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Japans Außenpolitik im Spannungsdreieck Washington -Peking -Moskau | APuZ 49/1973 | bpb.de

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APuZ 49/1973 Artikel 1 Konfliktformationen in der gegenwärtigen internationalen Gesellschaft Japans Außenpolitik im Spannungsdreieck Washington -Peking -Moskau

Japans Außenpolitik im Spannungsdreieck Washington -Peking -Moskau

Hans Wilhelm Vahlefeld

/ 15 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Seit Beginn dieses Jahrzehnts ist Japan souveräner als jemals im ersten Vierteljahr-hundert der Nachkriegszeit. Im Stile traditioneller Nationalstaaten muß es heute außen-politisch wieder mehr balancieren als früher. Der geopolitische Rahmen ist ihm dabei durch das Machtdreieck Washington—Peking—Moskau gesetzt. Obgleich Japan seine Außenpolitik noch immer vornehmlich als Handelspolitik versteht und das Wirtschaftliche vom Politischen gern trennen möchte, scheint ihm der Wind ins Gesicht zu blasen. Die Industriestaaten des Westens verfolgen mit gespannter Aufmerksamkeit, welche Wege die japanische Regierung gegenüber der Sowjetunion, China und den USA einschlagen wird.

Japan im Spannungsdreieck zwischen Amerika, China und der Sowjetunion: ein sehr altes Thema, ein Jahrhundertthema. Seit der Modernisierung des Landes ist es eine Art japanischer Schicksalsmelodie, einfach auf Grund der geographischen Lage des Inselreiches. Jede Regierung in Tokio mußte dafür in der Vergangenheit Antworten finden — und wird es auch in Zukunft tun müssen. Nie wird Japan aus dem Spannungsdreieck Washington, Peking und Moskau entlassen werden. Dieses alte Thema verlockt dazu, die Geschichtsbücher aufzuschlagen und nachzulesen, wie es früher war. Aber das will ich hier nicht tun. Ich will nur ganz kurz zurückblicken, und zwar auf die Nachkriegszeit bis zum Jahre 1971.

Grob und vereinfachend gesagt, gab es im ersten Vierteljahrhundert nach Kriegsende das geopolitische Dreiecksverhältnis in der klassischen Reinheit wie heute nicht. Japan kannte außenpolitisch nur eine einzige Front: diejenige in Richtung Sowjetunion und China. Den Rücken hatte es frei, denn das Jahr 1945 machte Japan zwangsweise zu einem Partner der USA. Diese Partnerschaft war kein Satellitenverhältnis, legte Japan aber doch den freiwilligen Zwang auf, seine Außenpolitik derjenigen der Vereinigten Staaten anzupassen und anzugleichen. Das Verhältnis Tokio—Washington entsprach in groben Zügen demjenigen zwischen Bonn und Washington. Es gab dabei allerdings einen wichtigen Unterschied zwischen der Bundesrepublik und Japan: die Japaner empfanden ihre Abhängigkeit von Amerika in all den Jahren als etwas nicht ganz Natürliches, als eine Zwangsehe, als eine Art Diktat auf Grund des verlorenen Krieges. In der Bevölkerung Japans überwog eine ami-go-home-Stimmung, und sie explodierte gelegentlich in antiamerikanischen Aktionen. Man denke nur an das Jahr 1960! Damals plante Präsident Eisenhower einen Staatsbesuch in Tokio. Es kam zu den größten innenpolitischen Unruhen der modernen japanischen Geschichte. Eisenhower mußte seinen Japan-Besuch, zu dem er bereits aufgebrochen war, von den Philippinen her absagen. Die amerikanische Öffentlichkeit reagierte leidenschaftlich erregt. Die New Yorker Zeitungen schrieben von einem zweiten, von einem diplomatischen Pearl Harbor. Dieses damalige, die japanisch-amerikanischen Beziehungen schwer belastende Ereignis illustriert den Unterschied zwischen Bonn und Tokio in ihren Beziehungen zu den USA überdeutlich: alle Bundesregierungen am Rhein versprachen sich von Besuchen amerikanischer Präsidenten Prestigegewinn in der Bevölkerung; Regierungen in Tokio aber mußten um ihr Prestige fürchten, wenn sich ein amerikanischer Präsident ansagte. Daher hat bis heute noch kein amerikanischer Präsident japanischen Boden betreten. Nixons Besuch ist für 1974 geplant. Man darf gespannt sein, ob er wirklich stattfinden wird.

