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Curriculumreform und „New Social Studies" in den USA Materialien für den politischen und sozialwissenschaftlichen Unterricht in der Sekundarstufe | APuZ 21/1972 | bpb.de

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APuZ 21/1972 Artikel 1 Die Produktivkraft Wissenschaft als publizistisches Problem Curriculumreform und „New Social Studies" in den USA Materialien für den politischen und sozialwissenschaftlichen Unterricht in der Sekundarstufe

Curriculumreform und „New Social Studies" in den USA Materialien für den politischen und sozialwissenschaftlichen Unterricht in der Sekundarstufe

Jutta-Barbara Lange-Quassowski

/ 64 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

1. Materialien für einen politischen und sozialwissenschaftlichen Unterricht, die einerseits das Ziel haben, die Emanzipation des Menschen zu fördern und die Demokratisierung der Gesellschaft voranzutreiben, die andererseits nach didaktischen Kriterien aufgebaut und in der Lage sind, Motivation und Lernfähigkeit der Schüler zu fördern, haben in der Bundesrepublik Seltenheitswert. Bieten die USA bessere Möglichkeiten, die für unseren Unterricht übernommen werden könnten? 2. Zur Beantwortung dieser Frage sind zunächst die gesellschaftlichen Voraussetzungen der umfassenden amerikanischen Curriculumreform, weiter der traditionelle, aber offensichtlich reformbedürftige Social-Studies-Unterricht und schließlich die Erkenntnisse der Sozialisationsforschung darzustellen. Bei der Anordnung der Materialien lassen sich zwei wissenschaftliche Zugänge unterscheiden. 3. Die Materialien des Harvard-Projektes stehen als Beispiel für die Ansätze, die gesellschaftliche Konflikte in den Mittelpunkt stellen. Welcher Art sind die Probleme, die zur Debatte gestellt werden, und in welchem Kontext stehen sie? Werden Problemlösungen angeboten oder welche Ziele verfolgt man? Fördern die Materialien politisches Engagement? 4. Die Indiana-Materialien stehen als Beispiel für die Ansätze, deren Ziel es ist, die Schüler mit Grundstrukturen der Sozialwissenschaft vertraut zu machen. Allerdings ist das Indiana-Projekt zugleich problemorientiert und an einer „Verbesserung" der Gesellschaft interessiert. (Projekte, denen es allein um die Vermittlung sozialwissenschaftlicher Grundbegriffe geht, sind für die Diskussion in der Bundesrepublik unter der Zielsetzung der Förderung der Emanzipation unzureichend und daher nicht brauchbar.) An Hand welcher Probleme der Gesellschaft werden sozialwissenschaftliche Konzepte vorgestellt und Untersuchungsmethoden eingeübt? Sind die Fragestellungen und das vom Schüler zu lernende methodische Vorgehen geeignet, gesellschaftliche Zusammenhänge und Machtverhältnisse für ihn deutlich zu machen? Befähigen sie ihn zu eigenem kritischen Urteil? Zeigen sie konkrete politische Handlungsmöglichkeiten auf? Aus der kritischen Gegenüberstellung der Projekte werden die Möglichkeiten und Grenzen der amerikanischen Materialien und damit ihre Bedeutung für eine Übernahme in der Bundesrepublik deutlich.

I. Zielsetzung

Die Entwicklung des Sozialkundeunterrichts in der Bundesrepublik steht in teilweise enger Beziehung zu dem amerikanischen Social-Studies-Unterricht. Die sozialkundlieber Themen in deutsche Lehrpläne wurde nach dem Zweiten Weltkrieg in dem Re-education-Programm der amerikanischen Besatzungsmacht nicht nur gefordert, sondern auf ihre Initiative hin forciert und in der inhaltlichen Ausgestaltung beeinflußt

Hier wie dort werden jedoch die Ergebnisse des sozialkundlichen politisch orientierten Unterrichts mittlerweile in Frage gestellt. Zielvorstellungen, Inhalte und Methoden unterliegen der Kritik und Überprüfung. In den USA ist die Neubestimmung, vor allem der Inhalte und Methoden, weiter vorangeschritten als bei uns. Gemäß der Empfehlung des Bildungsrates, „Curriculumforschung in den USA durch eine wissenschaftliche, kontrollierte Übernahme von Curricula für die deutschen Verhältnisse nutzbar zu machen" lautet die Fragestellung dieses Aufsatzes, wieweit uns die Curriculumforschung und die Entwicklung neuer Lehrmaterialien Anhaltspunkte für eine wissenschaftlich kontrollierte Übernahme bieten kann oder aber inwieweit in der Bundesrepublik neue, eigene Wege beschritten werden müssen, um durch den Unterricht die Emanzipation des Menschen zu fördern und die Demokratisierung der Gesellschaft voranzutreiben und um einen Menschen zu erziehen, der bereit und fähig ist, sich für diese beiden Ziele aktiv zu engagieren.

Mit diesem Ziel werden zunächst die gesellschaftlichen Voraussetzungen untersucht, die die Curriculumentwicklung von wahrhaft amerikanischen Ausmaßen veranlaßt und bestimmt haben.

Ausgehend von dieser Analyse wird nach der Praxis des traditionellen, noch heute weitverbreiteten Social-Studies-Unterricht gefragt und nach den politischen Einstellungen und Verhaltensweisen, die er bewirkt hat. Sie sind durch die politische Sozialisationsforschung bekannt und z. T. auf ihre Bedingungsfaktoren hin aufgeschlüsselt worden. Die Ergebnisse dieser Forschung sind für die neuesten Curriculummodelle von entscheidender Bedeutung und werden daher vor der Darstellung der „New Social Studies" beleuchtet. Nach einer knappen Schilderung der allgemeinen Charakteristika der Curriculumreform werden zwei verschiedene Social-Studies-Projekte im Detail überprüft, indem nach dem Demokratieverständnis ihrer Autoren gefragt wird, die Unterrichtsziele sowie Struktur, Methoden und didaktische Implikationen aufgezeigt, die behandelten Themen genannt und an Beispielen verdeutlicht werden. Der Aufsatz endet mit der Bewertung der beiden Projekte und einer Stellungnahme zur Möglichkeit der Übertragung dieser beiden Modelle in die Bundesrepublik.

II. Die Curriculumreform und ihre gesellschaftlichen Vorbedingungen

Curriculumforschung und -entwicklung sind nur verständlich, wenn die jeweils konkreten gesellschaftlichen und politischen Bedingungen des betreffenden Landes analysiert worden sind. Meist bieten gravierende Änderungen in diesen Bedingungen erst den Anlaß für solch umvrälzende Neuerungen des Curriculums, wie sie uns hier beschäftigen. Zwar analysieren leider nicht alle Curriculumforscher diese gesellschaftlichen Voraussetzungen. Aber sie haben alle ein bestimmtes — wenn auch z. T. unreflektiertes — Vorverständnis der Gegebenheiten und Probleme ihrer Zeit, das unweigerlich in ihre Arbeit einfließt.

Die amerikanischen Bemühungen um die Revision eines unzureichenden Ausbildungssystems sind bis auf die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg zurückzuführen, wurden jedoch erst Ende der fünfziger Jahre schlagartig sichtbar. Der nach dem Zweiten Weltkrieg sich beschleunigende technische Fortschritt, die rapide Zunahme des Wissens, die immer komplexer werdenden wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Zusammenhänge bildeten den ersten entscheidenden Anstoß. Der Sputnik-schock weckte die Angst vor der wissenschaftlichen und militärischen Übermacht der Sowjetunion und führte das Problem veralteter Lehrpläne und eines unzulänglichen Unterrichts der ganzen Nation vor Augen und stellte ihr Selbstbewußtsein in Frage.

Daraufhin wurde 1958 der „National Defense Education Act" (NDEA) verabschiedet, der die Curriculumrevision mathematisch-naturwissenschaftlicher Fächer auf nationaler Ebene in Gang brachte — im Sinne der frühen Forderungen aus Wirtschaftskreisen und gemäß der außenpolitischen Motivierung!

Der oben beschriebene gesellschaftliche Wandlungsprozeß führte jedoch in den Vereinigten Staaten zu zwei gegensätzlichen Forderungen hinsichtlich der Curriculumentwicklung. Aus der Tradition des amerikanischen Erziehungs-

systems werden sie verständlich. Der Anspruch an das Erziehungssystem lautete traditionell:

gleiche Chancen für alle, darum gleiche Erziehung in einer Gesamtschule, keine Begabtenauslese und -förderung in speziellen Bildungseinrichtungen. Die eine Behauptung, die nun Ansatzpunkt für eine neue Curriculumentwicklung wurde, heißt: „Die Gesamtschule ist gleichmacherisch, große Begabungen verkümmern. Wir brauchen eine spezielle Begabtenförderung, um genügend Führungskräfte zu haben, die den erhöhten Anforderungen der hochtechnisierten Welt gewachsen sind." Die andere Forderung geht vom genauen Gegenteil aus: . Soziale Gegensätze werden während der Schul-und Ausbildungszeit verstärkt; wer in dieser Gesellschaft erfolgreich sein will, muß nicht nur die High School absolvieren, sondern auch das College, was — um nur einen Punkt zu nennen — auch heute noch mit erheblichen Kosten verbunden ist. Den bisherigen Erziehungsbemühungen ist es nicht nur nicht gelungen, die Benachteiligung der sozioökonomisch schlechter Gestellten zu vermindern, sondern Kinder aus diesen Familien werden in der Regel auch in unseren amerikanischen Schulen erneut benachteiligt und anders erzogen als mittelständische Kinder. Infolgedessen liegt ein großes Begabtenreservoir brach, das mobilisiert werden muß. Denn die immer komplizierter werdende Welt ist nicht durch bessere Führungskräfte gestaltbar, sondern nur, wenn jeder einzelne sich in ihr bewährt. Werden die Anstrengungen für mehr gleiche Chancen nicht gewaltig erhöht, so wird die Kluft zwischen arm und reich noch größer. Und damit wachsen auch die Probleme unserer amerikanischen Gesellschaft ins Unendliche." Von dieser Seite werden daher nicht nur Head-Start-Programme (Starthilfeprogramme) gefordert, die schon vor Schuleintritt die Benachteiligung von Unterschicht-Kindern ausgleichen sollen, sondern inzwischen auch kompensatorische Programme begleitend zum regulären Unterricht, weil sich die gezielte vorschulische Förderung allein als unzureichend erwiesen hat.

Das leitet über zum entscheidenden zweiten Komplex, der eine grundlegende Curriculum-revision, im besonderen auch der Social Studies, notwendig erscheinen ließ. Vor allem in den sechziger Jahren sind die eminent großen innenpolitischen Konflikte und Antagonismen der amerikanischen Gesellschaft zum Ausbruch gekommen und ins Bewußtsein getreten. Die Erkenntnis, daß man Rassen-und Armutsprobleme nicht mehr vertuschen kann, daß sie nicht nur durch Regierungsprogramme zu lösen sind und daß sie sogar eine Gefahr für die Stabilität der amerikanischen Demokratie darstellen können, ist gewachsen. Deutlich geworden ist darüber hinaus, vor allem auch durch den Vietnamkrieg, daß besonders die junge Generation die zutage tretenden Mißstände und Fehlentwicklungen an dem historischen hohen Anspruch der amerikanischen Gesellschäft und den Versprechungen der Verfassung, mit denen sie groß wurde, mißt

Es ist die erste Generation — soweit sie aus dem Mittelstand kommt —, die fern von Entbehrungen und wirtschaftlicher Not unter Lebensumständen aufwächst, die von manchen sogar als „Uberflußgesellschaft" bezeichnet werden, in einer Gesellschaft, von der der Eindruck besteht, daß sie die notwendigen Mittel und Voraussetzungen hat, Elend und Unterdrückung zumindest im eigenen Lande abzuschaffen. Es ist eine Mittelstandsgeneration, die im Gegensatz zu früheren Generationen in ihrer breiten Masse einerseits Zeit und Muße zu ausführlichem Studium hat und daher über sehr viel mehr Sachwissen verfügt, eine Generation, die — keiner äußeren Bedrohung der Nation ausgesetzt — sich den inneren Problemen zuwenden kann und ein großes Verantwortungsgefühl dafür entwickelt hat, die andererseits durch die verlängerte Ausbildungszeit und das sich dadurch erhöhende Durchschnittsalter von Führungskräften keine Möglichkeit hat, die von ihr erkannten Aufgaben an verantwortlicher Stelle wahrzunehmen und zu ihrer Bewältigung beizutragen. Das hat zu zusätzlichen innenpolitischen Spannungen geführt, die sich u. a. in Studenten-revolten äußern.

Für die Curriculumforscher war auch dies ein unübersehbarer Hinweis, der es sinnvoll erscheinen ließ, den Schülern anspruchsvolle Unterrichtsprogramme anzubieten, die ihnen in ihren Fragen an die Gesellschaft und den Fragen nach Wegen und Möglichkeiten, diese Gesellschaft zu verbessern, helfen. Für die Politiker mögen diese verschiedenen innenpolitischen Probleme eher ein Hinweis gewesen sein, die Dinge wieder „in den Griff zu bekommen" und die amerikanische Demokratie auch nach innen zu „verteidigen", denn 1964 wurde der NDEA auf die Fächer Englisch und Social Studies ausgedehnt, und 1965 wurde er durch den Elementary and Secondary Education Act (ESEA) ergänzt. Enthielt der NDEA vor allem die Forderung nach einer speziellen Begabtenförderung und nach einer wissenschaftlichen Orientierung des Unterrichts, wodurch die Motivation zu selbständigem Forschen und divergentem Vorgehen geweckt werden sollte (zunächst, wie schon erwähnt, nur für die mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer gedacht), so sollte der ESEA besonders die sozial Benachteiligten fördern, um vorhandene „Bildungsreserven" ausfindig zu machen und auszuschöpfen. Damit sollte auch der zunehmenden Arbeitslosigkeit entgegengewirkt werden, die aufgrund von immer häufiger vorzeitig abgebrochener Schulbildung und der erhöhten Anforderungen an die Qualifikationen der Arbeitskräfte entstand.

Um die Frage nach den Zielen der Curriculum-reform im ganzen beantworten zu können, müßte eine detaillierte Analyse des Gesetzgebungsprozesses, der diesbezüglichen Kampagnen und Einflußnahmen und der Geldgeber unternommen werden, eine Analyse, die hier nicht geleistet werden kann. Die beiden Extreme, um die es bei einer Beantwortung gehen würde, sind, ob es sich um eine ökonomisch ausgerichtete „technokratische Reform" handelt oder ob es letztlich um eine Struktur-reform der Gesellschaft unter dem Gesichtspunkt der Emanzipation geht Gleich wie die Antwort auf die Frage nach den Intentionen ausfallen würde, Tatsache ist, daß eine Vielzahl von Initiatoren auf mehreren Ebenen eine vielfältige Curriculumrevision in Gang gebracht hat, die zur Zeit noch schwer überschaubar und deren Abschluß noch nicht absehbar ist, geschweige denn deren Auswirkungen. In nationalen Kommissionen, in einzelnen Schulen und in Projekten werden Überlegungen dazu angestellt. Neue Materialien werden vor allem von sogenannten Social-Studies-Projekten entwickelt, die aus den unterschiedlichsten Quellen finanziert werden. Es gibt davon mehr als hundert, die meistens über mehrere Jahre laufen. Zwölf solcher Projekte werden vom Office of Education finanziell so die beiden auch weiter unten besprochenen

Der Erstellung neuer Social-Studies-Modelle ging jedoch in den USA die Analyse des traditionellen Social-Studies-Unterrichts und die Begutachtung des mit seiner Hilfe geformten Staatsbürgers voraus. Seit 1916, als die letzte umfassende Reform vorgenommen wurde, hat sich an dem Unterricht neueren Untersuchungen zufolge nicht viel geändert. Die neuen Curriculum-Materialien sind noch nicht auf breiter Front in die Schule vorgedrungen. Allgemein geübte Praxis des Unterrichts ist bis heute, einen Staatsbürger zu erziehen, der überzeugt ist, daß die USA die freiheitlichste aller Verfassungen haben und den besten aller Präsidenten, daß weiterhin „the American Way of Life" die einzig richtige Entscheidung* darüber ist, wie man dieses Leben zu leben hat. Derlei ethnozentrische Tendenzen werden auch durch Textbuchanalysen bestätigt. Andere Staaten werden oft als minderwertig oder als Agressoren dargestellt. Darüber hinaus hat sich gezeigt, daß „die amerikanischen Ideale“, die den Kindern in diesem Jahrhundert im Social-Studies-Unterricht vermittelt worden sind und zum Teil noch werden, nicht identisch mit den Leitvorstellungen der amerikanischen Verfassung sind.

