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Israel und das jüdische Selbstverständnis | APuZ 16-17/1973 | bpb.de

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APuZ 16-17/1973 Straße zur Rettung Israel und das jüdische Selbstverständnis Artikel 1

Israel und das jüdische Selbstverständnis

Wanda Kampmann

/ 26 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Seit der Gründung des Staates Israel ist die Frage nach der jüdischen Identität neu gestellt. In einer Gesellschaft von (Einwanderern mit sehr verschiedenem kulturellen und religiösem Herkommen kann sie nicht einheitlich beantwortet werden. Zwischen der orthodoxen Auffassung der alten jüdischen Gemeinden in Palästina und der säkularen Staatsund Volksidee der zionistischen Gründergeneration und dem Agnostizismus von jüdischen Intellektuellen europäischer Herkunft gibt es vielmehr eine breite Skala von Ausdrucksformen des jüdischen Selbstverständnisses. Da die zionistische Bewegung sich von Anfang an in mehrere Richtungen spaltete, ist auch die Wesensbildung des Staates Israel verschiedenen Deutungen unterworfen. Das Problem seiner „Normalität" steht dabei im Mittelpunkt. Ob Israel ein Staat ist wie jeder andere und so zu handeln berechtigt und verpflichtet ist oder ob ihm Sonderverpflichtungen auferlegt und Sonderrechte zugestanden sind, ist eine Frage, an der sich die Geister scheiden. Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit zwei Grundpositionen der israelischen Innenpolitik, die sich sowohl bei der Erörterung der Friedensinitiative wie bei den Verwaltungs- und Integrationsproblemen der besetzten Gebiete feststellen lassen, wobei der rechtsoppositionelle Gachal-Block die Herzl-Jabotinsky-Linie fortsetzt und im linken Flügel der Arbeiterparteien, in der Mapam und in der Kibbuzbewegung die Traditionen des Friedensbundes „Brith Schalom" und des Martin-Buber-Kreises weiterleben. Zwischen diesen Extremen bewegt sich die aktuelle Politik der Regierungskoalition, von links angegriffen wegen ihres Beharrens auf dem Status quo und der Dominanz des Sicherheitsdenkens, von rechts wegen ihrer sich nunmehr abzeichnenden Kompromißbereitschaft. Es war die bitterste Erfahrung des jungen Staates, daß die arabischen Nachbarstaaten ihm von Anfang an das Daseinsrecht verweigerten und daß er sich — statt in der Normalität nationaler Existenz — alsbald in der Ausnahmesituation einer belagerten Fe-stung befand. Das Friedensproblem hat demnach mehrere Aspekte: Seine Lösung ist nähergerückt, weil die beiden Supermächte eine militärische Konfrontation im Nahen Osten zu verhindern wünschen; sie ist komplizierter geworden, weil sie in Israel innenpolitische Kontroversen hervorruft und weil die Instabilität der von politischen Gegensätzen und sozialen Spannungen zerrissenen arabischen Welt erheblich zugenommen hat. Man müßte dem Selbstverständnis Israels das viel schwerer zu definierende arabische Identitätsproblem gegenüberstellen können — ihre Interdependenz ist heute offenkundig.

Ein 1965 in Frankreich und drei Jahre später in deutscher Übersetzung erschienenes Buch des französischen Soziologen Georges Fried-mann trägt den herausfordernden Titel „Das Ende des jüdischen Volkes?" Der Verfasser neigte damals dazu, die Frage zu bejahen. Er stellte die folgenden, auf kontrollierte Beobachtungen und auf Statistiken gegründeten Thesen auf:

Der Schmelztiegel Israel mit Einwanderern aus 102 Ländern hat bei der Mehrzahl seiner Bürger die jüdisch-traditionelle Identität geschwächt und eine neue Nation, die israelische, geschaffen. Israelisches und nicht jüdisches Selbstverständnis ist das Charakteristikum zumindest der jüngeren Generation in Israel.

Bei der Verwirklichung der Utopie — Israel ist das imponierendste Beispiel einer realisierten Staatsutopie — ging der chiliasti-sehe Charakter, ging die besondere Mission Israels verloren. Israel wird in wachsendem Maße „ein Staat wie andere auch". Die große Mehrheit der Israeli will die Normalisierung. Der Entjudaisierung der Israeli entspricht die Entjudaisierung des Diaspora-Judentums durch seine unaufhaltsame Assimilierung an die Umwelt, zumal der Antisemitismus — trotz rückläufiger Einzelerscheinungen — in den modernen demokratischen Industriegesellschaften im Schwinden ist.

Die Beobachtungen, auf die Friedmann sich stützt, betreffen einmal den schwindenden Einfluß der Religion und den allgemeinen Säkularisierungsprozeß, der durch theokrati-sche Tendenzen eher beschleunigt als aufgehalten werde, dann den wachsenden Pragmatismus der jungen Generation, die für die zionistische Ideologie der „Gründerväter", für die kollektivistischen und asketischen Werte und das harte Arbeitsethos der Pionierzeit wenig Verständnis habe — so wenig wie für die Leidensgeschichte des Exils. Die Jugend denke heute: Schluß mit der jüdischen Tragödie! — und dränge auf Normalisierung.

Der einer Pariser assimilierten jüdischen Familie entstammende Soziologe Georges Fried-mann war dem Antisemitismus erst bei Hitlers Invasion in Frankreich begegnet, zugleich hatte er sein Lehramt verloren. Seine Studienaufenthalte in Israel während der sechziger Jahre galten dem interessanten Experiment der Bildung einer Staatsnation aus einer Einwanderergesellschaft in kürzester Zeit; dabei erfuhr er mehr, nämlich die Problematik der jüdischen Identität, die ihn selber betraf. Welche Gleichartigkeit gibt es — so lautet seine Frage — „zwischen einem Flickschuster in Kiew, einem irakischen Minenarbeiter in Timna, einem argentinischen Kibbuznik in Galiläa, einem Bankier in Paris und einem Arzt, in Brooklyn? 1) Sie fühlen sich verbunden in dem Maße, in dem ihre Geschicke interdependent sind oder es werden können. Das ist die charakteristische Antwort des assimilierten Juden, der sich als französischer Staatsbürger fühlt — „civis gallicus sum" —, aber zur Judaizität bekennt.