Mit anderen Worten: Es gab in Japan immer einen starken Druck von unten, aus den Massenmedien und den Oppositionsparteien, aus der Partnerschaft mit Amerika auszubrechen und Außenpolitik wieder an den klassischen Kategorien des Nationalen auszurichten. Zur Supranationalität zeigten sich in der japanischen Politik keine Ansätze. Die Stütze, auf der Amerika in Tokio bauen konnte, war das japanische Establishment. Der liberal-konservativen Regierungspartei und den einflußreichen Kreisen der Industrie gelang es im täglichen Ringen mit den anti-amerikanischen Tendenzen innerhalb der Bevölkerung, diese unter Kontrolle zu halten und zu disziplinieren. Die Regierung war, selbst auf Kosten ihrer Popularität, pro-amerikanischer als das Volk.

In dieses höchst komplizierte transpazifische Verhältnis, dem die amerikanische Diplomatie größte Aufmerksamkeit hätte widmen müssen, schlug am 15. Juli 1971 wie eine Bombe die Ankündigung Nixons von seiner bevorstehenden Chinareise ein. Der japanische Ministerpräsident Sato erfuhr von dieser Weltsensation drei Minuten, bevor Nixon vor die Fernsehkameras trat. Ich war wenige Wochen später in Japan und las die Reportagen darüber in japanischen Zeitungen nach. In ihnen hieß es, Sato habe, als sein Sekretär ihn während einer Kabinettssitzung den Zettel mit der Nachricht zugeschoben habe, laut gelacht. Andere schrieben, er habe schallend gelacht — nicht, weil er das Gelesene als Witz empfunden hätte, sondern weil er hinter dem Lachen nach traditionellem japanischen Brauch seine Erschütterung habe verstecken wollen. Japaner lachen vor Dritten nur im Moment eines Schicksalsschlages.

Der 15. Juli 1971 änderte das japanisch-amerikanische Verhältnis von Grund auf. Die Besonderheit in den Beziehungen zwischen beiden Ländern, eben das, was man ihre Partnerschaft nennen konnte, ging verloren. Schlagartig standen beide Länder nicht mehr Seite an Seite, sondern sie standen sich entsprechend der traditionellen Diplomatie des 19. Jahrhunderts wieder gegenüber. Natürlich nicht in Feindschaft oder Gegnerschaft, sondern in der Rivalität traditioneller Nationalstaaten. Seit jenen Tagen hat Japan den Rükken nicht mehr frei — es muß diplomatisch an zwei Fronten kämpfen: gegen China und die Sowjetunion im Westen und gegen die USA im Osten. Erst seit dem 15. Juli 1971 findet sich Japan im Dreiecksverhältnis der alten Art wieder. Es muß nun diplomatisch wieder mit mehr Bällen als früher spielen. Es ist unabhängiger denn je geworden, gleichzeitig damit auch offener. Es hat wieder die alte Chance, Wanderer zwischen zwei Welten zu werden, zwischen derjenigen des Ostens und derjenigen des Westens. Im Grunde war es Nixon, der Japan in die höchste Form der Souveränität zurückwarf.

Souveräner hatte Japan immer werden und sich aus der Vormundschaft Amerikas befreien wollen. Nun ist das eingetreten. Aber auf einmal hat man den Eindruck, als sei Japan nicht so recht froh darüber. Denn plötzlich stellt Tokio fest, daß das Spielen mit den vielen Bällen, die man in der Tasche trägt, höchst kompliziert ist. In der China-Diplomatie kann die Regierung Tanaka keine Aufsehen erregenden Erfolge melden. In dieser Frage, für die sie sich so stark engagierte, tritt sie auf der Stelle. Aber auch in Richtung Moskau kommt Ministerpräsident Tanaka nicht vorwärts. Sein dort für August angekündigter Besuch mußte auf Oktober verschoben werden. Und mit Amerika ist mehr als das politische und wirtschaftliche Minimum auch nicht drin. Tanakas kürzlicher Besuch in Washington brachte so gut wie keine sichtbaren Ergebnisse. Er diente gerade dazu, daß die Risse im Bündnis mit den USA nicht noch größer wurden. Tanaka hatte sogar die traurige Pflicht, dem amerikanischen Präsidenten zu erklären, warum der für den Herbst geplante Besuch des Tenno in den Vereinigten Staaten hatte verschoben werden müssen.

Alles in allem stellt Japan zu seiner nicht geringen Überraschung fest, daß es zur Zeit von den drei Großen nicht so umworben Wird, wie es sich das vorgestellt hatte. Sowohl Moskau als auch Peking zeigen Tokio eine kältere Schulter, als man allgemein angenommen hatte. Jetzt, wo Japan politisch floatet, ist es für sie uninteressanter geworden als damals, als es noch in enger Partnerschaft zu Amerika stand und es ein erklärtes Ziel der sowjetrussischen und chinesischen Politik war, die japanisch-amerikanische Allianz zu brechen. Gleichzeitig braucht eben deswegen Washington keine Sorge zu haben, Tokio werde mit rasanter Geschwindigkeit in das andere Lager abdriften. Zunächst einmal ist Japan allein, unorientiert und unsicher. Es wollte außenpolitisch immer floaten — nun darf es das, aber wird nicht glücklich dabei.