Die Perspektive, unter der „die amerikanischen Ideale" indoktriniert wurden, hat sich als White, Anglo-Saxon, Protestant (WASP) erwiesen, d. h. Minderheiten im eigenen Land wurden bzw. werden negiert, die ihnen durch die Verfassung garantierten Rechte werden nicht anerkannt, denn der Social-Studies-und der Englisch-Unterricht dienten Anfang und Mitte dieses Jahrhunderts vor allem der Assimilation und Integration der großen Zahl ost-und südeuropäischer Einwanderer. Beide Fächer waren Hauptansatzpunkt für -Amerikanisie rung und Homogenisierung der Immigranten, um sie zu loyalen, angepaßten amerikanischen Staatsbürgern zu machen, die die gegebene Ordnung und Herrschaft unbefragt akzeptieren. Den harmonistischen Gesellschaftsvorstellungen, die den Kindern vermittelt werden, entspricht die Tabuisierung von Interessen und Konflikten. Versuche, die Schüler zu eigenem kritischen Urteil oder gar zu selbständiger Wertbildung anzuhalten, werden nicht unternommen. Im Gegenteil, der Unterricht soll eher den Eindruck erwecken, daß „die amerikanischen Ideale“ und die Verfassungsgarantien, die sie auswendig lernen müssen, im täglichen Leben Realität sind. Der Unterricht dient daher der Verschleierung der amerikanischen Wirklichkeit und der Betonung von Pflichten und Verantwortlichkeiten der Staatsbürger.

Methodisch zeichnet sich der traditionelle Unterricht in erster Linie durch die Vermittlung historischer und verfassungsrechtlicher Fakten in chronologischer Folge aus. Die Darstellungen haben rein deskriptiven Charakter. Die nicht problematisierte Darstellung der Gesellschaft und der Politik wird unterstützt durch den Aufbau des Unterrichts, der vom Prinzip des „expanding environment Curriculums" ausgehend bei der Familie als einer kleinen, überschaubaren Einheit anfängt und dann den Horizont des Kindes über die engere Umgebung bis hin zu nationalen und internationalen Fragen ausdehnt. Da weder Konflikte noch gar antagonistische Gegensätze in die üblichen Vorstellungen über die Familie hineinpassen, das familiäre Miteinander-Füreinander-Schema jedoch Ausgangspunkt des Unterrichts ist, werden grundlegende gesellschaftliche Problembereiche ausgeklammert. Der Unterrichtsstil ist weitgehend lehrerzentriert. Der Lehrer bestimmt, was wie gemacht wird und ob die Schüler es gut oder schlecht gemacht haben. Um den Erfolg und die Auswirkungen dieses Unterrichts festzustellen, sind innerhalb der letzten zehn Jahre, in denen die Sozialisationsforschung in den Vereinigten Staaten sehr an Bedeutung gewonnen hat, vielfältige Untersuchungen zum Verlauf des politischen Sozialisationsprozesses unternommen worden Unter politischer Sozialisation wird „alles politische Lernen“ verstanden, „formales wie zwangloses, vorsätzliches wie ungeplantes, zu jeder Zeit, ein Leben lang, eingeschlossen nicht nur ausdrücklich politisches Lernen, sondern ebenso nominell nicht politisches Lernen, das jedoch politisches Verhalten beeinflußt, wie z. B. Lernen von politisch relevanten sozialen Einstellungen und Erwerb von politisch relevanten Persönlichkeitsmerkmalen" (Über-setzung d. Verf.).

Folgende Forschungsergebnisse über den polisehen Sozialisationsprozeß gelten als weitgehend gesichert:

1. Der frühkindlichen politischen Sozialisation kommt eine enorm große Bedeutung zu. Sie vollzieht sich fast ausschließlich auf emotionaler Basis, da Kenntnisse noch nicht vorhanden sind. Sie wird in den USA in erster Linie durch die als demokratisch geltende Familienatmosphäre geprägt. Bei Eintritt in die Schule ist die politische Orientierung der Kinder bereits weit entwickelt.

2. Als Ergebnis dieses frühkindlichen Sozialisationsprozesses ist eine positive Einstellung zum herrschenden politischen System der Vereinigten Staaten und besonders zum Präsidenten, in dem sich das System symbolisiert, festzustellen.

3. Dieser insgesamt das System befürwortende Eindruck bleibt im Normalfall im großen und ganzen als der primäre und affektiv abgesicherte für die Mehrzahl der amerikanischen Bürger ihr Leben lang bestimmend und bildet auch für den Erwachsenen die Grundlage der generellen Neigung, die amerikanischen politischen Institutionen als legitim anzuerkennen. 4. Der Zusammenhang zwischen der jeweiligen sozioökonomischen Lage und den Ergebnissen des politischen Sozialisationsprozesses ist ein sehr enger. So ist die insgesamt positive Einstellung — genauer untersucht — in den verschiedenen Schichten durch sehr unterschiedliche Charakteristika gekennzeichnet: Angehörige der Mittel-und Oberschicht kennen nicht nur die Pflichten eines demokratischen Staatsbürgers, sondern auch die Rechte, von denen sie relativ viel Gebrauch machen, da sie ihre eigene politische Effektivität und damit ihren Einfluß (bzw.den ihrer Schicht) positiv einschätzen. Ihre Teilnahme am politischen Geschehen, ausgedrückt durch Interesse, Wahlbeteiligung, Mitgliedschaft in politischen Gruppierungen, Finanzierung politischer Kandidaten bis hin zu eigener Kandidatur, ist daher relativ groß. Ihre politische Haltung und ihr politisches Verhalten sind gekennzeichnet durch Liberalität und Toleranz gegenüber Andersdenkenden. Mit abnehmendem sozioökonomischen Status steigt dagegen autoritäres Verhalten, Engstirnigkeit und Intoleranz gegenüber politischem und sozialem Nonkonformismus und ethischer Verschiedenheit. Diese Verhaltensformen korrelieren mit der verminderten Fähigkeit, feindselige Impulse zu kontrollieren. Sie gehen einher mit abnehmender Bereitschaft, am politischen Prozeß teilzunehmen, da der eigene Einfluß ohnehin gering eingeschätzt wird und die Fremdheit gegenüber politischen Institutionen relativ groß ist. Betont werden ersatzweise in zunehmendem Maße „law and Order", Gesetz, politische Ordnung und Unterordnung und die Notwendigkeit politischer Führung. Im Normalfall drücken sich diese Verhaltensformen der Arbeiter-und Unterschicht in Desinteresse, Passivität, niedriger Wahlbeteiligung und allenfalls noch in politischem Zynismus aus. Die positive Einstellung zum System insgesamt ist dadurch jedoch nicht gefährdet, die Stabilität des Systems keineswegs in Frage gestellt. Dies gilt jedoch nur, solange keine außergewöhnlichen Gefahren von Innen oder Außen drohen. Ist das jedoch der Fall (wie z. B. durch zunehmende Rassenprobleme), so neigt der Großteil der konservativen Gruppe mehr und mehr zum Ruf nach dem starken Mann, so daß einerseits von daher Gefahr für die Demokratie und ihre Institutionen droht, während andererseits in der untersten Unter-schicht aufgrund der negativen Einschätzung ihrer eigenen politischen Macht und aufgrund ihrer Hoffnungslosigkeit und ihres Elends politische Entfremdung und Zynismus in Rebellion und revolutionäres Verhalten Umschlägen können.

Um zu erklären, wie es zu solch schiditspezifisch unterschiedlichen Sozialisationsprozessen kommt, sind multifaktoriale Bedingungsanalysen unternommen worden.

Man hat festgestellt, daß folgende Faktoren besonders stark zum politischen wie auch zum allgemeinen Sozialisationsprozeß beitragen: 1. Die familiäre Atmosphäre: autoritäre oder demokratische Eltern-Kind-Beziehungen, Erziehungspraktiken und die Art und Weise, wie sich die Eltern selbst innerhalb der Gesellschaft einstufen, welche Meinung sie von den Möglichkeiten eigener Einflußnahme auf gesellschaftliche und politische Prozesse haben; 2. die Schulatmosphäre: hierarchische Schulordnung oder Partizipationsmöglichkeiten, die Erwartungen, die an die Schüler gestellt werden bzw. die Einschätzung und Einstufung der Kinder durch die Lehrer, Unterrichtsmethoden und Inhalt, die Art der besuchten Bildungseinrichtung und die sich daraus ergebende Länge der Ausbildung; 3. die Sex-Orientierung: unterschiedliche Behandlung von Jungen und Mädchen. Die Untersuchungen haben in beiden Bereichen (Familie und Schule) frappante schichtspezifische Unterschiede ergeben, die jeweils für das feminine Geschlecht in bezug auf politische Sozialisation negativer ausfallen als für das maskuline.

Nach Meinung einiger Sozialisationsforschei haben sie aber auch gezeigt, daß das Kind im industrialisierten Zeitalter (im Gegensatz zum agrarischen) früh genug dem alleinigen Einfluf der Familie entzogen wird, so daß Chancer bestehen, den politischen Sozialisationsprozeß abweichend von familiären Einstellunger und Meinungen zu steuern, wenn genügend starke andersartige Einflußnahmen und Prägungen erfolgen.

Einige Wissenschaftler (Hess, Torney) meinen daß schon die Grundschule ihren Einfluß den der Familie erfolgreich entgegensetzen könne Andere setzen ihre Hoffnungen eher auf die Zeit der Pubertät. Es ist bekannt, daß Jugend liehe in der Pubertätszeit überkommene Tradi tionen erstmals in Frage stellen und teilweise beginnen, skeptisch zu werden. Entsprochene hat die politische Sozialisationsforschung her ausgefunden, daß Siebt-und Achtklässle: einen langsamen Prozeß politischer „de-idealization" durchmachen. Beispielsweise differenzieren sie zwischen Amt und Person des Präsidenten, wenn sie Unzulänglichkeiten feststellen; sie beginnen, den Abgrund zwischen politischen Idealvorstellungen, die ihnen beigebracht worden sind, und der politischen und gesellschaftlichen Realität zu entdecken.

Der harmonisierende Unterricht, wie er oben dargestellt wurde, wird daher in der Regel als extrem langweilig empfunden. Auch haben wissenschaftliche Untersuchungen gezeigt, daß er zu dem schon vorher vorhandenen Wissen kaum noch etwas hinzufügt. Eine Ausnahme bilden hier die Kinder der untersten Unterschicht. Spezifische Analysen haben jedoch ergeben, daß der Unterricht, den Unter-schicht-Kinder genießen, stärker als der durchschnittliche Unterricht auf die Pflichten des Staatsbürgers ausgerichtet ist, d. h., daß er „law and Order" besonders betont und dadurch nicht dazu beiträgt, diesen Schichten auch ihre Rechte und vor allem deren Praktizierung näherzubringen. Zynismus und Entfremdung werden in diesem Fall durch den Unterricht regelrecht gefördert. Aber auch im normalen Durchschnittsunterricht wird wegen der offensichtlichen Diskrepanzen zwischen der ins Bewußtsein rückenden Realität und dem in der Schule dargebotenen Idealbild oft der Grundstein für Desinteresse und Passivität gelegt Zu der hier dargestellten Sozialisationsforschung — von der ausgehend Curriculum-entwickler vor allem die festgestellten undemokratischen Erziehungspraktiken des amerikanischen Schulsystems und des Social-Studies-Unterrichts im besonderen verurteilen — muß kritisch angemerkt werden, daß diese Forschung, soweit sie von den Curriculum-entwicklern rezipiert worden ist, einen entscheidenden Bedingungsfaktor, wenn nicht den entscheidenden, völlig außer acht läßt, nämlich die schichtspezifischen Arbeitsplatz-bedingungen. Die geschilderten unterschiedlichen Einstellungen und Haltungen der beiden einander gegenübergestellten Schichten können nicht erklärt werden ohne eine Analyse der andersartigen Bedingungen, unter denen die beiden Schichten arbeiten. Ohne den Bezug zu einer solchen Analyse müssen die Qualifizierungen der politischen Haltungen der Mittelschicht beispielsweise als liberal und tolerant oberflächlich und affirmativ erscheinen. Ausgehend von dieser Feststellung muß die Frage nach der Gesellschaftsanalyse und den Zielen der Curriculumreform im ganzen, die damit verknüpft werden müssen, erneut kritisch angemeldet werden.

III. Die „New Social Studies" und ihre Lehrmaterialien

Der NDEA hat der gesamten Revision so etwas wie einen charakteristischen Rahmen gegeben. Das Wesen dieser Reform insgesamt ist eine Verwissenschaftlichung des Unterrichts. Trotz einer Vielfalt von Theorien wie auch des Vorgehens und der Materialien gibt es eine Reihe von Gemeinsamkeiten, die „the New Social Studies“ auszeichnen und die sie von den traditionellen Social Studies abheben. Die meisten Projekte verfolgen eine ganze Reihe von speziellen Lernzielen. Sie benutzen dazu Themen und Methoden aus mehreren sozialwissenschaftlichen Fächern, wie Anthropologie, Soziologie, Politologie, Sozial-Psychologie, Ökonomie usw. Geschichte und Geographie sind nur noch Fächer unter vielen; sie dominieren nicht mehr. Viele Projekte bemühen sich dabei um einen integrierten interdisziplinären Zugang. Der größere Teil versucht, dem Schüler wichtige wissenschaftliche Grundbegriffe (Konzepte) und Generalisierungen nahezubringen und ihn so mit Strukturen der Sozialwissenschaft vertraut zu machen.

Andere Projekte stellen demgegenüber die unmittelbare Lösung von Problemen und Konflikten in den Vordergrund. Fast alle Projekte berufen sich darauf, Methoden der wissenschaftlichen Analyse (discovery + inquiry) anzuwenden. Das Vorgehen ist daher meist induktiv. Anhand von exemplarischen Fällen soll der Student lernen, zu denken und kreativ zu werden. Der Schüler soll in die Lage versetzt werden, Wertfragen zu identifizieren, zu analysieren und selbst eine Beziehung zu Wertproblemen zu entwickeln. In viele Curricula ist daher mehr Realitätsnähe eingegangen. Konflikte aus dem täglichen Leben werden in den Unterricht einbezogen, gerade auch Konflikte, die sich aus dem Zusammenleben unterschiedlicher Rassen und Volksgruppen ergeben. Auch „cross-cultural studies" sind dementsprechend in Mode gekommen.

Die Textbücher enthalten nicht mehr Darstellungen und Erzählungen, sondern eher Statistiken und andere Quellen mit verbindendem Text, Simulations-und Rollenspiele. Dias, Tonbänder und audiovisuelle Materialien ergänzen die Textbücher. Die Lehrer werden in der Regel durch gesonderte Handbücher, die zum Teil Hintergrundwissen bieten und auch die gewünschten Antworten der Schüler mitteilen, eingeweiht und manchmal zusätzlich durch Filme, Bücher und Arbeitsgemeinschaften auf die neuen Unterrichtsmethoden vorbereitet, Die Materialien sind didaktisch aufbereitet und werden z. T. mehrfach in Schulen getestet und im Anschluß revidiert, bevor sie veröffentlicht werden.

