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Wie sehe ich Deutschland? | APuZ 21/1973 | bpb.de

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APuZ 21/1973 Artikel 1 Vom Wandel des Polenbildes in Deutschland (1772-1972) Wie sehe ich Deutschland? Die Parteien der Bundesrepublik Deutschland im Urteil der Sowjetunion

Wie sehe ich Deutschland?

Mieczyslaw Tomala

/ 16 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Das Deutschlandbild in Polen nach 1945 ist in erster Linie durch drei Faktoren geprägt worden: durch das Schicksal der polnischen Nation unter der NS-Herrschaft, die Gründung der DDR und die Politik der Bundesrepublik Deutschland gegenüber Polen. Die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze durch die DDR im Jahre 1950 war eine der wichtigsten Zäsuren in der neuesten polnischen Geschichte, weil durch die Respektierung der nationalen Sicherheitsinteressen die Grundlagen für die Freundschaft und Zusammenarbeit zwischen den beiden sozialistischen Systemen, VR Polen und DDR, gelegt werden konnten. Demgegenüber sind Antikommunismus und Revanchepolitik der CDU-Regierungen in der BRD mit der Forderung nach den Grenzen von 1937 in den Jahren von 1949— 1969 ein ständiges Hindernis auf dem von Warschau immer wieder vorgeschlagenen Weg zur Normalisierung der beiderseitigen Beziehungen gewesen. Die Wandlungen in der westdeutschen Bevölkerung und in amtlichen Regierungskreisen Bonns Ende der sechziger Jahre sind in Polen aufmerksam registriert und zunehmend positiver bewertet worden, so daß eine Politik des Interessenausgleichs verwirklicht werden konnte. Im Widerspruch zu den vertraglichen Vereinbarungen vom 7. Dezember 1970 steht allerdings noch die revisionistisch konzipierte Gesetzgebung der BRD. Beide Staaten können jedoch einen gemeinsamen Beitrag zur Sicherung des Friedens in Europa leisten, wenn sie enger kooperieren, vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet.

Vielleicht wäre es besser, wenn die Frage lautete: Was halte ich von Deutschland? Doch ich fürchte, ich könnte dann sehr persönlich werden. Aber mir scheint es in diesem Falle darum zu gehen, daß ich als Bürger meines Landes die eigene Ansicht über ein Problem darlege, das man das deutsche nennt.

Das ist für uns Polen kein neues Problem. Aber die Jahre nach dem Kriege brachten in diese Verhältnisse nicht nur neue Elemente im Sinne neuer Fakten, sondern sie schufen aus den polnisch-deutschen Beziehungen weit mehr als gewöhnliche Beziehungen, wie sie normalerweise zwischen zwei Völkern bestehen. Diese Fakten entstanden nicht erst nach 1945, als auf den Trümmern des Dritten Reiches in Berlin neben der sowjetischen Fahne auch die polnische Fahne wehen konnte, das Symbol des Kampfes des 400 000 Mann starken polnischen Heeres. Diese Fakten schufen die faschistischen Okkupanten, es schuf sie der Kampf des ganzen polnischen Volkes, das angesichts der drohenden biologischen Vernichtung den kriegerischen Kampf mit den Okkupanten aufnahm, einen Kampf, der jene bestürzte, die so hochmütig und arrogant verkündet hatten, der polnische Staat habe aufgehört zu bestehen und werde nie wieder erstehen. Aber seit dem 1. September 1939, seit dem Überfall des Dritten Reiches auf Polen, durch den Terror der Okkupation und durch den Kampf mit dem Feind erwuchsen Erfahrungen, die schon im letzten Abschnitt des Krieges sowie in den Nachkriegsjahren unsere Denkrichtung gegenüber dem deutschen Problem bestimmten. Wir hatten keine speziellen Rezepte, eines war jedoch klar und nach unserer Meinung erfolgversprechend: Zerschlagung der Kräfte des deutschen Imperialismus, die ihre Sendung im Berauben anderer Völker erblickten, und Schaffung eines politischen Systems in Europa, das — durch wirksame Bündnisse abgesichert — Europa einen langen, wenn nicht gar einen beständigen Zeitraum friedlicher Zusammenarbeit verbürgen würde.

