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Sozialdemokratie oder Kommunismus? | APuZ 8/1973 | bpb.de

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APuZ 8/1973 Sozialdemokratie oder Kommunismus? Wie der Sozialdemokrat Ulrich Lohmar den objektiven Verlauf der Geschichte aufhalten will Das „strategische Zielbündel" des Herrn Lohmar Der „Hürdenlauf" zur ideologischen Koexistenz

Sozialdemokratie oder Kommunismus?

Ulrich Lohmar

/ 19 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der Autor konzentriert seinen kritischen Vergleich zwischen den ideologischen Positionen kommunistischer Parteien und der Sozialdemokratie auf die gesellschaftlichen und persönlichen Grundwerte, das Herrschaftsproblem und die Eigentumsfrage. Er setzt sich mit dem System des Marxismus/Leninismus auseinander und bezieht dabei vor allem den demokratischen Zentralismus und den Zusammenhang von Freiheit und vermeintlicher geschichtlicher Notwendigkeit ein. Das Prinzip der Mehrheitsentscheidung, der Pluralismus und der Verzicht auf „objektive" Wahrheiten sind für die Sozialdemokratie wesentliche Elemente ihres Selbstverständnisses. Mitbestimmung, Vermögensbildung und gemeinwirtschaftliche Industriebereiche sollen andererseits den kapitalistischen Sektor unserer Gesellschaft zurückdrängen. Für die Demokratisierung der Gesellschaft entwickelt Lohmar eine Reihe von Strukturmerkmalen, wie: gleiche Chance, Transparenz, Kontrolle, Mandat auf Zeit, Partizipation, Spielraum für Minderheiten usw. Im Bereich der Ideologie und Strategie sieht er keinen Ansatz für eine Zusammenarbeit zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten, wohl aber in der Sicherung des Friedens, der Abrüstung, der gemeinsamen Hilfe für die Dritte Welt und in wirtschaftlichen Fragen. Die Antworten der Gesprächspartner Klug, Kalex und Winkler setzen sich mit den Thesen Lohmars aus der Sicht der SED und der DDR auseinander. Probleme der innerparteilichen Struktur und der Funktion des Militärs haben die Autoren aus der DDR dabei ausgespart. Ihnen geht es vor allem um die Begründung ihrer Auffassung, daß die Sozialdemokraten wesentliche ideologische Grundpositionen aufgeben müßten und zu einer Zusammenarbeit, etwa mit der DKP in der Bundesrepublik, bereit sein sollten. Außen-oder deutschland-politische Aspekte der Ostverträge oder des Grundvertrages bleiben dabei weitgehend außer Betracht. Seine Entgegnung auf die kritischen Einlassungen seiner Diskussionspartner aus der DDR verbindet der Autor mit dem Vorschlag, diesen ersten Dialog im Hinblick auf ideologische Grundprobleme in eine wirkliche Diskussion einmünden zu lassen, die in der DDR und in der BRD ungehindert geführt werden sollte.

Die Ostverträge und der Grundvertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR haben die außenpolitischen Beziehungen der Bundesrepublik zu ihren östlichen Nachbarn normalisiert. Doch gerade seit der Bildung der ersten Bundesregierung unter Willy Brandt im Jahre 1969 verstärkte sich in den Zeitungen und Zeitschriften der DDR die Polemik gegen den „sozialdemokratischen Revisionismus". Der SPD-Bundestagsabgeordnete Prof. Dr. Ulrich Lohmar hat in seinem Buch „Die Koalition der Zukunft - Demokratie und Wissenschaft in der Industriegesellschaft", List-Verlag, München 1972 (eine gekürzte Fassung erschien in der „Zeit" vom 21. 4. 72), eine vergleichende Darstellung der ideologischen Positionen der Sozialdemokratie und der kommunistischen Parteien veröffentlicht. Für das theoretische Selbstverständnis und die politische Strategie der SED sehr aufschlußreich sind die Antworten, die daraufhin in zwei führenden theoretischen Organen der DDR erschienen. Wir veröffentlichen alle drei Beiträge mit einem kritischen Kommentar von Ulrich Lohmar, weil wir der Auffassung sind, daß die Unterschiedlichkeit der gesellschaftlichen Systeme in der BRD und der DDR eine Diskussion über ideologische Grundsatzfragen nicht ausschließen, sondern eher herausfordern sollte.

Arno Winkler Wie der Sozialdemokrat Ulrich Lohmar den objektiven Verlauf der Geschichte a aufhalten will S. 11 Günter Kalex/Harry Klug Das „strategische Zielbündel" des Herrn Lohmar S. 21 Ulrich Lohmar Der „Hürdenlauf" zur ideologischen Koexistenz S. 32