Obwohl die Social Studies älter sind als das 20. Jahrhundert, ist immer noch umstritten, was darunter eigentlich zu verstehen ist Während traditionelle Versuche der Definition meist vom Inhalt ausgingen, hat man jetzt versucht, Social Studies von den Zielen her zu definieren. Danach können die Social Studies als eine „Sammlung von Zielen" (set of goals) begriffen werden, die beschreiben, wie der Inhalt für eine konkrete amerikanische Stäatsbürgererziehung ausgesucht, organisiert und gelehrt werden soll. Denn nach amerikanischer Auffassung will die Staatsangehörigkeit auch aktiv erworben sein. Ein guter Staatsbürgerkundeunterricht kann dazu beitragen. Der traditionelle Social-Studies-Unterricht ist nach dieser Definition als „citizenship trahsmission“ (Übertragung von Staatsbürgerschaft) bezeichnet worden; gemeint ist damit die Form der Indoktrination der richtigen Werte und Glaubenspostulate.

Die „New Social Studies“ sind nach dieser Definition z. T. zumindest vom Anspruch her als „reHective ihquiry“ quaiifizierbar (kritische, reflektierende Untersuchung). Gemeint ist damit ein Verständnis von Staatsbürgerschaft, das diese nicht als A-priöri-Verpflichtung gegenüber einem festen Satz vorgegebener Normen versteht, sondern als „einen Prozeß, in dem Entscheidungen gefällt werden, die beschreibbar und nachvollziehbar sind". Mit Hilfe der Methode der „reflective inquiry" sollen die Kinder solche Entscheidungen selbst untersuchen ünd reflektieren und aufgrund der gewonnenen Erkenntnisse begreifen. Zwei exemplarische Projekte sollen hier vorgestellt werden, die beide den Anspruch der „reflective ihquiry" an Sich stellen würden, die jedoch von Inhalt und Methode und den Materialien her völlig verschieden sind:

Das Harvard-Projekt (H. P.) ist das bekannteste derjenigen amerikanischen Vorhaben, das die Behandlung von Problemen in den Mittelpunkt stellt. Diese „Public Issues Series"

(Serie über öffentlich strittigen Fragen) besteht aus 20 Broschüren mit unterschiedlichen Themen, jede 40 bis 60 Seiten umfassend. Sie können in den Klassen 7 bis 12 beliebig verwendet werden. Die Rechte für dieses Projekt sind bereits von einem deutschen Schulbuch-verlag erworben worden.

Das zweite Projekt, das ich ebenfalls nach der Universität, an der es entstanden ist, benenne, das Indiana Projekt (I. P.) hat bisher ein vollständiges Textbuch von 670 Seiten ergeben. Es ist für den kontinuierlichen täglichen Gebrauch für das ganze 9. Schuljahr hindurch geplant und trägt den Titel „American Political Behavior". Dieses Projekt geht wie die Mehrzahl der New-Social-Studies-Projekte nach dem „social Science approach" vor, ist jedoch wohl im Gegensatz zu den meisten anderen zugleich problemorientiert.

Die Wahl ist sehr bewußt auf diese beiden Projekte gefallen, denn die bisherige Diskussion in der Bundesrepublik hat die Tendenz, den Projekten, die kontroverse Fragen in den Mittelpunkt stellen, speziell das Harvard-Projekt, mehr als den an den Sozialwissenschaften orientierten Realitätsnähe zuzusprechen und damit größere Bedeutung für deutsche Curriculumrevisionen zukommen zu lassen Dieses Urteil soll überprüft werden. Die Fragen, die sich von diesem Anspruch her stellen, lauten: Welcher Art sind die kontroversen Fragen, die im H. P. zur Debatte gestellt werden? In welchem Kontext stehen sie? Mit welchen Zielen werden sie behandelt? Werden Problemlösungen angeboten? Das Harvard-Projekt Zur Beantwortung dieser Fragen soll zunächst das Demokratieverständnis der Autoren des H. P. untersucht werden, da sie vorgeben, die Struktur für das Projekt aus Überlegungen zur Natur der Staatsbürgerschaft, d. h. zur Rolle des Staatsbürgers in der Demokratie, herzuleiten. Die wesentlichen Punkte des Demokratieverständnisses sind die folgenden (0: 6— 15)

1. Verwirklichung und Schutz der Würde und des Wertes jedes Individuums ist der zentrale Wert der amerikanischen Gesellschaft und der vielfältigen Zwecke, die in ihr verfolgt werden. So wenig begründbar dieses Ideal ist, so wenig ist es andererseits umstritten. Es ist aber auch ebensowenig exakt definierbar. Jedoch lassen sich andere Werte von ihm ableiten, die ihm Bedeutung verleihen.

2. Diese allgemein akzeptierten Werte der westlichen, speziell der amerikanischen Zivilisation finden ihren Ausdruck in solchen Begriffen wie: Recht auf Eigentum, freie Rede, Freiheit der Religion, Vereinigungsfreiheit, Freiheit der Person, Ablehnung von Gewalt und der Glaube an die Vernunft als eine Methode, Konflikte zu regeln, die allgemeine Wohlfahrt aller, gleiche Chancen, Gleichheit vor dem Gesetz, Regierung durch Recht und Gesetz bzw. verfassungsmäßige Kontrolle der Regierung, Regierung mit Zustimmung der Regierten, Due Process of Law, Gewaltenteilung und lokale Kontrolle über lokale Probleme.

3. Die Anerkennung dieser Normen beinhaltet die Bejahung einer pluralistischen Gesellschaft, in der verschiedene Gruppen unterschiedliche Ansichten entwickeln, wie die grundlegenden Probleme einer Gesellschaft gelöst werden sollten. Pluralismus , is the only natural mechanism which can insure some freedom of choice“ (Hervorhebung vom Verfasser). 4. Da Pluralismus ohne Konflikte nicht denkbar ist und viele Probleme zu öffentlichen Streitfragen führen, müssen diese von der Gesellschaft als ganzer geregelt werden. Dazu bedarf es gemeinsamer ethischer und politischer Verhaltensprinzipien.

Zu diesen Punkten sind verschiedene kritische Bemerkungen zu machen:

Obwohl die Autoren selbst zugeben, daß die „Würde des Individuums'nicht ein für alle Mal gültig definiert werden kann, wählen sie einen solchen Begriff als den zentralen ihres Curriculums. Zwar bieten sie einige andere Begriffe zur inhaltlichen Definition des Ober-begriffes an, aber schon an diesen zeigt sich deutlich, daß sich sehr unterschiedliche Verständnisse unter dem Begriff subsumieren lassen, außerdem erweist sich, wie sehr die Interpretation der Autoren der augenblicklichen historischen Ausprägung der Demokratie mit all ihren Mängeln verhaftet ist. Daß ausgerechnet das Recht auf Eigentum als erster Begriff zur Definition dessen, was Würde des Menschen umfaßt, herangezogen wird, ist dafür besonders bezeichnend. Nicht auf einer kritischen Analyse der vorhandenen Gesellschaft und daraus sich ergebenden Zielsetzungen für eine bessere Gesellschaft beruht dieses Demokratieverständnis, sondern auf einer unreflektierten, unkritischen Übernahme von Idealen, die in einer bestimmten geschichtlichen Situation formuliert worden sind und die seitdem so betrachtet werden, als hätten sie — in der mit ihrer Hilfe errungenen historischen Gesellschaftsform — nicht nur verfassungsrechtliche Gültigkeit für alle Menschen, sondern auch die Chance der Verwirklichung für jeden. Nach dieser Feststellung erstaunt es nicht mehr, daß weder der Begriff des Pluralismus noch der des Konfliktes hinterfragt wird auf möglicherweise durch diese Begriffe verschleierte Machtverhältnisse. Wenn all diese in unserer heutigen Gesellschaft gültigen Dogmen nicht auf die sich hinter ihnen verbergende Realität befragt werden, wird deutlich, daß eventuell vorhandene antagonistische Konflikte von vornherein nicht in den Blick kommen können. Die Frage ist dann, welches Ziel die Autoren überhaupt bei der Behandlung von Konflikten verfolgen.

Aufgabe einer demokratischen Gesellschaft ist es nach Meinung der Autoren, durch die Lösung von Konflikten zur Vermehrung der menschlichen Würde beizutragen. Das „jurisPrudential Curriculum", wie sie Ihre Materialien nennen, hat daher die Schüler mit Problemen vertraut zu machen, deren Brennpunkt ein rechtlich-ethischer Konflikt ist (O: 239), d. h. ein Konflikt, der letztlich rechtlich entschieden werden kann und in dem die sich streitenden Gruppen jeweils auf anerkannte Werte berufen können. Ziel der Autoren, wie sie selbst sagen, ist es, Kindern durch die Konfrontation mit öffentlich strittigen Fragen allgemein gültige Prinzipien ethischen und moralischen Verhaltens zu vermitteln, nach denen sie ihr Leben führen, also Einstellungen erzielen können, die ihnen im Konfliktfall zum „richtigen" Kompromiß zwischen Aufgabe und Beibehaltung von Werten verhelfen (O: 28), so daß letztendlich die „Würde des Menschen" unangetastet bleibt oder aber vermehrt wird. Die Autoren wollen auf diese Art einen Beitrag dazu leisten, daß zukünftige Konflikte auf vorhersagbare Weise gelöst werden (O: 59). Indem sie die Aufmerksamkeit der Kinder vor allem auf die positiven Werte der amerikanischen Gesellschaft lenken, erwarten sie, daß größere Zerreißproben für Institutionen, die die Erbschaft des Pluralismus schützen, vermieden werden können. Durch Behandlung der wichtigsten gegenwärtigen Probleme hoffen sie, sowohl die demokratischen Spielregeln als auch die Ehrfurcht vor den Werten, auf denen jene beruhen, vermitteln zu können (O: 237).

Die Diskussion — und damit der Lernprozeß —, durch den der Schüler zu Entseheidungen kommen soll, steht im Zentrum dieses Unterrichts, weil der Dialog (nach Meinung der Autoren) zwei Funktionen erfüllt. Er enthüllt a) die impliziten gesellschaftlichen Wert-und Ordnungsvorstellungen des Studenten und gibt somit b) dem Lehrer die Möglichkeit, in diese zu intervenieren, Unzulänglichkeiten zu klären und Elemente hinzuzufügen. Die Autoren sind daher der Meinung, daß der Unterricht nicht schon dann beginnt, wenn der Student anfängt, über Probleme zu lesen, sondern erst dann, wenn er auf herausfordernde Konfrontationen reagiert und anfängt zu diskutieren (O: 150 ff.). Mit Hilfe des analytischen Denkens sollen die Kinder Probleme identifizieren (Q; 172 ff,) -Der Dialog dient dazu, Meinungsverschiedenheiten über die rechtlichen und ethischen Aspekte des Problems und die Tatsachen, um die es geht, zu klären. Die Kinder sollen erkennen lernen, ob einem Konflikt unterschiedliche Werte zu-gründe liegen oder ob ein und derselbe Wert nur verschieden interpretiert wird. Alle Aussagen sollen daher typisiert werden in solche über allgemeine oder besondere Werte bzw. rechtliche Ansprüche, in solche über allgemeine oder spezifische Beweisquellen und Tatsachen, in Aussagen zur Definition, zur Klarstellung oder zur Wiederholung, in Aussagen über Analogien oder beispielhafte Fälle. Der Student lernt in der Diskussion mit dem Lehrer und anderen Schülern, die Informationen auszuwählen und zu sammeln, die von besonderer Wichtigkeit für die Kontroverse sind. Er soll schließlich erkennen, wie die neuen Informationen zu seinem Wissen und seinen eigenen Werten in Beziehung stehen, und er soll Gespür für den allgemeinen Prozeß entwickeln, in dem der Fall geklärt werden könnte. Die kognitiven Ziele, die so mit Hilfe der Diskussion verfolgt werden, lassen sich sehr kurz zusammenfassen: „Der Schüler soll in die Lage versetzt werden, einen intelligenten Standpunkt einnehmen zu können" (O: 235).

Die bereits anhand der Demokratievorstellungen geleistete Kritik hatte den Rahmen der Erwartungen schon relativ eng begrenzt. Die Darlegung der affektiven und kognitiven Ziele der Autoren enttäuscht erneut, sogar noch mehr als erwartet. Hatte man nach dem am Status quo orientierten Bekenntnis zur derzeitigen amerikanischen Demokratie erwartet, daß dieses Curriculum die Schüler innerhalb des bestehenden Systems zumindest zu engagierten Staatsbürgern erziehen wollte, so erweist sich an den affektiven Zielen, daß vor allem das moralische Bewußtsein des Schülers ausgebildet und gestärkt werden soll und daß er von da aus die Befähigung erlangen soll, in Streitfragen eine eigene Position zu beziehen.

Abstrakte moralische und ethische Kategorien reichen auf keinen Fall aus, soziales und politisches Handeln zu motivieren oder gar auszulösen. Mit den kognitiven Zielen bestätigen die Autoren dann auch, daß sie den Schülern keine Grundregeln politischen Verhaltens oder gar aktiver politischer Tätigkeit vermitteln wollen. Die Kinder lernen nicht, wie akute gesellschaftliche Konflikte gelöst werden können, welche Mechanismen es zur Bewältigung gibt. Sie werden mit Hilfe des Curriculums allenfalls in die Lage versetzt, selbst eine wie auch immer geartete wertorientierte Stellungnahme zu formulieren. Da die zukünftigen Staatsbürger anhand der Materialien früh darauf vorbereitet werden sollen, daß Konflikte „natürlicherweise" zur pluralistischen Demokratie dazugehören, ihre Unterstützung eben dieser Demokratie jedoch affektiv durch ethische und moralische Einstellungen abgesichert werden soll, muß man möglicherweise folgern, daß das Ergebnis eines Unterrichts aufgrund der Public Issues Series keineswegs die „Vermehrung der Würde des Individuums" ist, wie die Autoren es wahrscheinlich ehrlichen Herzens anstreben, denn zu aktivem Engagement hierfür wird durch die Serie nichts beigetragen.

Die didaktischen Implikationen, die die Autoren für die Auswahl eines Themas bzw. eines Konflikts als relevant erachten, sind die folgenden (O: 141 ff.):

1. Das Thema muß so präsentierbar sein, daß es für den Studenten zu einem persönlichen Interesse werden kann.

2. Es müssen daher Materialien mit starker emotionaler Komponente geboten werden, die geeignet sind, eine Einführung in das Thema zu ermöglichen.

3. Materialien zur begrifflichen und historischen Klärung sind vonnöten.

4. Die zu behandelnden Fälle müssen situationsbezogene Hinweise auf generelle soziale und politische Vorgänge enthalten, d. h., sie müssen Analogiebildungen ermöglichen und insofern Beispiele für allgemeingültige Probleme sein.

Nach diesen Kriterien und danach, welche Konfliktbereiche heute allgemein von Wissenschaftlern und Männern des öffentlichen Lebens (men of practical affairs) als zentrale angesehen werden, wählen die Autoren die Probleme, die sie behandeln, aus. Obwohl sie, im Gegensatz zu vielen anderen Social-Studies-Projekten, ihr Demokratieverständnis und damit den Rahmen für ihr Curriculum ausführlich darlegen, zeigt die Begründung für die Auswahl der im H. P. behandelten Konflikte noch einmal, daß der Erstellung des Curriculums keine eigene Analyse der vorhandenen Gesellschaft, ihrer Mängel und Möglichkeiten zu deren Behebung vorausgegangen ist. Die Frage erhebt sich, in welchen Kontext die Probleme überhaupt gestellt werden.