So ist es auch nicht verwunderlich, daß Potsdam für uns nicht nur das Symbol des Sieges über den Feind Europas, über den Hitler-Faschismus wurde-, es gab uns zugleich Genugtuung für den blutigen Kampf, den das ganze Volk an vielen Fronten dieses Krieges geführt und mit dem es die Richtung der Entwicklung Europas gewiesen hat. Ich brauche hier wohl nicht hinzuzufügen, daß wir die Errichtung der neuen polnisch-deutschen Grenze an der Oder und an der Lausitzer Neiße als unseren größten Sieg empfunden haben.

Das, was noch im Frühjahr 1945 nur eine Aussicht war, die durch die demokratische Regierung Polens als Forderung aufgestellt wurde, ist zur vollendeten Tatsache geworden. Die Verschiebung nach Westen wurde zu einem Faktum, das unsere ganze politische Geographie verändert hat, was dann nicht ohne Einfluß auf die Gestaltung der wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse auf unserem Kontinent bleiben konnte. Aber wir wissen — und dessen sind wir eingedenk —, daß Potsdam zugleich das Ergebnis der Solidarität Polens mit der Sowjetunion war. Anscheinend vermag man den Zusammenhang zwischen dem Wandel der Beziehung Polens zur Sowjetunion und der Ausgangslage gegenüber dem Problem Deutschland nicht zu sehen. Doch solch ein Zusammenhang besteht und ist sehr eng. Volkspolen hat mit der Politik der „zwei Feinde" gebrochen, mit einer Politik der Feindschaft gegenüber dem sowjetischen Staat und gegenüber dem deutschen Staat. Es ist daher auch nicht verwunderlich, daß unser Vertrag ein Vertrag mit der UdSSR gewesen ist, geschlossen am 21. April 1945. Er gab uns volle Freiheit der Bewegung auf dem Westabschnitt, aber es war nicht nur eine Freiheit schlechthin, es war vielmehr zugleich eine konsequente Unterstützung unserer politischen Linie.

Ein Vierteljahrhundert Nachkriegsentwicklung in Europa trug in die polnische Politik gegenüber Deutschland ein neues Element. Es waren zwei deutsche Staaten entstanden, davon war der eine die Deutsche Demokratische Republik, der seine Beziehungen zu uns auf der Grundlage von Freundschaft und brüderlicher Zusammenarbeit anknüpfte. Dies ist eine Tatsache, deren Bedeutung wir uns nicht nur damit klarmachen, daß unsere Westgrenze keine „blutende" oder gar „brennende" Grenze ist, sondern daß sie ganz einfach eine anerkannte Grenze ist. Wir haben jenseits von ihr den Teil der deutschen Bevölkerung, der unter einer weitblickenden Führung nicht nur mit den bösen Relikten der Vergangenheit zu brechen vermochte, sondern der mit seiner Entwicklung die Garantie bietet, daß endlich von deutschem Boden aus nie mehr ein Kriegsbrand hervorbricht.

Die volle und bedingungslose Anerkennung unserer Westgrenze durch die DDR in Zgorzelec (Görlitz) im Juli 1950 hat die Ausgangsbasis für eine breite politische, wirtschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit geschaffen. Es wurden zum ersten Male seit Jahrhunderten Möglichkeiten zu einer Überwindung der in der Vergangenheit entstandenen Gegensätze eröffnet, die sich besonders in Polen während der Zeit nach dem Kriege sogar noch verschärft hatten. Vergessen wir auch das nicht, daß der Görlitzer Vertrag der erste internationale Vertrag der DDR gewesen ist. Heute besitzt unser Land mit der DDR einen im März 1967 abgeschlossenen Vertrag über Freundschaft, Beistand und Zusammenarbeit, einen Vertrag, wie es ihn noch nie in den polnisch-deutschen Beziehungen gegeben hat. Manchmal bleiben Verträge ohne Leben, obwohl man bei ihrem Abschluß große Hoffnungen gehegt hat. In diesem Falle können wir jedoch sagen, daß er nicht nur zu einem Impuls für weitere politische und ökonomische Zusammenarbeit geworden ist, er wurde dadurch, daß er das Ansehen der DDR gehoben hat, zu einem unterstützenden Element in der Stabilisierung unseres westlichen Nachbarn. Deswegen bemühen wir uns auch um die völkerrechtliche Anerkennung der DDR durch die Bundesrepublik.

