften sie keiner Regierung. Wenn Engel über die Menschen herrschten, dann wäre weder eine innere noch eine äußere Kontrolle der Regierung notwendig. Entwirft man jedoch den Plan einer Regierung, die von Menschen über Menschen ausgeübt werden soll, so liegt die große Schwierigkeit darin, daß man zuerst die Regierung instand setzen muß, die Regierten zu überwachen und in Zaum zu halten, und dann die Regierung zwingen muß, sich selbst zu überwachen und in Zaum zu halten. Die Abhängigkeit vom Volk ist zweifellos das beste Mittel, um die Regierung im Zaum zu halten. Aber die Menschheit hat aus Erfahrung gelernt, daß zusätzliche Vorsichtsmaßnahmen notwendig sind."

Eine derartige, skeptisch-nüchterne Betrachtungsweise gerade im Interesse der Freiheitswahrung ist allerdings um Welten geschieden von der traditionell in Deutschland prädentierten Überparteilichkeit der Staatsgewalt, die, nach dem bekannten Wort Radbruchs, die Lebenslüge des Obrigkeitsstaates darstellt. Aber die geschichtliche Bilanz spricht vielleicht doch für das amerikanische Konzept einer Freiheitswahrung durch Institutionenstabilisierung: Es hat in bald zweihundert Jahren weniger amerikanische Verfassungsänderungen gegeben, als sie das Grundgesetz der Bundesrepublik in kaum dem zehnten Teil der Zeit erfuhr, -— von den katastrophenartigen deutschen System-umbrüchen nicht erst zu reden.

Sozusagen auf dem deutschen Gegenpol werden den im letzten Satz des Zitats angedeuteten Begriff der Erfahrung gewiß die zurückweisen, die schon für ein zukünftiges, revolutioniertes Dasein den Entwurf vollständiger Interessenharmonie bereithalten, übrigens sagen es die Autoren des „Federalist" selbst:

„Überlegungen solcher Art mögen denjenigen, die in Amerika die halkyonischen Tage des poetischen oder mythischen Zeitalters heraufzubeschwören hoffen, kleinlich erscheinen.

Wer aber glaubt, daß auch uns das normale Maß an Wechselfällen und Schwierigkeiten nicht erspart bleiben wird, das jeder Nation zugemessen ist, wird sie ernster Aufmerksamkeit für wert halten." Und „ist es nicht an der Zeit, aus dem trügerischen Traum vom goldenen Zeitalter zu erwachen und zur Leitlinie unseres politischen Verhaltens die praktische Anwendung des Grundsatzes zu nehmen, daß wir ebenso wie die übrigen Bewohner dieser Erde von der beglückenden Herrschaft vollkommener Weisheit und vollkommener Tugend noch weit entfernt sind?" 3. Die Schweiz Die Schweiz bietet das eigenartige Beispiel eines Gemeinwesens, das, herrschaftliche Überlagerung abwehrend oder abschüttelnd, allmählich aus mittelalterlichen Verhältnissen zur modernen Demokratie herangewachsen ist. Für diesen Übergang spielt es eine entscheidende Rolle, daß die politischen Prioritäten im lokalen oder kleinräumigen Bereich, bei Gemeinde und Kanton lagen — und in vieler Hinsicht noch immer liegen. Denn damit begründete sich das eidgenössische Verständnis der Freiheitswahrung auf die urtümliche, unmittelbare Selbstverwaltung.

Den entscheidenden Sachverhalt machte vor einigen Jahren eine Kontroverse sichtbar. Zuerst hatte Maurice Duverger vom französischen Demokratieverständnis gesprochen: „Für die Franzosen ist Demokratie zunächst einmal und vor allen Dingen ein System, in dem der Staatsbürger frei ist, in dem Sinne, daß er die weitestgehende Möglichkeit hat, dem Druck det Autorität, also dem Staat, Widerstand zu leisten ... Demokratie, das ist der Staatsbürger gegen die Staatsgewalt, und nicht der Staatsbürger als Teilhaber an der Staatsgewalt. Die Abgeordneten, die die Forderungen der Wähler vertreten, und die zentralistische Verwaltung bilden ein seltsames Gleichgewicht, das ein großes Maß an Freiheit für den einzelnen Bürger und an Leistungsfähigkeit in der Führung der Staatsgeschäfte bedeutet."

Duverger sieht mit diesem Gleichgewicht den Zentralismus verbunden, der „von unten" durchaus bejaht wird: „Den Schlüssel zu dieser Vorliebe auch der demokratischen Franzosen für den Zentralismus findet man meiner Meinung nach bei Montesquieu, dem scheinbar leidenschaftlichen Verfechter der Dezentralisierung. Et erklärt an einer Stelle, nichts würde er weniger lieben, als in einer kleinen Republik zu leben, weil die Staatsgewalt dort zu nahe sei." Darauf erwiderte Hans Huber: „Der Schweizer denkt genau umgekehrt: Auf die lokale Staatsgewalt kann er eher einen wirksamen Einfluß nehmen, und daher kommt sie ihm weniger belastend vor.“ Und im Hinweis auf die Konsequenzen eines bürokratischen Staatszentralismus erinnerte er an die Formulierung Hermann Hellers von der „Diktatur als Herrschaftsform der Anarchie" Unverkennbar sind hier gegensätzliche Begriffe der Freiheitswahrung im Spiel. Im einen Falle wird die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft vorausgesetzt und Freiheit gleichsam als das Recht zur gesellschaftlichen Selbstverteidigung gegen Übergriffe des Staates aufgefaßt; will man diesen Freiheitsbegriff als politischen qualifizieren, so handelt es sich um einen Abwehrbegriff. Im anderen Falle geht es um Freiheit als das Recht der unmittelbaren Mitbestimmung; es handelt sich um einen Partizipationsbegriff.