Als de Gaulle in seiner Pressekonferenz vom 27. November 1967 Israel als Aggressor im Junikrieg offiziell verurteilte und die Juden „ein selbstbewußtes und herrschbegieriges Elitevolk" nannte, „das nach seinem Zusammenschluß dazu übergehen könnte, seine ergreifenden, 19 Jahrhunderte lang geäußerten Wünsche . Nächstes Jahr in Jerusalem'in einen leidenschaftlichen und erobernden Ehrgeiz zu verwandeln", analysierte Raymond Aron in einer berühmt gewordenen Replik des „Figaro" diesen Satz als ein bedrohliches Zeichen dafür, daß der französische Staatsantisemitismus wieder salonfähig geworden sei 2). Er habe als Kind gelernt, nicht über die Zerstörung des Tempels Tränen zu weinen, sondern über Waterloo und Sedan. Jetzt fühle er sich als Jude herausgefordert und verletzt. „Sollten die Großmächte, nach einer kühlen Kalkulation ihrer Interessen, jenen kleinen Staat, der nicht der meine ist, zerstören lassen, dann würde dies zahlenmäßig winzige Verbrechen meine Lebenskraft rauben", heißt es in einem anderen Artikel zum Junikrieg 3).

Beide Franzosen sind Nicht-Zionisten, aber sie bekräftigen eine Grundthese des politischen Zionismus, daß es der Antisemitismus sei, der die jüdische Identität vor der Auflösung bewahre. Diese Theorie hat durch die Existenz des jüdischen Staates und die Interdependenz zwischen dem Schicksal Israels und der Diaspora einen neuen Aspekt erhalten, wie auch das Identitätsproblem selber durch die Staatsgründung keineswegs gelöst, sondern eher kompliziert worden ist.

Wie versteht sich Judesein in Israel, das heißt: was macht den Menschen zum Juden? Die Nationalität, die Rasse, das Geburtsrecht, die Religion, der freie Wille? — oder die Kombination aller dieser Faktoren? Es versteht sich, daß es in dieser Grundfrage keine Übereinstimmung geben kann, so wenig, wie es eine einheitliche Antwort darauf geben kann, wie das Leben in einem jüdischen Staat und wie dieser Staat selber beschaffen sein soll. Eine jüdische Rasse gibt es nicht; wenn in arabischen Ländern heute von jüdischem Rassismus gesprochen wird, so ist der Begriff verwechselt oder mißbraucht. Auch ein „jüdisches Volk" mit dem Maßstab der religiösen Observanz zu definieren, ist offenbar unmöglich. I.

In Israel fanden sich Juden zusammen, die ein sehr unterschiedliches Verhältnis zum Judentum haben: Da gab es die lange dort ansässigen orthodoxen Gemeinden in den religiösen Zentren des Landes (Jerusalem, Safed, Tiberias, Hebron); dann die zionistischen Kolonisatoren und Staatsgründer meist russischer Herkunft, der rabbinischen Frömmigkeit völlig entwachsen, Verkünder eines sozialistischen Populismus, von der Idee der nationalen Wiedergeburt des jüdischen Volkes erfüllt und unbeirrbar in der Überzeugung, daß die Besitzergreifung der alten Volksheimat rechtmäßig und nichts als eine „Rückkehr" sei; dann die von der europäischen Kulturtradition geprägten und vor dem Naziregime nach Palästina Flüchtenden; dann die afrikanischen und asiatischen Juden („Orientalen") aus den Ghettos levantinischer Städte, aus dem Jemen oder den ärmlichen Dörfern des Maghreb, diskriminiert und flüchtig die meisten von ihnen. Die Heimkehr in das „gelobte Land" sahen sie als Erfüllung des Prophetenwortes. Die Motive der jüngsten russischen Immigration sind noch wenig erforscht; sie scheinen eher nationalen als religiösen Ursprungs zu sein — sofern sich nicht beides verbindet.

So verschieden der Erwartungshorizont der Einwanderergruppen ist, so breit ist auch die Skala von Deutungen jüdischer Identität zwischen der strengen Orthodoxie auf der einen Seite und der säkularen Volksidee auf der anderen, zwischen dem religiös-nationalen Judentum und dem Agnostizismus europäischer Intellektueller. Keine dieser Deutungen aber, sofern sie nicht jüdische Tradition und geschichtliche Kontinuität überhaupt bestreiten, kann den religiösen Aspekt vollständig ausschalten: Es war die Religion, die das Volksbewußtsein der Juden im 2000jährigen Exil lebendig erhalten hat

Jüdische Identität war bis zu den Emanzipationsgesetzen des 19. Jahrhunderts kein Problem. Seit sich bei den assimilierten Juden Westeuropas Judentum als Konfession verstand, während in Osteuropa „jüdisches Volk" noch eine religiös-kulturelle Wirklichkeit geblieben war, wurde sie tatsächlich zum Problem. Die Zionisten lösten es bekanntlich dadurch, daß sie die bisher ununterbrochene Kontinuität und die Einheit des jüdischen Volkes voraussetzten und, indem sie auf die Gefahr seiner Zerrüttung und Auflösung im Exil hinwiesen, die Erneuerung und Wiedergeburt von Volk und Nation forderten — auf eigenem Boden und unter eigener Verantwortung. Daher versteht sich der politische Zionismus auch als eine revolutionäre und emanzipatorische Bewegung; die ihn begründende Programmschrift Leon Pins-kers, des europäisch gebildeten jüdischen Arztes aus Odessa, trug den Titel „Autoemanzipation" — Selbstbefreiung.

Es war risikoreich, aber konsequent, wenn der junge zionistische Staat 1950 ein „Rückkehrgesetz" erließ, nach dem jeder Jude das Recht hatte, in Israel einzuwandern. Aber wer war Jude? Nach Absicht der Regierung sollte das dem Selbstverständnis und der Entscheidung des einzelnen überlassen bleiben, nach der Auffassung des Rabbinatsgerichts, das die Jurisdiktion in Personenstandsfragen ausübt, muß die Bezeichnung „Jude" dem Religionsgesetz der Halacha entsprechen andernfalls kann nur die israelische Staatsbürgerschaft erworben werden. Hier ist eine Spannung vorhanden, die häufig zu Auseinandersetzungen zwischen dem Innenministerium und dem Oberrabbinat oder zwischen den Parteien geführt hat, wobei es sich meistens um die verweigerte Einführung der Zivilehe handelte. Israel ist weder eine Theokratie noch ein moderner laizistischer Staat. Daher mußten bisher im Bereich der Personenstandsfragen von beiden Seiten Kompromisse geschlossen und Konfliktfälle individuell gelöst werden Älter als der Staat Israel ist die innerzionistische Kontroverse um die nationale „Normalität": der künftige Judenstaat — ein Staat wie jeder andere oder nicht wie jeder andere? Aber worin besteht dann seine Besonderheit? Diese Grundfrage ist immer wieder variiert worden. Heute ist sie der — unausgesprochene — Anlaß zu politischen Grundsatzdiskussionen, sie trennt die Geister bei den Vorschlägen zur Friedens-und Besatzungspolitik, sie steht zwischen den Parteien und läuft mitten durch die Parteien.