Heute konzentriert sich das Gros der gemeinsamen Bemühungen Polens und der DDR auf den Bereich der ökonomischen Problematik, wo die Belange der Kooperation, der Spezialisierung und der sozialistischen Integration eine führende Rolle spielen.

Ich möchte auch nicht den zwischenmenschlichen Beziehungen eine geringe Bedeutung beimessen, die sich zwischen den Menschen unserer Länder entwickelt haben. Die Polen reisen von neuem nach Sachsen, doch schon nicht mehr als Saisonarbeiter ins „Sächsische", sondern nur, um die Denkmäler Dresdens zu besuchen, um die schlanken Formen der Meißner Kathedrale zu bewundern. Hunderttausende unserer Bürger überzeugen sich Jahr für Jahr mit ihren eigenen Augen von den Fortschritten und Veränderungen jenseits der Oder. Und ich kann nicht sagen, daß sie besorgt zurückkehrten; gerade umgekehrt — sie sind sogleich wieder Anwärter für neue Reisen in die DDR. Ab 1. Januar 1972 wurde in dieser Hinsicht ein neuer entscheidender Schritt getan. Als erste sozialistische Staaten haben Polen und die DDR einen visumfreien Verkehr eingeführt. Tausende Bürger beider Länder machen davon täglich Gebrauch.

Das bringt zweifellos die Bürger unserer Staaten noch näher zueinander. Und deshalb kann ich sagen, daß die Entwicklung der gutnachbarlichen Beziehungen zwischen Polen und der DDR bereits auch die Gewähr für die zukünftigen normalisierten und gutnachbarlichen Beziehungen Polens mit dem ganzen Volk darstellt.

Gerade diese Beziehungen widerlegen das Vorhandensein des sogenannten antideutschen Komplexes der Polen. Bisweilen sagt man, wir seien gegenüber den Deutschen mißtrauisch. Das ist weder zutreffend noch richtig. Denn man muß wissen, daß Polen als ein sozialistischer Staat jene Kräfte in Deutschland unterstützt, die für das deutsche Volk eine friedliche Entwicklung wünschen und die in einem Krieg den Untergang Deutschlands erblicken. Deshalb bekämpfen wir und werden auch weiterhin jene Kräfte im deutschen Volk bekämpfen, die uns gegenüber die Fortsetzer der Politik Friedrichs, Wilhelms oder auch sogar Hitlers sein wollen, anstatt sich zu erinnern, wohin die Kapitulation geführt hat. Die riesigen Opfer, die wir während des letzten Krieges erlitten haben, die Dezimierung unserer Kräfte und die Vernichtung unserer Habe verpflichten uns nicht nur zu besonderen Vorsichtsmaßnahmen, sondern sie haben gegenüber jenen Kräften, die aus der Vergangenheit keine Lehren gezogen haben, auch in unserer Bevölkerung Mißtrauen und Vorsicht tief eingewurzelt.

