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Drei Fragen zur Bundestagswahl 1972 | APuZ 46/1973 | bpb.de

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APuZ 46/1973 Drei Fragen zur Bundestagswahl 1972

Drei Fragen zur Bundestagswahl 1972

Ludolf Eltermann, Helmut Jung, Werner Kaltefleiter Werner Helmut Jung Ludolf Eltermann Kaltefleiter

/ 39 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Wahlen nehmen im demokratischen System einen zentralen Platz im politischen Prozeß ein. Sie sind deshalb bevorzugter Gegenstand sozialwissenschaftlicher Analysen. Das wird an drei Fragen zur Bundestagswahl 1972 verdeutlicht: 1. Welche Wählerbewegungen erfolgten zwischen den Parteien im Zeitraum von 1969 bis 1972? Diese Wanderungsbewegungen werden mit Hilfe komplexer Befragungsmethoden quantitativ bestimmt. Dabei werden das Image der Spitzenkandidaten, die Sympathie bzw. Übereinstimmung zur gesamten Partei und die Leistungserwartung bei spezifischen Aufgaben auf ihren Einfluß für den Wechsel zwischen den großen Parteien untersucht.

2. Welche Möglichkeiten bestehen, um den Wechsel im Wahlverhalten auch dort zu erhalten, wo das Instrument der Umfrage allein nicht aussagefähig genug ist? Durch die Verbindung von Befragungsdaten mit Ergebnissen der amtlichen Wahlstatistik werden die Wanderungen zwischen den NPD-Wählern von 1969 zu den großen Parteien bei der Bundestagswahl 1972 ermittelt und zugleich herausgearbeitet, daß extremes politisches Verhalten zur normalen Pathologie einer westlichen Industriegesellschaft gehört.

3. Welche Aussagen können aufgrund der Analyse des Wählerverhaltens über den demokratischen Prozeß gemacht werden? Hierbei steht die Frage nach der inhaltlichen Akzeptierung des Wechsels zwischen den Parteien als Prinzip der Demokratie im Vordergrund.

I. Wahlen als Forschungsobjekt

Abbildung 1

Wahlen, wenn sie in offener Konkurrenz ausgetragen werden, bilden in allen Ländern einen bevorzugten Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung. Dementsprechend vergeht in den westlichen Demokratien kaum eine nationale Wahl, ohne daß umfangreiche Spezialanalysen durchgeführt werden. Auch in Gesamtdarstellungen der jeweiligen Regierungssysteme, in Arbeiten über Parteien und Parteiensysteme, über einzelne politische Institutionen und Prozesse nimmt die Erörterung von Wahlen zumeist einen breiten Raum ein. Zwei Ursachen gibt es für dieses Interesse, die zugleich für zwei sehr unterschiedliche, aber doch zusammenhängende Ansätze in den Sozialwissenschaften kennzeichnend sind. 1. Innerhalb des demokratischen Prozesses kommt den Wahlen eine gewisse Schlüssel-funktion zu. Das gilt vordergründig für die Machtverteilung in dem jeweiligen politischen System, über die die Wahl entscheidet. Wesentlicher aber ist, daß der Verfassungsprozeß einer Wahl Auskunft über wesentliche Aspekte der Arbeitsweise eines demokratischen Systems gibt. Machtbildung wie Machtkontrolle, Personalauslese und Personalkontrolle, Interessenartikulation und Richtungskontrolle sind Funktionen der Wahl. Die Wahl ist darüber hinaus eine der wesentlichen Formen der politischen Partizipation, und die der Wahl vorausgehende Kandidaten-aufstellung und die als Wahlkampf bezeichnete organisierte Wettbewerbsform sind sichtbarster Teil des Konkurrenzmechanismus, der eine Demokratie kennzeichnet. Die Analyse einer Wahl gibt Gelegenheit, das politische System darauf zu überprüfen, wie diese — und andere — Funktionen ausgeübt werden, wobei das Zusammenwirken dieser Funktionen auch Auskunft über die normative Verankerung des politischen Systems in der Bevölkerung, kurz über die Legitimität des Systems, gibt. 2. Voraussetzung für eine solche zumindest partielle Systemanalyse, aufgehängt an einer Wahl, ist jedoch eine genaue Kenntnis des Verhaltens und der das Verhalten beeinflussenden Faktoren. Ohne detaillierte empirische Untersuchungen der Verhaltensformen, von denen das Wählen nur eine, wenn auch die wesentlichste ist, bleiben die Aussagen über den Verfassungsprozeß phänomenologisch oder kryptonormativ begründet.

Abbildung 5

Die empirische Verhaltensforschung erlaubt es, Prozeßanalysen so durchzuführen, daß sie den Charakter wissenschaftlich überprüfbarer Aussagen erhalten. Insofern haben diese Untersuchungen instrumentalen Charakter für die Systemanalyse. Es kommt aber ein zweites hinzu, was ein eigenständiges Interesse der empirischen Forschung am Wahlakt begründet. In der Wahl werden Einstellungen der Bevölkerung im politischen Verhalten manifest. Die Entwicklung der meisten Hypothesen über politisches Verhalten, insbesondere die Konzepte, die auf der Unterscheidung zwischen Attitüden und Verhalten beruhen, benötigt Wahlverhalten als Instrument ihrer Überprüfung. Es gibt keine andere Verhaltensform, die so massenhaft genutzt in operationalisierter Form vorliegt, wie das Wahlverhalten.

Bewertung der Ostpolitik durch die Wählertypen

Die Zahl der Untersuchungen, die aus diesen Fragestellungen erwachsen können, ist Legion. Sie werden in einer konkreten Wahl häufig von anderen Fragestellungen bestimmt, die auch in der aktuellen Diskussion eines Landes eine Rolle spielen — und sie werden durch die jeweiligen Forschungsmöglichkeiten eingeengt.

Abschlußtabelle mit Gegenüberstellung von Wahlverhalten im Zeitablauf und zwei wesentlichen Determinanten des Wahlverhaltens

Eine erste zentrale Frage ist bei jeder Wahl die nach den Veränderungen gegenüber der Vorwahl. Daß der statistische Vergleich des aggregierten Wahlergebnisses häufig mehr verdeckt als enthüllt, ist ebenso ein Gemeinplatz, wie die Tatsache unbestreitbar ist, daß die meisten politischen Schlufolgerungen aus einem ad hoc-Vergleich solcher aggregierter Wahlergebnisse — möglichst noch in der Wahlnacht — gezogen werden und vielleicht gar gezogen werden müssen. Das geeignete Instrument für eine Messung von Veränderungen bildet dagegen ein Mehrwellenpanel, das heißt, die regelmäßige Wiederholungsbefragung eingr repräsentativ ausgewählten Bevölkerungsgruppe. Es ist zugleich das vielleicht aufwendigste und empfindlichste In-3 strumentarium, über das die empirische Sozialforschung verfügt. Das Sozialwissenschaftliche Forschungsinstitut der Konrad-Adenauer-Stiftung konnte zur Bundestagswahl 1972 ein solches Panel durchführen. Der folgende Beitrag von Ludolf Eltermann verdeutlicht die Möglichkeiten und Grenzen dieses Instrumentes und beantwortet zugleich die wichtigsten Fragen nach den Veränderungen von 1969 bis 1972.

II. Stabilität und Wandel von Einstellungen und politischem Verhalten

CDU/CSU--------CDU/CSU CDU/CSU-------SPD SPD---------------SPD Unentschlossen CDU/CSU--------CDU/CSU SPD---------------CDU/CSU -----------SPD SPD *) Eine Beschränkung auf die Wechsler zwischen SPD und CDU/CSU erfolgt, um die Fehlinterpretation von Prozentsätzen in kleinen Gruppen zu verhindern.

Kaum einem Bereich der empirischen Sozial-forschung wird so viel neugieriges Interesse auf der einen Seite und skeptische Kritik auf der anderen Seite entgegengebracht wie der politischen Meinungsforschung. Dies liegt zum einen an der faszinierenden Idee, aufgrund der Befragung von wenigen eine Prognose über Einstellung und Verhalten der gesamten Bevölkerung zu machen, zum anderen schossen Prognosen dieser Art nicht selten dermaßen an der Realität vorbei, daß das Entstehen großer Skepsis nicht weiter verwundern kann. Die große Realitätsnähe der politischen Umfrageforschung birgt aber nicht nur die Gefahr der Falsifikation von Thesen und Hypothesen, die aufgrund solcher Umfragedaten gewonnen wurden vor großem Publikum, sie stellt zugleich die große Chance dar, durch unmittelbare und permanente Überprüfung der theoretischen Konzepte an der Wirklichkeit unmittelbar Maßstäbe für Richtigkeit und Brauchbarkeit der theoretischen Instrumente zu gewinnen.

Die Wählerschaft der NPD in der Bundesrepublik nach dem Geschlecht

Der vorliegenden Analyse liegt eine vierwellige Panelbefragung zugrunde, in der vom Winter 1970/71 bis zum Winter 1972/73 viermal dieselben Personen befragt wurden. Diese Methode erlaubt es, im Gegensatz zur Arbeit mit voneinander unabhängigen repräsentativen Stichproben Veränderungen in der Einstellung und dem Verhalten der Befragten im Zeitablauf zu ermitteln. 1. Die Wählerbewegung 1970— 1973

Abbildung 9

Die nachstehende Tabelle zeigt das Ergebnis der Frage nach der Wahlabsicht aus den vier Wellen des Panels im Vergleich zu den letzten drei Bundestagswahlen (1965, 1969 und 1972): Betrachtet man die Prozentwerte der letzten drei Bundestagswahlen, so stellt man bei der SPD von 1965 bis 1972 einen Zuwachs von 6, 4 °/o, bei der CDU/CSU einen Verlust von 2, 7 % der abgegebenen Stimmen fest. Bei der FDP kann man einen Sprung von 9, 4 °/o auf 5, 8 °/o zwischen 1965 und 1969 und dann wieder einen Zuwachs auf 8, 4 0/0 1972 beobachten Kommt man aufgrund dieser Makroanalyse zu dem Ergebnis einer Nettowanderung von ca. 10 °/o zwischen 1969 und 1972, so weist die Mikroanalyse Wanderungsbewegungen bei ca. 40 °/o der Wählerschaft nach. Die „Bruttobewegung" kompensiert sich teilweise selbst, so daß ein Vergleich der Wahlergebnisse nur eine „Nettobewegung" ergibt, die nur ein Viertel der tatsächlichen Veränderung anzeigt. Diese umfangreichen Brutto-bewegungen zu ermitteln und zu beschreiben, ermöglichen erst die Paneldaten.