Es gab von Anfang an verschiedene Zielsetzungen in der zionistischen Bewegung. Man war sich nicht einig, ob für das jüdische Gemeinwesen in Palästina eine rein jüdische oder eine binationale Lösung die richtige sei. Für den binationalen Staat setzten sich in den zwanziger Jahren Persönlichkeiten wie Martin Buber, Judah Magnes, Arthur Ruppin, Robert Weltsch und Hans Kohn ein. Der 1925 gegründete „Friedensbund" (Brith Schalom), eine Organisation zur Förderung jüdisch-arabischer Verständigung mit binationalem Programm, stellte 1933 seine Tätigkeit ein, als die Erfahrung des Hitlerismus den Verfechtern eines jüdischen Staates (d. h. eines Staates mit gesicherter jüdischer Majorität) recht zu geben schien.

Es war in der frühen Phase des Zionismus auch umstritten, ob die Heimstatt in Palästina vornehmlich ein geistig-kulturelles Zentrum für die Judenheit der Welt oder ein souveräner Nationalstaat werden solle, ob dieser als laizistischer Staat oder ob er auf eine Religionsverfassung zu gründen sei, ob er die Modelle des utopischen Sozialismus oder die der liberalen Demokratien -Westeuro pas übernehmen solle.

II.

Zwei Linien lassen sich in der innerzionistischen Auseinandersetzung bis heute verfolgen; man könnte sie — vereinfachend — die Buber-Linie und die Herzl-Jabotinsky-Linie nennen. Martin Buber erkannte die zentrale Bedeutung des arabischen Problems, das die Pioniere der jüdischen Kolonisation in Palä-stina noch beiseite geschoben hatten, verhältnismäßig früh. 1921 trat er als Delegierter der nicht-marxistischen, volkssozialistischen Fraktion der Arbeiterpartei (Hapoel Hazair) auf dem XII. Zionistischen Kongreß mit einer Resolution auf, in der er die versammelten Zionisten vor.dem „Herrschaftsnationalismus" und seinen imperialistischen Methoden warnte und die Solidarität jüdischer und arabischer Interessen am Aufbau Palästinas beschwor. Er riet später zur Aufstellung eines gemeinsamen Entwicklungsplanes für die gesamte vorderasiatische Region — ein bestechender Gedanke, aber politisch illusionär, da er die sozialistische Umwandlung einer stagnierenden, halbfeudalen, ritualistischen Gesellschaft in naher Zukunft voraussetzte. Buber stand 1921 unter dem starken Eindruck der Persönlichkeit Gustav Landauers; den Orient kannte er noch nicht. Auch wenn seine Gegner im Kongreß den Plan ernstlich akzeptiert hätten, so wäre er an den Realfaktoren gescheitert: an den Interessen und der Regierungsbefugnis der Mandatare des Völkerbunds im Nahen Osten und an dem Nationalstolz der Araber, der jede Kooperation verweigerte.

Buber fürchtete, der Zionismus könne seine soziale und kulturelle Mission versäumen und den Weg der „kollektiven Selbstsucht" einschlagen, die man als Staatsräson verehre. Die „nationale Assimilation" — so nannte er die Angleichung der Zionsidee an die Normalität nationalstaatlicher Existenz — hielt er für ebenso substanzgefährdend wie die individuelle Assimilation, ja für gefährlicher noch, wenn sie ihren Anspruch auf „Erwählung" gründen sollte. 1948 hat Buber sich scharf abgesetzt vom Geist der zionistischen Staatsgründer, politischen vom besonders Pragmatismus Ben Gurions. „Unser geschichtlicher Einzug in unser Land ist durch ein falsches Tor erfolgt", sagte er rückblickend, bekannte sich später aber doch in der „Haltung kritischer Identität" zum Staat Israel, wie er aus dem Unabhängigkeitskrieg hervorgegangen war, als zu der „faktischen Gestalt der jüdischen Selbständigkeit". „Ich habe nichts mit jenen Juden gemein", heißt es in einem seiner späten Aufsätze, „die ihn bestreiten zu dürfen meinen. Das Gebot, dem Geist zu dienen, ist jetzt von uns in diesem Staat, von ihm aus zu erfüllen." -

Buber hat dem jüdischen Nationalgedanken und damit dem jüdischen Identitätsbewußt-sein eine besondere Bedeutung gegeben, in-dem er den religiösen Ursprung und die soziale Zielsetzung hervorhebt. In seinem Buch „Israel und Palästina" (1944) heißt es, der Name Zionismus kennzeichne den Sachverhalt, daß sich die nationale Idee hier nicht, wie üblich, nach einem Volk benannte, sondern nach einem Ort, dem Sitz des Heiligtums, und daß sie damit „die ganze Fülle dieser Assoziationen" auf sich nahm. Die Verbindung von Volk und Land stehe im Zeichen dessen, „was sein soll, was werden, was verwirklicht werden soll"

Zu den geglückten Verwirklichungen des Zionsgedankens rechnete Buber das landwirtschaftliche Kollektiv, den Kibbuz. Er nannte es in seinem Buch mit dem bezeichnenden Ti-tel „Pfade in Utopia" den einzigen Versuch des utopischen Sozialismus, der nicht gescheitert sei. Er ist bis heute nicht gescheitert — auch wenn es sich bei den Kibbuzim nicht um die jüdische Normalexistenz, sondern um elitäre und sehr einflußreiche Mikrogesellschaften mit Modellcharakter handelt, die für das jüdische Selbstverständnis eine viel größere Rolle spielen, als ihr geringer Anteil an der Gesamtbevölkerung (kaum 4 °/o) vermuten läßt. „Wie können wir das unabdingbare Maß irdischer Normalität erlangen und doch nicht werden wie alle Völker?" Mit dieser Frage rührte Ernst Simon an die Wurzel des Problems. Es war das Theologumenon der Auserwähltheit, das Buber nicht aufgab, obwohl er dessen mögliche politische Implikationen aufs schärfste verurteilte, nämlich seine totale Perversion durch den Mißbrauch messianischer Losungen für die Rechtfertigung nationalistischer Realpolitik. Zwi Werblowsky, der das Lehramt für vergleichende Religionswissenschaft an der Hebräischen Universität in Jerusalem innehat, hält auch am Erwähltsein des jüdischen Volkes fest: sein wesentliches Zeichen sei das historische Bewußtsein oder die Anerkennung der Unterscheidung von allen anderen Völkern, nicht Überlegenheit und nicht Privileg. Tatsächlich sei Erwähltsein in der Sprache der Bibel „klassischer Ausdruck dessen, was die heuti-gen nennen"