Es ist daher kein schlechtes Zeichen, wenn das Volk um seine Sicherheit besorgt ist. Zwanzig Jahre des Bestehens der Bundesrepublik Deutschland sowie ihre ganze Politik, die während der Anfangsperiode die Fortsetzung einer Politik darstellte, die auf die Negierung unseres Rechts auf selbständige Existenz abzielte, konnten kein anderes Klima gegenüber der BRD hervorrufen, als es heute in unserer Gesellschaft herrscht. Wenn die bisherigen Regierungen in Bonn die Politik der Revanche führten und solche Stimmungen schürten, dann mußte doch in unserer Bevölkerung und in unserem Staat eine Gegenantwort darauf entstehen, die als Reaktion diese Erscheinungen offen demaskiert. Wir vermochten es nicht, und wir hatten auch absolut keine Gründe dazu, gegenüber solch einem Staat und solchen Regierungen, die uns gegenüber eine zumindest unfreundliche Politik führten, einen speziellen oder gar einen Vorzugstarif anzuwenden. Denn diese Regierungen wären — statt Revanchegedanken gegenüber Polen zu huldigen — durchaus verpflichtet gewesen, um jeden Preis eine Verständigung mit Polen, dem ersten Opfer des deutschen Militarismus, zu suchen. Ein solches Vertrauenskapital wurde nicht nur nicht erworben, sondern es wurde wegen der im Resultat feindlichen Einstellung gegen uns viel berechtigtes und begründetes Mißtrauen angehäuft.

Die Bundesrepublik rechnete damit, daß sie auf der Welle des Antikommunismus — wenn sie dabei erst Primus werden würde — das wiedererlangen könnte, was dem deutschen Militarismus mit Recht weggenommen worden war. Wir wissen gut, daß nicht nur der geplante antikommunistische Kreuzzug mit einem Fiasko endete, sondern daß er zur Erhöhung der Spannung in Europa geführt hat.

Sollten wir gegenüber solchen Regierungen nachgiebig sein, sollten wir nicht das sehen, was man uns von neuem zu bereiten trachtete? Es mag jemand sagen, daß es nur Worte waren, was die Bundesregierungen verkündeten. Schöne Worte, wenn durch ihren Inhalt beinahe ein Drittel des polnischen Territoriums in Frage gestellt wurde!

Aber sogar in solch dunklen Perioden unserer gegenseitigen Beziehungen — wenngleich solche formell jedoch nicht bestanden haben — behandelten wir die westdeutsche Gesellschaft nicht als monolithisch.

Aber wie lange konnte man diese Gesellschaft belügen? Die Entspannungsprozesse konnten nicht vor den Grenzen der Bundesrepublik haltmachen, und deshalb ist jedes Anzeichen eines Realismus von uns aufmerksam beobachtet und eifrig registriert worden. Denn niemand dachte bei uns, daß man die gesamte westdeutsche Gesellschaft lange auf solche Irrwege werde führen können. Der Prozeß der Ernüchterung mußte kommen, so wie auf die Nacht der Tag folgt. Unserer Politik war stets auf die Stärkung unserer Sicherheit ausgerichtet. Wir suchten in der europäischen Politik jene Punkte, die diese Sicherheit verstärken konnten, und wir bemühen uns, jene Faktoren zu eleminieren, die ein Keim künftiger Konflikte sein könnten. Wir wußten, daß es auch fortschrittliche und humanistische Deutsche gab, Deutsche in der Tradition der großen Gelehrten, Menschen aus der Welt der Technik und der Kultur, die ihren Beitrag in das gesamtmenschliche Werk einbrachten. Wir möchten so viele Bürger der BRD wie irgend möglich inmitten jener sehen, die den Kampf mit allen Erscheinungen des Militarismus aufnehmen, anderp Völker achten und ihr durch die preußischen Militaristen und Feudalisten eingeimpftes Gefühl einer chauvinistischen Überlegenheit ablegen.

Obwohl solch eine Gesellschaft in der Deutschen Demokratischen Republik wächst, wissen wir, daß dieser Prozeß unter den westdeutschen Bedingungen ungeheuer schwierig zu verwirklichen war. Die Regierungsleitung sowie die Medien der Massenbeeinflussung nährten die eigenen Bürger mit Illusionen von einer Wiedererrichtung des Dritten Reiches, das jedoch nicht existiert und auch niemals existieren wird. Viele Bewohner der BRD wurden Gefangene dieser Illusion, und man muß sie leider zu den Menschen von gestern rechnen. Für mich ist diese Feststellung wahrhaftig auch nicht angenehm, daß die neue Generation Westdeutschlands über mein Land nicht informiert worden ist, wie das nicht nur die Wahrheit fordert, sondern wie es auch die Geschichte verlangt. So ist sie — die Geschichte.