Die Struktur für ihr „jurisprudential Curriculum" hatten die Autoren zunächst nur durch die Notwendigkeiten begründet, die sich aus der Natur der Staatsbürgerschaft ergeben. Im Verlauf der Darstellung wird jedoch deutlich, daß sie eine zusätzliche Struktur für den Social-Studies-Unterricht befürworten und die einzelnen Lehrplanelemente (units) in einen weiten historischen Rahmen stellen, so daß die Ordnung bzw.der Aufbau einer Einheit im groben durch eine chronologische Anordnung diktiert wird (O: 147). Sie begründen diese Entscheidung damit, daß ein aktuelles Problem auch in seinem historischen Kontext und in seiner Entstehung gesehen werden muß, um verstanden zu werden, und daß der Student daher einen großen Teil seiner Zeit damit zuzubringen hat, Geschichte zu studieren, allerdings nur unter dem Gesichtspunkt, Wissen zu sammeln für die Analyse eines fortdauernden übergeordneten Problems (O: 234 f.). Doch geht es den Autoren nicht nur darum, die Gegenwart als Ergebnis der Geschichte begreifbar zu machen. Denn neben dem Zugang von einem Problem her, das zum Thema gemacht wird (problem topic approach), haben sie noch einen zweiten Zugang gewählt über Krisen in der Geschichte (historical crisis approach) (O: 158 ff.). Nach diesem approach sollen Krisen, die geschichtliche Parallelen erlauben, auf nützliche Generalisierungen hin untersucht werden, die eventuell helfen können, gegenwärtige Probleme besser zu erfassen und zu erklären. Ziel soll jedoch auch hier nicht die Vermittlung von Geschichtswissen sein, sondern wiederum die Diskussion aktueller Probleme. Diesem approach liegt die Annahme zugrunde, daß sich strittige Fragen an geschichtlich und geographisch entfernten Problemen rationaler diskutieren lassen und daß es keine Schwierigkeiten macht, die gewonnenen Ergebnisse dann auf eigene Streitfragen zu übertragen.

Es ist wohl nach wie vor umstritten, ob es möglich und sinnvoll ist, in der Geschichte Gesetzmäßigkeiten zu finden, die den Vergleich verschiedener geschichtlicher Phasen erlauben, den Vergleich historischer Phänomene, die sich möglicherweise vor einem ganz andersgearteten sozioökonomischen Hintergrund abspielen. Wieweit der Transfer der — an einer in der Vergangenheit liegenden Krise — gewonnenen Erkenntnisse auf heutige amerikanische Probleme in dem H. P. gelungen ist, soll anhand der Beispiele beleuchtet werden. Noch eine Voraussetzung ist für die Anwendung beider Zugänge vonnöten, die hier genannt werden muß (O: 13 f.). Zwar erheben die Autoren den Anspruch, einen analytischen und kritischen Zugang entwickelt zu haben, aber sie fordern sehr bald, daß der Student, wenn er frühestens im 7. Schuljahr mit dem „jurisprudential curriculum" konfrontiert wird, einmal bereits beschreibendes Wissen besitzen muß über die amerikanische Kultur und über die Kultur von Ländern, die der amerikanischen entgegenstehen. Und er muß sich den grundlegenden Idealen der amerikanischen Gesellschaft, die der demokratischen Tradition westlicher Zivilisation entspringen, verpflichtet fühlen. Zum anderen muß er das allgemeine sozialwissenschaftliche Vokabular kennen, das man braucht, um über Streitfragen zu reden und um die amerikanische Gesellschaft zu verstehen(l).

Um es deutlicher zu sagen: Wie die politische Sozialisationsforschung gezeigt hat, haben die Kinder die amerikanischen Ideale und Glaubenssätze zu diesem Zeitpunkt längst verinnerlicht. Sie sind in der Regel bereits „gute Demokraten“, die jedoch eventuell zu diesem Zeitpunkt anfangen, Gelerntes in Frage zu stel25 len. Die Diskussion zentraler gesellschaftlicher Konflikte wird daher sicherlich bei ihnen auf großes Interesse stoßen. Das H. P. erweckt den Anschein, daß es sich mit solchen Konflikten auseinandersetzt; es fängt dadurch möglicherweise freiwerdendes kritisches Interesse auf und lenkt es in ungefährliche Bahnen, so daß es ohne konkrete Folgen bleibt. Da es den Autoren offensichtlich weder um die Vermittlung von Konfliktlösungsmechanismen noch überhaupt um aktives Engagement geht, zeichnet sich die Gefahr ab, daß das Projekt dazu beiträgt, daß die in der amerikanischen Gesellschaft derzeit zutage tretenden Ungerechtigkeiten hingenommen und damit eventuell sogar gefestigt werden. Diese Befürchtung soll anhand der Hefte selbst überprüft werden.

Vom Schema her sind alle Hefte gleich aufgebaut: Jedes Heft enthält verschiedene Lese-stücke über ein Problem oder mehrere gesellschaftliche Konflikte. Die Texte beschreiben wahre oder fiktive Begebenheiten und Charaktere und ihr jeweiliges Verhalten. Am Schluß einer Lektion muß der Student (in den USA wird der Ausdruck „Schüler" [pupil] nicht mehr gebraucht, sondern einheitlich nur noch „Student"; hier werden Schüler und Student synonym verwandt) zunächst Fragen beantworten, die zeigen, daß er die wichtigsten Informationen verstanden und behalten hat. Von Zeit zu Zeit erscheinen unter dem Titel „Persisting Questions of History" bzw. „Persisting Questions of Modern Life“ (bleibende Fragen der Geschichte bzw.des modernen Lebens) Fragen, die den Studenten zum Nachdenken anregen sollen und an denen der beschriebene Diskussionsprozeß geübt werden soll. Am Ende des Heftes gibt es eine Lektion (Review, Reflection, Research = Rückblick, Nachdenken, Forschung), die verschiedene Möglichkeiten vorschlägt, um das Problem in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Jedes Heft wird von zwei Seiten „teaching instructions" und zwei Seiten „tests“ begleitet. Ein „general teacher's guide" von 14 Seiten gibt dem Lehrer Erklärungen zur Unterrichtsform. Das Heft „Taking a Stand" beschreibt für die Schüler die Elemente der Diskussion mit einigen Beispielen, an denen sie den Dialog einüben sollen. Die in den 20 Heften behandelten Themen sind folgende:

1. Status: Achievement and Social Values 2. The American Revolution: Crisis of Law and Change 3. The Railroad Era: Business Competition and the Public Interest 4. Taking a Stand: A Guide to Clear Discussion of Public Issues 5. Religious Freedom: Minority Faith and Majority Rule 6. The Rise of Organized Labor: Worker Security and Employer Rigths 7. The Immigrant's Experience: Cultural Variety and the „Melting Pot“

8. Negro Views of America: The Legacy of Oppression 9. Municipal Politics: Interest Groups and the Government 10. The New Deal: Free Enterprise and Public Planning 11. Rights of the Accused: Criminal Procedure an Public Security 12. The Lawsuit: Legal Reasoning and Civil Procedure 13. Cummunity Change: Law, Politics, and Social Attitudes 14. Colonial Kenya: Cultures in Conflict 15. Communist China: Communal Progress and Individual Freedom 16. Nazi Germany: Social Forces and Personal Responsibility 17. 20th Century Russia: Agents of the Revolution 18. The Civil War: Crisis in Federalism 19. Race and Education: Integration and Community Control 20. Science and Public Policy: Uses and Control of Knowledge.

Zur Veranschaulichung seien hier zwei der Hefte vorgestellt, von denen das eine für den Sozialkunde-Unterricht in Deutschland von besonderer Relevanz ist und dem „historical crisis approach“ zuzuordnen ist, und das andere vom „problem topic approach“ ausgeht und Rassenprobleme behandelt, die wohl zu den heikelsten Themen gehören, die im Social-Studies-Unterricht in den USA angeschnitten werden können.

Das erste behandelt „Nazi-Deutschland: Gesellschaftliche Kräfte und persönliche Verantwortung": In den Richtlinien für den Lehrer heißt es, daß Nazi-Deutschland einen adäquaten Rahmen abgibt, um im Hinblick auf den Krieg in Vietnam folgende Fragestellungen zu behandeln: „Kann ich (als Amerikaner) für die Zerstörung in Vietnam persönlich verantwortlich gemacht werden, entweder als Soldat oder aber als ein einfacher Bürger, der schweigt? Wenn mein Gewissen mir sagt, daß Gesetze mich zwingen, unmoralisch zu handeln, habe ich dann das Recht oder gar die Pflicht, däs Gesetz zu brechen oder mich meinen Vorgesetzten zu widersetzen? Rechtfertigen bestimmte Ziele wie die nationale Sicherheit oder die Selbstbestimmung den Gebrauch eines jeden Mittels, wie z. B. Napalm, Entlaubung usw.? Wieviel Macht sollte der Kongreß oder das Volk an die Exekutive delegieren? In welchem Grade sind gesellschaftliche Probleme Ergebnis sozioökonomischer Kräfte bzw. sind individuelle Entscheidungsträger verantwortlich?" Das Heft enthält eine Fülle von Erzählungen und Berichten persönlicher Art über Erlebnisse von Bürgern und Familien:

1. Drei kurze Schilderungen, die die Dimension abstecken von der Hoffnung, daß die Nationalsozialisten und Hitler Deutschland aus Arbeitslosigkeit und Verzweiflung führen können, bis zum Entsetzen eines deutschen Bürgermeisters nach dem Krieg, als er mit dem Ausmaß der Vernichtungspolitik in Konzentrationslagern konfrontiert wird und Selbstmord begeht (1 Seite);

2. Ernst Töllers Erfahrungen beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges (7 Seiten);

3. Die Weimarer Republik, Probleme der militärischen Niederlage, des wirtschaftlichen Chaos'und der politischen Konflikte (9 Seiten); 4. Hitler und die Nazis während der Spät-phase der Weimarer Republik (5 Seiten);

5. Halberg, eine Kleinstadt, wird durch die Wahlen vom Juli 1932 nationalsozialistisch (19 Seiten);

6. Hitler wird Führer (6 Seiten);

7. Konzentrationslager, Folterungen einerseits und die Verteidigungsrede von Rudolf Höß (Auschwitz-Kommandant) andererseits (8 Seiten). In der abschließenden Lektion (3 Seiten) werden vier Fragenkomplexe behandelt:

a) Untersuchung des persönlichen Verhaltens unter politischem Druck;

b) die Frage, ob die Deutschen den Nationalsozialismus wollten;

c) die Frage, ob es positive Seiten an Hitlers Politik gab;

d) zum Thema Staatsfeinde; das Problem der Loyalität.

An drei Kapiteln soll verdeutlicht werden, wie die sich an die Lektionen anschließenden „Persisting Questions of History" aussehen:

Zu 4.:

Nachdem Fragen über das Parteiprogramm und über die Verantwortlichkeit von Parteimitgliedern für Programm und Aktionen der Partei gestellt worden sind, behandelt die dritte Frage das Thema „Herrenrassen — Groß-mächte“ folgendermaßen:

„Die Geschichte hat gezeigt, daß Menschen gemeinhin glauben, ihre eigene soziale oder nationale Gruppe sei anderen überlegen. Hitler sprach von der Überlegenheit der arischen Rasse. Amerikaner sprechen von der Überlegenheit des . American Way of Life'. Um den Wert ethnischer Gruppen oder ganzer Zivilisationen bestimmen zu können, diskutiere die Wichtigkeit verschiedener möglicher Kriterien, wie Grad der Industrialisierung und der wirtschaftlichen Prosperität, Grad der persönlichen Höflichkeit und des ethischen Verhaltens, militärische Stärke, Leistungen in Wissenschaft und Kunst, Form der Regierung; nationale Opfer, um minderbemittelten Gruppen zu helfen. In welchem Ausmaß ist es nützlich (welch eine Kategorie!) zu entscheiden, daß andere Menschen oder Nationen . besser'oder anderen . überlegen'(superior) sind? Sollte man andere Völker nur als . anders'(different) betrachten, anstatt sie als niedriger oder höherwertig auf bestimmten Wertskalen einzustufen? Teste Deine Methode der Wertung, indem Du die Weimarer Republik und die gegenwärtigen USA vergleichst."

Zu 5.:

In diesem Kapitel wird das Leben der Familie Barten aus Halberg zwischen 1930 und Juli 1932 geschildert. Die Mutter ist Hausfrau und unpolitisch, der Vater ein geachteter Geschäftsmann, vom Elternhaus her Sozialdemokrat, jedoch mehr ein Mitläufer. Die drei Kinder sind zwischen 12 und 16 Jahre alt. Sie kommen durch Schule und Jugendorganisationen mit der Politik in Berührung, während der Vater durch die Forderung der Nazis, nicht mehr an Juden zu verkaufen, mit dieser konfrontiert wird. Er hatte es einmal abgelehnt, nationalsozialistische Plakate in seinem Schaufenster auszuhängen. Man hatte es ihm in der Nacht darauf zerschlagen. Die polizeilichen Ermittlungen blieben ergebnislos, die Machtverhältnisse in der Stadt wurden damit schon vor den Kommunalwahlen deutlich. Nach diesem Ereignis bangte er um das Wohl seiger Familie und stellte mit Bedauern den Verkauf an seine besten Kunden, einige Juden, ein.

In den anschließenden „bleibenden Fragen" werden die Schüler aufgefordert, darüber zu urteilen, ob Herr Barten richtig gehandelt hat. Indem sie ihre Meinung zu dieser Frage rechtfertigen, sollen die Schüler gleichzeitig zu drei verschiedenen Analogien Stellung nehmen.

In der ersten geht es um ein überfülltes Lebensrettungsboot. Der erste Matrose fordert die beiden schwersten Männer auf, über Bord zu springen, um das Leben von 17 anderen Passagieren zu retten, 12 davon Frauen und Kinder. Frage an die Schüler: Sollen die beiden Männer springen?

In der zweiten Analogie beobachtet ein Junge, wie Klassenkameraden ein in Geschäft einbrechen. Die Gruppe entdeckt, daß er der einzige Zeuge ist und droht ihm derbe Prügel an, falls er der Polizei etwas erzählt. Am nächsten Tag wird er von der Polizei verhört. Soll er die Wahrheit sagen?

Die dritte Analogie schildert, daß jüngere Schüler von älteren Schülern einer anderen Nationalität provoziert und geschlagen werden und daß dies von einem neuen Klassenkameraden der älteren Schüler miterlebt wird. Der Neue fühlt, daß dies falsch ist, glaubt jedoch, die Freundschaft seiner Kameraden zu verlieren, wenn er eingreift. Sollte er trotzdem versuchen, den Kampf zu stoppen?

Im Anschluß an diese Analogien steht die Frage: In welcher Weise unterscheiden sich bzw. ähneln diese Analogien dem Fall Barten. Die Schüler werden aufgefordert, eine generelle Position zu entwickeln, die ihnen hilft zu entscheiden, wann man von jemandem erwarten kann, ein Opfer zu bringen, um anderen zu helfen oder um soziale Ungerechtigkeiten zu korrigieren.

Zu 7.:

Das zentrale Verteidigungsargument von R. Höß ist die Berufung auf den Befehl, den er erhalten hat. In den „Persisting Questions" werden die Kinder über das Prinzip der Befehlsverweigerung zur Vermeidung „ernsthaften moralischen Unrechts" informiert, das im Nürnberger Prozeß aufgestellt worden ist. Sie sollen mit diesem Wissen anhand von zwei Analogien entscheiden, ob es richtig war, Höß trotz der Berufung auf den ihm erteilten Befehl zum Tode zu verurteilen.

Die Analogien handeln von zwei in Fliegern Vietnam, „Vorwärts-Verteidigern", die aus der Luft Vietcong-Aktivitäten kontrollieren, melden und in Übereinstimmung mit dem Befehlshaber des Bereiches den Angriffsbefehl erteilen. Der eine Pilot war vom Dienst suspendiert worden, weil er sich nach einer solchen Aktion, bei der unschuldige Zivilisten getötet worden waren, als schuldig bezeichnet hatte. Da die „Vergeltungsaktion" von Zerstörern von tobender See aus unternommen worden war, hatte man die Ziele nicht so genau treffen können. Der zweite Flieger hatte den Befehl erhalten, die Artillerie gegen ein Dorf zu richten, weil dort drei Vietcong ausgemacht worden waren. Da er außer Zivilisten niemanden entdecken konnte, meldete er dies dem leitenden Kommandanten, erhielt jedoch den erneuten Befehl. Er befolgte ihn, ließ die Artillerie jedoch daneben schießen, so daß niemand getötet Hierzu werden in dem Heft nochmals Fragen an die Schüler gestellt: Meinst Du, daß der erste Pilot bestraft werden sollte, weil er seiner Pflicht ausgewichen ist (er hatte sich als schuldig bezeichnet!), oder der zweite, weil er den Angriff vorsätzlich fehlgeleitet hat?