Psycho-Soziologen Verzicht auf Annexionen; den Identitätssinn’ Daß das jüdische Selbstverständnis der Buberschen Richtung andere politische Konzeptionen verlangt, als sie Israels politische Führung in den letzten Jahren entwickelt hat, zeigt das Alternativprogramm der „Bewegung für Frieden und Sicherheit" vom Mai 1969. Es beruht auf folgenden Grundsätzen:

Bereitschaft zu jeder Art von Verhandlungen über sichere und anerkannte Grenzen; großzügige der Israel die Initiative ergreifen muß;

Lösung der Flüchtlingsfrage, bei Verzicht auf die Gründung jüdischer Siedlungen in den besetzten Gebieten, die feste Tatsachen schaffen;

Bereitschaft, die arabischen Einwohner der besetzten Gebiete als einen Faktor und eine Partei an der Friedensregelung zu beteilgen

Israel hatte den Krieg gegen die arabischen Staaten nicht gewollt; es hatte dann um sein überleben kämpfen müssen. Auf Seiten des Siegers sind solche Richtlinien künftiger Politik, wie sie hier formuliert werden, ungewöhnlich. Sie enthalten, unausgesprochen, die Überzeugung, daß Israels Anderssein als Volk und Staat nicht Vorteile, sondern Verpflichtungen umfaßt.

III.

Es war bekanntlich eine der ersten Handlungen der israelischen Regierung, für Theodor Herzl, der 1904 in der Nähe von Wien gestorben war, eine monumentale Grabstätte auf einem Hügel bei Jerusalem zu errichten; er war in das Selbstverständnis des jungen Staates aufgenommen. Identifikation mit Herzl? Mit seiner Vision, seiner Besessenheit, mit seinem durchaus weltlichen Glauben, der das Metaphysische streift, mit seiner Klarsicht, was künftige Katastrophen anging? Religiöse Juden lehnen die Herzl-Tradition ab, Sozialisten betrachten sie kritisch, über dem Herzl-Museum steht als Inschrift das Motto seines utopischen Romans „Altneuland": „Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen" — das Wunschbild vom Judenstaat nämlich.

Der junge Buber setzte sich zu Lebzeiten deutlich von Herzl ab, in nachträglicher Würdigung sagte er aber, die Irrtümer seiner „elementar-aktiven Persönlichkeit" seien oft fruchtbarer gewesen als die Erkenntnisse seiner Gegner

Das alles läßt auf Paradoxien schließen. Der völlig assimilierte, dem Judentum entfremdete Wiener Journalist schreibt 1895 in wenigen Wochen, wie unter einem Zwang, eine Broschüre, die bald zu den klassischen Schriften des Zionismus gehört und in der die Zionsidee gar nicht vorkommt. Er hatte die antisemitischen Eruptionen der achtziger Jahre in Wien und Berlin beobachtet, den Dreyfus-Prozeß in Paris erlebt. Der innerste Kern seiner Erfahrung war der drohende Verlust der Menschenwürde, nichts sonst; er selber war kein Opfer von Verfolgung und Diffamierung, aber er empfand die Bedrohung des Judentums so elementar, daß er sich in einer plötzlichen Entscheidung mit dem gesamten jüdischen Schicksal identifizierte.

Alles ist widerspruchsvoll an Herzls Leben und Werk, die merkwürdig übereinstimmen, nüchtern und phantastisch zugleich, erfolglos und dabei epochemachend, fragmentarisch beides. Herzl starb schon mit 44 Jahren . — eigentlich gescheitert.

Herzl ging von der Judennot aus. Die Pogrome im zaristischen Rußland bestärkten ihn darin, daß diese Not unabwendbar sei, da auswandernde Juden den Antisemitismus in die Gastländer einschleppen würden, so sehr sie sich zu assimilieren wünschten. Die einzige Lösung sah er in der Verfügung über ein eigenes Territorium und in der Gründung einer neuen, normal strukturierten jüdischen Gesellschaft in einem jüdischen Staat — irgendwo in der Welt. Daß es Palästina sein müsse, begriff er erst, als das Ostjudentum seinem Projekt mit der Ekstase des Zions-gedankens antwortete. Er nahm das auf, aber als etwas, das ihm fremd blieb.

Herzl dachte in bürgerlichen Kategorien. Was er entwarf, war ein liberal-demokratischer Staat mit einer pluralistischen Gesellschaft, tolerant, sozial gerecht und außenpolitisch streng neutral. Die bitteren Erfahrungen des Exiljudentums gingen in seinen Entwurf ein. Die Araber, meinte er, würden ihren Vorteil vom Judenstaat haben, man könne sie reich, also glücklich machen. Das war naiv, aber so unverständlich nicht, wenn man bedenkt, wie Palästina, der verwahrloste und menschenarme türkische Sandschak, um die Jahrhundertwende noch aussah. Als Herzl seine diplomatische Aktivität entfaltete, befand sich der europäische Imperialismus auf dem Zenith, und die Überlegenheit der europäischen Kulturvölker verstand sich von selbst. Seine Verhandlungen mit dem verschuldeten Sultan, mit Wilhelm II. und mit der britischen Regierung wurden ganz im Geist dieser Zeit geführt; sie scheiterten aber. Das Projekt eines Judenstaates paßte doch nicht in imperialistische Vorstellungen hinein. Von der Kolonisation Palästinas durch die harte und geduldige Arbeit russisch-jüdischer Zionisten hielt Herzl nicht viel. „Hektar um Hektar und Ziege um Ziege" — das dauerte ihm zu lange und wurde doch später die Grundlage der jüdischen Heimstatt. Wichtig wurden die Institutionen, die Herzl als Organe eines künftigen Staatswesens geschaffen hat, und neu war sein Begriff der Judenheit als einer weltlichen Nation. Seit Herzl gibt es jüdische Politik; bis dahin waren Juden Objekt der Politik.

Die zionistische Führung schlug nach Herzls Tod andere Wege ein. Der Durchbruch zur Staatlichkeit gelang aber erst vor dem Hintergrund und unter der Last eines apokalyptischen Geschehens.

IV.