Stellt man nun einen Vergleich mit der deutschen Scheidung von Staat und Gesellschaft an, so mag die französische Haltung als nahe verwandt erscheinen. Das gilt vielleicht besonders für die von Böckenförde befürchtete „fortschreitende Parzellierung der einheitlichen politischen Entscheidungsgewalt" im Falle einer über die Staatssphäre hinausgreifenden Demokratisierung Aber man sollte zugleich die Unterschiede nicht übersehen, die aus den verschiedenartigen geschichtlichen Erfahrungen resultieren. Der bis zum Anarchismus kritischen Abwehrbereitschaft der Franzosen gegenüber der Staatsgewalt entspricht in Deutschland wohl eher einer Neigung, treulich hinzunehmen und zu befolgen, was die Obrigkeit verordnet; die Freiheit, die verbleibt und in Anspruch genommen wird, verliert damit ihre politische Qualität; sie verwandelt sich ins Unpolitische.

Vielleicht erklärt sich daraus, was Ernst Forsthoff so seltsam wie prägnant formuliert hat: „Staatsgesinnung als Grundlage der Gehorsamsbereitschaft erwächst nicht aus der Freiheit. Die Freiheit isoliert den Menschen — sie distanziert ihn vom Staat. Sie konstituiert nichts an überindividueller Ordnung, auch nicht im Ethischen. Sie bringt keine Staatsgesinnung hervor." Wenn dem so ist, weil der vorausgesetzte Freiheitsbegriff ein unpolitischer ist und bleibt, dann liegt es im Zeitalter der Fundamentalpolitisierung, welches nach politischer Integration und Aktivierung aller Bürger verlangt, freilich drohend nahe, Freiheit überhaupt zu disqualifizieren, von „oben", vom Staat her die unnützen, lediglich effizienz-störenden Freiheitsspielräume immer mehr einzuengen und voranzuschreiten zum „totalen Staat" Forsthoff hat wohl nicht zufällig den „Luxus" weitgehender Freiheitsgewährleistungen im Grundgesetz beklagt und aus der „exzeptionellen" Lage des Verfassungsgebers erklärt, dem die Besatzungsmächte die wesentlichen politischen Sicherungslasten abgenommen hatten, — woraus offenbar abzuleiten ist, daß mit einer „Normalisierung" der politischen Verhältnisse auch solcher „Luxus" rückgängig gemacht werden muß Aber Forsthoff gehört nicht nur zu den prominentesten aus der Schule der deutschen Staatsideologen, sondern er zeichnet sich vor vielen seiner Mitstreiter durch Folgerichtigkeit aus. Denn versucht man die Freiheitswahrung auf die Grundlage der Trennung von Staat und Gesellschaft in dem Sinne zu stellen, daß der Staat demokratischen Prinzipien entsprechen, die Gesellschaft jedoch ausgespart bleiben soll, dann gelangt man angesichts der stets weiteren Lebensbereiche, in die der moderne Staat eingreifen muß, am Ende notwendig zum totalen Staat: eben zu jener totalen und freiheitsvernichtenden Gewalt, vor der man eigentlich doch warnen und bewahren wollte. Die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts hat den verhängnisvollen Umschlag bereits einmal demonstriert.

XII. Freiheitswahrung und die Ziele politischen Handelns

Zum Abschluß dieser Betrachtungen soll zunächst von den Zielen, dann von den Mitteln politischen Handelns in Hinsicht auf das Problem der Freiheitswahrung die Rede sein.

Bereits in den einleitenden Bemerkungen wurde andeutet, daß, wo immer man das Äußerste und . Letzte will, die vollkommene, heile, endgültige Ordnung, in der das allgemeine Glück perfekt ist, der politische Kampf unvermeidbar Kreuzzugscharakter annimmt. Denn wer sich dem Menschheitsheil wider-setzt, gibt sich als Menschheitsfeind zu erkennen; er muß entweder bekehrt — oder ausgeschaltet, ausgerottet werden. Genau darin liegt die Gefahr, daß ausgerechnet missionarischer Humanitätseifer in Inhumanität um-schlägt;

es sei an die zitierten Sätze Aldous Huxleys erinnert.

Doch was ist die Alternative? Soll man denn prinzipienlos sein und nichts zur Verbesserung der Verhältnisse tun? Das ist nicht muß oder jedenfalls nicht gemeint sein. Es ist nur die Frage, worauf die Prinzipien und das Tun sich beziehen. Wenn in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung das Recht des Menschen erscheint, sein Glück zu verfolgen, so wie er versteht, ist es wünscht und dann es Aufgabe der Regierungen, Bedingungen dafür zu schaffen, daß Menschen aktiv, selbstverantwortlich, ihren eigenen Vorstellungen gemäß zu handeln vermögen. nur dann ist es Und dann, folgerichtig, daß Regierungen an diesem ihrem instrumentalen Wert kritisch gemessen und in demokratischen Verfahren eingesetzt und ersetzt werden.