In welcher Weise ist der jeweilige Angelpunkt in ihren Situationen ähnlich und auch verschieden von dem Sachverhalt im Fall Rudolf Höß?

Um die Vergleichsmöglichkeiten mit dem I. P.

zu verbessern und um die Basis für die Kritik am H. P. noch zu vergrößern, sei hier ein zweites Heft kurz vorgestellt: „Ansichten von Negern über Amerika: Erbschaft der Unterdrückung". Die wichtigsten Fragen für diese Einheit lauten: „Sind Neger vom Wesen her anders als Weiße? Sollte man von den Negern der städtischen Ghettos erwarten, daß sie sich an ihrem eigenen Schopf aus dem Elend ziehen? Fühlen sich Neger als minderwertige Rasse? Wer sollte die Verantwortung für die Lösung von Problemen der Rassenbeziehungen tragen? Welches ist die effektivere Antwort auf die Probleme der Neger: Integration der Rassen oder „Black Power"?"

Die Abfolge der dargestellten Themen sieht so aus:

1. Ein berühmter Neger erzählt, was es bedeutet, Sklave zu sein.

2. In den dreißiger Jahren erinnert sich ein früherer Sklave an seine Sklavenzeit.

3. In den zwanziger Jahren wehrt sich ein junger Neger gegen Unterdrückung.

4. Eine Negerfamilie steht vor Problem, dem ein Haus in einer weißen Nachbarschaft zu kaufen.

5. Ein junger Schwarzer, Boß einer Gang, beschreibt einen Streifzug durch die Straßen von Harlem.

6. Ein junger Neger erzählt einem Senator, wie er den Sprung aus dem Ghetto in Watts nach Harvard schaffte.

7. Statistiken beschreiben die vergleichbare Position von anderen Nichtweißen in den USA. 8. Drei Theorien, die rassische Unterschiede zu erklären versuchen. 9. Ein schwarzer Millionär schlägt Negern vor, etwas zu entwickeln, was die Leute gern kaufen würden.

10. Radikale Ansichten zeitgenössischer schwarzer Führer.

Ein Beispiel sei gebracht, über welche Fragen die Kinder diskutieren sollen:

„Ein 35jähriger Schwarzer hat sechs Kinder. Er heiratete mit 20 Jahren, mit 16 hatte er die Schule vorzeitig verlassen, weil sie zu langweiligwar, und seitdem als ungelernter Arbeiter in vielen verschiedenen Berufen gearbeitet. Er hat zusammen mit seiner Frau und den Kindern vier Räume, denn er verdient nicht genug, um sich ein besseres Leben zu ermöglichen. Die Kinder haben nie genügend warmes Zeug oder genug zu essen.

Ist es richtig, daß die Kinder nicht ausreichend zu essen und anzuziehen haben, nur weil der Vater nicht ehrgeizig (!) genug ist? Was sollte die Gesellschaft oder die Regierung in so einem Fall tun, falls Du der Meinung bist, daß sie etwas tun sollte. Hier sind einige Möglichkeiten: Der Vater sollte (mit Gefängnis oder anderen Mitteln) bestraft werden; solche Leute sollten in Ruhe gelassen werden; man sollte ihnen geben, was sie brauchen, z. B. Lebensmittel, Zeug, Schutz und medizinische Betreuung; man sollte ihren Ehrgeiz erhöhen, indem man von ihnen verlangt, Kurse zu belegen, um ihr Streben, voranzukommen, zu verbessern. Diskutiere, welche Methode Du bevorzugst.“ Bei einer ersten Konfrontation mit den Themen und Fragestellungen der Hefte mag man erstaunt sein, wie weitreichend sie sind. Tabus werden aufgegriffen, lang gehegte amerikanische Ideale in Frage gestellt. Bei einer genaueren Überprüfung erweist sich jedoch, daß die Fragestellungen im Hinblick auf eine Diskussion gesellschaftlich relevanter Probleme größtenteils verfehlt sind. Wie die Fragen in den Lehrerrichtlinien für Nazi-Deutschland und die besonders dazugehörigen Beispiele — das Verhalten des Herrn Barten und der US-Flieger in Vietnam, aber auch die Fragen zur Notlage der Neger — zeigen, werden Konflikte personalisiert. Das Elend der Negerfamilie liegt am mangelnden Ehrgeiz des Vaters. Nach gesellschaftlichen Ursachen wird nicht gefragt. Daß z. B. die „drop-out-rate" (vorzeitiges Verlassen der Schule) bei den Negern besonders hoch liegt, erfährt der Leser nicht, geschweige denn warum. Als Einzelperson ist Herr Barten machtlos dem Druck einer ihm gegenüberstehenden organisierten, brutalen Partei ausgesetzt. Auch bei den beiden US-Soldaten geht es in dem jeweilig offensichtlich einmaligen Fall darum, daß sie persönlich zu entscheiden haben, wie sie handeln müssen. Ihre Fälle werden ganz am Schluß des Heftes behandelt. Wie jedoch aus den leitenden Fragestellungen an den Lehrer zu schließen ist, sollen am Beispiel Nazi-Deutschlands, ohne daß die Schüler es gleich wissen, Probleme, die durch den Vietnamkrieg aktuell sind, diskutiert werden. Wie die Darstellungen des Heftes insgesamt, machen auch die Geschichten der beiden Amerikaner in Vietnam deutlich, daß der Krieg als solcher nicht in Frage gestellt wird. Da er existent ist, ist er vorgegebenes Geschehen. Derlei „Konflikte“ gehören eben offensichtlich „natürlicherweise" zur pluralistischen Gesellschaft dazu. Die Frage kann daher nur sein, ob der Krieg im Einzelfall vielleicht zu grausam geführt wird, ob man nicht doch besser die Anwendung von Napalm vermeiden sollte, etc. Warum es zu diesem Krieg gekommen ist, kann nicht analysiert werden, weil die Auseinandersetzung mit ihm nicht im Mittelpunkt steht, sondern nur immanent am Beispiel Nazi-Deutschlands geführt wird. Aber auch für die Behandlung Nazi-Deutschlands fehlen die Analysen. Warum konnte es zur Errichtung der Diktatur kommen? Wer hat Hitler finanziell unterstützt? Das wiederum sind Fragen, die den Autoren unwichtig erscheinen mögen, weil es nicht in erster Linie um das Dritte Reich geht, sondern um den Krieg in Vietnam. An diesen Ausführungen wird deutlich, daß die Autoren den „historical crisis approach’ nur benutzen konnten, weil ihre Beispiele völlig losgelöst vom sozioökonomischen Hintergrund abgehandelt werden und weil sie rein auf einer persönlichen moralisch-ethischen Ebene verbleiben. Was das damit zusammenhängende Problem des Transfers, die Übertragbarkeit des Gelernten, betrifft, so sollen die Analogien zum Fall Barten beleuchtet werden. Besonders die erste Analogie vom Rettungsboot ist überhaupt nicht geeignet, gesellschaftliche Probleme in ihrer tatsächlichen Dimension ins Blickfeld zu bekommen, da es in ihr um ein nur durch das Opfer des eigenen Lebens zu beeinflussendes Schicksal geht, das politisch gar nicht gestaltet werden kann. Die beiden anderen Analogien wollen den Schluß nahelegen, daß es in der Politik um Werte wie Wahrheit und menschliche Anständigkeit geht und nicht um die Durchsetzung von Interessen. Am Beispiel des Rettungsbootes soll noch ein anderer schwerwiegender Kritikpunkt klargemacht werden. Es war bereits hingewiesen worden auf die Gefahr, daß eine vordergründige Behandlung von Konflikten, wie sie im H. P. vorliegt, dazu beitragen kann, daß Ungerechtigkeiten hingenommen und dadurch noch gefestigt werden. Diese Befürchtung wird durch die Hefte verstärkt. Die Geschichten und die dazu gehörigen Fragen berühren größtenteils solche Grenzsituationen, daß Kinder ihnen gegenüber nur Ohnmacht empfinden können. Selbst Erwachsene können nicht entscheiden, ob die beiden angesprochenen Männer ihr Leben zugunsten der 17 anderen Passagiere opfern müssen. Weder diese Frage noch die „Entscheidung", die Herr Barten zu treffen hatte, kann rechtlich gelöst werden, wie das „jurisprudential curriculum" es doch vom Anspruch her verlangt. Da Handlungsalternativen in vielen der Fälle nicht aufgezeigt werden, kann das Ergebnis nur eine große Verunsicherung der Kinder sein oder bestenfalls eine Schicksalsgläubigkeit der Art, „man kann ja doch nichts ändern". Daß es den Autoren nicht um Problemlösung geht, war bereits gesagt worden und wird hieran nochmals bestätigt. Es läßt sich jetzt sogar der Schluß ziehen, daß staatsbürgerliche Aktivitäten geradezu gelähmt werden. Im Fall der Negerfamilie steht sogar zur Debatte, ob überhaupt die Regierung etwas gegen die Not tun sollte bzw. die Gesellschaft. übrigens: Wer sind eigentlich die Gesellschaft oder die Regierung? Davon wird den Kindern keine Vorstellung vermittelt. Daß die aufgezeigten „Methoden" zur „Bekämpfung" des Elends der Familie, geschweige denn des amerikanischen Rassenproblems ohnehin inadäquat sind, braucht wohl nicht besonders betont zu werden. Die didaktische Konzeption hat über das Transferproblem hinaus noch einen gravierenden Mangel. Affektives Ziel der Autoren war, Einstellungen moralischer und ethischer Art beim Schüler zu erreichen. Doch zu welchem Zweck und in welche Richtung? Von manchem Lehrer vielleicht als Prositivum betrachtet, liegt hier m. E. eine eminente Schwäche des H. P. Ziel und Zweck der jeweiligen Diskussion werden ganz dem Lehrer überlassen. Es kann den Dialog in eine progressive Richtung lenken, die von den Autoren wahrscheinlich intendiert ist. Aber dazu müßte er dringend entsprechendes zusätzliches beibringen, wenn Schüler Material die sich selbst eine Meinung bilden sollen. Denn in der Regel werden Schüler zwischen 13 und 16 nicht über die notwendigen Informationen verfügen, um beispielsweise der Aufforderung nachkommen zu können, die USA und die Weimarer Republik hinsichtlich ihrer militärischen Stärke bzw.des Grades der persönlichen Höflichkeit und des ethischen Verhaltens (welche Kriterien!) zu vergleichen. Eine Frage, die sich darüber hinaus hieran knüpft, ist, ob derlei Aufforderungen nicht ohnehin viel zu pauschal und schwierig sind. Aufgaben von zu großen Schwierigkeitsgraden sind entmutigend. Bleibt die Frage, wohin die Beantwortung führen soll. Einerseits sollen Weimar und die USA verglichen werden, andererseits werden Nazi-Deutschland und die USA auf eine Ebene gestellt. Mehrdeutigkeiten, die aufgrund mangelnder Information und fehlender Materialien möglich sind, gestatten auch einem konservativen Lehrer, mit den Heften zu arbeiten und die Diskussion in die von ihm gewünschte Richtung zu lenken, denn selbst die eigene Position, die der Schüler beziehen soll, wird in jeder Hinsicht offen gelassen.

Das Indiana Projekt Anders als im H. P., deren Autoren ein rein affirmatives Pluralismusverständnis haben, sprechen die Autoren des I. P. von den Vereinigten Staaten als einer pluralistischen Gesellschaft, die das Recht zu Nonkonformität und Abweichung, solange diese vertretbar sind (reasonable), einbegreift (P: 3). Da das Individuum in der amerikanischen Gesellschaft von verschiedenen Faktoren sozialisiert wird, ist es offen, auch miteinander in Konflikt liegende Werte zu lernen. Mehrheitsprinzip und Minderheitenrechte spielen daher eine entscheidende Rolle im Pluralismusverständnis der Autoren (M: 37). Ein wichtiges Kennzeichen der amerikanischen Demokratie ist nach Meinung der Autoren gleichzeitig immer politische Stabilität gewesen. Sie beruht vor allem auf der generell positiven öffentlichen Einstellung zu Regierung, politischer Autorität, Gesetz und dem amerikanischen politischen System allgemein. Dazu gehören nach ihrem Verständnis der Wille zur praktischen Teilnahme und die Überzeugung, daß diese politisch effektiv ist (P: 6 f.). Die politische Sozialisationsforschung hat herausgefunden, daß College graduates (Studenten mit dem Abschluß B. A.) noch geneigter als High-School-Absolventen (etwa Abiturienten) sind, die Forderungen der Bill of Rights ganz zu akzeptieren (P: 33).

Die Autoren, die sich als liberale Demokraten verstehen, sehen in den Idealen, wie sie in der Bill of Rights verkörpert sind, den Ursprung für die kontinuierliche Kraft und Vita-lität der amerikanischen Gesellschaft (P: 66). Als besonders positiv nennen sie individuelle Rechte, Freiheit und Chancengleichheit. Sie sehen es als ein Stück Verwirklichung von Chancengleichheit und als Verpflichtung an, auch den ärmeren Schülern, die vielleicht nicht einmal zwölf Jahre zur Schule gehen, Gelegenheit zu geben, an den Erkenntnissen der neueren politikwissenschaftlichen Forschung ihnen dabei teilzunehmen (M: 22). Es geht darum, allgemein die politische Sozialisation amerikanischer High-School-Studenten durch formale politische Erziehung zu verbessern (P: 18). Sie verweisen in diesem Zusammenhang beispiels Es geht darum, allgemein die politische Sozialisation amerikanischer High-School-Studenten durch formale politische Erziehung zu verbessern (P: 18). Sie verweisen in diesem Zusammenhang beispielsweise darauf, daß zwar rd. 95 % der amerikanischen Bevölkerung die generellen Prinzipien der Bill of Rights befürworten, in konkreten Fällen jedoch oft mehr als die Hälfte der Interviewten die Umsetzung dieser Prinzipien, z. B. die Anwendung von Bürgerrechten auf Kommunisten, strikt ablehnt 21) (R: 26). Die Autoren wollen zur Politisierung der Massen beitragen. Es ist allerdings auch eine ihrer Sorgen (vgl. H. P.), wie sie dies tun können, ohne durch die Vermittlung kritischer Untersudmngsmethoden (critical inquiry) -die Loya lität zum amerikanischen politischen System zu unterminieren und so etwa zu politischem Aufruhr beizutragen (P: 65). Andererseits geht es ihnen aber gerade nicht um das Auswendig-lernen von Verantwortlichkeit und Pflichten des amerikanischen Bürgers, sondern darum, dem Schüler anhand von vielen Beispielen aus dem Schulleben selbst 22) und aus der Gesellschaft die Möglichkeiten, sich seine Rechte — demokratisch — zu erkämpfen, aufzuzeigen, also ihm ein Gefühl für seine eigene mögliche politische Macht zu vermitteln, falls er bereit ist, sich zu engagieren und unter Wahrung der demokratischen Spielregeln zusammen mit einer gleichgesinnten Gruppe politisch aktiv zu werden.

der Autoren von Das Verständnis politischer Sozialisation umfaßt also einerseits die Sicherung der Stabilität des gegebenen demokratischen pluralistischen Systems, andererseits gleichwohl die Veränderung der politischen Wirklichkeit zugunsten von mehr Chancen-gleichheit, mehr Gerechtigkeit, mehr individueller Freiheit auch für heute in dem System Unterprivilegierte. Dies soll weiter unten an Beispielen verdeutlicht werden.