Als den eigentlichen Erben Herzls betrachtete sich der „Revisionismus", eine 1925 von Wladimir Jabotinsky (1880— 1940) gegründete extrem zionistische Bewegung, deren Ziele weitgehend in das Programm der Cheruth-Partei (Freiheits-Partei) und der radikaleren „Land-Israel-Bewegung" eingegangen sind. Jabotinskys Name ist mit der „Jüdischen Legion" des Ersten Weltkrieges, dann mit der militärischen Untergrundorganisation des „Irgun" (auch Ezel genannt) verbunden, der während des großen arabischen Aufstandes von 1936 bis 1939 zum Gegenterror überging und die illegale Einwanderung jüdischer Flüchtlinge mit gewagten Transport-und Landeoperationen systematisch ausbaute.

Jabotinskys Äußerungen zur Araberfrage wurden in der gesamten arabischen und antizionistischen Literatur und Propaganda als Beweis für den israelischen Kolonialismus und Expansionismus zitiert; dabei machte er es seinen Gegnern leicht. 1925 schrieb er, die Kolonisation sei auch in anderen Ländern niemals mit Zustimmung der Eingeborenen erfolgt. Die Pilgrim Fathers hätten gegen die Indianer kämpfen müssen, obwohl es auf dem amerikanischen Kontinent Platz genug für beide gab Jabotinsky wollte ausschließlich ein territoriales und ein nationales Pro-blem lösen. Sein Ziel war ein Staat mit jüdischer Mehrheit „an beiden Seiten des Jordan", der imstande wäre, einem obdachlosen Volk ein eigenes Territorium zu geben, denn etwa 8 Millionen von den 16 Millionen der Weltjudenheit seien „ein Volk ohne Boden", sagte er 1937 Soziale, kulturelle und ethnische Probleme wollte er unter den Primat des Staatsgedankens gestellt wissen. Für die kollektiven Experimente der Kibbuzbewegung hatte er wenig Sinn: Man müsse zuerst das Laboratorium bauen und dann erst die Rezepte zur sozialen Erlösung der ganzen Menschheit entdecken und verwirklichen.

Daß man den Widerstand der Araber ernst nehmen müsse, wußte Jabotinsky besser als die naiv-egoistischen Gründerväter, die sich mit ihrer zivilisatorischen Mission rechtfertigten. Er hielt Gewalt für unabweisbar. „Kein Volk verkauft seine Nationalphantasie für ein Butterbrot", heißt es in der Broschüre „Der Judenstaat" von 1937. Was solle das jüdische Volk anfangen, da es keine Landstriche auf der Erde ohne eingeborene Bevölkerung gebe, wohl aber große Territorien, die wenig besiedelt und z. T. unkultiviert seien. „Der Boden gehört nicht denen, die davon zu viel besitzen, sondern denen, die keinen ha-ben. Ein Latifundienvolk um ein Partikelchen zu enteignen zugunsten eines Exulantenvolks, das stellt einen Akt der Gerechtigkeit dar..."

Ohne Zweifel ist hier auch Demagogie im Spiel und die Übertreibung des kompromißlosen „Monisten". Mussolini hatte Italien die „Proletarierin unter den Nationen" genannt und damit seine imperialistische Politik in Afrika gerechtfertigt. Sprachliche Analogien lagen auf der Hand. Kein Wunder, daß die zionistische Mehrheit sich von Jabotinskys maximalistischer Forderung nach einer „Großen Judenstaatslösung" deutlich distanzierte; diese lief auch der behutsamen, immer noch englandfreundlichen Politik Chaim Weizmanns in den dreißiger Jahren stracks zuwider. Die Arbeiterparteien im jüdischen Palästina griffen den Revisionismus sogar als faschistisch an.den Orthodoxen.

Er fand V. aber Anhänger unter Jabotinsky hatte immer behauptet, das jüdische Volk habe in der Diaspora keine Überlebenschance. Hitlers „Endlösung" schien ihm recht zu geben, aber er hat sie nicht mehr erlebt.

Wie Herzl hat auch Jabotinsky viel Faszination ausgestrahlt, er sprach die Jugend an.

Sein immenser Stolz ignorierte die Demütigungen der Judenverfolgung, er sprach kühl von einem „Antisemitismus der Sachen" (Wirtschaftskrisen, Arbeitslosigkeit, Xenophobie), der als „günstiger Sturm" das jüdische Schiff in die rechte Richtung treibe. Wie Herzl wollte er den normalen, gleichberechtigten Staat, eine jüdische Nation in der Gesellschaft von Nationen. Aber Herzl hatte auf Garantien der Großmächte gehofft und eine künftige geregelte Massenauswanderung der Juden in ein friedliches, wohlvorbereitetes Gemeinwesen vor sich gesehen, das die Welt ein für allemal vom jüdischen Problem befreien werde, während Jabotinsky, mit den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges und des Exodus aus Hitlers Europa befrachtet, den Staat eher als Wolf unter Wölfen zu sehen vermochte.

Bald nach der Staatsgründung schlossen sich Veteranen des Irgun unter der Führung von Menahem Begin zur Cheruth-Partei zusammen, die das Programm der Revisionisten in den wesentlichen Punkten übernahm: 1. Das Endziel ist Israel innerhalb seiner „historischen Grenzen", das Nahziel seit 1967: keine Rückgabe der besetzten Gebiete, wobei ihr Status innerhalb des israelischen Hoheitsgebietes mehrere Möglichkeiten offenlassen würde. 2. Die größtmögliche Förderung der Einwanderung. Begründet wird sie mit der These vom notwendigen und logischen Zerfall der Diaspora, die durch die Existenz Israels ihren Sinn verloren habe und von der Assimilation aufgezehrt werde.

Die Partei beruft sich bei den extremen Forderungen auf die Erfahrung, daß bei innerzionistischen Kontroversen bisher nicht die Evolutionäre, sondern die Katastrophenpolitiker recht behalten hätten — eine Feststellung, für die einiges spricht, aber längst nicht al-les, da ohne die geduldige Kolonisationsarbeit der Siedler und die abwägende Diploma-tie der zionistischen Führung Aufbau und Sicherung des Staates nicht denkbar wären.

Richtig ist allerdings, daß in Zeiten äußerster Gefahr die Zusammenarbeit mit den Revisionisten unvermeidbar zu sein schien. Das war der Fall in den kritischen Jahren vor der Staatsgründung, als man die Terrortaktik revisionistischer Splittergruppen zwar nicht guthieß, aber doch duldete und in der bedrohlichen Situation des Frühjahrs 1967, als die versöhnliche Haltung der Arbeiterparteien es ermöglichte, daß sich die Cheruth als Teil des rechten Gachal-Blocks der „Regierung der nationalen Einheit" anschloß. Nach der Annahme des Rogers-Planes durch die israelische Regierung, in der die Reviso-nisten ein Zugeständnis an arabische Forderungen sahen, ging die Partei wieder in die Opposition.