Quelle: Forschungsbericht Rechtsextremismus Teil 1, SFK, Alfter 1972, S. 58— 62)

Die Summe aller Wahlberechtigten unterliegt einem permanenten Wandel — angefangen von den einfachsten demographischen Merkmalen wie z. B. Alter oder Geschlecht bis hin zu komplizierten sozialen Konstruktionen wie dem Schichtengefüge. In der Bundesrepublik Deutschland läßt sich zunächst feststellen, daß der Anteil der älteren Menschen an der Gesamtbevölkerung aufgrund der rückläufigen Geburtenziffern bei gleichzeitigem Anstieg der durchschnittlichen Lebenserwartung größer wird. Der Anteil der männlichen Bevölkerung, der durch die beiden Weltkriege erheblich verringert wurde, gleicht sich durch das Nachwachsen der jungen Generationen zunehmend aus. Seit 1960 hat sich die Zahl der Realschüler mehr als verdoppelt, die Zahl der Gymnasiasten stieg in diesem Zeitraum um 60 °/o, die Zahl der Studierenden gar um 78 °/o. Dies bedeutet, daß nicht nur die Anzahl der Abiturienten in diesem Zeitraum erheblich stieg, sondern daß auch innerhalb dieser Gruppe ein höherer Prozentsatz die Hochschulen besucht.

Die Wählerschaft der NPD in der Bundesrepublik nach Gemeindegrößenklassen

Ebenso deutlich ist der Wandel in der Berufs-struktur der Bundesrepublik. Von 1961 bis 1970 nahm der Anteil der in der Land-und Forstwirtschaft Tätigen von 13, 4% auf 7, 5% ab, der Anteil der Selbständigen verringerte sich von 12, 5% auf 9, 7 %. Statt 28, 8% im Jahre 1961 gab es 1970 38, 4% Beamte und Angestellte. Im gleichen Zeitraum schließlich verringerte sich die Zahl der Arbeiter von 48, 0 auf 45, 8%

Frühjahr 1971 Herbst 1971 Die Wanderungsbewegung ehemaliger NPD-Wähler zwischen Frühjahr 1971 und Herbst 1972 in der Bundesrepublik Deutschland Herbst 1971 Umrechnung aufgrund des amtlichen Wahlergebnisses

Was bedeuten unter diesen Voraussetzungen Veränderungen in den Prozentwerten der Stimmverteilung? Dieser Wandel in der Zusammensetzung der Wählerschaft hat direkte Auswirkungen auf die Stimmanteile der einzelnen Parteien. Änderungen der Prozentwerte der Stimmanteile sind somit nicht allein Änderungen, die durch den Wandel der Parteipräferenzen auf individueller Basis hervorgerufen werden; sie lassen sich zum großen Teil auch auf strukturellen Wandel der Gesamtgesellschaft zurückführen. Abgesehen vom individuellen Wandel in den Einstellungen, gibt es einen Wandel in der gesellschaftlichen Struktur und — bislang unberücksichtigt — im „Normengefüge" der Gesellschaft.

Abbildung 13

Neben den strukturellen Veränderungen der Gesellschaft tritt auf individueller Basis ein Wandel von Einstellungen auf, der sich auf das manifeste Verhalten auswirken kann und so zur Ursache von Verhaltensänderungen werden kann. Beide Bereiche stehen in einem System der Interaktion, so daß die Differenzen von aktuellen Wahlergebnissen nur die Spitze des „Eisbergs" der Vorgänge sind, die tatsächlich abliefen.") 69 % der CDU/CSU-Wählerschaft hat im gesamten Beobachtungszeitraum für die CDU/CSU gestimmt. Bei der SPD beläuft sich dieser Prozentsatz nur auf 65, 4 %. Diese Differenz ist zwar nicht sehr groß, sie zeigt jedoch, daß die SPD ein größeres Maß an Zu-wanderern aufweist. 13% der CDU/CSU-Wähler vom Herbst 1972 sind Zuwanderer aus dem Kreis ehemaliger SPD-Wähler (ohne Rücksicht darauf, wann sich der Wechsel vollzogen hat); der Prozentsatz der SPD-Zu-wanderer von der CDU/CSU umgekehrt beläuft sich auf 16, 4%. In absoluten Zahlen gerechnet wird die Differenz größer, als es aufgrund der Prozentwerte den Anschein hat, da die SPD insgesamt ihren Stimmenanteil ver-größern konnte, während der Stimmenanteil der CDU/CSU rückläufig war: Für 10 Zuwanderer aus der SPD hat die Union 17 Wähler an die SPD verloren. 6, 4 °/o der CDU/CSU-Wählerschaft im Herbst 1972 hatten im Frühjahr 1971 noch keine Meinung. 4, 8% waren auch im Herbst 1971 noch unentschlossen. Bei der SPD lauten die gleiWie stabil oder labil sind Einstellungen und Wahlverhalten der einstigen Wählerpotentiale der großen Parteien in den vergangenen zwei Jahren gewesen? Wie haben sie sich vom Beginn des Beobachtungsintervalls an verändert? 1970 sahen die Größenverhältnisse völlig anders aus. Das Potential der CDU/CSU-Wählerschaft war um 3, 5 %-Punkte mit klarem Abstand größer als das Potential der SPD. Die FDP lag mit knapp 5 % im Kampf um ihre politische Existenz.

Das vorstehende Schaubild erfaßt 76 % der durch die Stichprobe repräsentierten Wähler, typisiert nach ihrem Verhalten in den Wahl-simulationen. 24 % gehen demnach nicht in chen Prozentsätze 7, 0 % und 4, 0 %. Schließt man hieraus, die CDU/CSU habe einen höheren Anteil der Unentschlossenen gewinnen können, so ist das bezogen auf ihr Wähler-potential richtig, bezogen auf die absolute Zahl des Zuwachses jedoch falsch. Das folgende Schaubild stellt die Interaktion von CDU/CSU-und SPD-Wählern von 1971 (Frühjahr) bis 1972 (Herbst) dar: das Schaubild und die aufgeführten Prozentwerte ein (Prozentuierbasis 76 %), davon waren 7, 1 % im Herbst 1972 noch unentschlossen, ob sie wählen oder wem sie ihre Stimme geben sollten. 16, 9% waren Wähler von der FDP und den Splitterparteien sowie Typen von labilem Wahlverhalten mit permanentem Wechsel über das gesamte Verhaltensspektrum.

Das Schaubild auf Seite 7 zeigt den Werdegang der Wählerpotentiale im Jahre 1970 bis zum Herbst 1972. (Um die Graphiken nicht unübersichtlich zu machen, wurde die zweite Befragung im Herbst 1971 nicht berücksichtigt): Der Werdegang der FDP-Wählerschaft von 1970 bis 1972 im Herbst bestätigt den relativ geringen Anteil der Stammwählerschaft dieser Partei. Nach diesen Prozentwerten hätte die FDP mehr Stimmen an SPD und CDU/CSU verloren als gewonnen. Dies ist jedoch eine Täuschung, die auf der Prozentuierung beruht. Setzt man die Wählerbewegung in Bezug zur Gesamtwählerschaft, so zeigt sich der Gewinn der FDP von 3, 2 °/o, wobei 1, 4% von den CDU/CSU-und 1, 6% von den SPD-Wählern gekommen sind. Die FDP hat 1, 4% an die SPD und 0, 8% an die CDU/CSU verloren, zusammengenommen also 2, 2 %. Netto ergibt sich für die FDP somit ein Stimmen-gewinn von 1 %.

Da die FDP im gleichen Zeitraum einen Anstieg ihres Stimmenanteils von 5, 6 % auf 6, 1 % verzeichnen konnte, müssen 0, 5 % nicht in die gegenseitigen Austauschbeziehungen von SPD, CDU/CSU und FDP eingegangen sein. In der Tat gewann die FDP 0, 2 % der Unentschlossenen, verlor aber 0, 3 %, die sich im Herbst 1972 nicht entscheiden konnten.

Die restlichen 0, 4 % sind den Splitterparteien zugute gekommen.

Von den SPD-Wählern von 1970 blieben der SPD 80, 9% treu, der CDU/CSU nur 71, 2%. Die Bilanz der Wählerfluktuation wird für die CDU/CSU noch negativer, wenn man nur die Wechsler zwischen den beiden großen Parteien betrachtet. So wechselten von der damals stärkeren CDU/CSU 20, 3 % im Laufe der vergangenen zwei Jahre zur SPD über, während die damals schwächere SPD nur 10, 7 % ihrer damaligen Wählerschaft an die CDU/CSU verlor. Das heißt, daß die CDU/CSU für 2 Wähler, die sie an die SPD verlor, von der SPD nur 1 Wähler wiedergewinnen konnte. Bezieht man Abwanderung und Zuwanderung der CDU/CSU wieder auf die gesamte Wählerschaft, so ist festzuhalten, daß insgesamt ca. 14 % von der CDU/CSU abwanderten. Dem stehen ca. 11 % an Zuwanderern gegenüber (von SPD, FDP und Unentschiedenen). Es bleibt eine Differenz von 3 % des gesamten Elektorats, die der CDU/CSU von den kleineren Parteien, vor allem der NPD (2, °/o), zugewachsen sind. Bei der SPD sehen die Relationen geringfügig anders aus. Sie verlor ca. 20 °/o ihrer Wählerschaft von 1970 — das entspricht etwa 9 0/0 der gesamten Wählerschaft. Andererseits gewann sie ca. 14% der Gesamtwählerschaft (ehemals CDU/CSU-und FDP-Wähler sowie Unentschlossene). Es verbleibt ca. 1 % des Gesamtelektorats, das der SPD von den Splitterparteien zugewachsen sein müßte.

2. Die Bundestagswahl im Spiegel von Wahl-absicht und Erinnerung

Vergleicht man die Daten der drei Panelwellen, die vor der Bundestagswahl im November 1972 erhoben wurden, mit jenen Daten, die die Welle als Nachwahlstudie erbracht hat, so zeigt sich ein erheblicher Unterschied. Vor den Bundestagswahlen wurde die Wahlabsicht durch die Wahlsimulation erfaßt, d. h. vom Befragten eine Projektion seiner augenblicklichen Einstellungskonstellation auf zukünftiges Verhalten erwartet. Bei der Nachwahlstudie hingegen wurde vergangenes manifestiertes Verhalten auf die Einstellungen reflektiert und abgerufen. Außerdem wurde mit Rücksicht auf das beobachtete Stimmensplitting ein Wahlzettel mit Erst-und Zweit-stimme verwendet.

