Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Leistungsprinzip und Herrschaft Betrachtungen aus Anlaß der Olympischen Spiele *) | APuZ 33/1972 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 33/1972 Leistungsprinzip und Herrschaft Betrachtungen aus Anlaß der Olympischen Spiele *)

Leistungsprinzip und Herrschaft Betrachtungen aus Anlaß der Olympischen Spiele *)

Christian Graf von Krockow

/ 26 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Das Leistungsprinzip sieht sich zunehmender Kritik ausgesetzt, dennoch stellt es — zusammen mit dem Wahlprinzip — in der Industriegesellschaft ein grundlegendes Mittel der Statuszuweisung dar. Aber es ist und bleibt unzulänglich und undurchsichtig; oft wird es von bloßen Erfolgskriterien überdeckt und verdrängt. Der sportliche Wettkampf fasziniert nicht zuletzt deshalb, weil im Sport Leistungen genau nachgerechnet, verglichen und allgemeinverständlich dargestellt werden können. Der Sport erscheint so fast wie eine Utopie dessen, was allgemein sein sollte, aber nicht ist. Als entscheidende Frage erweist sich, ob Leistungen erzwungen und fremdbeherrscht oder aus freiem Antrieb selbstbestimmt erbracht werden. Daraus erwächst eine gegensätzliche Motivation: Leistung kann ebenso Last sein wie Lust; Freiheit und Lust können freilich hinterrücks von Herrschaftsinteressen mißbraucht und manipuliert werden. Das gilt auch für den Sport. Alle Leistungskritik, die hier ansetzt, ist berechtigt. Doch schießt pauschale Kritik über ihr Ziel hinaus: Geschichtlicher Rückblick wie aktuelle Erfahrungen machen deutlich, daß einzig aus der langfristigen Überlegenheit der selbstbestimmten Leistung gegenüber der fremdbeherrschten Leistung sich begründete Hoffnung auf einen Zuwachs an Freiheit ergibt.

I. Leistung als Prinzip der sozialen Statuszuweisung

Das Leistungsprinzip ist in den letzten Jahren ins Gerede gekommen, und zwar vor allem im Zuge der Rebellionsbewegung, die von Studenten ausging, mehr und mehr auch auf Schüler Übergriff und, höchst Heterogenes zusammenzwingend, gemeinhin unter dem Sammelbegriff der „Neuen Linken" registriert wird. Es wurde von „Leistungsterror" gesprochen, „Leistungsverweigerung" gefordert, oft das Leistungsprinzip insgesamt als ein Zeichen menschlicher Entfremdung angeprangert, wobei diese Entfremdung auf die kapitalistischen Produktionsverhältnisse und die ihnen entsprechenden Herrschaftsordnungen zurückverweisen soll. Nun mag man Verhaltensformen und Argumentationsketten der „Neuen Linken" noch so kritisch gegenüberstehen; ihr kaum zu leugnendes Verdienst ist es, scheinbar Selbstverständliches erschüttert zu haben und zur Suche nach Gründen, nach Begründungen zu zwingen, wo zuvor häufig nur Konvention, manchmal schiere Gedankenlosigkeit das Feld beherrschte. Das gilt nicht zuletzt für das Leistungsprinzip; erst seine Infragestellung macht sichtbar, wie wenig es bisher überdacht worden ist.

Von vornherein liegt freilich der Einwand nahe, daß es so etwas wie das Leistungsprinzip gar nicht gibt: Wie soll man Äpfel und Birnen verrechnen, die Leistung des Forschers, Künstlers, Politikers mit der des Fließbandarbeiters oder der des Athleten? Und wie, selbst da noch, die Leistung des Ruderers mit der einer Eiskunstläuferin? Dennoch kann Leistung als Prinzip überall dort ins Spiel kom-men, wo es im Sinne irgendeiner Art von Skalierung um gesellschaftliche Statuszuweisung geht. In den Worten von Karl Adam: „Leistung ist jede Aktion, die Grundlage einer zufallsunabhängigen Rangordnung (Hierarchie) sein kann." Damit stößt man aber auf ein generelles Sozialproblem. Denn jede Gesellschaft, welcher Spielart immer und gleich, ob „primitiv" oder hochentwickelt, steht vor der schwierigen Aufgabe, ihren Mitgliedern im Prozeß der Arbeitsteilung und Funktionsdifferenzierung einen bestimmten Status zuzuweiweisen. Mit der Entwicklung zur Industriegesellschaft entsteht allerdings eine wachsende „Rollen" -Vielfalt, die es dem Individuum ermöglicht oder zumutet, sich auf zahlreiche und oft heterogene Statusdimensionen einzulassen, mit der Konsequenz, daß der einzelne in einer oder einigen Dimensionen „hoch", gleichzeitig aber in anderen „niedrig" plaziert sein kann Für die Statuszuweisung gibt es verschiedene, im wesentlichen aber nur fünf Auswahlkriterien: Geschlecht, Geburt, Alter, Wahl **) und Leistung. Gilt keines dieser Prinzipien — oder eine Kombination von ihnen — mit zureichender Deutlichkeit und unter allgemeiner, wenigstens weit überwiegender Anerkennung, so kommt es zum — mehr oder minder gewalttätigen — Legitimationskonflikt, und es treten, gleichsam als Lückenfüller, Führerpersönlichkeiten auf, die Max Weber als „charismati-sche“ kennzeichnete: Menschen von besonderer, individueller Ausstrahlungskraft, die sich auf ihre Berufung berufen, darauf, die Propheten und Vorkämpfer bestimmter Werte und Heilsordnungen zu sein. Der hysterische Kult aber, der solchen Menschen von ihren Anhängern gewidmet wird, signalisiert das untergründige Vakuum und die Angst vor ihm. Und charismatische Herrschaft kann sich schwerlich stabilisieren — da Einzigartigkeit sich nicht vererben läßt —, ohne daß man doch wieder in die Bahnen der genannten Prinzipien zurücklenkt

Sieht man die Prinzipien genauer an, so ist unverkennbar, daß sie sich in zwei Gruppen teilen: Geschlecht, Geburt, Alter gelten als »nat*, ürlich sind dem einzelnen schicksalhaft vorgegeben, während Wahl und Leistung »künst*liche Veranstaltungen darstellen. Im Zuge der Entwicklung zur modernen Industriegesellschaft läuft nun ein noch keineswegs abgeschlossener und höchst konfliktreicher Verlagerungsprozeß ab. In vorindustriellen Ordnungen bleibt die Kombination von Wahl und Leistung Ausnahme, zumeist beschränkt auf Fälle der Krisenbewältigung wie die Wahl eines Heerführers, des Herzogs, für den Kriegsfall. Doch selbst in diesem Falle gibt es eine charakteristische Tendenz zur Durchsetzung der Erblichkeit von Titel und Amt. Tatsächlich stellt in Ordnungen, die sich nur langsam wandeln, ja geradezu auf die Bannung des Wandels angelegt sind, die Statuszuweisung durch Geburt und Geschlecht — daß z. B.der älteste Sohn den Hof, den Adelstitel, den Thron erbt — ein praktikables Mittel der Stabilisierung und der Konfliktvermeidung dar: Uber Entscheidungen, die immer schon vorweg durch Gott oder die Natur getroffen worden sind, muß man nicht und kann man nicht mit Menschengewalt kämpfen. Und das hohe Alter, das nur wenige erreichen, gilt als Hort der Erfahrung und der Weisheit.