Die Diskussion um das ideologische Verhältnis zwischen Sozialdemokratie und Kommunismus ist mit der Differenzierung kommunistischer und sozialdemokratischer Parteien neu belebt worden. Unter Ideologie wird hier nicht eine vom „Sein" entfremdete Form des „Bewußtseins" verstanden, sondern Ideologie ist gemeint in dem neuen Sinn eines theoretischen Handlungsentwurfs, der die Gesellschaft im ganzen sieht, und als ein strategisches Zielbündel. Wie sehr diese Debatte heute verstellt wird durch taktische und emotionale Verhaltensweisen, zeigt beispielsweise die These der KPdSU, die Sozialdemokratie sei durchaus ein internationaler Partner des Kommunismus, und andererseits die Polemik der SED gegen den sozialdemokratischen „Revisionismus". Der gleiche Tatbestand wird auch deutlich in der Neigung mancher Sozialisten, die sich innerhalb sozialdemokratischer Parteien zusammengefunden haben, mit der Beschreibung ihrer politischen „Links“ -Position zugleich zu meinen, man müsse, wenn man links sein wolle, den Kommunisten mit mehr Bereitschaft zu einer Zusammenarbeit begegnen. Die kommunistischen wie die sozialdemokratischen Gesprädhspartner stoßen dabei nur selten zu den erkennbaren inhaltlichen Differenzen zwischen sozialdemokratischer und kommunistischer Ideologie vor. Auch das Godesberger Programm der SPD nimmt diese im eigentlichen Sinn theoretische Problemstellung nur hier und da, aber nicht durchgängig auf. Die zehn folgenden Thesen sind ein Versuch, die Unterschiede zwischen sozialdemokratischem, und kommunistischem Denken inhaltlich zu umreißen, orientiert an der Praxis und an der ideologischen Zielsetzung.

1. Die Sozialdemokratie geht aus von den moralischen Werten der Freiheit, der Gerechtigkeit und der Solidarität. Sie entwickelt aufgrund der jeweiligen gesellschaftlichen Situation daraus politische Strategien. Der Kommunismus geht aus von dem geschlossenen ideologischen Bild von der

Gesellschaft, in der die Dialektik von Werten, Analysen der Gesellschaft und Strategien weitgehend aufgehoben und ideologisch vorgeformt ist.

Moralische Werte wie Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität, die das Godesberger Programm der SPD zu den wesentlichen Leitmotiven des freiheitlichen Sozialismus macht, sind für die Kommunisten lediglich unter den Voraussetzungen einer Vergesellschaftung der Produktionsmittel, des „demokratischen Zentralismus" und einer materialistischen Philosophie real vorstellbar. Freiheit ist für sie Einsicht in die Notwendigkeit, wobei diese Notwendigkeit in einem vermeintlich geschichtsnotwendig verlaufenden Prozeß zum Kommunismus hin gesehen wird. Diese scheinbare Notwendigkeit als Zwangsläufigkeit gibt der kommunistischen Ideologie einen Zug zum aktivistisch-naiven Fatalismus. Die entscheidende Bestimmungsgröße dieser „Notwendigkeit" ist die Gesellschaft im ganzen, nicht der einzelne Mensch. Weder in der Motivation weltanschaulicher, philosophischer oder religiöser Art noch in der Interpretation und Entscheidung möglicher Strategien ist die persönliche Überzeugung des einzelnen das letzte Maß, sondern immer die Gesellschaft. Den dabei zwangsläufig auftretenden Widerspruch zwischen gesellschaftlichem „Sein" und persönlichem „Bewußtsein“ überwinden die Kommunisten mit Hilfe ihres Führungsprinzips des sogenannten „demokratischen Zentralismus", der Wahlen und Entscheidungen formal nach unten delegiert und inhaltlich, d. h. strategisch und personell, von oben her vorformt, weil bei den jeweiligen Spitzen der kommunistischen Parteien das größere Maß an Einsicht in die vermeintliche Notwendigkeit als Verlaufsmaßstab der Interpretation von Freiheit vermutet wird. Die Kommunisten verstehen sich als Geburtshelfer einer an sich geschichtsnotwendigen Entwicklung, deren jeweiligen Entwicklungsstand man nur richtig oder falsch, nicht aber so oder auch anders einschätzen kann.

In der Verneinung des Rechts und der Möglichkeit, aus unterschiedlichen Motivationen zu verschiedenen Resultaten im Hinblick auf den Sozialismus zu kommen, liegt der erste entscheidende Unterschied zwischen sozialdemokratischer und kommunistischer Ideologie. Im einen Fall ist die Gesellschaft das Maß, die Person das Mittel und die Partei das Instrument, im anderen Fall ist die Person das Maß, die Partei das Mittel und die Gesellschaft der Handlungsrahmen. 2. Die Sozialdemokraten wollen bestehende Herrschaftsformen in der Gesellschaft demokratisch legitimieren und sie gleichzeitig durch Demokratisierung allmählich abbauen, soweit das vor allem in überschaubaren Lebensbereichen möglich ist.

Die Kommunisten haben auf der Basis vergesellschafteter Produktionsmittel eine neue, nicht kapitalistische Klassengesellschaft entstehen lassen und bestehen auf einem strengen hierarchischen Aufbau.

Demokratische Legitimation heißt für Sozialdemokraten, daß niemand ohne die Zustimmung anderer Herrschaftspositionen einnehmen soll. Dabei wird nicht die Kooperation, sondern die Wahl als Ausleseprinzip genommen. Nicht von oben, sondern von unten soll die Legitimation geschehen. Die Selbstverwirklichung von Menschen kann natürlich in einer solchen Beziehung nur mittelbar erfolgen. Wo und auf welche Weise sie unmittelbarer verwirklicht werden könnte, ist ein entscheidendes Problem sozialdemokratischer Gesellschaftstheorie. Im Betriebsverfassungsgesetz, im Bildungswesen, in den Genossenschaften, im sozialen Wohnungsbau und in der sozialen Krankenversicherung ist versucht worden, die Selbstverwirklichung von Menschen durch eine unmittelbare Selbst-oder Mitbestimmung zu verwirklichen. Die Arbeitsteiligkeit und die Großräumigkeit moderner Staaten setzen diesen Möglichkeiten natürliche Grenzen, aber diese Grenzen können ganz sicher weiter vorgeschoben werden in der Richtung von mehr unmittelbarer Selbstbestimmung oder Mitbestimmung.