Denn die Schuld Deutschlands gegenüber Polen ist historischer Art, und die Chance, welche die bedingungslose Kapitulation des Dritten Reiches für eine Überwindung der alten Feindlichkeit gegenüber Polen geboten hat, blieb hier ungenützt. Die deutsche Bourgeoisie tat nichts Wesentliches zur Schaffung neuer Grundlagen für ein Zusammenleben mit den Polen. Gerade umgekehrt, auf den Seiten unserer Zeitungen begannen bereits in den ersten Jahren nach Potsdam Nachrichten zu erscheinen — wahre Nachrichten — über das Entstehen revanchistischer Organisationen, über eine antipolnische Politik. Manche Politiker sprachen dort in Augenblicken der Aufrichtigkeit von der Möglichkeit einer Aussiedlung der Polen aus den Westgebieten, und sie schlugen großmütig eine Arbeit in französischen Bergwerken vor. U nd wie viele Wegweiser in der BRD zeigten den Weg nach Danzig oder nach Breslau? Manchmal will der westliche Zuhörer an solche Tatsachen nicht glauben, aber sie sind dennoch wahr. Die Weimarer antipolnische Hetze fand in der Bundesrepublik der fünfziger Jahre eine nicht ruhmreiche Fortsetzung.

Aber was sollten meine Landsleute sagen, denken und empfinden, als wir zu erkennen begannen, wie dieses alles anfing sich zu einem Ganzen zu fügen: Forderungen nach Grenzen von 1937, die Bundeswehr und schließlich die Forderung nach deren atomarer Bewaffnung. Es hat für mich nicht den Anschein, daß irgendein anderes Land in unserer Lage eine andere Haltung eingenommen hätte als wir. Aus tiefer Sorge um die Gewährleistung der Sicherheit für uns und zugleich für das deutsche Volk waren unsere Vorschläge für eine Teilabrüstung entstanden sowie der Plan zur Schaffung einer atomwaffenfreien Zone in Mitteleuropa (DDR, Tschechoslowakei, Polen, Ungarn und BRD) — und auch der Plan zur Einfrierung des Kernwaffenstandes auf dem Territorium derselben Staaten. Die Ablehnung selbst einer sachlichen Diskussion dieser Pläne, wie sie am stärksten durch die Regierungskreise der BRD akzentuiert worden war, hat es bestimmt nicht zu bewirken vermocht, daß wir auf die Situation in der BRD hätten durch eine rosa gefärbte Brille blicken können. Wenn ich dies in Erinnerung bringe, so nur deswegen, um dem Leser das Verständnis zu erleichtern, daß unsere Gesellschaft ganz besonders empfindlich ist gegenüber Ereignissen, die westlich der Elbe vor sich gehen. Nicht ernst zu nehmen sind Behauptungen von der Art, daß unsere Partei und unsere Regierung speziell einen antideutschen „Buhmann" brauchen, um ein Bindemittel in der Hand zu haben. Wir haben andere Bindemittel für die Einheit des polnischen Volkes, und zwar die großen gesellschaftlichen und ökonomischen Erfolge in den vergangenen Nachkriegsjähren Volkspolens, ihre internationale Autorität und die Sicherheit des Landes. Ich empfinde es dennoch als eine aufrichtige Genugtuung, daß trotz einer derart intensiven und vielseitigen Propaganda ein großer Teil der Menschen in der BRD bereit gewesen ist, endlich die Wahrheit zu berichten, vielleicht für manche eine schmerzliche Wahrheit, jedoch eine notwendige — eine sehr notwendige. Die Wandlungen sind bei uns wahrgenommen worden, und als man ihr merkliches Erstarken erkennen konnte, traten wir am 17. Mai 1969 mit dem Vorschlag an die Regierung der BRD zum Abschluß eines Vertrages in der Frage der vorbehaltlosen und endgültigen Anerkennung der Grenze an der Oder und der Lausitzer Neiße heran.