Die Entwicklung zur Industriegesellschaft setzt jedoch einen stets beschleunigten, stets umfassenderen Veränderungsprozeß aller Lebensverhältnisse in Gang. Damit wird die gespeicherte, aber zur Erstarrung neigende Erfahrung des Alters tendenziell abgewertet, die jugendliche Lernfähigkeit und Bereitschaft, über Gegebenes hinauszugehen, aufgewertet. Jugendlichkeit wird schließlich Trumpf — und das Alter mit seiner nachlassenden Leistungsfähigkeit in der modernen Gesellschaft zu einem schwierigen, noch weithin ungelösten Problem; mit der bloßen, sei es selbst komfortablen Versorgung ist es ja nicht getan, wenn mit ihr, bestimmt vom Maßstab einer stets auf Neuartiges gerichteten Leistungskraft, die Abwertung Hand in Hand geht Von Moritz Schlick stammt die ebenso lapidare wie vernichtende Formel: „Der Sinn des Lebens ist die Jugend."

Leistung erscheint gleichwohl mehr und mehr als legitimer, gerechter Maßstab der Status-zuweisung; in offener Konkurrenz soll in allen Bereichen jeder kraft — möglichst exakt nachrechenbarer — Leistung das erreichen können, was eben dieser Leistung entspricht. Das setzt mehr noch als die Abwertung des Alters die Verwerfung aller Geburtsprivilegien voraus. Weil sie nicht auf Leistung beruhen, gelten sie als illegitim. Das Wahlprinzip schließlich steht zu dem der Leistung in einem eigentümlichen, doppelseitigen Bedingungsverhältnis. Einerseits ist das Wahlprinzip dem der Leistung übergeordnet: Durch Wahl sollen die von verschiedenartigen Interessen und Anschauungen bestimmten strategischen Ziele sozialen Handelns umrissen und Führungsbefugnisse legitimiert werden; das Leistungsprinzip hat sich damit als ausführendes, als mittelbezogenes dem zielbezogenen Wahlprinzip unterzuordnen. Andererseits aber stellt das Wahlprinzip auch eine Art von Lückenbüßer, eine Ergänzung des Leistungsprinzips dar: überall dort, wo nicht — wie vor allem im Sport — die Höchstleistung sich nach eindeutigen Kriterien genau ermitteln läßt, muß die Wahl als Ausleseinstrument einspringen. Doch selbst im Sport tauchen, sobald die Leistung nicht exakt gemessen werden kann, Elemente der »Kürdes Wählens auf, beispielsweise beim Turmspringen, beim Turnen, beim Eiskunstlauf. Indessen bleibt das Wahlprinzip hier mindestens der Idee nach dem Leistungsprinzip untergeordnet. Und das gilt keineswegs nur in dem Sonderbereich des Sports: Der Wissenschaftler soll auf Grund seiner Forschungsleistungen zum Professor, der Politiker auf Grund seiner politischen Leistungen zum Abgeordneten, Parteiführer, Kanzler gewählt werden.

II. Der Sport als Symbol

Die Faszinationskraft des Sports in der modernen Gesellschaft gründet nicht zuletzt darauf, daß er dem Leistungsprinzip so exemplarisch und präzise wie allgemeinverständlich Ausdruck gibt. Denn die überragende Leistung des Forschers müssen wir den Fachleuten glauben, die ihn zum Nobelpreisträger küren: der Erfolg des Geschäftsmannes mag auf fragwürdigen Praktiken beruhen, der Aufstieg des Politikers seiner Skrupellosigkeit und purer Demagogie zu verdanken sein, der Erfolg des Künstlers den Managern des Marktes, überhaupt tritt weithin der Erfolg an die Stelle der Leistung. Aber hier ist z. B.der Sprung des Bob Beamon jedem verständlich, dreifach nachgemessen, optisch in jedes Haus getragen. Er sprang weiter als je ein Mensch zuvor. Daß es im Sport Betrug, Bestechungs-und Dopingskandale gibt, läßt sich zwar nicht leugnen; dennoch bestätigt noch der Skandal als Skandal das Leistungsprinzip, und gemessen an jedem anderen Lebensbereich dominiert die Leistung mit einmaliger Eindeutigkeit und Durchsichtigkeit. So ist der moderne Sport zwar nicht, wie manche kurzschlüssige Interpretationen das darstellen, einfach ein kompensatorisches Kind der Industriegesellschaft — er entstand im England des 17. und frühen 18. Jahrhunderts noch vor der eigentlichen, gesellschaftlich in die Breite wirkenden Industrialisierung —, wohl aber wird er bestimmt von eben den Prinzipien, die die Entwicklung zur Industriegesellschaft prägen Und er unterscheidet sich von anderen, zumal älteren Formen körperlicher Betätigung — des kultischen Tanzes, des Ritterturniers, der Volksspiele — eben durch die Übermacht der nachrechenbaren, reproduzierbaren, vergleichsfähigen Leistung; es Ist deshalb zugleich das Rekordwesen in Ihm von Anfang an angelegt, auch wenn dieses erst verhältnismäßig spät ausformuliert und institutionalisiert wird.

Es wäre interessant, übergangsformen zu untersuchen, wie etwa die calvinistischen Haltungen, denen Max Weber in seinen Studien über die Entstehung des modernen Kapitalismus eine so große Bedeutung zumaß: Die calvinistische Ethik zeigt die eigentümliche, scheinbar ganz widersprüchliche Verbindung von Prädestinationslehre — also von einer Vorbestimmung, die eigentlich dem alten Geburtsprinzip entspricht — und Leistungs-und Erfolgsstreben, das, investierend und akkumulierend, konkurrenzbestimmt auf Zukunft gerichtet, nunmehr als Zeichen der göttlichen Begnadung erscheint. Wichtiger sind jedoch andere Gesichtspunkte. Das Stichwort Konkurrenz fiel gerade. Das Leistungsprinzip schließt als Prinzip der hierarchischen Statuszuweisung Konkurrenz notwendig ein, und die Konkurrenz drängt wiederum zu immer höheren Leistungen, zur — relativen — Höchstleistung.