Die Legitimation von Herrschaft im Sinn einer inhaltlich und ideologisch nicht eindeutig vorher bestimmten Wahl kennen die Kommunisten nicht, weil sie mit der Vergesellschaftung (in der Praxis: Verstaatlichung) der Produktionsmittel der Herrschaft von Menschen über Menschen angeblich jede Grundlage entzogen haben. Die monokausale gesellschaftsökonomische Betrachtungsweise der kommunistischen Ideologie macht diese vereinfachende Sicht möglich und verführt dazu, das real-soziologische Faktum der Herrschaft zu verdrängen. Das Maß ist die Einsicht in die Notwendigkeit, und was notwendig ist, darüber befinden die Führer der kommunistischen Parteien kraft besserer Einsicht. Entsprechend nehmen sie das Entstehen neuer Klassen, die nicht auf dem privaten Eigentum an Produktionsmitteln beruhen, gar nicht erst zur Kenntnis. Milovan Djilas, der Theoretiker der jugoslawischen Kommunisten, hat auf diese Tatbestände schon vor anderthalb Jahrzehnten hingewiesen. Er geriet in Acht und Bann. Und weil angeblich unter der Voraussetzung vergesellschafteter Produktionsmittel keine neuen Formen von Herrschaft von Menschen über Menschen entstehen können, finden die Kommunisten natürlich auch nichts dabei, daß es in ihren Staaten und Parteien eine strenge Hierarchie gibt. 3. Die Sozialdemokraten wollen in der Eigentumsfrage durch eine soziale Verpflichtung des Eigentums, durch den Ausbau des gemeinwirtschaftlichen Sektors, durch Kontrolle wirtschaftlicher Macht und durch Vermögen in Arbeitnehmerhand den kapitalistischen Sektor abbauen. Die Kommunisten haben das Privateigentum an Produktionsmitteln weitgehend aufgehoben und durch Staatseigentum ersetzt. Da-B durch wird die Lage des Arbeiters nicht notwendig besser.

Die Verschränkung des Verhaltens und der Möglichkeiten des einzelnen mit den gesellschaftlichen Voraussetzungen wird deutlich auch in der Eigentumspolitik der Sozialdemokraten. Die soziale Verpflichtung, schon vom Grundgesetz vorgegeben, und die Vermögens-bildung in Arbeitnehmerhand wollen den einzelnen einmal an gesellschaftlichen Bindungen orientieren, ihm zum anderen aber Eigentum als eine der denkbaren Voraussetzungen für mehr persönliche Freiheit vermitteln. Der gemeinwirtschaftliche Sektor hingegen und die Kontrolle wirtschaftlicher Macht sind zwei Hebel, um den kapitalistischen Sektor der Wirtschaft politisch in den Griff zu bekommen und eine einseitige Beherrschung der Politik durch die Wirtschaft zu vermeiden.

Die Kommunisten halten von alledem nichts. Soweit sie privates Eigentum weiterhin zulassen, handelt es sich nicht im eigentlichen Sinn um Produktionsmittel. Die Notwendigkeit der Kontrolle von unten nach oben verneinen sie aus den gleichen ideologischen Gründen wie die Kontrolle der Herrschaft schlechthin. Eine Berührung zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten im Bereich der Wirtschaftspolitik gibt es allenfalls in der Beurteilung des gemeinwirtschaftlichen Sektors, den die Kommunisten aber im Gegensatz zu den Sozialdemokraten nicht als ein Wettbewerbselement in einer marktwirtschaftlichen Ordnung mit unterschiedlichen Formen des Produktionsmittel-Eigentums werten, sondern als Vorstufe zu einer vollen Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Der Stellenwert des gemeinwirtschaftlichen Bereichs ist bei ihnen somit ein anderer als bei den Sozialdemokraten.

Es ist interessant, daß die Kommunisten ihrerseits vorwiegend die Form des Staatseigentums an Produktionsmitteln gewählt haben. Und selbst soweit sie Genossenschaften bildeten, sind diese ohne konkrete Einwirkungsmöglichkeiten von unten nach oben geblieben (getreu dem Prinzip des „demokratischen Zentralismus"). Die Lage der Arbeitnehmer ist in dem ökonomischen System der kommunistischen Staaten aus den genannten Gründen nicht durch eine Festigung ihrer persönlichen wirtschaftlichen Lebensgrundlage verbessert worden, sondern durch ein höheres Maß an Zuteilung von Lebenschancen durch die Partei-und Staatsführung. In den Bereichen des Gesundheitswesens, in der Ausbildung, im Wohnungsbau sind die Ergebnisse dabei hier und da besser als in westlichen Industrieländern; im allgemeinen Verbrauch, in der Höhe des Lebensstandards, in der Altersversorgung und in der Qualität der privaten wirtschaftlichen Lebensführung bleiben die kommunistischen Staaten hingegen hinter den westlichen Industriekonkurrenten zurück.