Zu den Aufgaben einer Regierung müßte deshalb heute neben vielem anderen die Schaffung von Chancengleichheit im Bildungswesen gehören, weil immer unmißverständlicher die Möglichkeiten des einzelnen, sich in der modernen Gesellschaft zu entfalten und zu behaupten, von qualifizierter Ausbildung bestimmt werden. Keinesfalls aber darf es darum gehen, daß der Staat oder eine ihn beherrschende Partei sich mit den Mitteln des Bildungswesens gleichsam bewaffnen, um im Sinne bestimmter Anschauungen und Interessen die Menschen zu indoktrinieren. Wo immer das versucht wird, ist die Freiheit am Ende, und die Unterdrückung beginnt; die Machthaber — oder Gruppen, die Machthaber werden wollen — zielen auf Unterwerfung, Entmündigung der Bevölkerung, sobald sie wähnen — sei es selbst besten Glaubens —, im Besitze der endgültigen, womöglich wissenschaftlich bewiesenen Gewißheit darüber zu sein, was allen anderen als Glück frommt. Die Freiheit ist abhängig von der Überzeugung, daß hier eine prinzipielle Grenze gesetzt ist, weil jeder nur selbst bestimmen kann, wie und wohin er sein Leben im Letzten führen will.

Es dürfte an dieser Stelle nicht schwer sein, Übereinstimmung mit denen herzustellen, die Staat und Gesellschaft scheiden wollen, um totaler Herrschaft vorzubeugen. Aber erneut ist es die Frage, ob die Scheidung nicht ungewollt das provoziert, was sie verhindern soll. Genau in dem Maße, in dem der Staat gegen die Gesellschaft verselbständigt wird, wächst unvermeidbar die Gefahr, daß diejenigen, die den Staatsapparat beherrschen, im Namen des Volkes, des Gemeinwohls, der Staatsräson Ziele proklamieren und zu erreichen trachten, die ohne Rücksicht auf die offene Vielfalt der gesellschaftlichen Interessen und Anschauungen formuliert worden sind. Und der im Zeitalter der Fundamentalpolitisierung bestehende Zwang, immer tiefer und umfassender in die Gesellschaft einzugreifen, muß um so mehr erstickend und lähmend auf die gesellschaftliche Freiheit und Vielfalt zurückwirken, als zugleich der Legitimierungsdruck, die Nötigung zu ideologischer Rechtfertigung wächst. Nur wenn also die gesellschaftlichen Interessen und Anschauungen unmittelbar politisch wirksam werden können, wenn Freiheit nicht als Ausgrenzung, sondern als Teilhabe die Sphären von Staat und Gesellschaft überspannt, läßt sich die Einsicht erhoffen — niemals: schlechthin garantieren —, daß die Wahrung von Freiheit und Vielfalt Beschränkungen, Formalisierungen der Ziele politischen Handelns im wohlverstandenen Interesse aller erfordert, weil es über letzte Ziele niemals eine endgültige, vorwegnehmende, buchstäblich und doppelsinnig abschließende Gewißheit geben kann. Es liegt nahe, von Dialektik zu sprechen: Einzig die allgemeine politische Teilhabe — und zwar überall dort, wo Menschen über Menschen entscheiden, also weit über die herkömmliche Staatssphäre hinaus — schafft eine begründete Chance dafür, daß ausgegrenzt wird, was ohne Unterdrückung nicht entschieden werden kann.

Den implizierten Begriff des Politischen hat der englische Politikwissenschaftler Bernard Crick formuliert, wenn er sagt: „Vielleicht läuft alles darauf hinaus, daß die Politik zwei große Feinde hat: Gleichgültigkeit gegenüber menschlichem Leid und Leidenschaft für Gewißheit in Dingen, die wesentlich politisch sind. Gleichgültigkeit gegenüber menschlichem Leid macht freie Regierungen unglaubwürdig, wenn sie nicht fähig und mutig genug sind, die Möglichkeit und die Gewohnheit der Freiheit von den wenigen auf die vielen aus-zudehnen. Die Leidenschaft für Gewißheit verachtet die politischen Qualitäten — Vorsicht, Konzilianz, Kompromißbereitschaft, Vielfalt, Anpassungsfähigkeit und Lebhaftigkeit — zugunsten einer Pseudowissenschaft des Regie-rens, einer absolut klingenden Ethik oder einer Ideologie, eines Weltbildes rassischer oder wirtschaftlicher Art. Vielleicht ist es sonderbar oder einfach unnatürlich, daß Menschen, die mit Würde und Ehrbarkeit leben können angesichts solcher Ungewißheiten wie Tod, Unfall oder Krankheit, wie der Liebe mit all ihrer Labilität, ihrer Abhängigkeit von Willen und Launen der anderen, dennoch verrückt sind nach Gewißheit im Regieren, einer Gewißheit, die Politik und Freiheit tötet. Eine freie Regierung ist eine, die Entscheidungen politisch und nicht ideologisch trifft." „Politisch“ meint hier: von der immer wechselnden Vielfalt menschlicher Anschauungen und Interessen her bestimmte grundsätzliche Veränderungsoffenheit in einem niemals abzuschließenden Zukunftshorizont, während der illiberale Gegenbegriff des Politischen von seiner ideologischen Dogmatik oder, auf dem Gegenpol, von seiner inhaltsleer dezisionistisehen Zuspitzung aus notwendig dazu kommt, die Menschheit in zwei Teile zu zerlegen, in Folgsame und Unfolgsame, Gute und Böse, in die Kinder des Lichts und die Kinder der Finsternis. Das ist der Freund-Feind-Begriff des Politischen, wie ihn — anwendbar auf die Radikalismen von „rechts" und „links", des bloßen Beharrens und des blanken Umsturzes gleichermaßen — Carl Schmitt zur Zeit der Weimarer Republik mit Schärfe und genau in der Richtung der geschichtlich bekannten Folgen entwickelt hat, — ein Begriff des Politischen, der die prinzipielle Veränderungsoffenheit noch oder gerade im Zeichen behaupteter Radikalveränderung negiert.