Gerade diese Relativität demonstriert den Zusammenhang; im sportlichen Beispiel: Johnny Weißmüller war der berühmteste, überlegenste Kraulschwimmer seiner Zeit, aber heute würde er sich bei jeder besseren Bezirksmeisterschaft mit seinen einstigen Rekorden lächerlich machen und sogar von vielen Mädchen geschlagen werden. Entsprechend: Ein Industrieunternehmen, das heute noch den Stand der Arbeitsproduktivität und die Produkte beibehalten wollte, mit denen es vor zwanzig oder sogar nur vor zehn Jahren erfolgreich war, müßte rasch den Weg zum Konkursrichter antreten. Man könnte im Vergleich zu den Prinzipien, die in vorindustriellen Ordnungen herrschten, den Sachverhalt auch noch anders und allgemeiner ausdrücken: Es zeigt sich eine revolutionäre Umwendung aller menschlichen Lebensverhältnisse und mit ihnen des Menschen selbst von der Traditions-und Vergangenheitsbestimmtheit zu einer Gegenwärtigkeit, der immer schon von dem Ausblick auf eine offene, einzig als Veränderung des Gegebenen gewisse Zukunft bestimmt oder, wenn man so will, überschattet wird.

III. Formelle Gleichheit, Chancengleichheit und Leistungsprinzip

Das Leistungs-und das Konkurrenzprinzip leiten hin bis zu einem dritten, gesellschaftlich bedeutsamen Prinzip: zu dem der Gleichheit. Da von Rangordnung oder Hierarchie die Rede war, mag das als Widerspruch erscheinen, aber es ist durchaus folgerichtig. Denn die Ermittlung einer Höchstleistung durch den Wett-und Konkurrenzkampf, sei es der Arena, sei es des Marktes, setzt ja nicht nur die technische Vergleichbarkeit, die Gleichheit der Leistungsbedingungen voraus, sondern auch die prinzipielle — formelle — Gleichheit derer, die miteinander in den Wettbewerb eintreten oder eintreten könnten. Ohne sie würde die Rangordnung eben nicht durch Leistungsvergleich, sondern vermittels anderer Kriterien hergestellt. Und wo — aus welchen Gründen immer — jemand von der Chance des Leistungsvergleichs grundsätzlich ausgeschlossen wird, da ruiniert solcher Ausschluß die Idee der Höchstleistung; niemals läßt sich mit Sicherheit sagen, ob der Ausgeschlossene nicht eine noch höhere Leistung hätte vollbringen können.

Zumal angesichts der modischen Kritik am Leistungs-und Konkurrenzprinzip ist es wichtig, sich das Bedienungsgefüge klarzumachen; man kann das eine nicht haben ohne das andere, Leistung und Konkurrenz nicht verbannen, ohne zugleich das Gleichheitsprinzip zu erschüttern. Wo der Gedanke mindestens an die potentielle Höchstleistung ausfällt, da entfällt mit dem Zwang zum Vergleichen der Leistungen und Leistungsbedingungen die Nötigung zur Chancengleichheit. Um den Sachverhalt zunächst wieder am Sport zu illustrieren: Kultische Spiele, Ritterturniere, lokales Brauchtum bäuerlicher Feste mögen oft mit erheblichen, mitunter sogar extremen körperlichen Leistungen verbunden gewesen sein; sie unterscheiden sich jedoch vom modernen Sport teils durch ihre Ortsgebundenheit, teils durch ihre grundsätzliche soziale oder regionale Exklusivität. Das gilt auch für die Olympischen Spiele der Antike. Doch es gilt keineswegs nur für längst vergangene Zeiten. Die Tendenzen zur nationalistischen und schließlich rassistischen Exklusivität der deutschen Turnbewegung des 19. und 20. Jahrhunderts standen mit der Ablehnung des Höchstleistungs-und Rekordgedankens in engem Zusammenhang. Wie gravierend deshalb im „wirklichen" Leben die Unterschiede der Menschen hinsichtlich ihres Glaubens, ihrer Rasse, ihrer regionalen oder nationalen Zugehörigkeit, ihres Reichtums oder ihrer Bildung, ihres Standes oder ihrer Klasse sein mögen: der Sport drängt darauf, muß darauf drängen, solche Unterschiede aus seinen Wettkampfbezirken zu verbannen. Wie ein Sporthistoriker es ausgedrückt hat: „Die Anfänge des modernen englischen Sportlebens waren seit der Restaurationszeit zu einer schnellen Blüte gelangt, die sich auch gesellschaftlich immer weiter auswirkten in derjenigen Richtung, die ein bekanntes Sprichwort bez hnet: Auf dem , grünen Rasen'und unter dem . grünen Rasen'sind alle Menschen gleich."

Aber der Sachverhalt gilt keineswegs nur in ausgegrenzten Bezirken des Sports oder der Spiele. Der neuzeitliche Entwicklungsweg zur Industriegesellschaft wird überall markiert durch die Sprengung, Niederreißung der Mau-ern prinzipieller Ungleichheit, seien dies nun Ständeprivilegien, Leibeigenschaft, Sklaverei oder was immer. Dabei handelt es sich gewiß nicht um eine plötzlich ausbrechende Menschenfreundlichkeit der Herrschenden, sondern um die Notwendigkeit, Dynamik und Mobilität durchzusetzen, um die ökonomische Leistungsrationalität, die eben nur in dem Dreieck von Leistungs-, Konkurrenz-und Gleichheitsprinzip zu haben ist. Kein anderer als Marx hat das klar erkannt und eindringlich beschrieben; im „Kommunistischen Manifest" heißt es dazu: „Die Bourgeoisie hat in der Geschichte eine höchst revolutionäre Rolle gespielt... Die Bourgeoisie hat enthüllt, wie die brutale Kraftäußerung, die die Reaktion so sehr am Mittelalter bewundert, in der trägsten Bärenhäuterei ihre passende Ergänzung fand. Erst sie hat bewiesen, was die Tätigkeit des Menschen zustande bringen kann. Sie hat ganz andere Wunderwerke vollbracht als ägyptische Pyramiden, römische Wasserleitungen und gotische Kathedralen, sie hat ganz andere Züge ausgeführt, als Völkerwanderungen und Kreuzzüge. — Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren. Unveränderte Beibehaltung der alten Produktionsweise war dagegen die erste Existenzbedingung aller früheren industriellen Klassen. Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisepoche vor allen anderen aus. Alle festen, eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neu-gebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.“

Das Zitat ließe sich fortsetzen. Was Marx im übrigen vielen seiner Nachfahren und unberufenen Bewunderer voraus hat, ist die klare Einsicht, daß man hinter das einmal Erreichte keinesfalls mehr zurückfallen kann, wenn man nicht Barbarei provozieren will, daß man es vielmehr nur „aufheben" kann in jener Dreisinnigkeit, die Hegel dem Begriff der Aufhebung gegeben hat: Abschaffung, Bewahrung, Hinaufheben auf eine höhere Stufe in einem. Marx stellt freilich zugleich fest, daß ausgerechnet auf dem Boden formeller, rechtlicher Gleichheit eine neue Form von Ungleichheit entstehen kann und tatsächlich entsteht.