Schon das Demokratieverständnis scheint mir damit weiter zu sein als das der Harvard-Autoren. Auch wenn die Indiana-Autoren die Notwendigkeit politischer Stabilität betonen und den gesellschaftlichen Grundkonsens und die demokratischen Spielregeln nicht in Frage stellen, scheinen sie doch einzelne Werte, wie Nonkonformität und Chancengleichheit, mehr in den Vordergrund zu stellen und auch die Notwendigkeit für aktive Veränderungen in dieser Richtung stärker zu sehen, während das Hauptziel des H. P. in erster Linie auf Anre -gung zur Reflexion hinausläuft.

Die Autoren haben daher auch nicht nur einzelne „units" (thematische Lehreinheiten) entwickelt, die man, wie im Fall des H. P., überall in der High School in die althergebrachten Kurse einbringen kann, sondern sie haben einen ganzen zweisemestrigen Kurs entworfen, der fünf aufeinander aufbauende „units* enthält. Der gesamte Kurs soll die bisherige Form, „civics" (Staatsbürgerkunde) zu unterrichten, ersetzen, jedoch unter Beibehaltung der traditionellen „objectives“ (der spezifischen Zielvorstellungen für den Social-Studies-Unterricht), d. h., Ziel des Unterrichts ist nach wie vor die Erziehung eines demokratischen Staatsbürgers. Der neue Kurs unterscheidet sich jedoch in Inhalt und Perspektive, im pädagogischen Zugang und in dem, was von Lehrern und Schülern verlangt wird (M: 23). Geändert hat sich vor allem der „approach". Definiert man den formal als „social Science approach* gekennzeichneten wissenschaftlichen Zugang inhaltlich, so läßt er sich als „behavioral approach to the study of politics* klassifizieren, als ein Studium von Politik und Regierung unter dem Gesichtspunkt der politischen Verhaltensweisen von Individuen in der amerikanischen Demokratie.

Aus dem Demokratieverständnis der Autoren ergeben sich die affektiven Ziele, die das Indiana Projekt verfolgt (M: 37 ff.): 1. Steigerung des politischen Interesses und des Gefühls, politisch effektiv zu sein. 2. Verminderung des politischen Zynismus.

3. Vermehrte Anerkennung der Legitimität von speziellen Mehrheitsentscheidungen.

4. Konform zu dem unter 3. gesagten mehr politische Toleranz, vor allem gegenüber Minderheiten. 5. Mehr Bereitschaft, Pluralismus im politischen Bereich anzuerkennen.

6. Abbau von Ethnozentrismus.

7. Eine wissenschaftlichere Haltung, wenn es um die Erklärung politischer Phänomene geht. Der Großteil dieser Ziele richtet sich auf Einstellungen der Schüler, die allerdings sehr viel spezifizierter als beim H. P. angegeben werden, m. E.dem angeführten „weiteren“ Demokratieverständnis dieser Autoren entsprechend. Vor allem der erste Punkt weist über bloße Einstellungen hinaus darauf, daß das Curriculum auch zu staatsbürgerlicher Aktivität erziehen will und nicht nur zu Reflexion. Aus dem Interesse an individuellen Verhaltensweisen ergibt sich der Kenntniskatalog (M: 32 ff.), den die Autoren dem Schüler vermitteln wollen. Die Studenten sollen lernen, daß der Inhaber eines Amtes eine Rolle ausübt, wie er sie ausübt, da er als Inhaber von Rollen gewissen Zwängen unterliegt, und warum er sie ausübt. Warum beteiligt sich ein Teil der Amerikaner an jeder Wahl, ein anderer höchst selten? Wie gelingt es einigen Bürgern, Druck auszuüben, um strittige Fragen in ihrem Interesse zu entscheiden? Es geht den Autoren vor allem um ein vernunftbestimmtes, funktionales Verständnis von Staatsbürgerschaft. Der Schüler soll anhand einiger zentraler Konzepte der politischen Wissenschaft ein Grundverständnis erwerben, das ihm hilft, größere politische Erfahrungen zu sammeln, um Erfolg oder Mißerfolg politischer Verhaltensweisen abschätzen zu können. Da die amerikanischen Erziehungswissenschaften es bisher ablehnten, Kinder mit der harten Wirklichkeit zu befassen, begründen die Autoren ihre dem entgegenstehende Entscheidung wie folgt:

In den USA ist es der Deweyschen Tradition zufolge üblich, auch nach den „Bedürfnissen und Interessen der Kinder" zu fragen, wenn man ein Curriculum plant und erstellt. Die Autoren des Indiana Projektes sind der Meinung, daß auch ein Kind in einer demokratischen Gesellschaft wissen muß, wie das politische System funktioniert. Sie gehen von der

Beobachtung aus, daß Kinder in ihren eigenen Spielen Macht ausüben und Konflikte lösen, und folgern, daß es keinen Grund gibt zu der Annahme, daß Kinder nicht interessiert seien zu erfahren, wie Politik, Konflikte und Machtausübung miteinander verknüpft sind (M: 28).

Außerdem gehen sie aus von der schon mehrfach erwähnten Erkenntnis der Sozialisationsforschung, daß Jugendliche etwa zwischen 12 und 14 Jahren anfangen, einen politischen Entidealisierungsprozeß durchzumachen und Politiker und ihre sonstige Umwelt kritisch zu betrachten (P: 10 f.).

Zur Analyse gesellschaftlicher Konflikte sollen dem Studenten durch den Unterricht außerdem eine Reihe von kognitiven Fähigkeiten vermittelt werden, die den Prozeß der Erkenntnis, der wissenschaftlichen Untersuchung (inquiry) betreffen (M: 35 f.), nämlich die Fähigkeit:

1. die Fragen zu stellen, die wichtige brauchbare Daten ergeben;

2. induktive Schlußfolgerungen aus diesen Daten zu ziehen;

3. Generalisierungen zu finden, die plausibel sind;

4. Hypothesen zu bilden und diese zu testen; 5. begriffliche Modelle für Untersuchungen auszuwerten;

6.selbst Unterscheidungen treffen zu können zwischen beschreibenden, erklärenden und vorschreibenden Aussagen;

7. normative Aussagen Und Wertentscheidungen zu erkennen und zu beurteilen und von Aussagen über Tatsachen zu unterscheiden.

Im Gegensatz zu Harvard sind die im I. P. angegebenen Zielvorstellungen, bis auf das abstrakte, nicht weiter definierte Ziel des demokratischen Staatsbürgers, rein formal. Zur Beurteilung ist man daher auf das Studium der Materialien angewiesen. Festzustellen ist hier, daß die Punkte 2 bis 5 über die Ziele des H. P. weit hinausgehen. Sie könnten Grundlage sein für das Einüben forschenden Lernens, das das I. P. anstrebt. Es ist das Ziel, den Schülern die Grundlagen für logisches Denken und für empirische Untersuchungen beizubringen, indem sie die dafür notwendigen Schritte immer wieder an neuen Fragen selbst üben, um sich so Problemkreise teilweise eigenständig zu erarbeiten (M: 55 f.).

Die Frage, die sich im Anschluß an die kognitiven Ziele stellt, ist, ob Fünfzehnjährige nicht überfordert sind, wenn sie wissenschaftliche Grundbegriffe und Methoden lernen sollen. Die Antwort des Psychologen Bruner — bisher offensichtlich durch keine gegenteilige Forschung widerlegt — lautet, daß man „jedem Kind auf jeder Stufe einer Entwicklung jedes Thema (subject) sinnvoll in einer intellektuell redlichen Form vermitteln kann" (F: 88). Kriterium für die Auswahl des Stoffes soll sein, ob er wichtig und wertvoll für den erwachsenen Menschen ist. In diesem Sinne werden die großen Streitfragen (issues), Prinzipien und Werte als wichtig erachtet, denen die beständige Aufmerksamkeit der Mitglieder der Gesellschaft zuteil wird (F: 91).

Bruner ist der Überzeugung, daß die Vermittlung solcher „issues" am besten mit Hilfe eines Strukturansatzes bewältigt werden kann, da dieser lernpsychologisch viele Vorzüge hat. Aufgabe des Curriculums ist es, die zugrunde liegenden Prinzipien und Theorien eines Themas zu erfassen, die 1.den Sachzusammenhang eines Problems verständlicher und interessanter machen, die 2. die Erinnerung an bestimmte Phänomene erleichtern, die 3.der beste Weg zu angemessenem Transfer des Gelernten, also zur Anwendung auch auf andere Problemstellungen sind und die 4. es am ehesten ermöglichen, die Kluft zwischen grundlegenden und fortgeschrittenen Kenntnissen zu verkleinern (F: 85 f.).

In Anlehnung an Bruners Vorstellungen über Struktur haben die Autoren des I. P. nicht die Probleme selbst, sondern eine Disziplin, die politische Wissenschaft, in das Zentrum ihres Kurses gestellt. Sie definieren Struktur als einen „Weg", das vorhandene Wissen eines Gebietes zu organisieren, um es (das Wissen) weiter voranzutreiben. Da die Struktur ihrer Auffassung nach nicht als „Ding" verstanden werden kann, ist es auch nicht möglich, „die Struktur der politischen Wissenschaft" zu identifizieren; trotzdem kann man politische Wissenschaft strukturieren, da Struktur als gegenwärtig geläufige Theorie, die einige Wissenschaftler vertreten, verstanden wird, um das, was derzeit über ihr Wissenschaftsgebiet bekannt ist, zu ordnen (M: 44 f.).

Die Autoren tun das, indem sie den Kindern eine Anzahl von „concepts" vermitteln, die dazu dienen sollen, Daten zu klassifizieren und einzuordnen und wissenschaftliche Untersuchungen zu leiten. „Konzepte" sind Kategorien, wie z. B.der Begriff „Revolution". Während die amerikanische oder französische Revolution Ereignisse sind, ist der Begriff „Revolution" für den Wissenschaftler ein brauchbares „Konzept" (M: 46— 49). Da der Behaviorist an den Einflüssen auf individuelle Überzeugungen und daraus folgenden Aktivitäten und an den Gründen dafür interessiert ist, muß er nach allen relevanten Variablen, die individuelles Verhalten beeinflussen, suchen. Vier solche Variablen werden genannt: die kulturelle, die soziale, die psychologische und die sozialisierende (R: 22).

Didaktisch sind die Unterrichtseinheiten des I. P. jeweils in einer vierstufigen Sequenz aufgebaut. Der 1. Unterrichtstyp dient der Konfrontation zur Erzeugung von Aufmerksamkeit und Motivation und zur Erstellung einer Hypothese. Der 2. Unterrichtstyp bringt das Regelbeispiel. Dieser Teil dient der systematischen Entwicklung des Themas und der Über-prüfung der Hypothese. Im 3. Unterrichtstyp geht es um die Anwendung und die Erprobung des Gelernten an neuen Tatbeständen. Der 4. Unterrichtstyp ist der Wertung vorbehalten. Die Schüler werden aufgefordert, selbst Werturteile abzugeben und dementsprechend Entscheidungen zu fällen.

Einem jeden Unterrichtstyp sind nicht nur die unterschiedlichsten methodischen Zugänge zugeordnet, sondern darüber hinaus differierende Lektionstypen. Diesen sind wiederum verschiedene Lehrerrollen zugedacht, so daß der Lehrer sehr voneinander abweichende Verhaltensweisen wahrzunehmen hat, was einer teilweisen Demokratisierung seiner Funktionen gleichkommt.

Dem Unterrichtstyp Konfrontation sind 5 verschiedene Lektionstypen zugeteilt: 1. Fallstudien mit offenem Ausgang, 2. Test von Schüler-haltungen und -meinungen in der eigenen Klasse, 3. Schülerreaktion auf das Zeigen von sozialen und politischen Symbolen, 4. provozierendes Fragen ohne vorherige Informationsvermittlung, 5. Simulationsspiel mit verteilten Rollen.

Die dem Lehrer für diesen Unterrichtstyp zugedachten Rollen sind folgende: a) Leitung der Diskussion ohne abschließende Meinungsbildung, b) keine Richtigstellung der Schülerantworten durch den Lehrer, c) Provozierung der Schüler durch Stichworte zur Stimulierung der Diskussion. Die Lektionstypen der Regelbeispiele sind:

1. die darlegende Beschreibung, 2. die Ableitung von Generalisierungen von statistischen und/oder dokumentarischen Informationen und 3. Übungen zur Klassifikation. Die hier vorgesehenen Lehrerrollen sind: a) gezielte Steuerung der Diskussion zur Erreichung des spezifischen Unterrichtsziels, b) Hilfestellung, um dem Schüler eine Beurteilung seiner eigenen Antwort zu ermöglichen, c) abschließende Annahme oder Verwerfung der Schülerantworten. Dem 3. Unterrichtstyp, der Anwendung, sind wieder fünf Lektionstypen zugeordnet: 1. Übungen zur Klassifikation, 2. Interpretation von Fallstudien, 3. Simulationsspiele, 4, analytische Fragen, 5. Prüfungen und Tests.

Dafür vorgesehene Lehrerrollen sind: a) Leitung der Diskussion, die in einer Beurteilung der Schülerantworten durch Lehrer und Schüler gemeinsam endet, b) Hilfestellung, um dem Schüler die Einschätzung des Gelernten zu ermöglichen, c) Hilfestellung, um dem Schüler die Identifizierung und die Überwindung von Schwächen im Verständnis des Gelernten zu ermöglichen.

Auch im letzten Unterrichtstyp, der " Wertung, gibt es fünf verschiedene Lektionstypen: 1. Debatten, 2. Interpretationen von Fallstudien, 3. Reaktionen auf dokumentarische und statistische Informationen, 4. Simulationsspiele, 5. die Annahme von Rollen von politischen Entscheidungsträgern.

So wie im ersten Unterrichtstyp, der der Motivierung diente, ist auch in diesem Typ, der zur eigenen Urteilsbildung der Schüler dient, dem Lehrer größte Zurückhaltung vorgeschrieben. Er soll hier entweder a) Diskussionen leiten, jedoch ohne abschließendes Werturteil durch ihn, oder er soll b) Diskussionen zwischen den Schülern provozieren und c) kann er zu einer gemeinsamen Beurteilung der Antworten zusammen mit den Schülern ermuntern, jedoch nicht in Termini wie gut oder schlecht, sondern unter Berücksichtigung der Modalitäten und Folgerichtigkeiten.

Diese Lektionstypen unterschiedlichster Art verteilen sich auf fünf Lehreinheiten (units), von denen drei im ersten Semester behandelt werden sollen, zwei in der zweiten Hälfte des Schuljahres. Während für die „Einführung in das Studium des politischen Verhaltens" eine Woche geplant ist, werden für die übrigen vier Lehreinheiten je acht bis neun Wochen täglichen Unterrichts veranschlagt. Jede hat 120 bis 180 Lehrbuchseiten und im Schnitt 50 Seiten Anweisungen im Handbuch für den Lehrer. Das I. P. ist damit nicht nur von der Zielsetzung, sondern auch vom Aufbau, von den Methoden und von den Anforderungen an die Schüler sehr viel differenzierter und interessanter als das H. P., das sich mit jedem der 20 Hefte an ein und dasselbe Schema hält.

Die erste thematische Lehreinheit des I. P. behandelt unter der Überschrift „Soziale Umwelt und politisches Verhalten" besonders ausführlich die Faktoren: I. Soziales Milieu, II. Politische Einstellungen, III. Sozioökonomischer Status und IV. Ethnische Gruppen. Die folgende Lehreinheit hat „Wahlen und Wahlverhalten" zum Thema. Behandelt werden I. die Auswahl politischer Führer, II. das Wahlverhalten der Amerikaner, III. Präferenzen für politische Parteien, IV. politische Konsequenzen des Wahlverhaltens, V. Einstellungen und Werte der Demokraten und Republikaner, VI.der Einfluß des Wahlkampfes auf Wähler-verhalten, VII. eine Fallstudie über die Präsidentenwahl von 1964, VIII. die Auswertung von Vorschlägen — und Gesetze zur Änderung der Wählbarkeit. In den letzten beiden Lehreinheiten werden politische Spezialisten, die offizielle Rollen in den USA innehaben, vorgestellt bzw. Rollen inoffizieller politischer Spezialisten: so die präsidentielle Rolle, die Rolle des Kongreßmitgliedes, des Richters, des Obersten Gerichtshofs und des Bürokraten, weiter Repräsentanten von Interessengruppen und Massenmedien, politische Experten und Vorsitzende politischer Parteien. Das Buch endet mit einem Kapitel „Durchdenken grundsätzlicher Fragen über die Rolle von inoffiziellen politischen Spezialisten".