Diese Feststellung ist natürlich eine an die Tagesaktualität gebundene Aussage und wird kaum zehn Jahre gültig sein. Denn seit dem Zerfall der Konfrontationsstrukturen zwischen Amerika und China ist die Entwicklung in Fernost dermaßen in Fluß geraten, daß man gegenwärtig noch nicht behaupten kann, sie habe schon jetzt ihr endgültiges Bett gefunden. Überraschungen sind nicht auszuschließen.

Nach dieser kurzen Einleitung über das Allgemeine des geopolitischen Dreiecks, in dem Japan operieren muß, nun die Besonderheiten: das Bilaterale in seinem Verhältnis zu den drei Punkten Moskau, Peking und Washington. Fangen wir an mit dem Verhältnis Japan-Sowjetunion.

Seit der Dramatisierung des Konflikts zwischen Moskau und Peking zeigen die Sowjets den Japanern grundsätzlich ein lächelndes Gesicht. Wenn ihre Offensive des diplomatischen Lächelns für Japan bis heute auch noch keine konkreten Ergebnisse gebracht hat, so hat sich doch das Klima in den Beziehungen zwischen beiden Ländern im Vergleich zu den fünfziger Jahren erwärmt. Moskau ist Tokio gegenüber höflich, weil es für die Sowjets ein Alptraum ist, Japan könne sich in irgendeiner Form mit China verbünden. Eine solche Vision raubt den Herren im Kreml mit Recht den Schlaf. Das Feld, auf dem die Sowjets verlockende Offerten machen, ist die Wirtschaft. Moskau denkt an eine Kooperation mit der japanischen Großindustrie zur Ausbeutung der Erdölfelder bei Tyumen in Westsibirien und der Erdgasvorkommen bei Yakutsk. Und darüber hinaus sollen die Japaner beim Bau einer 7 000 Kilometer langen Pipeline zwischen Tyumen und dem Pazifik und beim Ausbau und der Modernisierung des Hafens von Nachotka helfen. Man hat ausgerechnet, daß Japan für diese Riesenprojekte die astronomische Kreditsumme von fünf Milliarden Dollar aufbringen müßte. Die Sowjets wollen das Tyumen-Ol und die Pipeline mit Rohöllieferungen von zunächst 25 und später 40 Millionen Tonnen jährlich abzahlen. Diese zuletzt genannte Menge würde zehn Prozent der japanischen Rohölimporte ausmachen.

Mit diesen Angeboten packt die Sowjetunion Japan an einer empfindlichen Stelle, denn gerade in der Energieversorgung ist das Insel-reich hundertprozentig vom Ausland abhängig. Um sich von den arabischen Ländern unabhängig zu machen — 90 Prozent des japanischen Erdöls kommen aus dem Vorderen Orient —, ist die japanische Industrie grundsätzlich bereit, die sowjetische Offerte anzunehmen. Die Verhandlungen ziehen sich aber schon mehrere Jahre lang hin, denn die erst jetzt von der westlichen Presse groß herausgestellten Angebote zur Erschließung Sibiriens sind so neu nicht: sie wurden schon Mitte der Sechziger Jahre gemacht.

Japan zeigte sich in der Vergangenheit immer zurückhaltend, weil es erstens keine geologischen Untersuchungen in den genannten Räumen Sibiriens anstellen durfte, also ganz von den sowjetischen Informationen abhängig war, und zweitens, weil die Regierung in Tokio die Kritik der Chinesen fürchtete. Peking hat wiederholt erklärt, daß es eine Beteiligung der japanischen Industrie an den Industrialisierungsprojekten in Sibirien als einen unfreundlichen Akt gegenüber der Volksrepublik ansehen würden. Diese Chinesen befürchten, daß durch den Bau der Pipeline, die angeblich durch eine Autobahn ergänzt wird, das sowjetische Verteidigungspotential in Fernost wesentlich verstärkt wird. Japan nimmt die gelegentlich in starken Worten geäußerte Kritik der Chinesen ernst und begrüßt deshalb die Bereitschaft der Amerikaner, sich an den sibirischen Projekten zu beteiligen. Durch das Interesse amerikanischer Wirtschaftskreise würde Japan kreditpolitisch nicht überfordert und erhielte gleichzeitig China gegenüber eine politische Absicherung. Aber die Vorbehalte der Chinesen sind nicht der einzige Grund für die japanische Reserve. Ein zweites Stichwort heißt: Kurilen. Diese Inselgruppe mußte Japan 1945 an die Sowjetunion abtreten. Tokio aber steht auf dem Standpunkt, daß die vier südlichsten Kurilen-Inseln weiterhin japanisches Territorium sind und verlangt von Moskau ihre Rückgabe. In diesem Streit zeigen die hundert Millionen Japaner nationale Geschlossenheit. Es gibt im Land nicht eine einzige politische Gruppe, die von der Tokioter Regierung in der Kurilen-Frage Konzessionen verlangt, um die Sowjets freundlich zu stimmen zum Abschluß eines Friedensvertrages. Selbst die kommunistische Partei unterstützt die Unbeugsamkeit der Regierung vorbehaltlos, ja, zeigt sich in dieser Grundsatzfrage nationaler als alle anderen Parteien. Denn Japans Kommunisten verlangen von den Sowjets die Herausgabe der gesamten Kurilen-Kette. Zum Fürsprecher der japanischen Interessen hat sich auch China gemacht.