Dieser Schritt war ein Ausdruck unserer tiefen und aufrichtigen Sorge um die europäische Sicherheit, da wir dieses Problem ja nur unter diesem Gesichtspunkt betrachten. In der Feststellung, daß es „kein Problem der Grenzen, sondern nur ein Problem des Friedens" sei, wie es Wladyslaw Gomulka auf der Vollversammlung der Vereinten Nationen in New York im Jahre 1960 ausgesprochen hat, liegt der Sinn aller unserer Schritte, die auf eine Normalisierung der Beziehungen mit der BRD gerichtet sind. Das sind übrigens nicht nur Bemühungen neuen Datums. Schon im Jahre 1955 waren wir gegenüber Bonn mit einem Vorschlag zur Normalisierung der gegenseitigen Beziehungen hervorgetreten. Aber offensichtlich waren wir für die damaligen Regierungskreise weiterhin der „Saisonstaat" — man antwortete uns ganz einfach nicht. Vielleicht rechnete man mit einem „roll back" oder gar mit einer „liberation". Unsere Vorschläge gegenüber der BRD entspringen nicht einer Furcht, die uns manche einreden wollen und die wir angeblich im Hinblick auf die Sicherheit unserer Grenze haben. Denn diese Grenze verteidigen nicht nur die Streitkräfte der im Warschauer Pakt vereinigten sozialistischen Staaten, sondern auch 32 Millionen Polen im Lande und 10 Millionen Polen außerhalb der Grenzen unseres Landes.

Das Problem der Anerkennung der polnisch-deutschen Grenze an der Oder und der Lausitzer Neiße wurde in Europa — aber ganz besonders in der BRD — zu einer Art Lackmuspapier, das durch die Veränderung seiner Färbung gleichsam die Haltung gegenüber dem Fundamentalproblem der Sicherheit und des Friedens auf unserem Kontinent anzeigt. Der 7. Dezember 1970 wird sicher als fester Bestandteil in die Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen eingehen. Der an diesem Tage zwischen der Volksrepublik Polen und der BRD abgeschlossene Vertrag über die Grundlagen der Normalisierung der gegenseitigen Beziehungen wurde zusammen mit dem vorher in Moskau zwischen der UdSSR und der BRD abgeschlossenen Vertrag ein Meilenstein in dem sich entwickelnden Entspannungsprozeß auf unserem Kontinent. Dieser Vertrag war gleichzeitig ein Ergebnis der realistischen Außenpolitik unseres Landes, bei der das Problem der Anerkennung der Grenzen Polens an der Oder und Neiße als Grundlage jeglicher Prozesse zur Normalisierung zwischen unseren Ländern im Vordergrund stand.

Die Regierung Brandt, der Bundeskanzler selbst, dessen persönlicher Einfluß auf die Politik der BRD schwer zu negieren ist, besaß soviel Mut und politischen Weitblick, daß er der Bevölkerung sagen konnte, man gebe nichts preis, was nicht längst verspielt worden sei. ie kommende Normalisierung der Beziehungen zwischen unseren Ländern wird ohne Zweifel ein historisches Ereignis auf unserem Kontinent darstellen. Aber eben mit Rücksicht auf die große Bedeutung dieses Schritts wollen wir keine Normalisierung, die auf Täuschungen beruht. Polen gibt zahlreiche Beispiele, daß dieser Normalisierungsprozeß ernst genommen wird. Wir beobachten gewisse Fortschritte bei der Entwicklung der politischen und wissenschaftlichen Kontakte sowie auch eine Erweiterung der Kontakte unter der Jugend. Aber man kann nach so vielen Jahren, in denen überhaupt keine oder nur wenige Kontakte bestanden, kaum mit einem schnellen Tempo rechnen. Doch seien wir ehrlich, einen großen Beitrag zum Normalisierungsprozeß leistete Polen, da es auf vielen Gebieten der Bundesrepublik entgegenkam. Aber uns gegenüber gab es leider nicht ein ähnliches Entgegenkommen, vor allem nicht bei der Intensivierung unserer wirtschaftlichen Zusammenarbeit.