Der entscheidende Unterschied liegt wiederum darin, daß Sozialchancen nicht vom ein-'zelnen her ermöglicht und entwickelt werden, sondern von oben zugeteilt sind. 4. Die Sozialdemokraten gehen davon aus, daß unterschiedliche persönliche Grundüberzeugungen zum Sozialismus führen können und daß die Vielfalt und der Wettbewerb von Meinungen in der Partei eine Bedingung des Fortschritts ist. Die Kommunisten erkennen nur den Marxismus/Leninismus als Ideologie an. Abweichungen werden als „Revisionismus“ und „Fraktionsbildung“ verurteilt.

Das Godesberger Programm der SPD erkennt christliche Überzeugung, marxistische Gesellschaftsanalyse oder philosophische Überzeugungen humanistischer Art als gleichberechtigte Zugänge zum freiheitlichen Sozialismus an, ohne damit einen abschließenden Katalog aufzustellen. Darin wird wiederum die Basis-Bedeutung personaler Überzeugungen und insofern des einzelnen Bürgers für die inhaltliche Orientierung einer sozialistischen Partei deutlich. Dies ist nicht nur deshalb in das Godesberger Programm aufgenommen worden, weil es den tatsächlichen Sachverhalt in der SPD widerspiegelt. Der eigentliche Grund für die Anerkennung unterschiedlicher Grundmotivationen liegt vielmehr darin, daß die SPD der Auffassung ist, ein Wettbewerb von Motivationen und Meinungen sei eine ausschlaggebende Bedingung für jeden intellektuellen und insoweit auch gesellschaftlichen Fortschritt. Das gilt insbesondere für die bisherige Einstellung des Sozialismus sozialdemokratischer Prägung zur Wissenschaft. Die SPD wertet die Wissenschaft nicht als eine Art von Erfüllungsgehilfin ihrer politischen Ideologie, sondern geht von einer prinzipiellen Offenheit der wissenschaftlichen Möglichkeiten aus. Logik, Empirie und Experiment entscheiden über die Qualität wissenschaftlicher Arbeit, nicht deren ideologische Vorgaben.

Dieser gewollte Pluralismus der Motivationen und Meinungen ist den Kommunisten fremd, wenngleich er in der Praxis durchaus vorkommt (man denke an Ungarn 1956, Polen in den Jahren danach, die CSSR 1968). Eine Abweichung von der herrschenden Lehre des Marxismus/Leninismus wird von den Kommunisten als „Revisionismus" gebrandmarkt, das organisatorische Hinarbeiten auf eine ideologische Differenzierung als „Fraktionsbildung''verurteilt und bekämpft. Gerade hierin liegt einer der gravierenden Unterschiede insbesondere zur Linken innerhalb der Sozialdemokratie, die sich um die Möglichkeit der Fraktionsbildung innerhalb der SPD bemüht und unterschiedliche Interpretationen des Godesberger Programms, also einen „Revisionismus", gestattet sehen möchte. Jedenfalls handelt es sich dann und so lange um eine entscheidende Differenz zur kommunistischen Ideologie und Praxis, als solche Forderungen innerhalb sozialdemokratischer Parteien nicht taktisch und nur bis zu dem Zeitpunkt gemeint sind, bis man andere parteiinterne Mehrheiten gebildet haben könnte. 5. In der Sozialdemokratie entscheidet die Mehrheit auf allen Ebenen der Partei über die Richtung der Politik. Eine Meinungsbildung von unten nach oben wird angestrebt. In den kommunistischen Parteien wird mit Mehrheit nur in den höchsten Führungsgruppen entschieden, sonst überall einstimmig. Der demokratische Zentralismus (Lenin) sorgt für eine Meinungsbildung von oben nach unten.

Alle realsoziologischen Untersuchungen auch sozialdemokratischer Parteien bestätigen, daß die Meinungsbildung innerhalb etwa der SPD vielfach von oben nach unten und nicht umgekehrt verläuft. Dies hängt mit dem größeren Maß an möglichem Zeitaufwand für Politik, Sachverstand und politischer Erfahrung bei der jeweiligen Führung zusammen, aber es entspricht nicht dem Leitbild von innerparteilicher Demokratie, von dem die SPD eigentlich ausgeht. Infolgedessen bemüht sich die Sozialdemokratie in letzter Zeit sehr viel stärker, eine Meinungsbildung von unten nach oben zu ermöglichen. Dafür sprechen die Zahl und die größere Präzision von Anträgen zu den Parteitagen, die Nominierung von Parlamentskandidaten erst nach ausdrücklicher und ausführlicher politischer Diskussion mit verschiedenen Bewerbern, das Drängen nach mehr unmittelbarer Basisdemokratie.

Auf allen Ebenen der SPD wird schließlich mit Mehrheit entschieden — nicht darüber, was „wahr" oder objektiv „richtig" sei, sondern über die ganz andere Frage, was geschehen soll. Eben weil die SPD unterschiedliche Motivationen für politische Überzeugungen und gesellschaftliches Handeln nicht nur zuläßt, sondern für notwendig hält, kann sie nicht von einer vermeintlich objektiven Richtigkeit dieser oder jener politischen Strategie ausgehen oder sich darauf festlegen. Und aus genau diesem Grunde ist die Mehrheitsentscheidung das einzige legitime und zugleich praktikable Mittel, um zu Entscheidungen zu kommen. Deshalb auch ist die innerparteiliche Opposition, also die jeweilige Minderheit, nicht mit „Revisionsmus" oder „Fraktionsbildung" im kommunistischen Sinne gleichzusetzen, sondern die Opposition — in der Partei und im Staat — ist die Alternative zur jeweiligen Mehrheit und kann prinzipiell den gleichen Anspruch auf mögliche Entfaltung für sich beanspruchen wie die Mehrheit.