In nichtmarxistischer Sicht liegt es nahe, von der Notwendigkeit der Ergänzung formeller Gleichheit durch die Schaffung materieller Chancengleichheit zu sprechen, zum Beispiel im Bildungswesen. Es wird ja zunehmend deutlich, daß die Berufs-und Lebenschancen des einzelnen entscheidend von seiner qualifizierten Ausbildung bestimmt werden, daß deshalb dem Bildungswesen als einem Instrument zugleich der Leistungsermöglichung und der Leistungsauslese zentrale Bedeutung zukommt, an der nicht zuletzt die Legitimationskraft, die Gerechtigkeit des jeweiligen gesellschaftlich-politischen Systems gemessen wird. Dabei ist es bezeichnend, daß gerade in jüngster Zeit den Fragen frühkindlicher Erziehung immer größere Aufmerksamkeit zugewandt wird, daß vor allem „Begabung" im Lichte neuerer Forschungen immer weniger als vorgegeben, einfach als Naturkonstante erscheint, immer stärker dagegen als Problem der Entfaltungsmöglichkeiten im frühkindlichen Milieu Auch hier zeigt sich die Tendenz zur Abwendung von der Kategorie des „Schicksals" und eine Hinwendung zum Prinzip der Leistung und zu ihren materiellen Vorbedingungen, die es zu erforschen und im Sinne der Chancengleichheit zu verbessern gilt.

IV. Sozialismus und Leistungsprinzip

Bei Marx spielt allerdings ein anderer, gerade angesichts der aktuellen Leistungsdiskussion besonders interessanter Gesichtspunkt die zentrale Rolle: Marx registriert einen fundamentalen Widerspruch zwischen dem gesellschaftlichen — hochgradig arbeitsteiligen — Charakter der modernen Industriearbeit und der privaten Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel. Eben aus diesem Widerspruch soll ja die Klassengesellschaft hervorgehen — und die Notwendigkeit ihrer revolutionären Über-windung. Der Widerspruch hat offensichtlich etwas mit den Prinzipien zu tun, von denen hier die Rede ist: Auf der einen Seite ist die Industriegesellschaft eine Leistungsgesellschaft. Auf der anderen Seite aber wird in der kapitalistischen Version der Industriegesellschaft das Leistungsprinzip durch das Erbprinzip im Sinne der Verfügungsgewalt über Produktionsmittel wesentlich beschnitten; man kann, ironisch ausgedrückt, in dieser Gesellschaft bei der Auswahl seiner Eltern kaum vorsichtig genug zu Werke gehen. Ernsthafter formuliert: Vorgegebenes Schicksal steht nach wie vor gegen Leistung oder leistungsverbundene Wahl. Das ist merkwürdig, denn in außerökonomischen Bereichen ist es doch selbstverständlich, daß schicksalhaft vorgegebene Macht nicht länger akzeptiert wird, daß vielmehr ihre Überwindung als historische Errungenschaft gilt, sei dies nun politische Macht im engeren Sinne, die kein König und keine Aristokratie mehr in der Hand haben sollen, sondern einzig aus freien Wahlen hervorgegangene, lediglich auf Zeit legitimierte Entscheidungsorgane, sei dies etwa wissenschaftliche Autorität, bei der die Forschung als Hypothesenbildung offen sein muß in dem Sinne, daß sie sich stets dem Kriterium ihrer Wiederlegbarkeit durch weitere Forschung stellen soll.

Noch merkwürdiger wirkt es im Lichte solcher Überlegungen, daß so häufig — und oft genug pauschal — die kapitalistische Industriegesellschaft als Leistungsgesellschaft kritisiert wird. Eigentlich müßte diese Gesellschaft vom sozialistischen Standpunkt aus doch als partielle — genau darum widersprüchliche — Nichtleistungsgesellschaft kritisiert werden. Ein Vergleich macht überdies deutlich: Nirgends wohl sind so große Anstrengungen unternommen worden wie im Gefolge der sozialistischen Revolution in der Sowjetunion, auch in der Arbeitswelt — wie im Bildungswesen — die Leistung dem einzelnen streng als einzelnem zuzurechnen während etwa das besonders rücksichtslose kapitalistische System Japans dies in der Übertragung feudalistischen Clandenkens auf den Industriebetrieb nach Möglichkeit zu vermeiden trachtet

Daß in der Sowjetunion und in anderen Ländern des Ostblocks ein ideologischer Dogmatismus und ein starr von „oben" nach „unten'durchgeführter Verwaltungszentralismus das Leistungsprinzip entscheidend einengen, daß ihm die kurzschlüssige Gleichsetzung von „Sozialismus" mit Vergesellschaftung — vielmehr Verstaatlichung — der Produktionsmittel und mit der Verketzerung von wirtschaftlichen und politischen Konkurrenzsituationen dauernd in die Quere geraten, das steht freilich auf einem anderen Blatt. Es zeigt, daß die Leistungsgesellschaft bisher noch nirgends voll, vielmehr immer nur in widersprüchlichen Teilstücken verwirklicht worden ist.

Aber zunächst besteht nicht zuletzt die pädagogische Aufgabe und Wirkung sozialistischer Systeme angesichts der Nötigung zu forciert nachholender Industrialisierung — entgegen der Marxschen Erwartung sind Ansätze zum Sozialismus bisher ja nicht in hoch-, sondern in unterentwickelten Ländern zum Zuge gekommen — darin, daß er durchsetzt, mehr oder weniger im Sinne einer rigorosen Erziehungsdiktatur, was einst im Westen Calvinismus und Puritanismus vollbrachten. „Jedem nach seiner Leistung!" ist deshalb ein legitimes sozialistisches Motto, und d Anspruch sozialistischer Systeme, gerechter, „fortschrittlicher" zu sein als kapitalistische, beruht eben darauf, daß sie die Statuszuweisung durch Leistung auch dort durchsetzen wollen, wo im Kapitalismus nach wie vor das Geburtsprinzip Bedeutung hat. Wer deshalb das Leistungsprinzip schlechthin verurteilt, gibt die Trumpfkarte sozialistischer Argumentation aus der Hand. Mehr noch: Er gerät — gewollt oder ungewollt — in die Nähe des Faschismus, der die Leistungsauslese durch das Führerprinzip, die Wahl durch Akklamation ersetzen und das menschliche Schicksal regressiv in pseudotheologischer und biologischer Prädestination festmachen will.