Bei der CDU/CSU gaben 97, 7 % der Zweitstimmenwähler auch die Erststimme der Union. Bei der SPD machte die gleiche Gruppe mit 95, 4 % einen kleineren Prozentsatz aus. Hier zeigt sich der Stimmensplit zwischen den Koalitionsparteien. Bei den FDP-Wählern haben nur 35, 8% der Personen, die der FDP ihre Zweitstimme gaben, auch mit der Erststimme den Kandidaten der FDP gewählt. Mehr als die Hälfte jedoch, nämlich 53, 7 %, gaben ihre Erststimme der SPD und die Zweitstimme der FDP. Mit 9, 5 % konnten auch die Unionsparteien durch den Split der FDP-Wähler an Erststimmen profitieren 3).

Vergleicht man die Wahlabsicht aus der 3. Welle unmittelbar vor der Bundestagswahl mit der „Erinnerungssimulation" in Erst-und Zweitstimme, so ergibt sich zunächst bei der CDU/CSU der höchste Anteil realisierter Wahlabsichten. 78, 1 % derjenigen, die im Herbst 1972 die CDU/CSU wählen wollten, haben nach eigenen Angaben die Unionsparteien gewählt. 0, 5 % haben mit der Erststimme, 2, 3 % mit der Zweitstimme eine der Koalitionsparteien gewählt, wobei hiervon allein 1, 7% auf die Freien Demokraten entfallen. 12, 9% der Wahlabsichten zugunsten der CDU/CSU schließlich wurden angeblich weder mit der Erst-noch mit der Zweitstimme realisiert. Hier muß jedoch darauf hingewiesen werden, daß in diesem Prozentsatz der so-genannte „bandwagon effect" enthalten ist. Es handelt sich hierbei um jene Wähler, die tatsächlich die CDU/CSU gewählt haben, im nachherein jedoch nicht mehr zugestehen wollen, der Partei ihre Stimme gegeben zu haben, die die Wahl verloren hat, und daher vorgeben, die Siegerpartei gewählt zu haben. Der genaue Anteil, der auf diesen Effekt entfällt, läßt sich jedoch nicht bestimmen.

Beim Vergleich von SPD und FDP zeigt sich der erwartete Stimmensplit. Die FDP ist insgesamt eindeutig Nutznießer des Stimmensplits mit der Zweitstimme gewesen. Umgekehrt haben aber immerhin 22 % derjenigen, die vorhatten, die FDP zu wählen, mit der Erststimme zugunsten der SPD gestimmt, somit war auch die SPD im Zuwachs von Erst-stimmen Nutznießer des Splitgedankens geworden.

3. Die verschiedenen Wählertypen

„Der Begriff der Einstellung kann definiert werden als eine erworbene Bereitschaft, eine aufgrund individueller und sozialer Lernprozesse mehr oder minder stark verfestigte, also relativ dauerhafte Tendenz zu gewissen gedanklichen, gefühlsmäßigen und verhaltens-mäßigen Reaktionen auf bestimmte Dinge, Personen, Situationen oder ganz allgemein: auf Gegenstände unserer Erfahrungswelt. Mit diesem Begriff wird gleichzeitig die Vorstellung einer gewissen inneren Harmonie, eines auf einen bestimmten Einstellungsgegenstand gerichteten Denkens, Fühlens und Wollens verbunden." 4) Nach dieser Definition Hans Angers wird klar, daß üblicherweise sozialdemographische Merkmale manifestem Verhalten mit der Begründung gegenübergestellt werden, daß diese Variablen charakteristisch für den Bereich des sozialen Feldes sind, in dem sich individuelle Einstellungen typischerweise bilden. Der Zusammenhang von Einstellung und Verhalten gilt aber nicht nur unter statischem Aspekt, sondern sehr wohl auch im dynamischen Betrachtungsfeld, also bezogen auf Einstellungswandel und Verhaltenswandel. Klammert man zufällige Änderungen aus, so kommt man zu dem theoretischen Schluß, daß bei beobachtetem Verhaltenswandel auch Einstellungswandel vorliegen muß.

Erwartungen und Einstellungen, die einer Wahlentscheidung zugrunde liegen, lassen sich auf drei große Bereiche reduzieren. Der erste Bereich betrifft die Einstellung zu den Politikern, der zweite Bereich zu den Parteien und der dritte Bereich das Aufgabenspektrum. Aus diesen drei Bereichen wird jeweils ein Beispiel exemplarisch herausgegriffen.

Mit der Sympathie-und Tüchtigkeitseinstufung 1971 der Politiker Brandt und Barzel sowie dem Wahlverhalten zu zwei Zeitpunkten 1971 im Herbst und 1972 im Herbst kann der Zusammenhang zwischen Einstellung und Verhalten überprüft werden. Fällt 1971 die Einschätzung der beiden Spitzenkandidaten bei Personen anders aus, die bis 1972 eine Änderung im Wahlverhalten aufweisen als bei den Stammwählern? Deutlich zeigt sich, daß bei den Wechslern von der SPD zur CDU/CSU Brandt schon 1971 weniger Sympathien besaß und in noch stärkerem Maße für weniger leistungsfähig gehalten wurde als von den Personen, die der SPD treu blieben. In der Beurteilung Barzels unterscheiden sich diese beiden Gruppen nicht wesentlich. Sowohl bei den SPD-Stammwählem als auch bei den Wanderern zur CDU/CSU besitzt R. Barzel keine großen Sympathien, gilt aber als recht leistungsfähig.

Betrachtet man das Bild bei den Wechslern von der CDU/CSU und stellt es den CDU/CSU-Stammwählem gegenüber, so zeigt sich bis auf eine Ausnahme ein ähnliches Bild: Bei den Zuwanderern besitzt Brandt schon 1971 weitaus höhere Sympathiebezüge und wird auch allerdings in entscheidend geringerem Maße als bei den CDU/CSU-Stammwählern für tüchtig gehalten. In der Beurteilung Barzels unterscheiden sich hier diese beiden Gruppen lediglich in der Sympathieeinstufung im negativen Bereich; es gab eine nennenswerte Gruppe von CDU/CSU-Wählern, denen schon 1971 Barzel unsympathisch war, nämlich 18, 1 % der Abwanderer zur SPD. Hier sei angemerkt, daß zwischen den Befragungen im Herbst 1971 und Herbst 1972 die Nominierung Barzels zum Kanzlerkandidaten der Unionsparteien erfolgte.

Noch differenzierter wird das Bild, wenn man nicht nur die Sympathie, sondern 9 Eigenschaftspolare zur Kennzeichnung der Einstellung gegenüber dem Kandidaten verwendet: Es wird deutlich, daß sich bei Brandt und Barzel ihr Image als Kandidaten der Zugangs-bzw. Zielpartei erheblich verbessert hat und als Kandidat der Herkunftspartei in den einzelnen Eigenschaften unterschiedlich starke Einbußen hinnehmen mußte.

Bleibt die Frage nach Ursache und Folge: Einen Anhaltspunkt bietet die Frage, ob der Spitzenkandidat der Zugangspartei nach Abschluß des Einstellungswandels höher eingeschätzt wird als der Kandidat der Herkunftspartei, bevor der Wandel stattfand. Bei den Wechslern von der CDU/CSU zur SPD zeigt sich durchgängig — außer bei der Eigenschaft „dynamisch" —, daß Willy Brandt nach dem vollzogenen Einstellungswandel höher eingeschätzt wird als Rainer Barzel vorher. In den Eigenschaftspolaren sachlich, fortschrittlich, bescheiden, sympathisch und geradeheraus wurde Willy Brandt schon vor dem Wechsel als Kandidat der Zugangspartei günstiger bewertet als Rainer Barzel. Bei diesen Noch-CDU/CSU-Wählern von 1971 kann die Einschätzung der Spitzenkandidaten durch bessere Einstufung Brandts in 5 von 9 Eigenschaften das Wechselwahlverhalten mitbeeinflußt haben.

Nach vollzogenem Wechsel kommt es im Sympathiebezug zum größten Wandel; hier schlägt zum einen das Phänomen durch, daß der Wechsel im Verhalten auf die Einstellungen zurückwirkt, zum anderen wird die Zentralität der Sympathie im Image von Willy Brandt deutlich. Die Bewertung in den einzelnen Eigenschaften wird für ihn erheblich davon beeinflußt, welche Sympathie man empfindet. Wie sieht es nun bei den Wechslern von der SPD zur CDU/CSU aus? Hier hat Barzel vor dem Wechsel nur bei der Eigenschaft dynamisch gegenüber Willy Brandt Vorteile. Bei allen anderen Eigenschaften wird Willy Brandt vor dem Wechsel mit unterschiedlichem Abstand höher bewertet als der Spitzenkandidat der Zugangspartei. Mit dem Vollzug des Wandels in der Parteipräferenz geht auch bei den Wechslern von der SPD zur CDU/CSU ein entschiedener Einstellungswandel gegenüber den beiden Kandidaten einher. Lediglich bei der Eigenschaft „bescheiden" behält Brandt auch nach dem Wechsel noch Vorteile. Vergleicht man auch hier wieder die Bewertung des Kandidaten der Abgangspartei vor dem Wechsel in der Parteipräferenz und die Bewertung des Kandidaten der Zugangs-5 partei nach dem Wechsel, so übertrifft Rainer Barzel — der Kandidat der Zugangspartei — bei den Eigenschaftspolaren tüchtig, dynamisch, ehrlich und sympathisch nach vollzogenem Wandel den Wert des Spitzenkandidaten der Herkunftspartei vor dem Wandel.

Der Wechsel im Wahlverhalten wird somit von einer erheblichen Umorientierung in der Einschätzung beider Kandidaten begleitet. Diese Umorientierung ist in beiden Richtungen des Wechsels vorhanden, also von der CDU/CSU zur SPD wie von der SPD zur CDU/CSU, aber er ist nicht gleichartig: Bei den Wechslern zur SPD bestand schon vor dem Wechsel eine Bessereinschätzung Brandts, die nach dem Wechsel ausgeprägt wurde; bei den Wechslern zur CDU/CSU war vor dem Wechsel Barzel nur in einer Eigenschaft positiv eingeschätzt, die nach dem Wechsel ebenfalls umfassender wurde, ohne jedoch die Höher-einschätzung Brandts durch den Wechsel zur SPD zu erreichen.