Da der Katalog der Themen — der auf den ersten Blick sogar relativ konventionell erscheinen mag — die Vielfältigkeit und Lebendigkeit des Lehrbuches und der angebotenen Lernmöglichkeiten kaum erkennen läßt, sei auch hier ein Beispiel aus einer Lehreinheit (der 1. thematischen) gegeben, der besseren Vergleichsmöglichkeit halber mit dem H. P. aus dem Kapitel IV über ethnische Gruppen. Untersucht wird die Beziehung zwischen Subkultur und politischem Verhalten dreier Gruppen, der „Old Order Amish", einer eingewanderten religiösen Sekte, der Afro-Amerikaner und der Mexican-Americans. Abschnitt D behandelt auf 35 Seiten „das politische Verhalten von schwarzen Amerikanern". Der 1. Teil dient der Hypothesenbildung über politische Einstellungen und politisches Verhalten der „Black-oder Afro-Americans". Er enthält drei Dokumententeile: a) aus Martin Luther Kings Deklaration von 1963, „Warum wir nicht länger warten können", b) aus einer Fernsehansprache John F. Kennedys aus demselben Jahr über die fortwährende Unfreiheit durch Segregation, c) die Schilderung eines schwarB zen Arbeiters über das Leben im Ghetto von Boston 1968. Ein 2. Teil fordert auf, aus einer Menge statistischen Materials Aussagen über Negerverhalten und -einstellungen abzuleiten. Weiße und Schwarze sollen — wie schon vorher am sozioökonomischen Status arm und reich eingeübt — hinsichtlich folgender Kategorien verglichen werden: a) politische Entfremdung, b) Gefühl für politische Effektivität, c) die Ebene politischer Aktivität, d) politische Techniken und e) politische Mittel (um Einfluß auszuüben). Der 3. Abschnitt versucht dann, die Ergebnisse des vorigen Teils zu erklären mit Hilfe von Texten, Diagrammen, ökonomischen Statistiken, die die Ungleichheit und Benachteiligung der Schwarzen dokumentieren, mit Schaubildern u. a. m. (auf 11 Seiten). Z. B. liest man hier: „Die Tatsache von mehr als 200 Jahren Sklaverei in Amerika hat für alle Individuen unserer Gesellschaft bleibende Merkmale hinterlassen. Die Sklaverei beraubte schwarze Amerikaner ihrer Freiheit, ihres Rechtes zu wählen, wie sie leben möchten, und des Rechtes, zu ihrem eigenen Nutzen und dem ihrer Kinder zu arbeiten. Zusätzlich dazu hat die Sklaverei die Art und Weise, wie Weiße über Schwarze denken, aufs Tiefste beeinträchtigt, und auch die Art und Weise, wie Schwarze von sich selbst denken“ (Übersetzung d. Verf.). Nach diesem Teil haben die Kinder Fragen zu beantworten; durch die richtigen Antworten werden typische amerikanische Vorurteile über Neger als falsch abqualifiziert.

Es folgen dann im 4. Teil zwei detaillierte Fallstudien (7 und 9 Seiten lang): 1.des gewaltlosen, aber erfolgreichen Montgomery-Busboykotts von 1955/56, durch den Martin Luther King zum Führer der Civil-Rights-Bewegung wurde, und 2. in Gegenüberstellung einer Studie der zerstörerischen Washingtoner Riots von 1968 und ihrer Ursachen. Nach Darstellung des Lehrbuchs hatten die Riots neben immensen Verwüstungen, Tote, Verhaftete und schärfere Spannungen und Konflikte zur Folge. Die Wertungen zu diesem Kapitel sollen von den Kindern erst am Schluß des nächsten Kapitels (E) vorgenommen werden, das sich mit den Mexican-Americans befaßt

Hervorgehoben werden soll hier die Schilderung des Busboykotts, der sich insgesamt bis zur letzten höchstrichterlichen Entscheidung ein halbes Jahr hinzog. Die Darstellung zeigt in allen einzelnen Schritten, warum diese Bürgerrechtsaktionen, die mit vielen Verhaftungen begannen, weil sie sich gegen die Segregationsgesetze des Staates Alabama richteten, schließlich erfolgreich waren. Zusammen mit späteren Beschreibungen erfolgreicher, aber auch erfolgloser Demonstrationen und Bürgerrechtsaktivitäten soll dem Schüler hierdurch konkret vor Augen geführt werden, welche Aktionsmöglichkeiten demokratische Staatsbürger, auch wenn sie Minoritäten angehören, haben, um Staat und Politik in ihrem Sinne zu beeinflussen. Handlungsalternativen werden immer wieder aufgezeigt. Andererseits wird die Sinnlosigkeit und Gefährlichkeit von Riots deutlich gemacht, jedoch nicht ohne zu erklären, durch welche Versäumnisse von Politik und Gesellschaft es zu solchen verzweifelten Ausbrüchen kommt. Als ein wesentliches Element, das schließlich mit zu Riots führt, wird die politische Entfremdung und Ohnmacht der gesellschaftlichen „Outsider" begriffen.

Ein Ziel oder besser eine Hoffnung der Autoren von „American Political Behavior“ ist es, auch politisch Ohnmächtige und potentiell Entfremdete schon als Kinder im Social-Studies-Unterricht zu erreichen, ihnen durch den wissenschaftlich aufgebauten Unterricht Mittel der Analyse ihrer eigenen Situation und demokratische Wege zur Verbesserung ihrer Lage aufzuzeigen (M: 73). Es soll daher noch kurz beleuchtet werden, wieweit gesellschaftliche und politische Machtverhältnisse und der Zusammenhang zwischen Staat und Wirtschaft deutlich werden. Im Kapitel III „Sozioökonomischer Status" wird in derselben Lehreinheit der Zusammenhang zwischen hohem Einkommen, großen materiellen Besitztümern und Ressourcen einerseits und hohem Sozialprestige, Zugehörigkeit zur Oberschicht und dem daraus resultierenden spezifischen politischen Verhalten andererseits hergestellt. An eklatanten Fällen werden Mechanismen politischer Einflußnahme durchsichtig gemacht. Der Erfolg einer Vereinigung von Hausbesitzern, ein neues Gesetz zu verändern, das sie zur Instandhaltung von Slumwohnungen zwingen soll, wird dargestellt und im Kontrast dazu der Mißerfolg der betroffenen Slumbewohner bei einem Mietstreik, mit dem sie sich gegen Ungerechtigkeiten und Ausbeutung durch die Hausbesitzer zu wehren suchen.

In einem der vorhergehenden Kapitel ist den Kindern bewußt gemacht worden, daß die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Klasse (bzw. zu einer Nation) keineswegs angeboren und unveränderlich ist, sondern im wesentlichen durch den Status der Eltern und die durch sie und die Schulbildung beeinflußte Sozialisation bedingt ist. Auch wird vermittelt, daß Regierungsform, Gesetze und Spielregeln von Land zu Land differieren, weil sie von Menschen gesetzt, also auch veränderbar sind, und daß Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit weit voneinander entfernt sind. Am Beispiel des Präsidenten wird exemplifiziert, daß heute in der Regel vor allem großer Reichtum eine Voraussetzung dafür ist, ein hohes politisches Amt zu übernehmen.

Aus der Lehreinheit über „offizielle Rollen politischer Spezialisten" soll unter den vielen Rollen, die der Präsident wahrnimmt, die des „Obersten Planers der Wirtschaft'(Chief Economic Planner) herausgegriffen werden, um auch für das I. P. die Basis der Kritik zu verbreitern. In der Lektion „Eine Einführung in präsidentielles decision-making“ wird diese Rolle exemplarisch an der spannend geschilderten Auseinandersetzung um die Stahlpreis-erhöhungen von 1962 vorgestellt: Eines der wichtigsten wirtschaftlichen Ziele der Kennedy-Administration war die Verlangsamung der Inflation. Inflation schädigt vor allem Leute mit kleinem fixen oder nur langsam wachsenden Einkommen. Inflation schadet außerdem der Handelsbilanz. Als eine der wichtigsten Ursachen für die Inflation hatten präsidentielle in Berater die „Lohn-Preis-Spirale" der Stahl-industrie identifiziert, die die übrige Wirtschaft regelmäßig in Mitleidenschaft zog. -Ken nedy rief daher zu einer Art „konzertierter Aktion“ auf, indem er einerseits die Stahlarbeitergewerkschaften aufforderte, keine Lohnforderungen über den zu stellen, die Produktivitätszuwachs hinausgingen, und andererseits den Unternehmen nahelegte, die Stahlpreise in dem Fall nicht zu erhöhen, da schon der Produktivitätszuwachs den Profit vergrößere. Die Gewerkschaften hielten sich an -die sen Appell, nicht jedoch die Arbeitgeber. U. S. Steel, wie gewöhnlich Preisführer, erhöhte die Preise. Der Präsident hat keine gesetzliche Macht, Preisentscheidungen zu kontrollieren. „Denn in einer Nation, die auf Werten einer freien Wirtschaft aufbaut, ist es immer als unzulässig erachtet worden, daß die Regierung sich in das ökonomische Leben der Nation einmischt.'Doch in diesem Fall war der Präsident entschlossen, alle ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten einzusetzen, um die Erhöhung rückgängig zu machen und weitere zu verhindern. Allerdings konnte er kaum mehr tun, als die amerikanische Öffentlichkeit durch eine provozierende Rede zu mobilisieren und die übrigen Stahlgesellschaften durch Telefonate zu beeinflussen, die Preise nicht zu erhöhen. Beides war wenig erfolgreich. Bis auf drei erhöhten alle übrigen Stahl-gesellschaften die Preise, so daß Kennedy eine Untersuchung einleiten ließ, um zu prüfen, ob ein Verstoß gegen die Antitrust-Gesetze vorlag. Der Verteidigungsminister MacNamara erhielt überdies den Auftrag, Stahlprodukte für die Armee nur noch bei den drei Finnen, die die Preise nicht erhöht hatten, zu kaufen. Als U. S. Steel jedoch erfuhr, daß drei Firmen ihre Preise endgültig nicht erhöhten, entschlossen sie (und alle anderen) sich notgedrungen, ihre Preise wieder zu senken. Nachforschungen des Präsidenten, warum die drei Firmen ihre Preise nicht geändert hatten, ergaben, daß nicht der politische Drude durch den Präsidenten entscheidend für die Firmen-leitungen gewesen war, sondern hauptsächlich geschäftliche Überlegungen der Art, daß man glaubte, Preiserhöhungen würden die Verkaufs-und damit auch die Gewinnrate verringern. So weit die Darstellung des I. P., die hoffentlich die Vorzüge gegenüber dem H. P. schon deutlich machen konnte. Da das I. P. innerhalb des verhaltenswissenschaftlichen Zugangs immer wieder konkrete Fälle politischen Verhaltens vor dem jeweiligen sozioökonomischen Hintergrund bringt, werden tatsächliche Machtverhältnisse in der amerikanischen Gesellschaft heute, wenn auch nicht grundsätzlich, so aber doch in vielen Einzelfällen immer wieder deutlich. Da das ganze Buch von politischem Verhalten und politischen Aktivitäten handelt, werden laufend alternative Handlungsweisen aufgezeigt und Gründe für Erfolg Mißerfolg bei ver und Erreichung jeweils -schiedener Ziele untersucht. Da die Fälle oft gerade große Ungerechtigkeiten, wie Armut und Diskriminierung, aufgreifen und speziell hier Wege der Veränderung aufzeigen, ist es sehr unwahrscheinlich, daß das Ergebnis des Studiums des I. P. Hinnahme der bestehenden Zustände oder Schicksalsgläubigkeit sein könnte, zumal die Autoren selbst betonen, daß das Ziel des Sozialwissenschaftlers letzten Endes die Veränderung des sozialen Systems ist (M: 72). Da die Schüler nicht nur Denken, Diskutieren und Beurteilen ständig üben, sondern selbst forschen, Hypothesen aufstellen, zur Überprüfung statistische Erhebungen anfertigen, mit unterschiedlichsten Materialien arbeiten, Quellen interpretieren, Schlußfolgerungen ziehen etc., müßte der Transfer des Gelernten auch auf Fragestellungen und Probleme, die in den Lehrmaterialien nicht auftauchen, ohne Schwierigkeiten sein.

Und die wichtigste Voraussetzung für den Erfolg des Projektes ist: Da der didaktische Aufbau des Lehrbuches und der dazugehörigen Materialien hervorragend, der Inhalt hoch aktuell und spannend ist, ist zu hoffen, daß Interesse, Motivation und Beteiligung der Kinder über das übliche Maß hinausgehen, zumal es auch durch multimediale Materialien immer erneut angeregt wird.

Ein letzter Unterschied zum H. P. soll hier vermerkt werden, der jedoch zu voneinander abweichenden Beurteilungen führen mag (besonders unter deutschen Lehrern und Curriculumentwicklern) Da jede Lehreinheit auf der anderen aufbaut und ohne Beherrschung der vorigen nicht zu bewältigen ist, bleibt zwar Raum für Kooperation und auch für Eigentätigkeit, die durch das Lehrbuch immer wieder angeregt wird, aber nur relativ wenig Möglichkeit für individuelles Lernen mit eigener Themenwahl und Zielsetzung. Wie die vorhergehenden Punkte zu zeigen versuchten, kann forschendes Lernen m. E. trotzdem anhand von American Political Behavior gelernt werden. Da amerikanische (wie auch deutsche) Lehrer für den politischen Unterricht z. T. fach-wissenschaftlich wenig ausgebildet sind, bedeuten detaillierte Hinweise auf das zu erreichende Ziel für sie eine nicht zu unterschätzende Hilfe (M: 24). Auch haben Lehrer an allen Stufen der Entwicklung des Projekts intensiv mitgearbeitet. Vor der endgültigen Veröffentlichung Anfang dieses Jahres ist das Buch in etwa 40 über die ganze Nation verteilten ländlichen wie städtischen Schulen drei Jahre lang von speziell dafür ausgebildeten Lehrern und auch von den Autoren selbst in Klassen verschiedener ethnischer, sozialökonomischer und religiöser Gruppen benutzt und aufgrund dieser Erfahrungen zweimal gründlich revidiert worden

Trotz der vergleichsweise positiven Beurteilung des I. P. ist zu sagen, daß American Political Behavior in toto keinesfalls einfach für einen deutschen politikwissenschaftlichen oder politischen Unterricht übersetzt werden könnte. übernommen werden könnten wahrscheinlich Approach und Struktur, das didaktische Gerüst und die Methoden. Aufbau und Aufmachung des Buches bieten zahllose Hinweise zur Orientierung, die so schnell nicht in einem anderen Lehrbuch zu finden sind. Der Inhalt, obwohl ganz an amerikanischen Problemen orientiert, enthält vielfältige Anregungen für Materialien und Themen, die in einem deutschen Lehrbuch verwendet werden könnten. Die Ziele würden — selbst unter Annahme eines ähnlich akzentuierten Demokratieverständnisses — schon teilweise anders gesetzt werden müssen. Die Präsentierung von Fällen jedoch, die inner-halb des übergreifenden Systems behavioristischer Konzepte zu analysieren sind, ist ausgesprochen gelungen und öffnet den Blick für sehr relevante Fragestellungen und Betrachtungsweisen politischer Tatbestände. Insgesamt können diese Lehrmaterialien aus Indiana daher eine sehr gute Grundlage und Anleitung für die Erstellung eines deutschen Curriculums bieten.