Die im Interesse der Freiheitswahrung grundlegende Scheidung von Letztem und Vorletztem kann man vielleicht noch anders und vertrauter benennen: als Scheidung von Privatheit und Öffentlichkeit. Sie ist eine materielle wie geistige Errungenschaft des Bürgertums seit Beginn der Neuzeit, die nicht abgeschafft werden kann, ohne Barbarei zu provozieren. Nur muß eben beachtet werden, daß die Gren-ze zwischen Privatheit und Öffentlichkeit nicht — oder allenfalls in historisch begrenzter, durch den fortschreitenden Prozeß der Fundamentalpolitisierung überholter Weise — identisch ist mit der Grenze zwischen Gesellschaft und Staat. Wo Menschen über Menschen verfügen, handelt es sich grundsätzlich um eine öffentliche Sphäre, die um der Würde, der Selbstbestimmung des Menschen willen nach demokratischen Verfahren, nach Wahl und Kontrolle der Machtträger durch die Macht-unterworfenen verlangt. In diesem Sinne wäre durchaus ein demokratischer Sozialismus, ein „Sozialismus mit menschlichem Antlitz'denkbar, — und er läge in der Konsequenz des Bemühens um Freiheitswahrung. Es war das Verhängnis des Sozialismus sowjetischen Musters, dies nicht beachtet zu haben. Die Mißachtung war indessen unausweichlich, nachdem eine bürokratisch-zentralistische Machtelite, im Besitz des Staatsapparates ebenso wie ihrer ideologischen Gewißheit im Letzten, sich autoritär über die Gesellschaft gestellt hatte

Der Vorgang macht noch etwas anderes exemplarisch sichtbar: Unter dem im Zeichen der Fundamentalpolitisierung stets wachsenden Legitimierungsdruck jeder autoritären Staatsmacht muß die herrschende Gewalt, die im Namen der „überwältigenden" Mehrheit — der bekannten plebiszitären 99 und mehr Prozent — als wahrer, eigentlicher Volkswille sich drapiert, ungeheure Gefahren einer Verinnerlichung der Gewaltsamkeit schaffen. Einer der Klassiker liberal-konservativer Freiheitswahrung, Tocqueville, hat das vorausgeahnt: „Ketten und Henker sind die groben Werkzeuge, mit der die Tyrannei vorzeiten arbei-tete; heutzutage aber hat die Zivilisation sogar den Despotismus noch vervollkommnet, von dem es doch schien, als hätte er nichts mehr dazuzulernen. —-Die Fürsten hatten die Gewalt sozusagen veräußerlicht; die demokratischen Republiken unserer Tage haben sie auf die geistige Stufe des menschlichen Willens gehoben, den sie zuschanden machen wollen. Unter der absoluten Herrschaft eines einzelnen schlug der Despotismus, um den Geist zu treffen, den Körper — eine grobe Methode; denn der Geist erhob sich unter den Schlägen und triumphierte über den Despotismus; in den demokratischen Republiken geht die Tyrannei ganz anders zu Werk; sie kümmert sich nicht mehr um den Körper, sondern geht unmittelbar auf den Geist los. Der Machthaber sagt nicht mehr: , Du denkst wie ich, oder du stirbst'; er sagt: , Du hast die Freiheit, nicht zu denken wie ich; Leben, Vermögen und alles bleibt dir erhalten; aber von dem Tag an bist du ein Fremder unter uns. Du wirst dein Bürgerrecht behalten, aber es wird dir nichts mehr nützen ... Du wirst weiter bei den Menschen wohnen, aber dein Recht auf menschlichen Umgang verlieren. Wenn du dich einem unter deinesgleichen nähern wirst, so wird er dich fliehen wie einen Aussätzigen; und selbst wer an deine Unschuld glaubt, wird dich verlassen, sonst meidet man auch ihn. Gehe hin in Frieden, ich lasse dir das Leben, aber es ist schlimmer als der Tod."

Besonders gefährlich, ja verhängnisvoll muß sich die Verbindung der Gewalt mit Ideologien des „Letzten" auswirken, wenn zu ihr noch die bürokratische Zentralisation der Macht hinzutritt: „Würde sich jemals eine demokratische Republik nach der Art der amerikanischen in einem Lande bilden, in dem die Macht eines einzelnen die Verwaltungszentralisation bereits verwirklicht und in die Gewohnheiten und Gesetze hat eindringen lassen, so würde in einer solchen Republik, ich wage es zu behaupten, der Despotismus unerträglicher werden als in irgendeiner der absoluten Monarchien Europas. Wir müssen nach Asien gehen, um etwas Vergleichbares zu finden."