Bei den Wechslern zur SPD dominierte der Sympathiebezug von Willy Brandt, während Rainer Barzel in der Leistungsdimension bei CDU/CSU-Zuwanderern besondere Stärken aufwies. Die Personaleinflüsse verlaufen daher asymmetrisch. Bei Willy Brandt ist der Einfluß auf Zuwanderer zur SPD im positiven Sinn augenscheinlich, während sein Personeneinfluß nicht ausreichte, um Abwanderer bei der SPD zu halten. Der Einfluß der Person R. Barzels auf Wählerbewegungen ist insgesamt geringer zu veranschlagen.

Ein paralleles Ergebnis zeigt sich, wenn man die Einstellung gegenüber den Parteien mit dem Wechselwahlverhalten vergleicht. Eine zentrale Dimension der Einstellungen zu den Parteien ist die Sympathie; sie ist keine unabhängige Größe, sondern ein Schlüsselbegriff, der stellvertretend für andere Faktoren herausgegriffen werden kann.

Unschwer lassen sich auch hier die Veränderungen im Sympathiebezug zwischen Herkunfts-und Zielpartei ablesen. Mit der Zeitdauer, die der Wechsel im Wahlverhalten zurückliegt, steigt die Differenz zwischen der Bewertung der Herkunfts-und Zugangspartei. Die Differenz in der Sympathie ist größer, wenn der Bewertungszeitpunkt länger vor dem Wechsel des Verhaltens liegt. Beides deutet darauf hin, daß keine sprunghaften Veränderungen vorliegen, sondern vielmehr eine Entwicklung von der positiven Beurteilung der Herkunftspartei, die sich abschwächt bei gleichzeitigem Anstieg der Sympathie der Zielpartei, bis schließlich die Zielpartei besser bewertet wird und der Einstellungs-B wandel verhaltensrelevant wird. Außerdem ergibt auch hier die Analyse der Unterschiede der jeweiligen Bewertung von Ziel-und Herkunftspartei vor bzw. nach dem Wechsel eine Differenzierung zwischen den Wechslern zur CDU/CSU und zur SPD. Im Durchschnitt war die SPD vorher — als Zielpartei — schon besser bewertet als die CDU/CSU ihrerseits von ihren Zuwanderern (vor dem Wechsel: SPD 74, 1 0/0 positiv, CDU/CSU 68, 0% positiv). Umgekehrt wird die SPD von ihren Abwanderern auch nach dem Wechsel noch besser bewertet als die CDU/CSU als Herkunftspartei von ihren Abwanderern zur SPD (nach dem Wechsel: CDU/CSU 42, 1 % positiv, SPD 58, 6% positiv).

Dieses Bild wird vervollständigt, wenn man die aus der Sicht des Wählers zu lösenden Aufgaben einbezieht. Ein geeignetes Beispiel dafür ist die Ostpolitik der Bundesregierung und ihre Bewertung, da bei diesem „Issue" die schärfsten Konturen zwischen SPD/FDP einerseits und CDU/CSU andererseits zumindest in der öffentlichen Aussage dieser Parteien bestehen:

Betrachtet man wieder Veränderungen in der Beurteilung der Ostpolitik und dem Wahlverhalten gleichzeitig, so ergibt sich ein ähnliches Bild wie beim Personaleinfluß. Die Änderungen sind nicht ohne Beziehung zueinander, entsprechen sich jedoch nicht im Umfang.

4. Das Zusammenwirken von Kandidaten, Parteien und Issues

Bleibt die Frage nach dem Zusammenwirken der drei Bereiche: Kandidaten, Parteien und Issues. Betrachtet man die Sympathieeinstufung im Frühjahr 1970 für Willy Brandt und Rainer Barzel und stellt sie den unterschiedlichen Formen des Wahlverhaltens im Zeitraum von 1970 bis 1972 gegenüber, so wird deutlich, daß Willy Brandt auch bei den späteren Wechslern von der SPD zur CDU/CSU nur von 9, 2 0/0 als eher unsympathisch bezeichnet wurde. Bei Rainer Barzel und der Gruppe von Wählern, die zum damaligen Zeitpunkt noch die Unionsparteien bevorzugten, ist dieser Prozentsatz mit 18, 1 % etwa doppelt so hoch.

Deutlich zeigt sich, daß sich die Wechsler von der SPD zur CDU/CSU in der Beurteilung der Politischen Aufgabe „Ostpolitik" erheblich von den Wechslern in umgekehrter Richtung unterscheiden: Bei den CDU/CSU-Wählern — sowohl bei den Zuwanderern wie bei den Stammwählern — ist die Zustimmung zur Ostpolitik zwar deutlich geringer, aber unverkennbar auch vorhanden. Infolge dieses Zwiespaltes zwischen dem Parteistandpunkt und der eigenen Anschauung ist der hohe Anteil Unentschlossener erklärbar.

Umgerechnet auf den Stimmenanteil der CDU/CSU im Frühjahr 1971 bedeuten diese 18, 1 % einen Anteil von 1, 78 % der gesamten Wählerschaft. 1, 78% waren es also, die im Frühjahr 1971 noch für die CDU/CSU votierten, damals aber schon Barzel als unsympathisch bezeichneten. (Nimmt man die Unentschlossenen hinzu, die sich im Frühjahr 1971 noch nicht schlüssig waren, ob sie Rainer Barzel eher als sympathisch oder eher als unsympathisch empfanden, so erhöht sich dieser Prozentsatz geringfügig.) Bezieht man die Bewertung der Ostpolitik in das Bild ein, so fällt zunächst auf, daß selbst 5O°/o der CDU/CSU-Stammwählerschaft die Ostpolitik überwiegend positiv beurteilt hat. Dennoch bleiben die Unterschiede zu den SPD-Stammwählern und den Wechslern von der CDU/CSU zur SPD deutlich. In diesen beiden Gruppen wurde die Ostpolitik mit über 90 °/o gut bewertet. Gemessen an den 0, 3 °/o der Wechsler von der CDU/CSU zur SPD bzw. 0, 9 % der SPD-Stammwählerschaft fallen die 18, 9 °/o der Wechsler von der SPD zur CDU/CSU auf, die bereits 1971 die Ostpolitik verurteilten. Setzt man auch diese Prozentzahl wieder in Relation zum Anteil dieser Gruppe an der Gesamtwählerschaft, so ergibt sich ein Prozentsatz von 0, 83.

Sowohl die Prozentsätze, die den Kandidaten als auch dem Issue Ostpolitik zugeordnet werden können, sind viel zu gering, um sie sinnvoll weiter zu interpretieren. Hinzu kommt, daß diese Prozentsätze noch geringer werden, wenn man weitere Faktoren, z. B. weitere Mitglieder der Führungsmannschaft der Parteien oder andere Issues wie z. B. Wirtschaftsfragen in die Untersuchung einbezieht. Deutlich ist vor allem ein Ergebnis: die Zuordnung von Teilen des Wechselwahlverhaltens auf einen Faktor ist zumindest 1972 nicht sinnvoll möglich.

III. Das Wahlverhalten ehemaliger NPD-Wähler bei der Bundestagswahl 1972

Herbst 1972 CDU/CSU SPD FDP Unent. SPD CDU/CSU FDP Unent. FDP SPD CDU/CSU Unent. 1970

Eine der wesentlichsten Grenzen, auch der Panelanalyse, ergibt sich aus dem Befragungsinstrumentarium: Was diesem Instrumentarium nicht zugänglich ist, was die Befragten aus welchen Gründen auch immer z. B. verschweigen, kann nicht in die Veränderungsanalyse des Panels eingehen. Das galt z. B. für die NPD-Präferenz. Ein weiteres Problem betrifft die Verzerrungen, denen Paneldaten insbesondere aufgrund der ungleichmäßigen Ausfälle unter den Versuchspersonen im Zeitablauf (Mortalität) und der Beeinflussung der Versuchspersonen durch die Mehrfachbefragung (Paneleffekt), unterliegen. Beide Einschränkungen haben — neben der Kostenfrage — zu stets neuen Versuchen geführt, ergänzende Instrumente für eine Veränderungsanalyse zu entwickeln, wobei der Ansatz, die Aggregatdatenbewegung in möglichst kleinen Einheiten des statistischen Wahlergebnisses mit der Analyse von auf Befragungen beruhenden Individualdaten zu verbinden, besonders erfolgversprechend erscheint. Der Beitrag von Helmut Jung zeigt am Beispiel der Absorption der NPD von 1969 bis 1972 Möglichkeiten und Grenzen solcher Verbindungen von Individual-und Aggregatdatenanalysen. Eines der auffallendsten Ergebnisse der Bundestagswahl 1972 ist der Stimmenschwund der Splitterparteien. Die Diskussion, welche der drei großen Parteien in erster Linie aus der Konkursmasse der NPD, die eine Reduktion ihres Stimmenanteils von 4, 3 °/o auf 0, °/o hinnehmen mußte, profitieren konnte, bewegte sich kurz nach der Wahl vorwiegend im Bereich des • Spekulativen. Wie verlief die Wanderungsbewegung der ca. 1, 2 Millionen ehemaligen NPD-Wähler zu den anderen Parteien? Zum besseren Verständnis ist noch ein kurzer Abriß der Entwicklung der NPD bis zur Bundestagswahl 1972 erforderlich.

1. Die Entwicklung der NDP bis zur Bundestagswahl 1972

Bereits bei einer Ende 1965 durchgeführten Umfrage über das Potential für Rechtsradikalismus in der BRD ergab sich, daß die NPD mit ca. 9 °/o über ein wesentlich größeres Potential verfügte, als sich dies im Bundestags-wahlergebnis vom September 1965 (2, 0 °/o der gültigen Stimmen) widerspiegelte 6). Dieses Potential kann, da die NPD zum damaligen Zeitpunkt noch eine neue Partei und somit nicht allen Befragten bekannt war, heute mit 10 bis 15% aller Wahlberechtigten angesetzt werden. Diese Annahme ist einerseits durch verschiedene Untersuchungsergebnisse aus den Jahren 1966 bis 1968 untermauert. Andererseits deuten verschiedene Wahlergebnisse wie z. B. die Landtagswahl 1968 in Baden-Württemberg (9, 8 % aller gültigen Stimmen) darauf hin, daß das Potential für Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland etwa in % aller gültigen Stimmen) darauf hin, daß das Potential für Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland etwa in dieser Höhe anzusetzen ist, zumal Analysen der Bundes-und Landtagswahlen zwischen 1965 und 1969 zeigten, daß zu unterschiedlichen Zeitpunkten auch fast immer verschiedene Teile des rechtsextremen Potentials zur Stimmabgabe für die NPD mobilisiert werden konnten.