Die Kommunisten entscheiden über ihre innerparteilichen Probleme auf völlig andere Weise. Ihr demokratischer Zentralismus führt dazu, daß lediglich in den obersten und engsten Führungszirkeln, den Politbüros und Zentralkomitees, mit Mehrheit entschieden wird, nach unten hin sonst überall aber einstimmig. Denn es wird ja nicht über eine mögliche Entscheidung befunden, sondern über eine vermeintlich objektiv „richtige" Möglichkeit des Verhaltens eine Feststellung getroffen. Und da dies nach dem demokratischen Zentralismus Sache der Führung ist, kann die Meinungsbildung unterhalb der obersten Führung nur einstimmig erfolgen, also die Einsicht in die „Notwendigkeit" auf diese Weise demonstrieren, was für Kommunisten wiederum mit ihrem Führungsbegriff und ihrem Freiheitsverständnis zusammenfällt. Eine ähnlich abgestufte „Demokratisierung" findet sich in der Gegenwart nur noch in der katholischen Kirche, wo im personellen Bereich lediglich bei der Papstwahl demokratisch, sonst aber hierarchisch entschieden wird. 6. Die Sozialdemokraten gehen davon aus, daß zwischen dem gesellschaftlichen Sein und dem persönlichen oder Gruppenbewußtsein der Menschen ein Spannungsverhältnis besteht. Sie verzichten darauf, diesen Zustand in nur einer Richtung zu „objektivieren“.

Die Kommunisten versuchen, das Bewußtsein der Menschen der herrschenden Ideologie des Marxismus/Leninismus anzupassen. Die Widersprüche zwischen Sein und Bewußtsein werden dadurch real nicht aufgehoben, sondern verdrängt.

Selbstverständlich wissen die Sozialdemokraten aufgrund der sozialwissenschaftlichen Forschung seit Marx, daß das Bewußtsein der Menschen, also deren Vorstellung von sich selbst und von ihrer Umwelt, entscheidend von den gesellschaftlichen Bedingungen geprägt wird, unter denen sie jeweils leben. Die SPD weiß auch, daß für eine sozialistische Entwicklung der Gesellschaft in ihrem Sinne eine entsprechende politische Bewußtseinsbildung erforderlich ist. Aber sie verzichtet bewußt darauf, dieses Bewußtsein mit Zwang und in nur einer einzigen inhaltlichen Bahn zu wollen oder zu fördern. Zudem geht sie davon aus, daß das „Sein", also die gesellschaftlichen Umweltbedingungen, keineswegs nur in der Ökonomie begründet liegt wenngleich die wirtschaftlichen Konditionen von oft ausschlaggebender Bedeutung für diesen Basisbereich sind.

Die Korrektur des bürgerlichen Denkens — das die Ökonomie weitgehend ausgeblendet hatte — durch den Marxismus hat hingegen bei den Kommunisten wiederum zu einer Überbetonung des Ökonomischen geführt. Biologische, psychologische, allgemein soziologische Faktoren, die sich mit dem ökonomischen Bereich zum gesellschaftlichen „Sein" verbinden, entgehen ihrer Aufmerksamkeit oder werden durch die Brille der Ökonomie gesehen. Infolgedessen nehmen die Kommunisten die differenzierte Wirklichkeit des gesellschaftlichen „Seins" nur durch ihren polit-ökonomischen Sehschlitz wahr und werden mit erkennbar werdenden Widersprüchen zwischen Sein und Bewußtsein wieder dadurch fertig, daß sie diese Widersprüche entweder nicht zur Kenntnis nehmen oder sie als „Übergangsschwierigkeiten" auf dem Wege zum Sozialismus/Kommunismus interpretieren. Wo der Widerspruch zwischen Sein und Bewußtsein zu konkreten gesellschaftlichen Spannungen führt, werden diese mit den Mitteln der Erziehungsdiktatur oder notfalls offener Gewaltanwendung unterdrückt und beseitigt, gleichzeitig jedoch weiterhin als ideologisch nicht vorhanden verdrängt. Es ist der Scharfblick des Einäugigen, der sich hier zeigt. 7. Die Sozialdemokraten wirken der kapitalistischen Profitorientierung durch Mitbestimmung, Vermögensbildung in Arbeitnehmer-hand, gemeinwirtschaftliche Industriebereiche und gesellschaftliche Orientierung der Produktion im ganzen entgegen.

Die Kommunisten haben den privaten Profit aus Produktionsmitteln beseitigt und durch eine starke Differenzierung des Lebensstandards in den neuen Hierarchien ersetzt.

Die Sozialdemokraten orientieren sich in ihrer Wirtschafts-und Gesellschaftspolitik vorwiegend an der Frage, wie eine gerechte Verteilung des Sozialprodukts erreicht werden könnte. Dies entspricht ihrer Tradition als Arbeitnehmerpartei in einer zunächst eindeutig kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Neben einer möglichst gerechten Verteilung des Sozialprodukts strebt die SPD nach einer vorrangigen Lösung der Gemeinschaftsaufgaben in den Bereichen der Infrastruktur unserer Gesellschaft. Bessere öffentliche Leistungen sind für die SPD wiederum zugleich ein Mittel zu größerer sozialer Gerechtigkeit. Hingegen ist die SPD an der unmittelbaren wirtschaftlichen Produktion historisch und mentalitätsmäßig weniger interessiert.