Es ist unverkennbar, daß im Selbstverständnis Israels — wenn wir es einmal undifferenziert und als eine Art Konsensus ansehen — auch das radikal-zionistische Element enthalten ist, in der Regierungspolitik wie in der öffentlichen Meinung nämlich die Unnachgiebigkeit, die Selbstbehauptung um jeden Preis — auch um den des Sympathieverlustes in der Weltöffentlichkeit —, die Vorrangigkeit der Verteidigungsmaßnahmen und der Waffenkäufe vor sozialen Reformen, das Beharren auf den „sicheren Grenzen", ohne sie genau zu bestimmen, und im Zusammenhang damit die Gründung jüdischer Siedlungen in den besetzten Gebieten, die den Status quo festlegen.

Wenn man jetzt auf die einfache Grundfrage zurückgeht: versteht Israel sich als einen Staat wie jeder andere?, dann lautet die Ant-wort: ja, es ist ein Staat, der in gefährdeten Grenzen lebte, existenziell bedroht war, der gegen eine Übermacht von Feinden siegreich war und daraus die Konsequenzen zieht. Dagegen erwartet die Weltmeinung von Israel offenbar, daß es in ungewöhnlichen Situationen auch ungewöhnlich reagiert.

VI.

Der schwächste Punkt der radikal-zionistischen Ideologie ist die Einschätzung der Diaspora; hier ist sowohl Wunschdenken wie ideologischer Dogmatismus beteiligt. Die Ju-denheit der Diaspora beträgt mehr als 80 0/0 der jüdischen Weltbevölkerung; in Israel le-ben rund 2, 5 Millionen Juden von insgesamt etwa 13, 6 Millionen. Die amerikanischen Juden haben bisher keine Neigung gezeigt, das Land, in dem sie gleiche bürgerliche Rechte und gleiche ökonomische Chancen besitzen, als Exil anzusehen, obwohl Solidarität und Mitverantwortung für Israels Bestehen seit dem Junikrieg entschieden zugenommen haben. Israel hat der jüdischen Mittelklasse in den USA, die trotz ökonomischer Erfolge ihre politische und soziale Wurzellosigkeit empfand, ein neues Gefühl von Würde gegeben. Amerikanische Zionisten haben es oft zum Ausdruck gebracht, daß Israel zur Bestätigung jüdischer Existenz in der Diaspora, nicht zu ihrer Negation beigetragen habe. Das jüdische Volk, so meint Israel Kolatt in einer Untersuchung über das Selbstverständnis der Diaspora, hätte nach der Katastrophe in einen Abgrund von Selbsthaß und Rachedurst stürzen können, es hätte die Werturteile seiner Feinde und die Apathie der ganzen Welt als Beweis seiner eigenen Unwürdigkeit akzeptieren können. Das sei nicht geschehen, „sondern die Judenheit", so fährt er fort, „hielt fest an einem traditionellen Konzept. Eine Loyalität dem Judaismus gegenüber, die sich nicht orthodox, aber religiös aussprach ... , nahm Besitz von der Nach-Auschwitz-Generation. In diesem Zusammenhang muß der Staat Israel ebensosehr als eine Manifestation der Selbstbehauptung wie der objektiven politischen Notwendigkeit angesehen werden."

Die zionistische Mehrheit in Israel ist realistisch genug, das Nebenund Miteinander von Israel und Diaspora als gegeben und als notwendig anzusehen, empfindlich ist sie nur ge-gen einen wirklichen oder vermeintlichen Anspruch der „Zionistischen Weltorganisation", an israelischen Angelegenheiten mitverantwortlich beteiligt zu sein und politische Entscheidungshilfen zu geben, womit sie die Souveränität des jungen Staates angetastet sieht VII.

In der neuen Israel-Literatur und in Israel-Reportagen ist häufig die Rede von einer Identitätskrise der israelischen Jugend; das Kriegserlebnis von 1967 und die wachsende Kluft zwischen ihr und der zionistischen Gründer-generation habe sie hervorgerufen. Wir kennen die bohrende Skepsis der jungen Kibbuz-niks aus den „Gesprächen mit israelischen Soldaten" und die kritische Offenheit für das Zionismus-und Generationenproblem aus dem Buch eines israelischen Journalisten mit dem bezeichnenden Titel „Die Israelis — Gründer und Söhne". Was hier in Frage gestellt wird, ist nicht die Notwendigkeit staatlicher Existenz und ihrer Verteidigung auf Leben und Tod. „In den Augen der jungen nachzionistischen Generation hat die Vernichtung durch die Nazis einen der Grundsätze des klassischen Zionismus aus dem 19. Jahrhundert bestätigt: ohne eigenes Land bist du der Abschaum der Erde, die unvermeidliche Beute der Bestien", heißt es in dem Kapitel „Eine offene Wunde" des Buches von Amos Elon 21).

Befragt wird hier das eigene Gewissen — das der Sieger, die zu Eroberern geworden sind und die sich angesichts flüchtender Araberfamilien an die Flucht ihrer Eltern erinnern. Befragt wird von jungen Pragmatikern auch das ideologische Fundament der Pioniergeneration mit den zionistischen Grundsätzen, die früher revolutionär waren und heute nur noch Leerformeln eines konservativen Establishment sind. Aber das gehört in den allgemeinen Trend zur Versachlichung und Entideologisierung der Politik und kennzeichnet das Selbstverständnis Israels weniger als die sehr konkreten Probleme, an denen heute die alternativen Grundpositionen wieder deutlich werden.

Mehr als fünf Jahre nach dem Junikrieg stagniert die Friedensfrage immer noch, und es gibt kaum Anzeichen, daß die israelische Regierung den Status quo zu beenden wünscht. Daher bewegt sich die innerzionistische Auseinandersetzung um die Frage: Was ist der Preis dafür?