V. Leistungszumutung und Leistungslust — Mangel und Überfluß

Bliebe man bei solchen Feststellungen stehen, so lägen freilich schwerwiegende Fehldeutungen auf der Lauer. Denn die undifferenzierte Leistungsverteidigung erweist sich als ebenso problematisch wie die pauschale Leistungsverurteilung. Das wird sichtbar, sobald man Leistungen auf die verschiedenen Typen von Motivationen und Erlebnisgehalte hin untersucht, die ihnen unterlegt sind. Schon Mark Twain fragte sich — Hans Lenk hat es jüngst zitiert —, warum eigentlich Tütenkleben Arbeit sei und die Montblanc-Besteigung Sport. In der Tat: Beides sind Leistungen, aber die eine wird als Last empfunden, die andere als Lust, als eine Könnenserfahrung und Selbst-Bestätigung, die tiefe Befriedigung nach sich zieht. Fragt man weiter, worauf solche gegensätzlichen Erlebnisgehalte beruhen, so stößt man auf das Verhältnis von Leistung und Herrschaft. „Tütenkleben" wird sofort mit der Arbeit des Strafgefangenen assoziiert; es handelt sich um eine ausgeprägte, ja extreme Form der erzwungenen, fremdbestimmten Leistung. Die Bergbesteigung dagegen stellt eine freiwillige, eigenbestimmte Leistung dar, und diese gewährt Befriedigung in der Könnens-erfahrung und -bestätigung durch die selbst-gewählte und bewältigte Herausforderung.

Wenn das zutrifft, könnte mindestens zum Teil auch die Kritik der „Neuen L*inken und die Rebellion von Studenten und Schülern gegen Leistungszumutungen in einem neuen Lichte erscheinen. Vielleicht handelt es sich um den Zusammenbruch traditioneller und traditionell fremdbestimmter Leistungszumutungen, um ein Aufbegehren gegen die unbefragte Unterwerfung gegen Leistungsforderungen, die nicht einsehbar sich mit eigenen Wünschen und Interessen verbinden lassen. Ältere sollten zum mindesten zögern, das leichthin abzutun, nur weil sie es — in anderer realer Situation und vielfach unter dem Druck materieller Not — anders erlebt, mindestens hingenommen haben. Und es bleibt kritisch zu fragen, ob nicht sehr vieles an den überlieferten Lernmethoden, Lehrinhalten und Leistungsanforderungen in Schule und Hochschule sozusagen einer Pädagogik des Tütenklebens entstammt, die schon John Dewey mit dem sarkastischen Satz charakterisiert hat: „Es ist gänzlich gleichgültig, was in der Schule gelernt wird, solange es den Schülern nur zuwider ist. Dies zugegeben, wird ein durchaus rationaler und emanzipatorischer Kern der leistungskritischen Argumentation sichtbar; die Argumentation wird eben nur überdehnt und im Kampfeseifer um ihre Berechtigung gebracht, wo sie auf das Leistungsprinzip schlechthin sich bezieht.

Der berechtigte Argumentationskern läßt sich auch in historischer Perspektive verdeutlichen: Seit Anbeginn stand die große Mehrheit der Menschen unter vorgegebenem, fremdbestimmtem Leistungszwang, der diktiert v urde von der Not bloßer Lebenserhaltung. Politische Herrschaft und soziale Fremdbestimmung stell-10 ten allenfalls zusätzliche Momente dar, und kein Herrschaftswandel konnte eine grundlegende Veränderung herbeiführen. Gesteigerte Formen der Fremdbestimmung — Knechtschaft, Leibeigenschaft, Sklaverei — konnten daher als in der Natur der Lebensumstände angelegt erscheinen und hingenommen werden.

Der Sachverhalt beginnt sich mit der Revolutionierung der Produktivkräfte zu ändern, welche seit Beginn der Neuzeit sich anbahnt und zur Industriegesellschaft hinführt. Mit diesem Prozeß ergibt sich zugleich die Notwendigkeit, zunächst die krassesten Formen der Fremdbestimmung abzubauen und den Umkreis eigenverantwortlicher Leistungen zu erweitern. Wie bereits gezeigt, liegt die Schaffung prinzipieller Gleichheit und bürgerlicher Freiheiten, die Abschaffung der Privilegien, von Leibeigenschaft und Sklaverei in der Logik ökonomischer Leistungsrationalität. Je mehr sich die Arbeitsverhältnisse differenzieren, desto mehr muß der Eigenverantwortung der Arbeitenden überlassen werden, und es erweist sich zugleich — Geheimnis dessen, was Marx als revolutionäre Kraft der Bourgeoisie preist — die Überlegenheit der selbstbestimmten Leistungen gegenüber den fremdbestimmten. Im Beispiel Mark Twains: Der Stumpfsinn des Tütenklebens läßt sich durch Sanktionen erzwingen, — die Montblanc-Besteigung nicht mehr.

Insgesamt handelt es sich natürlich um einen komplizierten, höchst langwierigen und keineswegs abgeschlossenen Entwicklungsprozeß; für die Mehrheit der Bevölkerung wird zunächst einmal nur der direkte Zwang durch den indirekten — die Lohnabhängigkeit — ersetzt. Und was die jungen Rebellen der Gegenwart angeht, so mögen sie sich täuschen und gleichsam vor sich selbst schamhaft verbergen, wenn sie sich als Avantgarde der Notleidenden und Unterdrückten deuten; objektiv handelt es sich gerade um die Vorhut derjenigen, die — dem Zwang der Not entkommen und insofern privilegiert, dabei kaum zufällig meist Erben luxurierter bürgerlicher Liberalität — in die Gefilde einer allenfalls in ersten Konturen sich abzeichnenden nachindustriellen Gesellschaft aufbrechen.

Aber sogar in dieser Selbsttäuschung steckt ein rationaler Kern: Es wächst offenbar in der entfalteten Industriegesellschaft ein Aktionsraum der Freiheit, des Überschusses und des überflüssigen, gemessen an dem, was als Produkt der Arbeit zur elementaren Bedürfnis-befriedigung und Lebenserhaltung objektiv notwendig ist. Dabei trifft die historische Entwicklung mit einem eigentümlichen anthropologischen Potential zusammen. Zwar treibt in gewissem Sinne schon die Natur zum überflüssigen, so daß man mit Buytendijk formulieren kann: „Die Vögel singen viel mehr, als ihnen nach Darwin erlaubt ist" Aber erst der Mensch ist das seltsame Wesen, das immerfort und mit Inbrunst überflüssiges tut: Gedichte, Opern und Operetten produziert und konsumiert, Eiswüsten durchwandert, den Montblanc besteigt, Sport treibt, spielt — und sich bei alledem auch noch wohl fühlt, obwohl doch nichts naturhaft Notwendiges und nicht einmal geschichtlich Mögliches dabei herausspringt. Andererseits kann der Mensch in der Überfülle des Notwendigen, vollgestopft mit „Futter" in jedem Sinne, völlig verzweifeln und — ein menschliches Privileg — Selbstmord begehen. „Daher", heißt es bei Ortega y Gasset, „ist für den Menschen nur das objektiv Überflüssige notwendig. Dies wird man für paradox halten, aber es ist die pure Wahrheit. Die biologisch objektiven Notwendigkeiten an sich sind nicht notwendig für ihn. Findet er, daß er sich ganz auf sie beschränken muß, so weigert er sich, sie zu befriedigen, und zieht es vor, zu unterliegen. Sie verwandeln sich in Notwendigkeiten nur, wenn sie als Bedingungen des IIn-der Welt-Seins'erscheinen, das seinerseits in subjektiver Form notwendig ist, das heißt, weiles das Sich-wohl-Befinden und das objektiv Überflüssige notwendig macht. Daraus geht hervor, daß selbst das objektiv Notwendige für den Menschen nur im Hinblick auf das überflüssige notwendig ist."