Die Kommunisten haben mit den Sozialdemokraten das Bedürfnis nach gerechter Verteilung des Sozialprodukts gemeinsam. Selbst die beträchtliche Differenzierung des Lebensstandards entlang der hierarchischen Abstufung in den kommunistischen Gesellschaften hat nicht so große Unterschiede im Lebensstandard hervorgebracht wie in den kapitalistischen Ländern. Sehr viel eindeutiger als die SPD sind die Kommunisten an einer Steigerung der Produktion interessiert. Dies verbindet sie mit den Kapitalisten in einem Teil der Zielsetzung, wenn auch nicht in der wirtschaftlichen Methodik und der gesellschaftlichen Einordnung dieses Zielaspekts.

Das gespannte Verhältnis der Sozialdemokratie zu den Unternehmern hat in der Überbewertung der Verteilung gegenüber der Produktion ihre eigentliche und gewichtige Ursache. Zwar hat die SPD ideologisch und programmatisch ihren Frieden mit der Marktwirtschaft gemacht, aber sie betrachtet die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit im Gegensatz zu vielen Unternehmern nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel zum Zweck einer gerechten Verteilung des Geschaffenen. Kann man die Mentalität des normalen Kapitalisten technokratisch nennen in dem Sinne, daß ihm gesellschaftliche Zielvorgaben relativ gleichgültig sind, so ist das Wirtschaftsdenken der Sozialdemokratie vorwiegend basisfremd, insoweit die wirtschaftliche Produktion unabhängig von ihrem gesellschaftlichen Verwertungszusammenhang eben die entscheidende Grundlage für jede denkbare Infrastruktur-und Verteilungspolitik bleibt. Diese Produktionsfremdheit der SPD wird durch ihre Bindung zu den Gewerkschaften verstärkt und ist durch jahrzehntelange Opposition in der Bundesrepublik zusätzlich verfestigt worden. Aus dieser Haltung erklärt sich auch das Fehlen einer sozialdemokratischen Gesellschaftsstrategie, die die wirtschaftliche Produktion voll in ein solches Konzept mit hineinnimmt, einschließlich einer Antwort auf die Frage, wo denn die Motivation für wirtschaftliche Leistung liegen könnte und sollte. Doch immerhin hat die SPD hier einen ersten und wichtigen Schritt getan, indem sie sich für eine Politik der gleichen Chance entschieden hat, nicht für eine solche der absoluten Gleichheit. Gleichheit der Chancen bedeutet Unterschiede im Resultat und damit die Bindung der größeren Leistungsfähigkeit und -bereitschaft an ein größeres Maß an Erfolg, auch im wirtschaftlichen Sinne. Soziale Gerechtigkeit und persönliche Leistung stehen dabei in einem Spannungsverhältnis zueinander, das die Sozialdemokratie bislang wiederum für sich nicht eindeutig bestimmt hat.

Die Kommunisten haben die Chance, der Bedeutung der wirtschaftlichen Produktion auszuweichen, von vornherein nicht gehabt. Sie konnten im Gegensatz zur Sozialdemokratie die Produktion nicht den Kapitalisten überlassen, weil sie die Produktionsmittel ja verstaatlicht hatten. Infolgedessen mußten sie, zunächst mit dem Mittel der zentralen Verwaltungswirtschaft, den Versuch unternehmen, auf der Basis verstaatlichter Produktionsmittel eine Industrieproduktion zu entwickeln. Das ist ihnen gelungen, wenngleich nicht so weitgehend wie den kapitalistischen Ländern. Die internationale Wettbewerbssituation gegenüber den kapitalistischen Staaten veranlaßt die Kommunisten dazu, eine Ausweitung der Produktion um jeden Preis ebenso anzustreben wie die Kapitalisten. Sie legen dabei das größere Gewicht auf die Grundstoffindustrien und die Investitionsgüter, während in den westlichen Ländern die Konsumgüterproduktion ein Übergewicht beansprucht. Die gesellschaftspolitische Zuordnung der Produktion zur Infrastruktur-Qualität ist erst seit einigen Jahren stärker in das kommunistische Wirtschaftsdenken aufgenommen worden. Auch Elemente der betrieblichen und persönlichen Leistungsdifferenzierung, in den kommunistischen Ländern „sozialistischer Wettbewerb" genannt, deuten auf eine größere Beweglichkeit der zentralen Verwaltungswirtschaft hin. Gegenüber den Sozialdemokraten haben die Kommunisten in der Frage der wirtschaftlichen Produktion den Vorteil, daß sie die Bedeutung dieses Problems von vornherein ideologisch klar erkannt haben und aus diesem Grunde auch z. B. jeder Abschwächung des Leistungsgedankens unmißverständlich entgegengetreten sind. Sie wissen ebenso wie die Kapitalisten aus eigener Erfahrung besser als viele Sozialdemokraten, daß man einen Kuchen erst bakken muß, bevor man ihn essen kann. 8. Für die Sozialdemokraten ist die Landesverteidigung ein „notwendiges Übel", um durch ein militärisches Gleichgewicht den Frieden erhalten zu helfen. Ihr Ziel ist und bleibt dabei die Abrüstung beider Militärblöcke. Aus dem hohen Rang persönlicher Überzeugungen des Bürgers gegenüber Erfordernissen des Staates haben sie neben der allgemeinen Wehrpflicht das Recht auf Wehrdienstverweigerung abgeleitet. Gleichzeitig suchen sie die innere Ordnung des Militärs in eine Beziehung zur demokratischen Grundordnung zu bringen: durch das Leitbild des Staatsbürgers in Uniform.