XIII. Freiheitswahrung und die Mittel politischen Handelns

Das grundlegende Problem im Zeitalter progressiver Fundamentalpolitisierung, der stets erweiterten Machbarkeit und Veränderbarkeit alles Bestehenden, liegt wie gezeigt darin, daß, je mehr verändert werden kann, desto mehr auch umstritten und umkämpft ist, in die Zone des Konflikts gerät. Der Konflikt würde unvermeidbar ausarten in Gewalttat und Unterdrük-kung oder in panikartige Präventivaggression — da der andere mich unterdrücken will, komme ich ihm zuvor, indem ich ihn unterdrücke —, falls es nicht Verfahrensregelungen der Konfliktaustragung gäbe. Denn wo Regelungen fehlen, sich als brüchig erweisen, nicht länger akzeptiert werden, muß der Kampf brutal und inhuman werden; wer alle Regeln verwirft, weil er sie für „repressiv" und von hinterhältigen Interessen diktiert hält, ent-scheidet sich schon für die Gewalt, für das Freund-Feind-Klischee, dem zur Rechtfertigung nichts bleibt, als im Namen der einen, letzten Wahrheit die entgegenstehenden Interessen und Anschauungen niederzutreten. Doch selbst wenn das gelingt, bleibt der Makel der Gewalt: die dauernde Unterdrückung menschlicher Selbstbestimmung und Vielfalt. Eine Verfassungsordnung im Sinne der institutionalisierten Verfahrensregelungen für politische Konflikte stellt insofern, als Alternative zu Gewalttat und Unterdrückung, den Versuch eines politischen Systems dar, den Problemen prinzipieller Veränderbarkeit, Offenheit und damit Konflikthaftigkeit menschlicher Lebensverhältnisse produktiv zu begegnen.

Es geht einerseits darum, Willensentscheidungen zu ermöglichen, die als Parteibildungen auf Wahlen beruhen und das Regierungshandeln determinieren; Burke war übrigens einer der ersten, der entgegen der später üblichen konservativen Argumentation ein parlamentarisches Parteiensystem ausdrücklich und gegen den Vorwurf der Fraktionsbildung im ne-gativen Sinne rechtfertigte Andererseits geht es darum, dem Mehrheitswillen Schranken zu setzen, um eben den politischen Prozeß offen zu halten und jede Monopolisierung der Macht in den Händen bestimmter Anschauungen und Interessen zu verhindern. Daher betonte Burke immer wieder die Grenzen, die dem Willen, mag er sich auf Mehrheiten oder worauf immer berufen, durch die Institutionen des Verfassungssystems gesetzt sind und gesetzt sein müssen, wobei er sich zugleich auf die notwendige — wie es Walter Bagehot dann nannte — Dignifikation bestimmter überlieferter Institutionen berief, die der rigorosesten aller Erprobungen, der geschichtlichen Erfahrung, standgehalten haben. Die Autoren des „Federalist" suchten nach Sicherungen innerhalb des Verfassungssystems; sie beriefen sich dabei ebenfalls auf die Instanz der geschichtlichen Erfahrung. Und Tocqueville, ständig vor den Gefahren einer „Tyrannei der Mehrheit" warnend, verwies — unter anderem -— auf die Bedeutung formaler Prinzipien. Da er das Dilemma der modernen Entwicklung am genauesten bezeichnet, sei er nochmals ausführlicher zitiert: „Es gibt nichts Beklagenswerteres als die hochmütige Geringschätzung der meisten unserer Zeitgenossen für die Fragen der Form; denn die kleinsten Formfragen haben heute eine früher nicht gekannte Bedeutung erlangt . .. Die Menschen, die in den demokratischen Zeiten leben, sehen den Nutzen der Formen nicht leicht ein; sie begegnen ihnen mit instinktiver Geringschätzung . .. Die Formen erregen ihre Verachtung, oft sogar ihren Haß. Da sie gewöhnlich nur auf bequemen und sofortigen Genuß aus sind, stürzen sie sich leidenschaftlich auf jeden Gegenstand ihrer Wünsche; die geringste Verzögerung bringt sie außer sich. Diese ungeduldige Haltung, die sie auf das politische Leben übertragen, nimmt sie gegen die Formen ein, durch die sie immerfort in ihren Plänen aufgehalten und behindert werden. — Genau dies aber, was die Menschen der Demokratien für den Nachteil der Formen halten, macht diese für die Freiheit so nützlich, denn ihr Hauptverdienst liegt darin, daß sie als Schranke zwischen den Starken und den Schwachen, zwischen die Regierenden und die Regierten treten, um die einen aufzuhalten und den anderen Zeit zur Besinnung zu geben. Die Formen sind um so notwendiger, je tätiger und mächtiger die Staatsgewalt ist und je gleichgültiger und schwächer die einzelnen werden. So benötigen die demokratischen Völker naturgemäß die Formen mehr als die anderen Völker — und naturgemäß achten sie sie geringer."

Ein großes Beispiel für die klarsichtige Zuspitzung des Problems, mit dem es politisches Handeln stets, heute aber mehr denn je zu tun hat, sei hier zur Veranschaulichung noch angeführt. Als Abraham Lincoln in einer Rede vom 15. Oktober 1858 die Position der neuen Republikanischen Partei zur Frage der Sklaverei zu bestimmen suchte, sagte er: „Wenn ein Mann unter uns ist, der nicht glaubt, daß die Einrichtung der Sklaverei in jedem der Aspekte, von denen ich gesprochen habe, schlecht ist, so ist dieser Mann hier fehl am Platze. Und wenn ein Mann unter uns ist, den dieses Übel so ungeduldig macht, daß er dessen aktuelle Wirklichkeit bei uns und die Schwierigkeit, sie in befriedigender Weise loszuwerden, nicht beachtet und die damit verknüpften verfassungsmäßigen Verpflichtungen mißachtet, so ist dieser Mann auf unserer Plattform fehl am Platze. Wir können in der praktischen Aktion keine Sympathie mit ihm haben."