Es muß zuerst gesagt werden, daß die Erfolge der Regierungspolitik unbestreitbar sind. Die planmäßigen Gründungen ländlicher und städtischer Siedlungen in den besetzten Gebieten werden ohne ernsthafte Störungen fortgesetzt und verbessern die strategische Position Israels und die Ausgangslage für künftige Friedensverhandlungen. Das Terroristen-Problem hält man hier für gelöst. Die Politik der „offenen Brücken" für den Menschen-und Handelsverkehr zwischen den besetzten Gebieten und Jordanien hat Früchte getragen, und die Beibehaltung der jordanischen Zivilverwaltung hat sich bewährt. Daß agrarwissenschaftliche Experten technische Hilfe leisten, daß man zahlreiche Versuchs-stationen für neue Kulturen und Methoden der Landwirtschaft und „training centers" für gelernte Berufe eingerichtet hat, ist zweifellos eine Wohltat für das Westjordanland. Arabische Arbeiter, auch aus den überfüllten Camps des Gazastreifens, werden in wachsender Zahl in der israelischen Industrie, vor allem im Bauwesen, beschäftigt, und die Arbeitslosigkeit ist verschwunden

Moshe Dayan hat — sehr viel deutlicher als die Partei-Elite der Regierungsparteien und oft im Widerspruch zu ihr — die Haltung zur arabischen Bevölkerung der besetzten Gebiete definiert. Die wirtschaftliche Integration, meint er, werde „einen neuen Typ der Beziehungen zwischen Israelis und Arabern" schaffen und die nationalen Gegensätze entschärfen. Israel werde eroberte Gebiete behalten, müsse also mit Arabern Zusammenleben; daher bejaht er eine Form binationalen Staats, in dem Israel auf Grund seiner Stärke bestimmend sein werde Es versteht sich, daß die Kritiker der zionistischen Linken Dayan vorwerfen, er ziele auf ein israelisches Protektorat über die West Bank. Dies ist nur ein Punkt — der Konflikt ist grundsätzlicher Natur.

Yehoshua Arieli, der Gründer der „Bewegung für Frieden und Sicherheit", hat gegenüber der Erfolgspolitik der Regierung die Kostenrechnung aufgestellt Was ist für die Sicher-heit und um der Erhaltung des Status quo willen geopfert worden, wo zeigen sich Risse im Gebäude? Und wichtiger noch die selbst-kritische, die eigentlich jüdische Frage nach dem Weg, den Israel eingeschlagen hat oder einzuschlagen im Begriffe ist. Versäumt hat man — so lautet die Antwort — die dringenden sozialen Reformen, vernachlässigt blieb das Erziehungswesen. Gesellschaftliche Probleme, wie die des Verhältnisses von Staat und Religion und von öffentlichem und privatem Kapital, werden verwischt und vertuscht. Daß nicht vollberechtigte Bürger, die Araber der besetzten Gebiete, den Staat aufbauen helfen, läuft allen zionistischen Grundsätzen zuwider. Die Rüstungsindustrie, die großen Baufirmen, die Bodenspekulanten profitieren davon, sie sind interessiert an der Erhaltung des Status quo und an den annexionistischen Schritten der Besatzungspolitik. Das Sicherheitsdenken verdrängt das konstruktive politische Denken und das soziale Engagement, das Israels Stärke war, es korrumpiert auch die Arbeiterparteien. Schon gibt es gefährliche Anzeichen gesellschaftlichen Niedergangs, das Anwachsen der Armutsregionen nämlich, die zunehmende Klassendifferenzierung und das Auseinanderklaffen des Bildungsstandards. Da die israelische Gesellschaft „in ihrer ethnisch-kulturellen Zusammensetzung eine der kompliziertesten Gemeinschaften der Welt" ist, droht sie auseinanderzubrechen, wenn die soziale Spaltung mit der ethnischen zusammentrifft. Hier, so meint Arieli, sei die Sicherheit Israels von innen her gefährdet.

Die Politik des territorialen Status quo hat noch andere Folgen: sie kann nicht umhin, Herrschaft auf Gewalt zu gründen, eine Entwicklung, die die israelische Gesellschaft — wie die liberale Linke furchtet — von Grund auf verwandeln wird. Auch hier gibt es Warnungszeichen.

Die Zwangsumsiedlung der Beduinen aus dem Grenzgebiet des Gaza-Streifens wäre vielleicht widerspruchslos hingenommen worden, wenn die der Mapam angegliederte „Kibbuz Federation" nicht öffentlich protestiert hätte Zu der Tötung von Zivilisten bei den Vergeltungsaktionen im Libanon meint Amos Kenan, ein führendes Mitglied der „Bewegung für Frieden und Sicherheit", indem er sich gegen die stillschweigende Zustimmung der Presse wendet: „Wir haben noch nicht das Niveau von Kairos Siegesjubel nach der Schlächterei in Lod erreicht, aber wir haben schon das Stadium ruhiger Befriedigung erreicht."

Die Kritik ist so hart, weil moralische Indifferenz und, schlimmer noch, zynischer Pragmatismus das jüdische Selbstverständnis hier in seinem Kern verletzt haben. Es ist offensichtlich, daß die geistige Tradition des Friedens-bundes „Brith Schalom" und daß der „Hebräische Humanismus" Martin Bubers in diesen Kreisen weiterwirkt. Die Gegner der nationalistischen Selbstgerechtigkeit oder des „Herrschaftsnationalismus", wie Buber die säkulare Machtpolitik des normalen Staates nannte, beziehen sich auf eine jüdische Identität, die die alte menschheitliche Vision mit umfaßt, wenn sie sagen, ein Israel, das mehr auf Grenzveränderungen als auf Frieden und soziale Gerechtigkeit bedacht sei, „verkaufe sein Erstgeburtsrecht für ein Linsengericht" (Arieli).

Bei solcher Polarisierung der Standpunkte, wo sich Maximalisten und Minimalisten, Falken und Tauben, scheinbar unversöhnlich gegenüberstehen, übersieht man leicht das Verbindende: das klassische Ziel des Zionismus nämlich, eine friedliche Heimstatt zu gründen und eine Nation unter Nationen zu sein. Keine Erfahrung war für den jungen Staat so bitter wie die, daß die Nachbarn ihm von Anfang an das Existenzrecht verweigerten. Auch großzügige Friedensangebote wären nach dem Junikrieg auf das harte Nein der arabischen Staaten gestoßen, die sich auf die kompromißlose und unpolitische Alles-oder-Nichts-Haltung versteift hatten.

Statt in der Normalität nationaler Existenz befindet Israel sich in der Situation einer belagerten Festung, die auf die Dauer eine Festungsmentalität, eine Mischung aus Trotz, Machtgefühl und Furcht hervorbringt, Furcht, weil das Trauma des Genocids nicht heilen kann. Ihm entspricht ein arabisches Trauma: Gerade zu der Zeit, als die imperialistischen Mächte sich zurückziehen, dringt ein fremdes, verachtetes Volk in das Kerngebiet des erhofften und vage versprochenen panarabischen Reiches ein und siegt später ohne die Hilfe der Großmächte.

J. L. Talmon sagt in einer Abhandlung, die die jüdische Selbsterfahrung in die Analyse des israelisch-arabischen Problems hineinnimmt, beide Seiten kämen nicht vom Fleck, weil sie einer schwer heilbaren Neurose verfallen sei-en: Die Israelis insistierten auf der arabischen Feindschaft und die Araber auf dem israelischen Expansionismus Bisher habe das Mißtrauen Israel gehindert, die „offene Stelle" zu erkennen, wenn sie sich einmal gezeigt habe.