So ist denn auch die Wählerschaft der NPD zwischen 1965 und 1972 kaum durch langfristig relevante sozialstrukturelle Merkmale charakterisierbar. Lediglich bei den Merkmalen Geschlecht und Konfession sind für die Anhängerschaft dieser Partei einige Schwerpunkte erkennbar, die nach den bisher gemachten Erfahrungen jedoch für alle radikalen Parteien Gültigkeit besitzen, die es bisher in der Bundesrepublik Deutschland gab 7).

Bereits zur Bundestagswahl 1965 ergab sich ein deutliches Übergewicht der männlichen Wähler für die NPD (ca. 60%), obwohl zum damaligen Zeitpunkt nur ca. 46 % der Wählerschaft männlichen Geschlechts war. Die Überrepräsentanz männlicher NPD-Wähler hat sich bei der Bundestagswahl 1969 noch weiter verstärkt; der Anteil der Männer unter den NPD-Wählern stieg auf 65, 7 %.

Die Dominanz des Merkmals Geschlecht wird auch in der oben genannten Untersuchung in fünf ausgewählten NPD-Hochburgen in Baden-Wüttemberg deutlich. Von den Befragten, die zugaben, 1968 die NPD gewählt zu haben, waren 71, 3% Männer, obwohl der Anteil der männlichen Befragten nur 47, 7 % ausmachte 8).

Auch hinsichtlich der Konfessionsstruktur ergeben sich langfristig relevante Unterschiede zwischen der Wählerschaft der NPD und der Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland. So konnte die NPD bei der Bundestagswahl 1965 überdurchschnittliche Erfolge nur in Gemeinden mit überwiegend protestantischer Wohnbevölkerung erzielen. Dieses Ergebnis ist in noch stärkerem Ausmaß bei der Bundestagswahl 1969 feststellbar:

Im Unterschied zu den Wählern der klassischen Parteien ist für die Anhängerschaft der NPD im Zeitraum zwischen 1965 und 1972 kein klares Gruppenprofil feststellbar. Vielmehr zeigen sowohl die repräsentative Wahlstatistik wie auch Korrelationsanalysen für diesen Zeitraum gravierende Veränderungen bei den sozialstrukturellen Merkmalen der NPD-Wähler. So sinkt z. B.der Anteil der NPD-Wähler unter 30 Jahren zwischen 1965 und 1969 von 13, 9 % auf 10, 3 %; gleichzeitig steigt jedoch der Anteil der 60jährigen und älteren bei der Wählerschaft der NPD stark an:

Die Stimmanteile der NPD bei der Bundestagswahl 1965 und 1969 nach den Anteilen der Protestanten an der Wohnbevölkerung in den Gemeinden

Neben der sich aufgrund der repräsentativen Wahlstatistik ergebenden Veränderung der Altersstruktur ist eine Verschiebung in der Berufsstruktur der NPD-Wähler zwischen 1965 und 1969 feststellbar. So ergibt eine Korrelationsanalyse eine deutliche Zunahme der Beziehungen zwischen der Wahlentscheidung für die NPD und der Erwerbstätigkeit in der Land-und Forstwirtschaft, nur noch eine relativ geringe Vergrößerung des Korrelationskoeffizienten bei den im produziernden Gewerbe Erwerbstätigen und eine deutliche Abnahme der Korrelationen bei den im Handel und sonstigen Bereichen (z. B. öffentlicher Dienst) Beschäftigten.

Auch eine Analyse von Landkreisen in den einzelnen Bundesländern, in denen die NPD besondere Erfolge bei der Bundestagswahl 1965, den Landtagswahlen zwischen 1965 und 1968 und der Bundestagswahl 1969 erzielte, zeigt die Verschiebung in der Berufsstruktur der NPD-Wähler. Bei der Bundestagswahl 1965 war die NPD lediglich in Schleswig-Holstein in Landkreisen überdurchschnittlich erfolgreich, die durch die Berufsgruppe der in der Land-und Forstwirtschaft Erwerbstätigen charakterisierbar sind. Bereits bei den Landtagswahlen 1966 bis 1968 ist in Hessen und Niedersachsen eine Verlagerung der NPD-Hochburgen in Landkreise mit überwiegend land-und forstwirtschaftlicher Struktur feststellbar. Diese Entwicklung findet bei der Bundestagswahl 1969 ihren Abschluß: Lediglich in Rheinland-Pfalz ist bei der Bundestagswahl 1969 noch eine starke Beziehung zwischen der Wahlentscheidung für die NPD und der Berufsgruppe der Arbeiter feststellbar. Ausnahmen von der oben angesprochenen Entwicklung sind außerdem Nordrhein-Westfalen und Bayern, da es hier keine spezifischen Berufsgruppen gibt, die die Kreise charakterisieren, in denen die NPD im September 1969 überdurchschnittliche Stimmanteile erreichen konnte: in Baden-Württemberg fand, läßt sich folgendes festhalten: Die Kombination einer bestimmten sozialen Lage mit politischen Grundhaltungen, wie z. B.der Ablehnung der großen Koalition und der Befürwortung einer mehr nationalen und den Westmächten gegenüber unabhängigeren Außenpolitik erhöhte die Wahrscheinlichkeit der Stimmabgabe für die NPD Gleichzeitig haben die bessere wirtschaftliche Lage in der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1969 und die Ankündigung der Beendigung der großen Koalition dazu beigetragen, daß die NPD mit 4, 3 °/o der abgegebenen gültigen Stimmen nicht in den 6. Deutschen Bundestag einziehen konnte.

Korrelationsanalysen und Wahlstatistiken der Bundestagswahl 1969 lassen die Annahme zu, daß die SPD und FDP zum damaligen Zeitpunkt von der bei dieser Wahl erfolgten teilweisen Absorption der NPD-Wähler fast im gleichen Ausmaß profitieren konnten wie die CDLf/CSU, zumal sich bereits bei vorherigen Landtagswahlen ein Rückgang der NPD-Stimmenanteile in urbanisierten Regionen und eine Verlagerung der NPD-Hochburgen in ländliche, meist von der CDU/CSU beherrschte Gebiete vollzog.

2. Die Absorption der NPD-Wähler von 1969

Hinsichtlich des sozialstrukturellen Profils des Personenkreises, der bei der Bundestagswahl 1969 für die NPD stimmte, besteht aufgrund der repräsentativen Wahlstatistik und einer Vielzahl von Untersuchungen weitgehend Klarheit. Wesentlich schwieriger ist hingegen die Klärung der Frage, in welchen Relationen die NPD am 19. November 1972 ca. 85 % ihrer ehemaligen Wähler an die CDU/CSU, SPD und FDP verlor.

Bereits die Betrachtung der Gewinne und Verluste für die einzelnen Parteien aufgrund der amtlichen Wahlstatistik für die Bundestagswahl 1972 zeigt einige auffallende Ergebnisse. Dabei ist feststellbar, daß in der Regel überdurchschnittlich hohe Verluste der NPD in einem Bundesland mit unterdurchschnittlichen Verlusten oder gar Gewinnen der CDU/CSU einhergehen.

Dies gilt jedoch nicht für Rheinland-Pfalz und das Saarland, wo die NPD ihre Hochburgen auch bei der Bundestagswahl 1969 noch in urbanisierten Regionen hatte, wie sich auch aus der Korrelationsanalyse zwischen der Wahlentscheidung für die NPD und der Berufsstruktur ergibt. Hinsichtlich des Wahlergebnisses für die NPD bei der Bundestagswahl 1972 ist weiterhin festzuhalten, daß diese Partei trotz der überdurchschnittlich hohen Verluste in ihren Hochburgen von 1969 dort immer noch am besten abschnitt. Dies zeigt bereits ein Vergleich von NPD-Hochburgen von 1969 und 1972 in den Wahlkreisen. So konnte die NPD im Jahre 1969 in den Wahlkreisen 157 Worms mit 9, 42% und 161 Kaiserslautern mit 9, 10% die für sie besten Ergebnisse erzielen. Bei der Wahl vom 19. November 1972 erreichten diese beiden Wahlkreise unter den NPD-Hochburgen die Plätze 1 und 5 (Kaiserslautern 1, 67%, Worms 1, 22%). Diese Entwicklung trifft auch für die mehr ländlich strukturierten Wahlkreise zu, in denen die NPD 1969 überdurchschnittliche Erfolge erzielen konnte.

Die Verlagerung der Schwerpunkte der NPD in ländliche Gebiete, in denen überwiegend die CDU/CSU Hochburgen besitzt, wird auch durch eine Korrelationsanalyse der Wahlentscheidungen zwischen den verschiedenen Wahlen untermauert.

Während für die Bundestagswahlen 1965 und 1969 noch relativ starke positive Beziehungen zwischen der Wahlentscheidung für die FDP und SPD einerseits und die NPD andererseits feststellbar sind, treten positive Korrelationen zwischen der Wahlentscheidung für die NPD und die CDU/CSU erst bei der Bundestagswahl 1969 auf. Für die Bundestagswahl 1972 ist eine Zunahme des Zusammenhangs zwischen NPD-undCDU/CSU-Wahl feststellbar. Hingegen bestehen bei der Bundestagswahl 1972 zwischen der Wahlentscheidung für die NPD und die SPD keine Beziehungen mehr. Eine geringere, aber noch positive Korrelation konnte dagegen noch für die Beziehungen zwischen NPD und FDP bei der Bundestagswahl 1972 ermittelt werden.

Eine zwischen dem Frühjahr 1970 und 1972 durchgeführte Paneluntersuchung mit einer repräsentativen Anfangsstichprobe von 6 448 Personen ergab bereits bei der ersten Befragung nur einen Stimmanteil von 0, 7 % für die NPD Von diesem Personenkreis wanderten bei der zweiten Befragung im Herbst 1971 bereits 14, 3 % zur SPD und 28, 6 % zur CDU/CSU ab. 57, 1 % stimmten auch noch zu diesem Zeitpunkt für die NPD.

Bei der dritten Welle dieser Untersuchung, die unmittelbar vor der Bundestagswahl 1972 stattfand, wanderte nochmals die Hälfte der NPD-Wähler aus der zweiten Befragung zur CDU/CSU.