Es ist — hoffentlich — deutlich, daß das Dilemma von „Bewahren" und „Verändern“ nicht leicht, niemals endgültig und schon gar nicht oder nur in negativer Weise durch einseitigen Gewaltstreich gelöst werden kann. Auch Burke hat es immer wieder als seinen Grundsatz betont: „Einem Staat ohne Möglichkeiten zum Wandel fehlen zugleich die Möglichkeiten zu seiner Erhaltung. Ohne Veränderungsmöglidikeiten riskiert er sogar den Verlust jener Bestandteile seiner Verfassungsordnung, die er als geheiligtste zu bewahren wünscht.“ Nichts wäre daher verderblicher, sogar im Sinne wohlverstandener konservativer Intentionen, als die einseitige Betonung angeblicunantastbarer Traditionen, die in die Tabuisierung politischer Macht und in die Diffamierung, schließlich Verfolgung ihrer Kritiker mündet; der Weg wird dann im Krisenfalle frei zu einer erst über-, dann gegenkonstitutionellen Diktatur, wie ihn zur Zeit der Weimarer Republik Carl Schmitt gewiesen hat und wie ihn insgesamt der deutsche „Staats" -Konservatismus in seine Katastrophen gegangen ist. Aber nicht weniger gefährlich ist eben das Gegenextrem; gegen die Leichtfertigkeit des Umgangs mit geschichtlichen Erfahrungen, formgerechten Verfahren und bestehenden Verfassungsprinzipien zugunsten sei es noch so dringender Aktionen und hehrer Ziele kann die Bedeutung konservativer Momente der Freiheitssicherung gar nicht eindringlich genug betont werden.

Im übrigen ergibt sich dabei ein grundsätzliches Zusammenwirken von Konservatismus und Progressivität. Es läßt sich am besten von seiner Negation her verdeutlichen. Werden nämlich die elementaren Verfahrensregelungen des politischen Handelns macht-und interessenbestimmten Manipulationen ausgeliefert, so ist die Folge eine doppelte: Einmal bahnt jede Manipulation der nächsten den Weg durch Schaffung eines Präzedenzfalles. Wo einmal die Regeln umgestoßen wurden, kann es wieder geschehen. So wird das skrupellose Hantieren mit Verfassungsinstitutionen, mit der Macht mit ermutigt; Menschen die extremen Kräfte, gleich welcher Einfärbung, rechtfertigen sich noch im polaren Gegensatz aneinander, an der beiderseitigen Mißachtung der Verfassungsprinzipien. Zugleich wird als Hüter der Verfassung die kritische Öffentlichkeit — sei es der Publizistik, sei es, vor allem, der Wählerreaktion — abgestumpft und entmutigt: „Die machen ja doch, was sie wollen!" Weil das so ist, kommt es — das ist das andere — zur Erstarrung: Man fürchtet, die andere Gruppe könnte, sobald sie Gelegenheit dazu hat, sobald sie einmal mit Macht und Mehrheit allein ist, die Regeln umstürzen, um ihre Vorherrschaft unkontrollierbar auf Dauer zu stellen. Deshalb scheut man sich vor der zukunftsoffenen Situation, vor jeder Veränderung und „umarmt" einander krampfartig, damit nur ja keine Hand frei wird, die nach dem Dolche greifen kann. Dahrendorf hat vom notorischen „Kartell der Angst" deutscher Führungseliten gesprochen die Angst, so kann man hinzufügen, wird den Gefolgschaften übertragen. Es herrscht die latente Panik: Keine Experimente! Und: Falls „wir" nicht obenauf bleiben, siegen „die anderen" — und das bedeutet Unheil oder gar Untergang. Dies gilt natürlich um so mehr, als es der siegreichen Partei gelingt, sich mit dem Gemeinwohl, mit dem Staat schlechthin zu identifizieren und Staatsautorität wie Staatsgewalt gegen widerstreitende gesellschaftliche Gruppen auszuspielen. Die Angst drängt dann zur aggressiv-repressiven Abfuhr auf äußere und innere Feinde, deren Bild sich bis zum wahnhaften Realitätsverlust verzerrt. Dies alles hilft erklären, warum in Deutschland, da in der Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft demokratische Verfahren entweder nicht zureichend entwickelt oder in ihrem Sinn nicht verstanden worden waren, unabweisbare Veränderungen sich häufig nicht auf dem Wege von Reformen, sondern als Zusammenbrüche, als Katastrophen des politischen Gesamtsystems vollzogen haben.

Es gibt also eine positive und eine negative Dialektik von Dynamik und Stabilität. Die positive gründet sich auf die Festigkeit elementarer Rechte und Verfahrensregelungen, in der die Kräfte der Progressivität ihr Widerlager finden, die negative darauf, daß die Regeln in jedem Sinne brüchig sind. Schumpeter hat einmal einen plastischen Vergleich gebraucht: Ein Auto muß nicht langsamer, sondern kann um so schneller fahren, je wirksamere Bremsen es hat. In der Tat: Ohne Bremsen forsch zu fahren, ist unverantwortlicher Leichtsinn. Aber viele scheinen es hierzulande noch immer für eine Art von Mutprobe zu halten.