Gerade unter dem Gesichtpunkt der Vorlage für deutsche Lehrmaterialien sind aber auch zum L P. eine Reihe von grundsätzlichen kritischen Überlegungen festzuhalten. Die Grenzen des liberalen Demokratieverständnisses der Autoren werden an vielen Stellen immer wieder deutlich. So wird beispielsweise am Konzept der politischen Sozialisation klar aufgezeigt, daß diese von sozioökonomischen Faktoren abhängt. Ein Fall schildert knapp, daß ein Arbeitersohn anders sozialisiert wird als der Sohn des Bürgermeisters. Eine prägnante Zusammenfassung z. B.der Art, daß Sozialisation schichtspezifisch stattfindet, fehlt jedoch. Im Gegenteil: die Schlußfolgerung des Lehrbuches muß eher verschleiernd genannt werden. Sie heißt: „Weil keine zwei Individuen genau die gleichen Erfahrungen haben, werden auch keine zwei Individuen in genau derselben Weise sozialisiert." Diese Kritik läßt sich an den Auseinandersetzungen um die Erhöhung der Stahlpreise und noch an manch anderer Stelle wiederholen. So übt Kennedy in seiner Fernsehansprache zwar vorsichtig Kritik an den Mächtigen der Stahlkonzerne: „. . . eine winzige Handvoll Stahlmanager, deren Streben nach Macht und Profit ihren Verantwortungssinn für die Allgemeinheit übersteigt aber auch hier werden keine grundsätzlichen Erwägungen über das Verhältnis von Politik und Wirtschaft beispielsweise angestellt, geschweige denn über Strukturfehler des Wirtschaftssystems allgemein. Machtstrukturen kommen nicht ins Blickfeld. Unter sechs sozialen Faktoren, die präsidentielles decisionmaking beeinflussen, werden zwar public opinion und social Situation genannt (Beispiel: der Verzicht Johnsons auf erneute Kandidatur u. a. wegen starker Opposition zum Vietnamkrieg), nicht jedoch der Druck mächtiger Militärs oder der Wirtschaft. Dies ist gleichzeitig als Ausdruck für eine tendenzielle Überbewertung des tatsächlichen Einflusses von public opinion und staatsbürgerlicher Aktivität zu sehen. Diese Kritik läßt sich weiter ausdehnen, beispielsweise auf die vielfach aufgezeigten alternativen Handlungsweisen. So sehr sie immer wieder konkret dargestellt werden, so sehr wird gleichzeitig ständig betont, daß dieser Wandel innerhalb der gesetz-37 ten Spielregeln und des vorhandenen Systems möglich ist, daß man nur seine politischen Mittel kennen und nutzen muß.

Hier läßt sich ob diese Art die Frage stellen, moderner von Social Studies nicht einfach ein Versuch von Integrationspolitik ist, eine sehr viel klügere und anscheinend demokratische Form einer neuerlichen Amerikanisierungspolitik, in einer Zeit, in der unterprivilegierte Minderheiten anfangen, sich zu emanzipieren und ein eigenes Identitätsbewußtsein zu entwickeln, in einer Zeit, in der die Gefahr des Auseinanderbrechens der amerikanischen Nation besteht. Zumindest muß die Frage gestellt werden, ob diese Art von Social Studies ein erfolgreicher Weg ist, die amerikanische Gesellschaft wirklich demokratischer zu gestalten, so daß gleiche Rechte nicht nur proklamiert werden, sondern gleiche Chancen einmal tatsächlich bestehen. Marxisten werden behaupten, daß Lehrbücher dieser Art nur ein raffinierter Versuch der herrschenden Klasse sind, die wirklichen Machtverhältnisse zu verschleiern. Indem sie den unteren Klassen politische Effektivität und Macht einredeten, hielten sie sie von radikaler Veränderung ab, um im großen und ganzen letztlich — abgesehen von partiellen Zugeständnissen — alles, vor allem aber die Verteilung der Macht, beim alten zu belassen. Die Autoren dagegen glauben an die Macht des Wissens und der Aufklärung und an die Kräfte der amerikanischen Demokratie, die ihrer Meinung nach in der schrittweisen Veränderung liegen. Nur in der demokratischen Wahrnehmung ihrer politischen Macht, die die unterprivilegierten Gruppen zunächst erkennen müssen, aber mit genügend Wissen auch als Minderheit ausüben können, liegt nach ihrer Ansicht die Chance für die Zukunft der amerikanischen Gesellschaft und ihres Regierungssystems. Denn so sehr die Autoren Kritik an vorhandenen Ungerechtigkeiten in den USA üben, so wenig stellen sie „die grundlegenden Prinzipien der freiheitlichen Ordnung" in Frage

Ob eine grundsätzliche Kritik an Prinzipien und Institutionen der amerikanischenDemokratie und am amerikanischen Wirtschaftssystem in Materialien für den Social-Studies-Unterricht jedoch möglich ist, wenn die Materialien die Chance der Veröffentlichung und Verbreitung in vielen Schulen haben sollen, ist zumindest eine offene Frage, wenn man es nicht ohnehin bezweifelt. 1965 schrieb ein amerikanischer Autor: „The social studies still appear to be very much at the mercy of curriculum evangelism and powerful pressure groups" worauf auch Mehlinger 1967 hinweist. Die Frage, ob die Sozialwissenschaften überhaupt ernst genommen werden können, ob die Gesellschaft bereit ist, im sozialwissenschaftlichen Unterricht dieselbe ruhelose Suche nach Wahrheit zu tolerieren wie im Physik-und Biologie-unterricht, beantwortet er mit einer Deutlichkeit, die nichts zu wünschen übrigläßt und die den vielfältigen Druck, dem Curriculum-Autoren ausgesetzt sind, veranschaulicht: „It would mean the end of textbook adoption committees that carefully read each page searching ior passages that might offend influential groups of citizens. It would end the practice of textbook publishers and authors submitting to all sorts of censorship in Order to secure adoptions, a practice that finds modern , medievalists' kept in line by the Iure of profits rather than inquisitions" (M: 73) (Hervorhebg. vom Verf.).

Daß diese Äußerungen Wünsche geblieben sind und für lange Zeit bleiben werden, macht ein Zitat aus einem Überblick über neue Social-Studies-Projekte deutlich: „Curriculum innovation is big business. IBM, Raytheon, Time-Life Inc, RCA, GE etc. have all gotten into the field by merging with Publishing houses"

In der nach Fertigstellung dieses Aufsatzes herausgekommenen endgültigen Fassung von „American Political Behavior" ist das hier besprochene Beispiel der Auseinandersetzungen um die Stahlpreiserhöhungen — das einzige, das sich mit wirtschaftlichen Fragen auseinandersetzt — ersatzlos gestrichen worden!

Fussnoten

Fußnoten

  1. Karl-Ernst Bungenstab, Umerziehung zur Demokratie? Re-eduction-Politik im Bildungswesen der US-Zone 1945— 49, Düsseldorf 1970, S. 89, 108, 148.

  2. Deutscher Bildungsrat, Strukturplan für das Bildungswesen, Stuttgart 1970, S. 139.

  3. So ist z. B. im November 1971 ein ganzes Heft der „Official journal of ‘he National Council for the Social Studies“ Social Education als Special Issue dem Thema: „Teaching United States History in a Turbulent Present" gewidmet (Vol. 35, No. 7).

  4. Daniel Pell and Irving Kristol, Confrontation, The Student Rebellion and the Universities, New York, London 1968; Lewis S. Feuer, The Conflict of Generations, New York, London 1969.

  5. Diese Curriculumreform wird von den Frankfurter Heften wohl etwas verkürzt als „moralischethische" bezeichnet; so: Gert Raeithel, Neuere Reformbestrebunaen im amerikanischen Erziehungswesen, in: Frankfurter Hefte, 26. Jg., Heft 4, 1971, S. 281— 287, S. 256.

  6. Sid Lester, David Bond and Gary Knox, A Directory of Research and Curriculum Development Projects in Social Studies Education. Mimeographed. Corte Madera, Calif.: Marin Social Studies Project, 1969; Norris M. Sanders and Marlin L. Tanck, A Critical Appraisal of Twenty-Six National Social Studies Projects, in: Social Education, Vol. 34, No. 4 (April 1970), S. 383— 449; Mary Jane Turner, Materials for Civics, Government and Problems of Democracy: Political Science in the New Social Studies, Boulder, Colorado 1971.

  7. Benjamin Cox and Byron G Massialas (eds.), Social Studies in the United States: A Critical Appraisal, New York 1967; Byron G. Massialas, Education and the Political System, Menlo-Park, Calif., London 1969, S. 59— 70; als deutsche Darstellung siehe: Robert Multhoff, Social Studies und Gemeinschaftskunde als didaktisches Problem, in: Internationales Jahrbuch für Geschichts-und Geographieunterricht, Bd. XI, Braunschweig 1967, S. 5— 25.

  8. Byron G. Massialas, American Government: We are the Greatestl, in: Cox, Massialas, s. Anm. 7., S. 178 f.

  9. Gabriel A. Almond, Sidney Verba, The Civic Culture: Political Attitudcs and Democracy in Five Nations, Princeton, N. J. 1963; Urie Bronfenbrenner, Socialization and Social Class through Time and Space. Social Structure and Personality: A Casebock, New York 1961; Fred I. Greenstein, Children and Politics, New Haven, Conn. 1965; Robert D. Hess and Judith V. Torney, The Development of Political Attitudes in Children, Chicago 1967.

  10. Fred I. Greenstein, Political Socialization, in: International Encyclopedia of the Social Sciences, New York 1967 (Mimeo, S. 1).

  11. Kenneth P. Langton, Political Socialization, New York 1969, S. 92— 119.

  12. John J. Patrick, Implications of Political Socialization Research for the Reform of Civic Education, in: Social Education, Vol. 33, No. 1 (January 1969) S. 15- 21.

  13. James L Barth and S. Samuel Shermis, Defining the Social Studies: An Exploration of Three Traditions, in: Social Education, Vol. 34, No. 8 (November 1970), S. 743— 759.

  14. Harvard Social Studies Project, Public Issues Series, Dohald W. Oliver and Fred M. Newmann, Middletown, Conn. 1967768/69.

  15. American Political Behavior, An Experimental Ninth-Grade Course, Pilot Version — Revised Edition, The High School Curriculum Center in Government, Indiana University 1968; In der Endausgabe erscheint das Buch von den Autoren Howard D. Mehlinger and John J. Patrick, American Political Behavior, Ginn Pnd Company, Lexington, Mass. 1972.

  16. Pädagogisches Zentrum, Didaktische Informationen, Antonius Holtmann, Social Studies. Neue Lehrpläne und Unterrichtsmittel in den USA, Berlin, Mai 1969, S. 22; Ine Kayser, Zur Kritik amerikanischer curricula in Social Studies, in: Bildung und Erziehung, Jg. 24, Heft 5, 1971, S. 452— 463; Christoph Wulf, Die „New Social Studies" in den USA, in: Die Grundschule, Jg. 3, Heft 4, Okt. 1971, S. 19— 24; Christoph Wulf, Curricuiumentwicklung in den New Social Studies in den USA. Entwicklungstendenzen und gegenwärtiger Stand, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage Zur Wochenzeitung „Das Parlament", B 6/72, S. 23.

  17. Bei allen Textdarstelluncen habe ich mich so eng wie möglich an die Ausführungen der Autoren gehalten, um möglichst authentisch zu berichten. Da meine Darstellungen jedoch in den seltensten Fällen direkte Übersetzungen sind, sind sie nicht durch Anführungsstriche gekennzeichnet.

  18. Donald W. Oliver and James P. Shaver, Teaching Public Issues in the High School, Boston 1966. Die folgenden Seitenzahlen dieses Kapitels beziehen sich auf das obige Buch, Zitierweise: (0: 6), d. h. Shaver Oliver, S. 6.; Donald W. Oliver, The Selection of Content in Social Sciences, in: Edwin Fenton (ed.), Teaching the New Social Studies in Secondary Schools. An Inductive Approach, New York 1966, S. 98— 114.) James P. Shaver and Harold Berlak (eds.), Democracy Pluralism and the Social Studies. Readings and Commentary, An Approach to Curriculum Decisions in the Social Studies, Boston, New York 1968.

  19. National Council for the Social Studies, Research Bulletin No. 3: John J. Patrick, Political Socialization of American Youth: Implications for Secondary School, Social Studies, A Review of Research, Washington, D. C. 1967. Diese Broschüre ist als das erste „occasional paper“ der Autoren des Indiana Projektes verfaßt worden, um die Voraussetzungen, von denen sie in der Erstellung ihres Curriculums ausgehen, offenzulegen, Zitierweise: (P: 3).

  20. Howard D. Mehlinger, The Study of American Political Behavior, Indiana University, Dec. 1967. Dies ist das 2. „occasional paper". Zitierweise (M: 37) (unpublished paper).

  21. Das High School Curriculum Center in Government hat bereits mit der Entwicklung neuer Curriculummaterialien für das 12. Schuljahr begonnen, die anstelle der bisherigen government courses treten sollen. Die Materialien sollen „American and Comparative Political Systems“ behandeln. Ihr Ansatz wird im „Occasional Paper No. 4" sichtbar: Judith A. Gillespie and Allen D. Glenn, Politics and Participation. An Alternative Approach to the Study of Politics and Government in Senior High Schools, Indiana University, April 1971. Als politisches System wird u. a. auch die Schule begriffen. Um der Frustration der jungen Leute, die von allen wesentlichen Entscheidungen ausgeschlossen sind, zu begegnen, verspricht das „Politics and Participation program" zahlreiche Lernerfahrungen aufzunehmen, die die praktische Anwendung des Wissens und der Fähigkeiten, die im Unterricht erlernt werden, erlauben. Die Schule selbst soll als politisches Experimentierfeld dienen, da die Studenten über Schulpolitik mitentscheiden sollen.

  22. John Dewey, Democracy and Education. An Introduction to the Philosophy of Education, New York 1916; John Dewey, Reflective Thinking, in: Edwin Fenton (ed.), a. a. O., S. 118— 124.

  23. Jerome S. Bruner, The Process of Education, New York 1960; Jerome S. Bruner, The Act of Discovery, in Edwin Fenton (ed.), a. a. O., S. 124 bis 134. — So wie John Dewey seinerzeit „father of the Progressive School Movement" war, ist Jerome S. Bruner (der Dewey unserer Tage) „Vater" der auf der Struktur einer Disziplin aufbauenden Curriculumentwicklung.

  24. Jerome S. Bruner, The Importance of Structure, in: Edwin Fenton (ed.), a. a. O., S. 82— 96. Zitierweise (F: 88).

  25. So z. B. bei Ingrid und Rolf Schmiederer, deren Reihe „Modelle für den politischen und sozialwissenschaftlichen Unterricht" „angesichts einer konkreten Unterrichtssituation oft weniger als direkte Vorlage für die Durchführung eines Unterrichts als vielmehr zur Anregung und als Materialgrundlage dienen" soll. Modell 1, S. 6.

  26. Howard D. Mehlinger and John J. Patrick, The Use of „Formative“ Evaluation in an Experimental Curriculum Project. A Case in the Practice of Instructional Materials Evaluation, in: Social Education, Vol 35, No. 8 (Dec. 1971), S. 884— 887 und 892.

  27. Robert Multhoff, Neue Ziele und Wege im Unterricht der Social Studies amerikanischer Schulen, in: Internationales Jahrbuch für Geschichts-und Geographie-Unterricht, Bd. XII, Braunschweig 1968/69, S. 141— 148, S. 148.

  28. John P. Lunstrum, The Treatment of Controversial Issues in Social Studies Instruction, in: Byron G. Massialas and Frederick R. Schmith (eds.), New Challenges in the Social Sciences, Belmont, Calif. 1965, S. 121— 147, S. 147.

  29. Sid Lester, David Bond and Gary Knox, a. a. 0., S. 3.

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J u 11 a -B a r b a r a L a n g e -Q u a s s o w s -ki, geb. 1944 in Landsberg/Warthe, Studium der Politischen Wissenschaft in Berlin und München, seit 1968 wissenschaftliche Assistentin am Otto-Suhr-Institut in Berlin mit einjähriger Unterbrechung für einen Studienaufenthalt in den USA.