Damit ergab sich aufgrund dieser Paneldaten, daß 28, 6% der ehemaligen NPD-Wähler ihrer von 15 % und rechnet die Daten entsprechend der Anteile der Wechsler um, ergibt sich folgendes Bild:

Während nur 15 % der NPD-Wähler von 1969 auch 1972 für diese Partei stimmten, wanderten ca. 17 % zur SPD (und/oder FDP) ab. Die CDU/CSU konnte dagegen mit 68 % am meisten aus der Konkursmasse der NPD profitieren:

Partei auch noch bei der Bundestagswahl 1972 treu geblieben, 14, 3% zur SPD und 57, 2 % zur CDU/CSU übergewechselt waren. Diese Zahlen sind jedoch mit Vorsicht zu betrachten, da bereits bei der ersten Befragung die Zahl der NPD-Wähler gering war (n = 46).

Weiterhin fällt auf, daß der Anteil der konstanten NPD-Wähler (28, 6 %) zu hoch ist. Tatsächlich konnte die NPD, wenn man Wanderungen zu dieser Partei bei der Bundestagswahl 1972 als eine zu vernachlässigende Größe auffaßt, nur ca. 15 % ihrer Wähler von 1969 halten (Zweitstimmen bei der BTW 69: 1 422 010; bei der BTW 72: 207 023).

Reduziert man somit den Anteil der konsistenten NPD-Wähler auf die aufgrund der amtlichen Wahlergebnisse realistische Quote Die Ergebnisse dieser Umrechnung der Befragungsergebnisse aufgrund des amtlichen Wahlergebnisses werden plausibel, wenn man zum Vergleich Daten aus einer Untersuchung von NPD-Hochburgen heranzieht, die im Frühjahr 1972 in Baden-Württemberg durchgeführt wurde. Die zwangsweise Absorption des NPD-Potentials aus der Landtagswahl 1968, bedingt durch die Tatsache, daß die NPD im April 1972 in Baden-Württemberg nicht kandidierte, brachte der CDU in den fünf ausgewählten NPD-Hochburgen 73, 7 %, der FDP 20, 2% und der SPD 3% der ehemaligen NPD-Wähler. Bei einer Teilnahme der NPD an den Landtagswahlen 1972 in Baden-Württemberg und einer der Bundestagswahl 1972 ähnlichen Reduktion ihres Stimmenanteils wären immerhin noch 65 % der ehemaligen NPD-Wähler zur CDU abgewandert, 17, 1 % wären zur FDP und 2, 9 °/o zur SPD gewechselt. Die bei der Hochburgen-Untersuchung feststellbaren hohen Austauschbeziehungen zwischen der FDP und NPD und die relativ geringen Wanderungsbewegungen ehemaliger NPD-Wähler zur SPD dürfen zwar nicht als repräsentative Ergebnisse verstanden werden, charakterisieren jedoch gerade wegen dieser Besonderheit die spezifische Situation in Baden-Württemberg

Die verfügbaren Umfrageergebnisse über die Wanderungsbewegungen ehemaliger NPD-Wähler erlauben, wie aus dem Vergleich der Daten ersichtlich wurde, zwar im einzelnen keine genauen Rückschlüsse auf die Fluktua-Berücksichtigtman die Zunahme der gültigen Zweitstimmen um 13, 5 °/o im Vergleich zur Bundestagswahl 1969 durch die höhere Wahlbeteiligung und vor allem die Neuwähler (die NPD hätte bei gleicher absoluter Zahl der Zweitstimmen 1972 nur noch 3, 8 °/o erzielt), so läßt sich für die Unionsparteien folgendes Ergebnis festhalten: 2, 5% aller bei der Bundestagswahl 1972 abgegebenen gültigen Zweit-stimmen stammen von ehemaligen NPD-Wählern, die bei der Bundestagswahl 1972 für die CDU/CSU stimmten.

Das Wahlergebnis für die CDU/CSU bei der Bundestagswahl 1972 wäre bei Konstanthaltung des Stimmenanteils von 1969 für die NPD somit um 2, 5 % geringer gewesen (siehe Tabelle unten): tionen von der NPD zur SPD und FDP, weisen jedoch eine erstaunliche Stabilität hinsichtlich des zur CDU/CSU abgewanderten Anteils aus der NPD-Wählerschaft auf.

Eine Hochrechnung der Wanderungsbewegungen mit den amtlichen Wahlergebnissen der Bundestagswahlen von 1969 und 1972 und den aufgrund von Meinungsumfragen gewonnenen „Erfahrungswerten" führt für die CDU/CSU immer zu ähnlichen Ergebnissen: Die Unionsparteien gewinnen aus der Konkursmasse der NPD zwischen 925 000 und 972 000 Wähler. Das bedeutet, daß die CDU/CSU zwischen 5, 5 % und 5, 8 % der bei der Bundestagswahl 1972 auf sie entfallenen Stimmen von der NPD abziehen konnte.

Somit ergibt sich, daß die CDU/CSU am 19. November 1972 ca. 66 % der NPD-Wähler von 1969 für sich gewinnen konnte. Dagegen konnten SPD und FDP zusammen lediglich 19 % von der NPD abziehen, die NPD selbst behielt ca. 15 % ihrer ehemaligen Wähler. Prozentuiert man jedoch die Fluktuationen nur auf der Basis der abgewanderten NPD-Wähler, so ergibt sich ein Verhältnis von ca. 3 : 1 zugunsten der CDU/CSU, d. h. die Unionsparteien konnten ca. 76 %, die SPD und FDP zusammen jedoch nur ca. 24 % der abgewanderten NPD-Wähler für sich gewinnen.

Führt man diese Hochrechnung für die einzelnen Bundesländer durch, läßt sich tendenziell eine Abschwächung des „Nord-Süd-Gefälles" feststellen. Während die Nettoveränderungen zwischen der Bundestagswahl 1969 und 1972 in Hessen und Bayern für die Unionsparteien noch positiv waren (Hessen: + 1, 9%; Bayern: + 0, 7 %) und in Hamburg und Baden-Württemberg noch unter dem Bundesdurch-B schnitt von — 1, 2% lagen, ergeben sich, wenn man den Anteil der NPD-Wähler von 1969, die am 19. November für die CDU/CSU stimmten, nicht mit berücksichtigt, auch bei den vier oben genannten Bundesländern Verluste für die CDU/CSU zwischen — 1, 2% und — 3, 3 %. Die Wanderungsbewegungen von der CDU/CSU zu den Parteien der Koalition waren, wie auch aus dieser Hochrechnung hervorgeht, also weitaus umfangreicher, was aus den Nettoveränderungen der amtlichen Wahlergebnisse nicht ersichtlich wird.

Es bleibt festzuhalten, daß die Unionsparteien besonders in Hessen und Bayern in überdurchschnittlichem Maße aus der Konkursmasse der NPD profitieren und damit trotz erheblicher Bruttoverluste noch Zuwächse im Nettoergebnis von 1, 9% bzw. 0, 7% erreichen konnten.

3. Schlußfolgerungen

Die weit verbreitete Ansicht, daß die seit 1953 zu beobachtende Konzentration des deutschen Parteiensystems durch die Reduktion des Anteils der Splitterparteien auf etwa 1 % bei der Bundestagswahl 1972 ihren Abschluß fand, übersieht, daß in der Bundesrepublik Deutschland wie in allen anderen westlichen Industriegesellschaften auch heute noch ein zumindest mittelfristig relativ konstantes Potential für rechts-und linksradikale Parteien besteht. Erwin K. Scheuch spricht in diesem Zusammenhang von einer „normalen Pathologie" in westlichen Industriegesellschaften

Ob und in welchem Ausmaß dieses Potential durch radikale Parteien mobilisiert werden kann, hängt von einer Reihe von Faktoren, z. B.der Effizienz des politischen und ökonomischen Systems, der spezifischen sozialen Lage bestimmter Bevölkerungsgruppen und anderem mehr, ab. Die Zyklik von Konjunkturen und Krisen scheint unter bestimmten Bedingungen und mit einem gewissen Timelag unter umgekehrten Vorzeichen ihre Entsprechung in den Erfolgskurven rechtsradikaler Parteien — gemessen an ihren Stimmanteilen bei Bundes-und Landtagswahlen — zu finden.

Die von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung offensichtlich nicht als bedrohlich empfundene wirtschaftliche Lage des Jahres 1972 und das sich im Verlauf der gesamten letzten Legislaturperiode entwickelnde Spannungsverhältnis zwischen den ehemaligen Partnern der großen Koalition führten offensichtlich dazu, daß die NPD das in der Bundesrepublik immer noch vorhandene rechtsradikale Potential nicht in demselben Ausmaß mobilisieren konnte wie in den Jahren zuvor. Ein Wiedererstarken der NPD oder einer Nachfolgerin dieser Partei ist insbesondere bei einem Rückgang des Spannungsverhältnisses zwischen Regierung und Opposition bei einer anderen politischen und ökonomischen Situation jedoch durchaus denkbar.

IV. Aspekte des Verfassungsprozesses

Die Relation von Erst-und Zweitstimme:

Die häufigste Kommentierung des Wahlergebnisses vom 19. November 1972 lautete, daß eine klare Entscheidung für die Koalition gefallen, daß also die Rollenzuweisung auf Regierung und Opposition — vor allem im Gegensatz zu 1969 — unzweideutig erfolgt sei, daß zugleich die CDU/CSU trotz ihrer klaren Niederlage über eine ausreichende Stärke für eine wirksame Erfüllung der Oppositionsfunktion verfüge. Zusammen mit der praktisch vollständigen Absorption der Splitterparteien und der hohen Wahlbeteiligung erschien dieses Ergebnis als ein Beweis für die Stabilität des demokratischen Systems der Bundesrepublik. Die Voraussetzung für Regierungsbildung und Regierungskontrolle innerhalb des Systems schienen durch die Wahl erfolgt.

Diese durchgängig positive Bewertung des Verfassungsprozesses der Wahl von 1972 fällt noch deutlicher aus, wenn man einen Vergleich zu früheren Wahlen herstellt. Bis 1965 z. B. war das deutsche Parteiensystem stets durch eine. Asymmetrie zugunsten der CDU/CSU gekennzeichnet gewesen, weil der Abstand zwischen CDU/CSU und SPD, verstärkt durch die damalige Koalitionsbindung der FDP an die CDU/CSU, die Chance des Machtwechsels erheblich eingeschränkt hatte. Eine wirksame Erfüllung der Oppositionsfunktion durch die damalige SPD schien in Frage gestellt. Die Folge war eine nachlassende Innovationsfähigkeit der Regierung und der sie tragenden CDU/CSU und die Anpassungsstrategien auf Seiten der SPD (man sprach von der SPD als der „besten CDU, die es je gab"). Schließlich war die Belebung von Opposition außerhalb des Parteiensystems in Form von NPD und APO die nach außen sichtbarste Folge dieser Asymmetrie des Parteiensystems, die schließlich in die große Koalition mündete. Die CDU/CSU erschien in dieser Zeit als „geborene" Regierungs-, die SPD als „geborene" Oppositionspartei und damit das demokratische System der Bundesrepublik durch den Makel gekennzeichnet, daß es einen legalen und regelmäßigen Wechsel der Parteien, das definitorische Merkmal demokratischer Regierungsweise, nicht kenne.