Dies alles verweist natürlich auf das historische deutsche Defizit: darauf, daß die Prinzipien der Liberalität und der Progressivität sich niemals siegreich, mit der Folge gefestigten Selbstbewußtseins, aus eigener Kraft haben durchsetzen können. Die Ideen des politischen Humanismus und der Aufklärung haben nicht in die Breite und Tiefe gewirkt, wohl aber die der Gegenaufklärung Die liberale Revolution von 1848 ist gescheitert. Die na57 tionale Einigung war das Werk des alten Obrigkeitsstaates, der damit zu einer Zeit nachhaltige und dauerhafte Wiederaufwertung erfuhr, als er eigentlich geschichtlich obsolet geworden war. Die Demokratie hielt Einzug einzig im Gefolge verlorener Kriege, zuletzt auf der Spitze fremder Bajonette. Liberale Progressivität gerät heute wieder, wie schon zur Zeit von Weimar, ins Kreuzfeuer der Kritik, wenn nicht der Verächtlichmachung. Das Widerlager der Progressivität aber, einen demokratischen Konservatismus, hat es in Deutschland ohnehin nicht gegeben, sondern einzig die verbissene Privilegienverteidigung, die sich flüchtet zum starken, angeblich überparteilichen Staat und die nur zu folgerichtig endet im Zerrbild und Spuk der „konservativen Revolution". Um so wichtiger wäre es in der Gegenwart, die Maximen demokratischer Freiheitswahrung sorgsam zu überdenken und allmählich in jenen Bereich zu überführen, der sich als das Moralische von selbst versteht.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Böckenförde, Die Bedeutung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft im demokratischen So-zialstaat der Gegenwart, B 49/71, S. 3 ff.; Kalten-Brunner, Der schwierige Konservatismus, daselbst, S. 19 ff.

  2. Geblendet in Gaza, Hamburg 1959, S. 284 ff.

  3. Der alte Staat und die Revolution, Rowohlts Klassiker 234/235, 1969, S. 179.

  4. Vgl. dazu im einzelnen: M. Greiffenhagen, Das Dilemma des Konservatismus in Deutschland, München 1971; H. Grebing, Konservative gegen die Demokratie, Frankfurt a. M. 1971.

  5. K. D. Bracher, Staatsbegriff und Demokratie in Deutschland, in: Das deutsche Dilemma — Leidenswege der politischen Emanzipation, München 197t S. 11.

  6. Die Wissenschaft von der Politik und die Gesellschäft, in: H. Schneider (Hrsg.), Aufgabe und Selbstverständnis der Politischen Wissenschaft, Darmstadt 1967, S. 241.

  7. Hans Mommsen, Zum Verhältnis von Politischer Wissenschaft und Geschichtswissenschaft in Deutsch-land, in: H. Schneider, a. a. O., S. 290.

  8. E. Forsthoff, Rechtsstaat im Wandel, Stuttgart 1964, S. 61 u. 77.

  9. Forsthoff, a. a. O.

  10. Vgl. H. Pleßner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, Berlin 1928, S. 309 ff.

  11. An Appeal from the New to the Old Whigs; The Works of Edmund Burke, Vol. III, Boston 1839, S. 425.

  12. A. a. O., S. 420.

  13. Leviathan, Kap. 11; The English Works, ed. Molesworth, London 1839— 1845, Vol. III, S. 85 f.

  14. A. a. O., Kap. 13, S. 113.

  15. Carl Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes, Hamburg 1938, S. 69. — Zur genaueren Darstellung des Hobbesschen „Modells" vgl. v. Verf.: Soziologie des Friedens, Gütersloh 1962, Teil I.

  16. N. Elias, über den Prozeß der Zivilisation, Bd. 2, Bern u. München 19692, S. 135.

  17. Warum es im europäischen Rahmen nicht zur Monopol-, sondern zur Oligopolbildung gekommen ist, bedürfte gesonderter Untersuchungen. An Versuchen zur Monopolbildung hat es von Habsburg-Spanien über Frankreich bis Deutschland nicht gefehlt. Nur stichwortartig seien genannt: die Solidarisierung der Bedrohten gegen den übermächtigen, die Sonderrolle Englands, die zunächst unzureichenden technischen Möglichkeiten der Raumbewältigung, die spätere nationale Aktivierung und Integrierung der Massen auf die Einzelstaaten hin.

  18. The Second Treatise of Civil Government, § 93.

  19. Ebenda, § 176.

  20. Ebenda, § 228.

  21. Ebenda, bes. §§ 143 ff. u. 149 ff.

  22. Vgl. R. Koselleck, Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Freiburg u. München 1959.

  23. Locke unterscheidet zwischen dem unmittelbar vom einzelnen im „natürlichen" Zustand erarbeiteten Naturaleigentum und dem Mehrwert-(overplus-) eigentum. Erst die Einführung des letzteren macht den Staat erforderlich, übersetzt man die Konstruktion wie bei Hobbes in eine historische Perspektive, so ergibt sich genau der zugleich mögliche und notwendige Übergang von der mittelalterlichen Ordnung zum neuzeitlichen Staat. Vgl. a. a. O. §§ 25 ff. u. 48 ff.; zum Begriff „overplus" § 50.

  24. Vgl. C. B. Macpherson, Die politische Theorie des Besitzindividualismus, Frankfurt 1967.

  25. Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage, Neuaufl. Hildesheim 1959, Bd. I, S. 394 f.

  26. Es ist bezeichnend, daß Böckenförde (a. a. O., S. 14 ff.) am Ende seines Versuchs, an der Arbeitsteilung von Staat und Gesellschaft grundsätzlich festzuhalten, angesichts der „zunehmenden Identifikation von Staat und Wirtschaft" in Aporien gerät, die sich von seinem Ansatz her schwerlich mehr auflösen lassen; dabei ist zu würdigen, daß diese Aporien ausgesprochen und nicht etwa vertuscht werden.