Die Kommunisten betrachten und bewerten das Militär als Mittel zur Selbsterhaltung und zur Durchsetzung ideologischer Ziele. Bei den kommunistischen Großmächten kommt gelegentlich eine verhüllte, hegemoniale Macht-politik hinzu. Eine Wehrdienstverweigerung gibt es nicht, weil die Gesellschaft und die herrschende Ideologie das Maß aller Dinge sind, nicht die Überzeugung des einzelnen. Eine streng hierarchische Ordnung in der Armee ist ebenso selbstverständlich wie in Staat und Partei.

Für die Sozialdemokraten war die Landesverteidigung über lange Jahrzehnte ein großes Streitthema. Die allgemeine Zielsetzung des Sozialismus, den Frieden zu wollen und zu sichern, hinderte viele Sozialdemokraten zu erkennen, daß eben dieser Frieden einstweilen nur durch ein militärisches Gleichgewicht gewahrt werden kann. Gleichwohl hat die erste sozialdemokratisch geführte Bundesregierung ein entscheidendes Gewicht auf die internationale Abrüstung gelegt, und es kennzeichnet diese Politik, daß sie die Funktionsfähigkeit der Bundeswehr und die Abrüstung als zwei Wege zum selben Ziel wertet.

Die Linke in der Sozialdemokratie neigt demgegenüber dazu, zwar die Abrüstung zu wollen, nicht aber die Bundeswehr. Dies ist bei manchen ein Ausdruck pazifistischer Grundhaltung, bei anderen mit deren erklärter oder verhüllter Absicht verbunden, den „Kapitalismus" durch eine einseitige Abrüstung z. B.der Bundesrepublik im Wettbewerb mit den kommunistischen Gesellschaften zu schwächen. übereinstimmend hält die Sozialdemokratie hingegen an der Wehrdienstverweigerung als einer moralisch gleichwertigen Möglichkeit des Verhaltens gegenüber der allgemeinen Wehrpflicht fest.

In den kommunistischen Staaten ist die Armee nicht nur in den allgemeinen ideologischen Rahmen eingefügt. Gleichzeitig haben die kommunistischen Armeen, teilweise als Folge des Zweiten Weltkrieges, den Patriotismus und den Nationalismus als ideologische Bindemittel aktiviert. Der Rückgriff auf formale preußische Traditionen bei der „Nationalen Volksarmee" in der DDR ist ein besonders augenfälliges Beispiel dafür. Die kommunistiB sehen Großmächte rechtfertigen den hegemonial bestimmten Einsatz ihrer militärischen Streitkräfte mit der internationalen Schutzfunktion, die den kommunistischen Führungsstaaten zufalle. Die Theorie vom Recht eines jeden kommunistischen Staates auf seinen eigenen Weg zum Sozialismus findet ihre Grenze an dieser übergreifenden Schutztheorie, deren völkerrechtliche Verbindlichkeit von Breschnjew zunächst behauptet, dann später in Jugoslawien wieder zurückgenommen und auf den ideologischen Grundgedanken beschränkt wurde. Die Sowjetunion hat von diesem Anspruch dennoch gelegentlich praktischen Gebrauch gemacht (man denke nur an den Einmarsch in die ÖSSR 1968).

Von der Sozialdemokratie unterscheidet sich das militärische Denken der Kommunisten insgesamt durch den teilweise hegemonialen Funktionscharakter ihrer Armeen, durch den patriotischen überbau und durch die strikte Bindung der Armee an das ideologisch vorgeprägte Prinzip von Befehl und Gehorsam. 9. Die Sozialdemokratie orientiert ihre politische Strategie der Demokratisierung an den Grundsätzen der gleichen Chance, der Transparenz, der Kontrolle, dem Mandat auf Zeit, der konkreten Partizipation von einzelnen und Gruppen und an der Vielfalt von Meinungen. Dafür ist ein Konfliktbewußtsein, die Emanzipation von einzelnen und Gruppen und deren Selbstverwirklichung notwendig. Bei den Kommunisten gibt es Ansätze zu einer solchen Demokratisierung theoretisch nur im Rätegedanken und praktisch lediglich in Jugoslawien.

Zwischen der Analyse der gesellschaftlichen Wirklichkeit und den allgemeinen Werten der Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität, wie sie das Godesberger Programm der SPD formuliert, hat die Sozialdemokratie in der Praxis ihrer Politik gesellschaftliche Struktur-maßstäbe entwickelt, die es erlauben, genauer zu bestimmen, auf welche Weise die drei Grundwerte realisiert werden können und woran dies gemessen werden soll. Faßt man die allgemeine Zielrichtung unter dem Stichwort der Demokratisierung der Gesellschaft zusammen, so bieten die Maßstäbe der gleichen Chance, der Kontrolle, der Transparenz, des Mandats auf Zeit, der Partizipation und der Vielfalt von Motivationen und Meinungen konkrete Möglichkeiten, um festzustellen, wieweit eine Gesellschaft demokratisiert ist oder nicht. Die Selbstverwirklichung der Menschen ist das angestrebte Resultat einer solchen gesellschaftspolitischen Strategie. Sie setzt wiederum ein Konfliktbewußtsein an

Stelle eines Harmoniedenkens voraus und muß die Emanzipation des einzelnen und von Gruppen im allgemeinen Kontext einschließen.