Das Problem kann und muß indessen noch schärfer gefaßt werden: Das Sich-wohl-Befinden im überflüssigen gelingt nur, wenn es in Freiheit, als Freiheit Möglichkeiten der Selbst-Bestätigung im Verhältnis des Menschen zu sich und zu anderen Menschen eröffnet. Daher erweist sich die generöse, oft ruinöse „Verschwendung", die Gastlichkeit von armen, durch die Erfahrungen der Not geprägten Menschen und Sozialschichten — man denke an alte Bauernvölker und an die „Bauernhochzeiten", gegen die die Behörden im Zuge der modernen Entwicklung so lange zu kämpfen hatten — anthropologisch gesehen keineswegs als „sinnlos", sondern im Gegenteil als Mittel, Würde und Selbstachtung zu bewahren. Insgesamt stellen vor allem Feste und Spiele Möglichkeiten der Selbstbestätigung in und durch Freiheit dar: das Spiel symbolisiert sie geradezu. Denn das Spiel ist nur als Freiheit, nicht unter Zwang Spiel. Und es gewährt Befriedigung, Lust, auch und gerade dann, wenn es als agonales Spiel, als Wettkampf erhebliche, unter Umständen sogar sehr große Einsätze und Leistungen verlangt. Folgerichtig ist — modisch ausgedrückt — nichts „frustrierender", als wenn der Spielpartner mir nicht die volle, im jeweiligen Spiel als Möglichkeit angelegte Leistung abverlangt, wenn er, ein Spielverderber, mich absichtlich gewinnen und fühlen läßt, daß er sich keine Mühe gibt Ist nun die Lust des Handelns, die Befriedigung in der überschüssigen, überflüssigen Leistung nur in Freiheit, als Selbstbestimmung zu haben, so gerät unausweichlich alle fremdbestimmte Herrschaft, die Leistungen erzwingt, in eben dem Maße, in dem der Spiel-Raum des überflüssigen wächst, in das Zwielicht der Verworfenheit, um nicht zu sagen der Obszönität. Die pure Not hingegen verlangt nach Zwang, ja sie ist Zwang; Mangel muß — eine drastische Generationserfahrung der heute älteren Generation gegenüber der jüngeren — verwaltet werden. Mit der Verwaltung von Sachen aber wird Herrschaft über Menschen nicht etwa abgeschafft — ein höchst folgenschwerer marxistisch-leninistischer Trugschluß, der sich schließlich als verhüllende Herrschaftsideologie gegen den eigenen, materialistischen Ansatz abriegelt —, sondern im Gegenteil angeeignet Es kann dann zwar zu erbitterten Kämpfen darüber kommen, wer die Macht, die Verfügungsgewalt über Sachen und Menschen in Händen hält, aber die Macht selbst wird nicht in Zweifel gezogen, weil man ihr ohnehin auf keine Weise entrinnen, sondern allenfalls sich bemühen kann, zu den beati possidentes, zu den Herrschenden statt zu den Beherrschten zu gehören.

VI. Mangel, Machtkampf und Herrschaftsordnung

Von solchen Überlegungen her öffnet sich frei-lieh ein neuer, kaum übersehbarer Problem-horizont. Wenn nämlich Mangel Herrschaft als Zwangsgewalt zur Folge hat, dann drängt sich die Frage auf, ob eigentlich eine Gesellschaft der Fülle statt des Mangels, der optimalen materiellen Bedürfnisbefriedigung aller denkbar ist und realisiert werden kann. In der bis-herigen Geschichte, sofern man sie in ihrer ökonomischen Fundierung als Geschichte der Entfaltung der Produktivkraft versteht, war dies außer für kleine, privilegierte Minderheiten gewiß niemals denkbar. Aber muß es immer so bleiben? Taucht nicht mit der entfalteten Industriegesellschaft, zum ersten Male in der Menschheitsgeschichte, die Utopie der Überflußgesellschaft als objektive Möglichkeit, als Hoffnung im Sinne Ernst Blochs, über dem Horizont der Zukunft herauf?

Es ist leicht, das als Fata Morgana abzutun unter Hinweis auf die Plastizität der B: dürf-nisse, sozusagen mit einer Malthusschen Formel: Die Befriedigung wächst in arithmetischer, die Wunschsphäre in geometrischer Progression. Tatsächlich gibt es, verglichen mit der relativen Statik der Bedürfnisse in älteren Ordnungen, deren Dynamisierung im Zuge der industriellen Entwicklung, so daß zunächst und vor allem ein neues „Armutsbewußtsein" entsteht; die Träume vom edlen Wilden und von der Südsee signalisieren, bezeichnend genug, die Sehnsucht des Zivilisationsmenschen, welcher von Pille, Auto und Fernsehen nicht mehr loskommt, nach der Rückkehr ins Paradies der Bedürfnislosigkeit, das sich ihm für immer verschloß.

Gleichwohl läßt sich die Frage stellen, ob der Malthus-Formulierung des Verhältnisses von Bedürfnis und Befriedigung eine andere, historisch begrenzte Bedeutung zukommt als im Verhältnis von Bevölkerungswachstum und Nahrungsspielraum. Könnte es nicht Grenzen geben, über die hinaus die materiellen Bedürfnisse des objektiv Notwendigen sich nicht mehr sinnvoll ausweiten, sondern nur noch als pathologische Wucherungen erklären lassen? Und könnte es sein, daß die pathologischen Erscheinungen — die zwangshaften, neiderfüllten Süchte, den Nachbarn zu übertrumpfen und auszustechen — etwas mit den Zwängen der Herrschaft zu tun haben? Wäre es nicht denkbar, daß, wenn Mangel Herrschaft schafft, umgekehrt etablierte Herrschaft, um sich zu rechtfertigen und zu erhalten, künstlich den Mangel als Bedürfnisanheizung schafft? Der Faschismus zum mindesten hat darin seine mörderische Logik: Ein Mythos vom „Volk ohne Raum" etwa macht es alsbald zur pathologischen Pflicht — mehr Kinder zu produzieren.