In deutlicher Diskrepanz zu unseren Auffassungen über den Vorgang der Normalisierung stehen aber die Versuche zur Erhaltung der ganzen revisionistischen Gesetzgebung in der BRD, das Tolerieren der Tätigkeit der Vergeltung heischenden Verbände, die falsche Darstellung der polnisch-deutschen Beziehungen in der Schule. Mit anderen Worten: es ist die Duldung jener Tendenz im politischen Leben der BRD durch die Regierung, die für das deutsche Volk niemals zu einem dauerhaften Nutzen geführt hat. Eine echte Normalisierung müßte also in einem Vorgang erfolgen, der nicht nur die zwischenstaatlichen Beziehungen, sondern auch die zwischenmenschlichen umfassen sollte. Ein wichtiges Element dieser letzteren wird die Entwicklung der wirtschaftlichen Beziehungen sein, die normalerweise von einer Entwicklung der Beziehungen auch auf anderen Lebensbereichen begleitet werden. Beurteilen wir die Haltung der neuen Regierung realistisch. Wir haben mit Genugtuung die Unterschrift unter den Atomwaffensperrvertrag begrüßt. Das war ein konkretes Faktum, und allein auf der Grundlage solcher und noch weiterer Fakten — möglichst vieler und möglichst schnell — werden wir fernerhin die neue Regierung in Bonn betrachten und beurteilen. Wir sind uns dessen bewußt, daß sie keine leichte Aufgabe hat. Zwanzig Jahre einer Politik der Illusionen und des nationalistischen Dünkels konnten beim Start nicht ganz ohne Einfluß bleiben. Aber wie lange kann man starten? Einmal muß man Schwung aufnehmen, denn Hürden nimmt man nicht im Schritt, sondern nur im Lauf. Die westdeutsche Bevölkerung hat nun zum ersten Male nach 40 Jahren eine Regierung erhalten, an deren Spitze Sozialdemokraten stehen. Wir wissen jedoch, daß trotzdem die Klassenstruktur der Gesellschaft keine Änderung erfahren hat. Aber es scheint uns, daß diese Regierung in der Lage sein könnte, in bezug auf die Polen und ihr Land das auszuführen, was schon lange fällig ist. Mit dem historischen Akt am 7. Dezember 1970, der Anerkennung der polnischen Westgrenze an der Oder-Lausitzer Neiße, sollte man Hand in Hand damit den Prozeß der Korrektur in der Einstellung der eigenen Bevölkerung den Polen gegenüber in Angriff nehmen. Wir wissen, daß bereits in den Kreisen der Intelligenz, der Journalisten und der Geistlichen die antipolnischen Mythen eingestürzt sind, die in Deutschland so zutreffend als „Wandkalenderweisheiten" bezeichnet werden.

Ich selbst bin überzeugt, daß große Teile der Bevölkerung Westdeutschlands die Notwendigkeit einer vertraglichen Anerkennung der Grenze an der Oder und Neiße voll und ganz einsehen, da sie wohl wissen, daß dies nicht irgendeine einseitige Konzession seitens der Bundesrepublik sein wird.

Aber vieles bleibt noch zu tun, um die Masse der Bevölkerung mit dem neuen Polen bekanntzumachen, mit jenem Polen, dessen Menschen ihr Land über alles lieben, dessen Menschen im Jahre 1945 mit bloßen Händen an den Wiederaufbau ihrer zerstörten Städte und Dörfer herangingen, die heute unser Stolz sind.