Ihre geschlossene Ideologie verführt andererseits die Kommunisten dazu, ihre Ordnung in gewisser Weise für einen — jedenfalls im Entwurf — harmonischen Endzustand der Geschichte zu halten. Sie erliegen damit in ähnlicher Weise einer unkritischen ideologischen Naivität wie hundert Jahre zuvor das liberale Bürgertum. Eine konkrete Demokratisierung, die sich an den bei der Sozialdemokratie wesentlichen Maßstäben orientiert und auf Selbstverwirklichung von Menschen und Gruppen gerichtet ist, findet sich bei den Kommunisten nur im Rätegedanken. Er ist in der Sowjetunion sehr bald durch eine straffe Hierarchie ersetzt worden und findet heute eine bescheidene Realitätschance nur noch in Jugoslawien, während z. B. in der kapitalistischen Bundesrepublik Elemente eines Rätesystems in der betrieblichen Mitbestimmung, in den Genossenschaften, an den Hochschulen, in der sozialen Selbstverwaltung vorhanden sind, sich dabei aber in den Rahmen einer parlamentarischen, pluralistischen Demokratie einfügen. 10. Gemeinsame Ziele von Sozialdemokraten und Kommunisten im Bereich der Ideologie und der Strategie gibt es nicht oder nur in Teilbereichen, die aber jeweils einen unterschiedlichen Stellenwert haben.

Die gemeinsamen Interessen von Sozialdemokraten und Kommunisten sollten dagegen in der Sicherung des Friedens, in der Abrüstung, der gemeinsamen Hilfe für die Dritte Welt und in der wirtschaftlichen Zusammenarbeit liegen.

Die konkrete inhaltliche Tatbestandsaufnahme der ideologischen Position von Sozialdemokraten und Kommunisten ergibt, daß ihre Prinzipien, ihre Motivationen und ihre Strategien sich vorwiegend deshalb kaum berühren, weil sie einen jeweils unterschiedlichen Stellenwert in den verschiedenen Bildern von einer wünschenswerten Ordnung der Gesellschaft haben. Das Gesellschaftsbild der Sozialdemokratie setzt auf die Spontaneität von Ideen und auf die Unverwechselbarkeit von Menschen, bei aller Anerkennung der gesellschaftlichen Vorformung und komplexen Verflechtung beider. Das Gesellschaftsbild der Kommunisten bestimmt, die Rolle des Menschen und der Ideen nicht induktiv, sondern deduktiv von einer geschlossenen inhaltlichen Vorgabe her, der Ideologie des Marxismus/Leninismus. Dies schließt nicht aus, daß sich Sozialdemokraten und Kommunisten, wenngleich aus teilweise unterschiedlichen Motiven, in der Friedenspolitik, in der Abrüstung und in der Hilfe für die Dritte Welt finden können. Auch eine engere wirtschaftliche Kooperation etwa zwischen den Staaten der EWG und des Comecon ist naheliegend. Aber eine solche Kooperation in wichtigen Fragen führt nicht zu einer ideologischen Annäherung beider Positionen. Nikita Chruschtschow hatte recht, als er 1957 den westlichen Ländern die ideologische Koexistenz anbot. Er meinte damit nicht das bloße Nebeneinander ideologischer Systeme, wobei er natürlich die Sozialdemokratie als Bestandteil des Kapitalismus auffaßte. Er wollte den Koexistenzkampf mit friedlichen Mitteln, und die Sozialdemokratie muß darauf zugleich zwei Antworten geben: Sie muß diesen Wettbewerb bewußt aufnehmen, und sie muß sich sowohl gegenüber dem Kapitalismus als auch gegenüber dem Kommunismus als eine dritte Möglichkeit profilieren, die nach den Maßen einer sozialen Demokratie beschrieben und verstanden werden kann. So gesehen besteht kein Grund dafür, daß Sozialdemokraten ihren Wunsch unterdrücken müßten, die Welt weder kapitalistisch noch kommunistisch, sondern eben sozialdemokratisch zu sehen. Nicht zuletzt gehört eine solche Sicht sozialdemokratischer Theorie und Strategie in den Rahmen der Friedenspolitik.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Ulrich Lohmar, Dr. sc. pol., o. Professor für Politische Wissenschaft an der Gesamthochschule Paderborn, MdB, geb. 1928 in Engelskirchen. Studium der Rechtswissenschaften und Sozialwissenschaften in Köln, München und Hamburg; 1954— 1967 Chefredakteur der Zeitschrift „Die Neue Gesellschaft"; seit 1957 Mitglied des Deutschen Bundestages und seit 1965 Vorsitzender des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft. Veröffentlichungen u. a.: Innerparteiliche Demokratie, 1963; Politik in der Hauptschule, 1970; Die Koalition der Zukunft — Demokratie und Wissenschaft in der Industriegesellschaft, 1972; Kursbuch für junge Staatsbürger, 1972.