Wohl nur vordergründig geht es bei alledem um Probleme des sogenannten Konsumterrors oder um ein geplantes Verschwenden und Veralten von Gütern innerhalb gewisser Wirtschaftssysteme. Prinzipiell geht es um ein Grundproblem der Herrschaftsgewalt schlechthin, allein schon durch ihre Existenz Mangel zu schaffen, nämlich den Mangel an Macht. Denn wo immer es ein Machtgefälle gibt, gibt es den Kampf um die Macht; wie Marx es auf ökonomischem Gebiet schilderte, besteht ein unerbittlicher Konzentrations-und Akkumulationszwang der Macht. Dies gilt auch für Individuen, die innerhalb von Machtorganisationen — handle es sich nun um Wirtschaftsunternehmen, um Staatsbürokratien, Parteien oder worum immer — an die Spitze kommen wollen. Entsprechendes hat einmal für die Ausscheidungskämpfe einer Vielheit von Feudalgewalten auf dem Wege zum „Monopol der legitimen physischen Gewaltsamkeit“ des modernen Staates gegolten Die wirtschaftliche Entwicklung im Kapitalismus stellt insofern nur den Spezialfall eines weit umfassenderen, typischen Ablaufs von Prozessen der Macht-entwicklung und Machtkonzentration dar. „So that in the first place", sagt Thomas Hobbes, der unerbittlichste Philosoph des Machtkampfes, „I put forward a general inclination of all mankind, a perpetual and restless desire of power after power, that ceaseth only in death. And the cause of this is not always, that a man hopes for a more intensive delight, than he has already attained to, or that he cannot be Content with a moderate power: but because he cannot assure the power and means to live well, which he has present, without the acquisition of more" Macht, heißt das, soll ihrem Inhaber Sicherheit vor drohenden Konkurrenten verschaffen durch deren Unterwerfung, Vernichtung: Macht soll das ungewisse Verhältnis zur sozialen Umwelt stabilisieren durch deren Beherrschung. Aber weil damit jeder, und sei er auch nur potentieller Mitbewerber in der gleichen Zwangslage des Machtkampfes, sich ausgeliefert sieht und seinerseits die Vorherrschaft anstreben muß, um nicht vernichtet zu werden, entsteht ein Wettkampf aller gegen alle um die beherrschenden Spitzenpositionen: ein Wettrennen, wie Hobbes zu zeigen versucht, das nur mit dem vollendeten Macht-monopol — des Staates, der autoritär über die Gesellschaft hinausgehoben wird — oder mit dem Tode enden kann

Hier liegt also in sozialen Systemen, die einerseits durch hierarchische Machtordnungen und mit ihnen durch verselbständigte autoritäre Gewalt, andererseits durch Mobilität und Dynamik, durch dauernde, unabsehbare Veränderungen aller Lebensverhältnisse gekennzeichnet sind — das heißt in Industriegesellschäften, wie wir sie bisher als kapitalistische und sozialistische kennengelernt haben —, der eigentliche Antrieb für die uferlose Bedürfnisanheizung über alles hinaus, was an Nahrung, Bekleidung, Behausung, Gesundheitsfürsorge, Bildung usw. doch eigentlich absehbar sein sollte: Macht schafft Mangel, weil sie nie ein Ende finden kann; sie hat andere Macht neben und potentiell immer rebellische Ohnmacht unter sich. Entsprechendes gilt für die Zeichen der Macht, wie »Ansehen", Ruhm, Ehre, Prestige: Spiegelungen nicht nur, sondern Baumaterialien eines herrschaftsbegründeten, machtbesessenen Selbstbewußtseins, an dem wiederum am klarsten Hobbes das wechselseitige Fundierungsverhältnis von Macht und Mangel abgelesen hat Dabei werden, wie die Begleitumstände der Olympischen Spiele nur zu deutlich demonstrieren, hinterrücks sogar die Wettkämpfe als Prestigesymbole von konkurrierenden Herrschaftssystemen einbezogen, die — dem Anspruch nach — in einem herrschaftsfreien Raum des „überflüssigen" ausgetragen werden sollen.

Gilt nun der Satz, daß erst in der Überflußgesellschaft Herrschaft — jedenfalls in allen bisher bekannten Formen einer dem Menschen als entfremdeten entgegentretenden Zwangs-gewalt— „absterben" kann, auch in der Umkehrung — daß erst mit dem Absterben solcher Herrschaft Überfluß möglich wird —, so läßt sich das natürlich sofort im Sinne eines fatalen Zirkels formulieren: Solange es noch Mangel gibt, läßt sich diese Herrschaft nicht beseitigen, und solange es Herrschaft gibt, ist der Mangel unausweichlich. Das deutet an, wie schwierig die Abschaffung, sogar nur die Zurückdrängung der Gewalt selbst dann noch sein dürfte, wenn die Entfaltung der Produktivkräfte sie objektiv überflüssig machen sollte.

Was zunächst als Möglichkeit sich anbietet, ist das Bemühen, die Gewalt zu bändigen und zu kanalisieren, sie durch demokratische Verfahren unter Kontrolle zu bringen und zu halten. Dagegen führt jeder kurzschlüssige Versuch, etwa die ursprünglich nur theologisch zu erfassende Kategorie der Brüderlichkeit als politisch-gesellschaftlich bestimmende zu etablieren, nicht nur in den Bereich der Utopie, sondern er muß sich unter den bisher bekannten historischen Bedingungen höchst gefährlich auswirken. Die Ereignisse und Folgeerscheinungen der Französischen Revolution haben das ebenso demonstriert wie vor allem die sozialistischen Regime, die als nachholende Entwicklungssysteme entstanden sind, das heißt in krasser Mangellage und unter dem Zwang zu rigorosem Konsumverzicht Ihre stalinistische Deformation, der Irrglaube, alle Quellen des Machtmißbrauchs mit der Abschaffung privater Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel bereits verschlossen zu haben und darum die als *„bourgeois denunzierten Formen der Gewaltenbändigung mißachten zu können, schien von der Brüderlichkeit fast nur den bitteren Kehrreim zu aktualisieren:

Und willst du nicht mein Bruder sein, so schlag'ich dir den Schädel einl

VII. Die Utopie der Freiheit

Aber es bleibt eben doch die Frage, ob solche negative Erfahrung für immer Gültigkeit behalten muß. Was gestern unmöglich war und heute noch nicht oder allenfalls in Ansätzen möglich ist, könnte morgen allgemein möglich werden. Die produktive Utopie zielt auf dieses künftig Mögliche. Sie relativiert die historische Erfahrung auf ihre Vorläufigkeit und versieht deren Behauptung anthropologischer „Natur" -Konstanten mit einem Fragezeichen. In diesem Zusammenhang drängt sich noch einmal eine Überlegung zum sportlichen Spiel und Wettkampf auf. Denn vielleicht ist es gerade die Symbolkraft des freien, „überflüssigen" Leistungsaufwandes im sportlichen Wettkampf, in der — trotz aller Verketzerung in altem und modernem Puritanismus und den meisten der aktiv wie passiv Beteiligten kaum bewußt — als einer Utopie der Freiheit von Herrschaft die Faszinationskraft des sportlichen Spiels und Wettkampfes begründet liegt.