  27. Es kann hier auf die weiter ins einzelne führende Darstellung von E. -W. Böckenförde, a. a. O., verwiesen werden.

  28. Vgl. H. Pleßner, Die verspätete Nation, Stuttgart 1959, S. 39 ff.

  29. Vgl. K. D. Bracher, Staatsbegriff und Demokratie in Deutschland, a. a. O., S. 20.

  30. Vgl. zur genaueren Darstellung des Kontrastes und seiner Konsequenzen v. Verf.: Nationalismus als deutsches Problem, München 1970.

  31. Vgl. Leonard Krieger, The German Idea of Freedom, 1957.

  32. Betrachtungen eines Unpolitischen, 19. /24. Aufl. Berlin 1922, S. XXXIV u. XXXVI.

  33. Politische Theologie, München u. Leipzig 1922, 8. 50. — Zum Dezisionismus vgl. v. Verf.: Die Ent-scheidung, Stuttgart 1958.

  34. Schmitt, Positionen und Begriffe im Kampf Weimar-Genf-Versailles, Hamburg 1940, S. 199 ff.

  35. Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, Tübingen 1922, S. 187.

  36. K. D. Bracher, a. a. O., S. 14.

  37. Speech on moving resolutions for conciliation with the colonies, 1775. — The Works of Edmund Burke, Boston 1839, Vol. II, S. 74.

  38. Daher kämpft Burke auch gegen die Willkür-maßnahmen der Ostindischen Kompanie und sucht in Warren Hastings beziehungsreich ihren Statthalter-Tyrannen vor Gericht zu ziehen; vgl. Works, Vol. II, S. 289 ff., 407 ff.

  39. A. a. O., S. 40 ff. — Bisweilen fühlt sich der heutige Leser an Vietnam-Debatten erinnert, so wenn Burke allen militärischen Erfolgsberichten entgegen-hält: „You spread devastation, but you do not enlarge the sphere of authority.“ (S. 102.) — Aus Burkes Berichten über die Kolonialgreuel in Indien ließe sich leicht ein „Kursbuch" bestreiten.

  40. Vgl. v. Tocqueville insgesamt: Der alte Staat und die Revolution, Rowohlts Klassiker 234/235, 1969; beispielhaft das sarkastische Kapitel: „über einige Maßnahmen, mit deren Hilfe die Regierung die revolutionäre Erziehung des Volkes vollendete", S. 232 ff.

  41. Paper Nr. 51.

  42. Paper Nr. 30.

  43. Paper Nr. 6.

  44. Die Entwicklung der Demokratie in Frankreich, in: Die Demokratie im Wandel der Gesellschaft, hrsg. v. R. Löwenthal, Berlin 1963, S. 68 ff.

  45. Die schweizerische Demokratie, a. a. O., S. 90 ff.

  46. Böckenförde, a. a. O., S. 11.

  47. Rechtsstaat im Wandel, Stuttgart 1964, S. 66.

  48. Forsthoff, Der Totale Staat, Hamburg 1933.

  49. Rechtsstaat im Wandel, S. 65 f. u. 105.

  50. Eine Lanze für die Politik, München 1966, S. 198.

  51. Die eigentümliche Nähe des Stalinismus zur Staats-Gesellschaftskonstruktion Hegels, freilich in der veränderten Situation des 20. Jahrhunderts zum Zerrbild geratend, hat neuerdings Iring Fetscher 92 schildert: „Der von ihm (Stalin) geleitete Staat hatte zu viele Ähnlichkeiten mit einer vergröbernden Karikatur des Hegelschen vernünftigen Beamten staates und seinen zu . vernünftigen Einsichten erzogenen'Bürgern, um einen Vergleich mit Hegel und der Marxschen — freiheitlichen — Hegel-Kritik ertragen zu können. Gerade weil die sowjetische Realität dem konservativ karikierten Hegelschen Staat so ähnlich geworden war, mußte Hegel zur Unperson deklariert werden.“ (Hegel — Größe und Grenzen; Urban-Taschenbücher 820, 1971, S. 9.)

  52. über die Demokratie in Amerika, I, Stuttgart 1959, S. 295.

  53. A. a. O„ S. 303.

  54. Thoughts on the cause of the present discontents, Works Vol. I, S. 421 ff.; Speech on moving resolutions for conciliation with the colonies, Works Vol. II, S. 15 ff.

  55. über die Demokratie in Amerika, II, Stuttgart 1962, S. 349 f.

  56. Reflections on the revolution in France, Works Vol. III, S. 40.

  57. Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1965, S. 297 ff.

  58. Vgl. dazu insgesamt H. Pleßner, Die verspätete Nation, Stuttgart 1959.

Weitere Inhalte

Christian Graf von Krockow, Professor, Dr. phil., geboren 1927 in Ostpommern, 1961 Prof. f. Politikwissenschaft an der Pädagogischen Hochschule Göttingen, 1965 Univ. Saarbrücken, 1968/69 Univ. Frankfurt a. M. Veröffentlichungen u. a.: Die Entscheidung — eine Untersuchung über Ernst Jünger, Carl Schmitt, Martin Heidegger, Stuttgart 1958; Soziologie des Friedens — drei Untersuchungen zur Problematik des Ost-West-Konflikts, Gütersloh 1962; Sozialwissenschaften, Lehrerbildung und Schule — Plädoyer für eine neue Bildungskonzeption, Opladen 1969.