Hat sich diese Lage seit 1970 verändert? Verändert gewiß, denn die Lösung des Friedensproblems ist näher gerückt, weil die Supermächte ein Ausbrechen des Konflikts verhindern möchten, die Lösung ist ferner gerückt und viel komplizierter geworden, weil Israels Ansprüche gewachsen sind und weil die politischen und sozialen Gegensätze die arabische Welt in unvorhersehbarer Weise gespalten haben.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Georges Friedmann, Das Ende des jüdischen Volkes?, Reinbek 1968, S. 239.

  2. Raymond Aron, Zeit des Argwohns. De Gaulle, Israel und die Juden, Frankfurt a. M. 1968, S. 14, 17.

  3. Raymond Aron, a. a. O., S. 72.

  4. Vgl. hierzu Rolf Rendtorff, Religion und Gesellschaft in Israel (Ed. Zeitgeschehen), Hannover 1970, S. 73 f.

  5. Die Halacha ist die Sammlung religiöser Vorschriften mit Gesetzeskraft; sie bildet den Hauptbestandteil des Talmud.

  6. Mit großer Wahrscheinlichkeit würde sich eine Mehrheit der Israeli für die Trennung von Staat und Kirche aussprechen, aber bisher ist es dem Block der Arbeiterparteien noch stets gelungen, die offene Spaltung der Meinungen zu verhindern. Das geschieht einmal mit Rücksicht auf die Stimmen der Nationalreligiösen, dann unter Hinweis auf das opferfreudige Diasporajudentum, das man nicht vor den Kopf stoßen möchte.

  7. Martin Buber, Der Weg Israels, in: Der Jude und sein Judentum. Gesammelte Aufsätze und Reden, Köln 1963, S. 542.

  8. Martin Buber, Israel und Palästina, dtv 1968, S. 8, 11.

  9. Ernst Simon, Tradition und Zukunft in Israel, in:

  10. R. -J. Zwi Werblowsky, Israel und Eretz Israel, in: Der Israelisch-Arabische Konflikt, Hrsg. H. Abosch, Darmstadt 1969, S. 219.

  11. „Diskussion 27", 1969, S. 43 f. Die „Bewegung für Frieden und Sicherheit" ist eine Vereinigung progressiver israelischer Intellektueller, die für einen Verständigungsfrieden eintreten. Mitglieder sind u. a. Simha Flapan, Amos Kenan sowie die Professoren der Hebr. Universität Jerusalem: Yehoshua Arieli, Ernst Simon, Gabriel Stern, Jacov Talmon und Zwi Werblowsky.

  12. M. Buber, I. Bd„ S. 200.

  13. W. Jabotinsky, Rasswjet Berlin 1925, S. 55 f.

  14. Ders., Der Judenstaat, Wien 1938, S. 43.

  15. A. a. O., S. 43. (Aufsatzsammlung),

  16. Vgl. hierzu die ausgewogene Darstellung des umstrittenen Gegenstandes bei Ben Halpern, The Idea of the Jewish State, Cambridge/Mass. 19692, S. 41 ff.

  17. Ein symbolischer Akt war der Beschluß der Eschkol-Regierung, Jabotinskys sterbliche Reste auf dem Herzl-Berg bei Jerusalem zu bestatten.

  18. Israel Kolatt, The Significance of Israel for Jews and for the Nations, in: Confrontation. Viewpoints on Zionism, Jerusalem 1970, S. 7.

  19. Nahum Goldmann, bis 1968 Präsident der „Zionistischen Weltorganisation", bestreitet es, daß die absolute Souveränität Israels faktisch sinnvoll sei, da Israel ohne die volle Deckung und die moralische und finanzielle Hilfe durch das Weltjudentum nicht entstanden und nicht zu halten wäre. Er schlägt für die Zukunft in Analogie zur Schweiz eine Neutralisierung Israels vor: „Ein Staat, der, bloß um zu existieren, die moralische und geistige Verbundenheit aller Juden der Welt in Anspruch nimmt, muß per definitionem ein neutraler Staat sein." N. Goldmann, Staatsmann ohne Staat, Köln-Berlin 1970, S. 408.

  20. Hrsg, von der Kibbuzbewegung, Frankfurt 1970. 21) Amos Elon, Die Israelis — Gründer und Söhne, Wien-Zürich-München 1972, S. 231 f.

  21. Das Thema wird in der überparteilichen, obwohl von linken und linksliberalen Vorstellungen geprägten Zeitschrift „New Outlook" seit einiger Zeit ausführlich diskutiert. Die Herausgeber sehen ihre Aufgabe im Einsatz für eine detailliert vorgetragene Friedensinitiative und in der fortgesetzten Kritik an der Regierungspolitik. Vgl. auch „MB", 3. Sept. 1972, S. 18.

  22. Vgl.den zusammenfassenden Bericht von Mordechai Nahumi, Israel as an occupying power, in: New Outlook, Juni 1972.

  23. Zum Dayan-Plan vgl. auch das Interview mit Dayan in „Middle-East-Information", Nov. 1971, S. 9.

  24. Yehoshua Arieli, The price of the Status quo, in: New Outlook, Mai 1972.

  25. Simha Flapan, The Storm over Gaza, in: New Outlook, März-—April, 1972, S. 19 ff. Zum Normalisierungsprozeß im Gaza-Streifen vgl. auch Middle-East-Information, Nov. 1971.

  26. New Outlook, Juli—August 1972, S. 39.

  27. J. L. Talmon, Israel among the nations. Reflections on Jewish statehood. Confrontation, Jerusalem 1970.

Weitere Inhalte

Wanda Kampmann, Dr. phil., geb. 1903; 1945— 1965 Fachleiterin für Geschichte am Studienseminar Düsseldorf, 1960— 1965 Mitglied des Deutschen Ausschusses für das Erziehungsund Bildungswesen in Bonn. Veröffentlichungen: Deutsche und Juden. Studien zur Geschichte des deutschen Judentums, Heidelberg 1963; Zur Didaktik der Zeitgeschichte, Stuttgart 1968; Aufsätze zur Didaktik der politischen Bildung und der Geschichte in Fachzeitschriften; Mitarbeit an der Schriftenreihe „Politische Bildung", Stuttgart 1967 bis 1973; Mitarbeit am Lehrbuch „Politik und Gesellschaft. Grundlagen und Probleme der modernen Welt", Frankfurt/M. 1972; Herausgabe von Quellenheften zur Geschichte und Politik, darunter: „Israel — Gesellschaft und Staat", Stuttgart 1973.