Die Regierungsbildung von 1969 schien diese strukturellen Schwächen der deutschen Demokratie endlich widerlegt zu haben — aber mit der Erosion der Koalition und dem lähmenden Patt am Ende der VI. Legislaturperiode wurden die alten Zweifel belegt und neue begründet.

Vor diesem Hintergrund scheint die Bundestagswahl 1972 zumindest einen wesentlichen Schritt zur Stabilisierung der deutschen Demokratie zu bedeuten. Einer derart einschichtig positiven Darstellung stehen jedoch vier Entwicklungstendenzen gegenüber.

1. Der hohe Konzentrationsgrad des Parteien-systems ist nicht institutionell abgesichert. Die Schwelle für den Neueintritt in die Politik beträgt bei dem bestehenden Wahlrecht 5%; eine Schwelle, die wie die Erfolge der NPD in der Vergangenheit gezeigt haben, unter bestimmten strukturellen Bedingungen übersprungen werden kann, insbesondere, wenn ein wirksames Spannungsverhältnis zwischen Regierung und Opposition fehlt und starke Protestwahl auslösende Faktoren bestehen. 1972 bestanden entgegengesetzte Strukturbedingungen. Der hohe Konzentrationsgrad von 1972 ist Folge eines starken Spannungsverhältnisses zwischen Regierung und Opposition in der VI. Legislaturperiode bei gleichzeitigem Fehlen starker sozialer Konflikte, aber er ist nicht institutionell abgesichert. Im Gegensatz zu der im Wahlergebnis demonstrierten Irrelevanz der Splitterparteien ergaben Potentialmessungen zur Bundestagswahl für eine Partei wie die NPD zwischen 10 und 15 0/0 und für eine wie die Kommunistische Partei zwischen 8 und 12%. Auch nach dem Abflauen der Aktualisierung der politischen Einstellungen, die eine Wahl stets darstellte, ergaben im Frühjahr 1973 ähnliche Messungen noch etwa 6 bis 7 % für derartige Parteien.

Das Reservoir für eine Aufspaltung des Parteiensystems ist in der Bundesrepublik wie in allen modernen durch sozialen Wandel gekennzeichneten Industriegesellschaften vorhanden. Ob dieses Potential erfolgreich politisch organisiert werden kann, hängt von den jeweiligen politischen Bedingungen ab. Die Konzentration von 1972 sagt viel über die politischen Bedingungen der Wahl von 1972, aber wenig über die langfristige Stabilität dieses Parteiensystems aus.

2. Der deutliche Erfolg der Regierung beruht nicht auf einer absoluten Mehrheit der Mandate der SPD, sondern ist auf eine Koalition gestützt. Brandt galt zwar 1972 — und hier drängt sich der Vergleich zu Erhard im Jahre 1965 auf— als unbestrittener Gewinner dieser Wahl. Aber das deutsche Verhältniswahlrecht versagte auch 1972 dem Wahlsieger die absolute Mehrheit der Parlamentsmandate für seine Partei. Der relative Erfolg der FDP in dieser Wahl beruht auf speziellen Erwartungen ihrer Wähler im Bereich der Wirtschafts-und insbesondere der Wirtschaftsordnungspolitik. Das schafft zusammen mit den Wettbewerbs-bedingungen, die jede Koalitionsregierung kennzeichnen, auch dieser Regierung die üblichen Friktion.

Zunächst gilt auch für die SPD/FDP-Koalition von 1972, daß, wenn die FDP ein reibungsloses und erfolgreiches Regieren dieser Koalition ermöglicht, sie Gefahr läuft, von einer erfolgreichen SPD in der nächsten Wahl unter die 5 %-Klausel gedrückt zu werden. Diese Gefahr ist gerade für die FDP nach 1972 besonders ausgeprägt, zeigt doch die Untersuchung ihres Wählerpotentials vom 19. November, daß mehr als ein Drittel ihrer damaligen Wähler sich als Anhänger der SPD bezeichneten, die primär aus Koalitionsgründen im vergangenen November FDP gewählt haben. In gleicher Weise reicht auch der Verlust jener Wähler, die mit einer spezifischen Erwartung in ihr Verhalten die FDP 1972 gewählt haben, aus, um diese Partei unter die 5 %-Klausel sinken zu lassen. Wird die FDP in dieser Situation versuchen, den Erwartungen dieser Wähler gerecht zu werden, so bedeutet das Koalitionskonflikte, die um so intensiver werden, je stärker sich der „Linke Flügel" innerhalb der SPD durchsetzt. Zugleich aber ist die FDP nicht frei, die Erwartungen ihrer Wähler bedingungslos durchzusetzen. Sie kann nicht das Risiko des Koalitionsbruchs eingehen, weil der größte Teil ihrer Wähler mit seiner Stimme für die Partei seine Präferenz für die Koalition zum Ausdruck gebracht hat.

Wie die SPD in der großen Koalition und wie die FDP als Koalitionspartner der CDU/CSU in den 50er und 60er Jahren gibt es auch für die FDP nach 1972 keine Alternative zu einer Politik des begrenzten Konfliktes in der Koalition, um zwischen der Skylla des Erdrückt-B werdens durch den Erfolg des Partners und der Charybdis der Enttäuschung der eigenen Wählerschaft hindurchzusegeln. Die Koalitionsverhandlungen signalisieren am Beispiel Mitbestimmung, Vermögensbildung, Steuerrecht bereits ebenso wie die Erfahrungen im ersten halben Jahr nach der Regierungsbildung, daß zwei Partner zusammengefügt, werden mußten, die sich in ihren Forderungen wechselseitig hochreizen: die FDP und der linke Flügel der SPD (sie erfüllen Funktionen, wie sie die FDP und die CSU in der Regierung Erhard nach 1965 ausgeübt haben).

Ein wesentlicher Unterschied besteht jedoch gegenüber 1965: Die FDP befindet sich aufgrund der Koalitionsbindung eines großen Teiles ihrer Wählerschaft in einer schwächeren Verhandlungsposition als 1965: sie kann nicht glaubhaft mit der Koalitionsauflösung drohen. Das legt die Hypothese nahe, daß die FDP versuchen wird, neue Differenzierungspunkte zur SPD aufzubauen, um in den bestehenden nachgeben zu können: Die Stellungnahmen zum Radikalenerlaß deuten in diese Richtung. Diese Wettbewerbsbedingungen der Koalition skizzieren die strukturelle Instabilität der Regierung. 3. Die formale Stärke der Opposition ist nur eine Variable, die die reale Chance des Machtwechsels bestimmt. Obwohl angesichts der Parteistärken von einer Asymmetrie des Parteiensystems zugunsten der SPD nicht gesprochen werden kann, zeigen sich die Ansätze eines Rollenverständnisses, die die SPD auf Dauer mit der Regierung und die CDU/CSU auf Dauer mit der Opposition identifizieren, die mit der entsprechenden politischen Verkrampfung der 50er und 60er Jahre vergleichbar ist. Innerhalb der Wählerschaft hat z. B. Max Kaase eine „perzipierte Sanktion bei offenem Bekenntnis einer CDU/CSU-Präferenz“ gemessen, die er mit Erwin K. Scheuch als eine „Selbstzensur" zur „Minimalisierung von antizipierten Spannungen" erklärt: Ist es ein Signal dafür, daß die Grundnorm der Demokratie, die Hinnahme eines Wechsels zwischen den Parteien, unzureichend akzeptiert ist, wenn die Anhänger der Opposition sich verstärkt scheuen, ihre Parteipräferenz zu äußern. Während fast zwei Drittel der SPD-Wähler und über die Hälfte der FDP-Wähler das offene Eintreten für eine

Partei befürworten, lehnen zwei Drittel der CDU/CSU-Wähler ein solches Verhalten ab. Daß vor 1969 ähnliche Beobachtungen für die damaligen Oppositionsanhänger gemacht werden konnten verdeutlicht, daß der Wechsel von 1969 offensichtlich nicht die „normative Gleichberechtigung" von Regierung und Opposition bewirkt hat. Dazu sind jedoch noch eingehende empirische Untersuchungen notwendig.

In das Bild einer den legalen Machtwechsel nicht uneingeschränkt akzeptierenden politischen Kultur passen auch Streiks und Demonstrationen, die z. B. aus Anlaß des Mißtrauensvotums im April 1972 in der Bundesrepublik stattfanden, als mit außerparlamentarischen Mitteln gegen ein im Grundgesetz vorgesehenes parlamentarisches Oppositionsrecht demonstriert wurde. Die vor der Bundestagswahl 1972 nicht endende Diskussion um die Möglichkeit eines allgemeinen Streiks für den Fall einer Wahlniederlage von SPD und FDP kann ebenfalls in dieser Richtung interpretiert werden. Schließlich kann auch auf das Vordringen von Gruppen innerhalb der SPD verwiesen werden, die ein wechselndes Regierungssystem als „Formaldemokratie" abtun, für die wieder der klassische Satz der Weimarer Republik gilt, daß Demokratie nicht viel und Sozialismus das Ziel sei. Wenn — wie Max Kaasel treffend feststellt — „nicht wenige“ für den Fall eines CDU/CSU-Sieges eine schwere Legitimitätskrise in der Bundesrepublik erwartet hatten und Thomas Ellwein von dem „Wahlkampf in der Legitimitätskrise" gesprochen hat, so wird damit festgestellt, daß ein möglicher Wechsel zwischen den beiden Parteien der Bundesrepublik, die zusammen etwa 90 °/o der Stimmen auf sich vereinigen, eine Krise dieses politischen Systems in seinem zentralen Punkt, nämlich der Hinnahme von Wahlniederlagen, hätte auslösen können.