Gewiß gibt es die Manipulation: Wieviel heimlicher Machthunger, wieviel unbefriedigter Ehrgeiz von Eltern, Trainern, Managern wird nicht in die sportliche Leistungsmotivation von Kindern und Jugendlichen hineinpraktiziert, — im durchschnittlichen Vereinsleben vielleicht noch häufiger und, weil unauffälliger, zugleich gefährlicher als bei den eigentlichen Hochleistungssportlern und bei den prestige-beladenen Großveranstaltungen, bei denen der Sachverhalt ohnehin deutlich ist. Es bestätigt die Problematik und läßt sich auch statistisch belegen, daß jegliche sportliche Leistungsmotivation bei den Heranwachsenden oft schlagartig zusammenbricht, sobald sie die Zusammenhänge zu durchschauen oder wenigstens zu fühlen beginnen. Dennoch gilt, daß gerade die leistungsbestimmten Spiele und Wettkämpfe ihiem Prinzip nach, die Freiheit von Herrschaft signalisieren: Der Sieger wird nicht zum Machthaber, der Besiegte nicht zum Machtunterworfenen; die Spieler und Wettkämpfer sind einander Partner in ihrer „überflüssigen" Herausforderung zur Könnenserfahrung und Selbst-Bestätigung und nichts außerdem. Damit gewinnt auch die Hierarchie, die sich im Leistungsvergleich herstellt, eine grundsätzlich andere Qualität als unter den „normalen" Bedingungen des Machtkampfes.

Gibt es indessen gegen die Gefahren des Mißbrauchs und der Manipulation, gegen die Verinnerlichung und Tarnung von Gewaltsamkeit und fremdbestimmter Herrschaft, die damit einem nur um so bösartigeren Wuchern anheimzufallen drohen, eine Gegenwehr? Es gibt gewiß kein unfehlbares Mittel und schon gar kein schlagartig und ein für allemal wirksames Patentrezept. Wohl aber gibt es eine auf geschichtliche Erfahrungen gegründete Hoffnung. Und deren Stichwort heißt: Leistung. Denn wenn die vorangegangenen Überlegungen nur halbwegs zutreffen, dann gilt eben — und zwar generell, weit über die Sonderbereiche des Sports und der Spiele hinaus —, daß die fremdbestimmte Leistung der selbstbestimmten auf die Dauer unterlegen ist, und zwar um so deutlicher, je höher das Leistungsniveau im Sinne differenzierter Qualifikationen insgesamt steigt. Deshalb wird, wie bereits einmal in der modernen Geschichte, wohl kaum guter Wille der Herrschenden ein Mehr an menschlicher Freiheit erbringen, wahrscheinlich aber die auf die Dauer kaum abriegelbare Dynamik des Leistungsprinzips. In dem Bilde Mark Twains: Indem wir uns vom Tütenkleben verabschieden und auf den Weg zum höchsten Berggipfel machen, wissen wir zwar nicht, ob wir ihn je erreichen werden; es gibt der Steinschlag-und Absturzgefahren mehr als genug. Aber indem wir uns ihnen aus eigenem Entschluß als einer „überflüssigen Herausforderung stellen, können wir die B 6 friedigung erfahren, die aus dem freien, befreiten Leistungsvermögen erwächst.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Nichtakademische Betrachtungen zu einer Philosophie der Leistung, in: Leistungssport 1/1972, S. 62.

  2. Zur Rollenproblematik siehe Ralf Dahrendorf, Homo Sociologicus, Opladen 197110, zur Frage heterogener Plazierung vgl.ders., Soziale Klassen und Klassenkonflikt in der industriellen Gesellschaft, Stuttgart 1957.

  3. Vom Sinn des Lebens, Sonderdrucke des , Sym posion“, H. 6, Berlin 1927, S. 346.

  4. Vgl. dazu v'Vers.: Sport und Industriegesell-schaft, München 1972, Kap. I.

  5. G. A. E. Bogeng, Geschichte des Sports aller Völker und Zeiten, 2 Bde., Leipzig 1926, Bd. II, S. 718

  6. Vgl. Heinrich Roth (Hrsg.), Begabung und Lernen — Ergebnisse und Folgerungen neuer Forschungen, Stuttgart 1969.

  7. Vgl. dazu bes. v. Werner Hofmann, Die Arbeitsverfassung der Sowjetunion, Berlin 1956, S. 317e passim.

  8. Vgl. dazu v. Vers.: Soziale Kontrolle und autoritäre Gewalt, München 1971, S. 137 ff.

  9. Sport, Arbeit Leistunqszwanq, in: Leistungssport, 2/72, S. 66.

  10. Demokratie und Erziehung, Braunschweig 1949’, S. 180. - Dem fragwürdigen Zwang entspricht eine ebenso fragwürdige „Bonbon-Pädagogik“ (S. 171).

  11. F. J. J. Buytendijk, Das Spielerische und de Spieler, in: Das Spiel, hrsg. v. Ausschuß Deutscher Leibeserzieher, Frankfurt a. M. 1, * 959 S. 15.

  12. Betrachtungen über die Technik, Stuttgart 1949, 5, 31,

  13. Heinrich Popitz hat in „Prozesse der Machtbil-dung, Tübingen 1968, den Sachverhalt an einfachen eispielen anschaulich dargestellt.

  14. Vgl. hierzu besonders Norbert Elias, über den Prozeß der Zivilisation, Bern u. München 190 ‘ Bd. 2, S. 123 ff.

  15. Leviathan, Kap. 11.

  16. Human Nature, Kap. 9, Abschn. 21; vgl. Elias, a a. 0., S. 135, 142 ff.

  17. Vgl. dazu v. Vers.: Soziologie des Friedens, Gütersloh 1962, S. 11 ff.

Weitere Inhalte

Christian Graf von Krockow, Professor, Dr. phil., geboren 1927 in Ostpommern, 1961 Prof. f. Politikwissenschaft an der Pädagogischen Hochschule Göttingen, 1965 Univ. Saarbrücken, 1968/69 Univ. Frankfurt a. M. Veröffentlichungen u. a.: Nationalismus als deutsches Problem, München 1970; Soziale Kontrolle und autoritäre Gewalt, München 1971; Sport und Industriegesellschaft, München 1972.