Daß man von unserer Seite eine grundsätzliche Änderung der Einstellung uns gegenüber fordert, ist sicher kein übertriebenes, sondern ein sehr verständliches Verlangen, denn gerade an uns hat man die größten Verbrechen im Zweiten Weltkrieg begangen. Doch wichtig ist auch: man konnte solche Verbrechen nur auf der Basis der vorherrschenden Mentalität der Verachtung uns gegenüber vollbringen. Denn schon Wilhelm II. sprach damals davon, daß die Slawen nur zum Dienst für die Deutschen geschaffen seien. Und deshalb sind wir auch weiterhin empfindlich, wenn man über uns geringschätzig spricht, wenn man zu allem, was polnisch ist, Worte der Verachtung benützt.

Gute Beziehungen mit Polen — ich wiederhole hier die Worte des Kanzlers Brandt — „sind der Grundstein der Politik der Bundesregierung, die Aussöhnung mit Polen ist eine moralische und politische Verpflichtung". Ohne Zweifel bietet die jetzige Regierung der BRD für die Möglichkeit einer Normalisierung der Beziehungen mit uns weit mehr Chancen, als dies bei den Regierungen Adenauers, Erhards oder auch sogar Kiesingers der Fall war. Und gewiß werden wir nicht zögern, wenn wir im Ergebnis der Fakten und der Schritte — solcher, wie sie unsere Bevölkerung erwartet — sagen können, daß die neuen, normalisierten Beziehungen zwischen Polen und der BRD die konkrete Garantie darstellen für die Sicherheit in Europa — so wie die freundschaftlichen und brüderlichen Beziehungen Polens mit der Deutschen Demokratischen Republik seit zwanzig Jahren eine Wende in den polnisch-deutschen Beziehungen bedeuten.

Ich glaube, daß die realistisch denkenden Kräfte in der Bevölkerung Westdeutschlands so viel Mut finden werden, daß die kommenden Generationen in ihrem Lande sie anders anblicken werden, als dies bei den heutigen ihren Vätern gegenüber der Fall ist.

Die Generation, die den schrecklichen Krieg überlebt hat, sollte alle noch offenen Probleme des Zweiten Weltkrieges lösen, die als Ergebnis der Aggression Hitlers und der bedingungslosen Kapitulation entstanden sind.

Dies würde auch eine historische Wende in den polnisch-deutschen Beziehungen darstellen. Aber Geschichte und historische Fakten — sofern sie von Dauer sein sollen — macht man nicht nur mit Worten oder Gesten, wenn sie auch noch so versöhnlich gemeint sind. Notwendig sind Taten. Und jetzt, da mein Land so viel guten Willen gezeigt hat, so viele Beweise gegeben hat, wie sehr ihm an einer tatsächlichen Normalisierung der gegenseitigen Beziehungen zur BRD gelegen ist, jetzt ist die Reihe an der Bundesrepublik. Diesem Zug kann sie nicht ausweichen, niemand kann ihn ihr abnehmen.

Nur auf der Grundlage von Tatsachen werden wir beurteilen können, welchen tatsächlichen Wandel die Politik der Bundesrepublik Deutschland erfahren hat. Heute, nach der Ratifizierung des Warschauer Vertrages, können wir sagen, daß er nicht nur eine Epoche, die, wie wir glauben wollen, unwiderruflich der Geschichte angehört, abgeschlossen hat; der Vertrag ist zugleich der Beginn auch eines neuen Abschnittes, dessen Inhalt und Form wir gemeinsam gestalten werden. Eben gemeinsam.

Fussnoten

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Mieczyslaw Tomala, Dr. habil., geb. 1921, 1949— 1964 Mitarbeiter des Polnischen Instituts für Internationale Fragen; 1965— 1972 stellv. Direktor des Instituts; seit 1972 Botschaftsrat an der polnischen Botschaft in Den Haag; 1970 Gastprofessor an der Universität Bochum; Vorlesungen an einigen Universitäten der BRD und DDR. Veröffentlichungen u. a.: Die Expansion der Industrie der BRD, Posen 1962; Die Ostpolitik der BRD, Warschau 1968; Zwei Wege der Entwicklung in Deutschland, Warschau 1968; Die BRD auf dem Weltmarkt, Warschau 1970. In Vorb., Die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Polen und der BRD, Warschau 1973; Polen nach 1945, Stuttgart 1973.