Die Frage nach der Akzeptierung des legalen Machtwechsels wird schließlich auch aufgeworfen durch die seit 1970 nicht endenden und seit dem Frühjahr 1973 erneut entfachten Diskussionen über Bestechungsvorgänge zur Beeinflussung der parlamentarischen Machtverhältnisse, in welche Richtung sie auch — wenn überhaupt — gegangen sein mögen. Solche Diskussionen signalisieren eine Verfassungskorruption, bei der schon die ernsthafte Erörterung ihrer Möglichkeit die Zweifel an der Lebendigkeit der demokratischen Normenstruktur stützen. Zu dem Verständnis dieser Vorgänge ist jedoch zu betonen, daß die Wahrscheinlichkeit solcher Verfassungskorruptionen steigt, wenn die Machtzuweisung durch die Wahl zweifelhaft ist und die Transformation von Wählerverhalten in Mandatsverteilung quantitativ nicht ausreichend erfolgt, wie das 1969 der Fall war.

Die Zweifel an der Bereitschaft, im demokratischen Wettbewerb zu unterliegen, wurden schließlich auch durch Ausschreitungen bei dem Tarifkonflikt in der Druckindustrie im Frühjahr 1972 genährt, bei denen „in mehreren Fällen Drucker das legale Mittel der Kampfmaßnahmen gründlich mißverstanden und mißbraucht haben und kritische Texte zu diesem Streik unterdrückten”. Diese Zensur erhielt ihre Problematik besonders dadurch, daß „die zuständigen Gewerkschaften solche Übergriffe auch nachträglich noch bemäntelten”

Das alles sind einzelne Fakten und Ereignisse, sie stützen jedoch gemeinsam die Hypothese, daß „ein völlig reibungsloser Machtwechsel unserer Republik immer noch nicht möglich erscheint, was sicher nicht für den Entwicklungsstand unserer ’ politischen Kultur spricht" 19). Voraussetzung für die Erfüllung des zentralen Stabilitätskriteriums einer Demokratie ist offensichtlich nicht nur ein Wechsel, sondern zumindest ein Wechsel in jede Richtung. 4. Unabhängig von der Internalisierung des Wechsels als Norm ist die formal bestehende reale Chance des Machtwechsels durch die proportionale Umsetzung von Wählerstimmen in Mandate eingeschränkt und — analog der Situation der 50er und Anfang der 60er Jahre — durch die einseitige Koalitionsbindung der FDP an die SPD weiter gehemmt. Die Opposition bedarf in dieser Situation eines Stimmen-gewinns von ca. 5 °/o, um die notwendige absolute Mehrheit der Mandate zu erreichen, das heißt, ein Nettoswing, der an der Grenze dessen liegt, was in Perioden, die nicht durch Krisen außergewöhnlicher Art gekennzeichnet sind, erwartet werden kann. Bei relativer Mehrheitswahl wäre dagegen, je nach Annahme über das Verhalten der FDP-Wähler, nur ein wesentlich geringerer Nettoswing für den Machtwechsel notwendig, im — wenig wahrscheinlichen — Fall, daß alle FDP-Wähler auch unter veränderten institutioneilen Bedingungen für diese Partei stimmen würden — oder im Falle proportionaler Verteilung der FDP-Wähler auf SPD und CDÜ/CSU, was dasselbe bewirkt — nur weniger als 1 °/o.

Würden sich dagegen die FDP-Wähler, oder ein Teil von ihnen, im Verhältnis von 3 : 1 auf SPD und CDU/CSU verteilen, so benötigte die CDU/CSU nur 2, 7 °/o, bei einer Aufteilung der FDP-Wähler im Verhältnis 2 : 1 nur 2, 2 0/0 Stimmenzuwachs zu Lasten der SPD, um wieder die Regierung bilden zu können. Welche Schlußfolgerungen sind aüs diesen Überlegungen zu ziehen? Das Regierungssystem der Bundesrepublik hat wesentliche Merkmale einer angelsächsischen Demokratie. Es ist auf ein Parteiensystem gegründet, in dem — wie Ludolf Eltermann gezeigt hat — ein regelmäßiger Austausch von Wählern zwischen den Parteien erfolgt — was eine erste zentrale Voraussetzung demokratischer und das heißt wechselnder Regierungsweise ist. Kommt es unter besonderen Bedingungen zu Absplitterungen, zu Erfolgen von extremen Parteien, so befinden sich die Wähler dieser Parteien nicht in einer „Kulturkampfposition", sondern sie sind, wie Helmut Jung gezeigt hat, von den Parteien wieder in das System integrierbar, was ihren Charakter als Protestparteien bestätigt.

Das Wahlverhalten in der Bundesrepublik ist durch Personalisierung, Out-püt-Orientierung, Zukunftserwartuhg und gouvetnementalen Bezug gekennzeichnet — man kann in diesem Sinhe von angelsächsischen Eigehschaften, d. h. von Eigenschaften, wie sie das parlamentarische System zu seiner Funktionsfähigkeit bedarf, sprechen. Aber die Umsetzung dieser systemadäquaten Verhaltensdispositionen in entsprechende Verfassungsprozesse führt immer wieder zu Friktionen, die einerseits auf disfunktionalen Verfassungsregel beruhen, die die Regierungen heterogenisieren und die Chance des Machtwechsels beeinträchtigen, Und die andererseits durch eine unzureichende Akzeptierung des Wechsels als Fundamentalnorm der Demokratie verstärkt werden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Die relativ große Abweichung zwischen dem erfragten Stimmenanteil der FDP und dem tatsächlichen Wahlergebnis folgt aus dem umfangreichen „Stimmensplitting", von dem die FDP profitierte, das aber in den Vorwahluntersuchungen nicht berücksichtigt worden war; s. S. 8.

  2. Diese Zahlen wurden der Publikation „Zahlen die zählen" des Statistischen Bundesamtes aus dem Jahre 1972 entnommen. Auf detailliertere Darstellungen in Tabellenform mußte hier wie auch an einigen anderen Stellen aus Platzgründen verzichtet werden. Diese finden sich u. a. bei W. Kaltefleiter, Zwischen Konsens und Krise. Eine Analyse der Bundestagswahl 1972, in: Verfassung und Verfassungswirklichkeit, Jahrbuch 1973, Teil 1, Köln, Berlin, Bonn, München 1973, sowie ders., Zwischen Konsens und Krise, Eine Analyse der Bundestagswahl 1972, in: Sozialwissenschaftliche Studien zur Politik, Veröffentlichungen des Sozialwissenschaftlichen Forschungsinstituts, Konrad-Adenauer-Stiftung, Band 2, Bonn 1973.

  3. Am Rande ist hier auch die Feststellung interessant, daß bei insgesamt 1, 4 °/o der Wähler unorthodox gesplittet wurde. Diese Gruppe gab der FDP die Erststimme und wählte mit der Zweit-stimme eine der großen Parteien. Es liegt die Vermutung nahe, daß es sich hier um „mißverstandenes Stimmensplitting" gehandelt hat.

  4. Hans Anger, Entstehung und Wandel sozialer Einstellungen, in: O. W. Haseloff, Struktur und Dynamik des menschlichen Verhaltens, Stuttgart 1970, S. 126 ff.

  5. Vgl. Solomon E. Asch, Forming Impressions of Personality, in: Journal of Abnormal and Social Psychology 1946, S. 258— 290.

  6. Vgl. hierzu Rechtsextremismus, Forschungsbericht Teil I, Sozialwissenschaftliches Forschungsinstitut der Konrad-Adenauer-Stiftung, mimeographiert, Alfter 1972, S. 37 ff.

  7. Vgl. hierzu Rechtsextremismus, Forschungsbericht Teil I, op. cit, S. 251 ff. Die Differenz zuungunsten der Frauen im Vergleich zur repräsentativen Wahlstatistik kann darauf zurückführbar sein, daß die weiblichen Einwohner der Gemeinden mit überwiegend landwirtschaftlicher Struktur wesentlich zurückhaltender bei Befragungen mit politischen Themen reagieren als die männlichen Einwohner.

  8. Vgl. hierzu E. K. Scheuch, H. D. Klingemann, Th. A. Herz (Hrsg.), Die NPD in den Landtagswahlen 1966— 1968, Institut für vergleichende Sozial-forschung, Zentralarchiv für empirische Sozial-forschung, Köln, November 1969, als Manuskript vervielfältigt, S. 2— 4, sowie Rechtsextremismus, Forschungsbericht, Teil I, op. cit., S. 90— 93.

  9. Der Anteil von 0, 7 °/0 ist zum damaligen Zeitpunkt durchaus „normal" und belegt die Erfahrung, daß sich in der Befragungssituation nur etwa jeder fünfte oder sechste Wähler einer kleinen Partei auch zu dieser bekennt.

  10. Vgl. hierzu H. D. Klingemann, Die NPD in der Landtagswahl vom 28. April 1968 in Baden-Württemberg, in: Scheuch, Klingemann, Herz (Hrsg.), Die NPD in den Landtagswahlen 1966— 1968, op. cit., S. 278 ff.

  11. Vgl. hierzu E. K. Scheuch, H. D. Klingemann, Theorie des Rechtsradikalismus in westlichen Industriegesellschaften, in: H. D. Ortlieb, B. Molitor (Hrsg.), Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts-und Gesellschaftspolitik, Tübingen 1967, S. 15 ff.

  12. M. Kaase, Die Bundestagswahl 1972 — Probleme und Analysen, in: Politische Vierteljahres-schrift, Heft 2, Juni 1973.

  13. E. K. Scheuch, Die Sichtbarkeit politischer Einstellungen im alltäglichen Verhalten, in: Zur Soziologie der Wahl, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 9, 1965.

  14. M. Kaase, Die Bundestagswahl 1972 ..., a. a. O., S. 150.

  15. Th. Ellwein, Das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 19733, S. 288 ff.

  16. So Kölner Stadt-Anzeiger v. 18. 4. 1973, Bemäntelt. 19) M. Kaase, Die Bundestagswahl 1972 .... a. a. O., S. 150.

Weitere Inhalte

Werner Kaltefleiter, Dr. rer. pol., o. Professor für Politische Wissenschaften an der Universität Kiel, Direktor des Seminars für Wissenschaft und Geschichte der Politik, Leiter des Sozialwissenschaftlichen Forschungsinstituts der Konrad-Adenauer-Stiftung, geb. 1937 in Hagen. Veröffentlichungen u. a.: Funktion und Verantwortung in den europäischen Organisationen, 1964; Wirtschaft und Politik in Deutschland, 1966, 2. Aufl. 1968; Die Funktionen des Staatsoberhauptes in der parlamentarischen Demokratie, 1970; Im Wechselspiel der Koalitionen — Analyse der Bundestagswahl 1969, 1970; Zwischen Konsens und Krise — Analyse der Bundestagswahl 1972, 1973; zahlreiche Aufsätze.