Anfang 1972 sah es so aus, als wolle Moskau in dem Gebietsstreit Konzessionen machen. Damals stellte der sowjetische Außenminister Gromyko bei einem Besuch in Tokio Friedensvertragsverhandlungen in Aussicht und ließ durchblicken, man könne über die Kurilen reden. Inzwischen aber hat sich die damals angenommene Flexibilität der Sowjets wieder verflüchtigt.

Die Außenpolitik gegenüber der Sowjetunion ist grundsätzlich kein Feld, wo sich die japanische Regierung innenpolitische Lorbeeren verdienen kann, weil in der Bevölkerung gegenüber den Sowjets ein tiefes Mißtrauen wurzelt. Aufgrund der Geschichte der letzten hundert Jahre ist Rußland, ob es nun zaristisch oder sowjetisch regiert wurde, den Japanern immer verdächtig gewesen. Trotz dieser Antipathie aber haben japanische Regierungen dem mächtigen Nachbarn auf dem nahen Kontinent gegenüber immer eine vorsichtige Politik betrieben.

Es läßt sich mit einiger Sicherheit voraussagen, daß die Zukunft der japanisch-sowjetischen Beziehungen von Wellenbewegungen des Auf und Ab gekennzeichnet sein wird, die schon in der Vergangenheit für das delikate Verhältnis charakteristisch waren. Solange der Streit mit den Chinesen andauert, werden die Sowjets in ihren Beziehungen mit Japan Frühlings-und Herbststimmungen den Vorzug geben. Herrliche Sommertage sind nicht zu erwarten, aber wahrscheinlich auch keine sibirischen Winternächte.

Nun zu dem Verhältnis Japan — USA: Dem politischen Nixon-Schock vom 15. Juli 1971 folgte wenige Wochen später ein wirtschaftlicher: Der amerikanische Präsident proklamierte eine restriktive Wirtschaftspolitik. Die Maßnahmen waren vor allem gegen Japan gerichtet. Sein Handelsüberschuß mit den Vereinigten Staaten lag bei vier Milliarden Dollar. Angesichts dieses Ungleichgewichts war Tokio zu Konzessionen gezwungen. Es wertete den japanischen Yen zweimal gegenüber dem US-Dollar um insgesamt 35 Prozent auf. Trotz dieser Maßnahmen, die verhindern sollten, daß die Partnerschaft von einst in einen Handelskrieg umschlug, drohte Präsident Nixon Anfang 1973 in seiner State-of-the-world-message: „Der japanisch-amerikanische Sicherheitsvertrag verpflichtet beide Länder, Versuche zu unternehmen, Wirtschaftskonflikte auszuschalten. Wenn es der politische Wille jedoch an Anstrengungen fehlen läßt, könnte der wirtschaftliche Disput die japanisch-amerikanische Allianz gefährden." Die Regierung in Tokio war über die harten Worte überrascht, aber knirschte nur mit den Zähnen. Außenminister Ohira kommentierte: „Wenn Amerika schimpft, ist das gefährlich. Wenn aber Japan schweigt, kann das noch gefährlicher werden."

Die Regierung in Tokio hat keinen Grund, die Ernennung des Sicherheitsberaters Kissinger zum neuen amerikanischen Außenminister vorbehaltlos zu begrüßen. Denn nach japanischer Auffassung hat die Ostasienpolitik Kissingers in der Vergangenheit gezeigt, daß er es an Verständnis für die japanische Interessenlage fehlen läßt. Tokio war deshalb auch nicht besonders beeindruckt, als Henry Kissinger sein Konzept einer neuen Atlantik-Charta entwickelte. Man hatte den Eindruck, als habe er Japan etwas künstlich in sein noch relativ unklares Konzept hineingestopft. Japaner wissen zur Stunde genauso wenig wie Europäer, was die neue Atlantik-Charta bringen soll. Die Skepsis überwiegt. Grundsätzlich aber ist Tokio an den Gedankengängen interessiert, wenn damit eine Pazifik und Atlantik verbindende Handels-und Wirtschaftsgemeinschaft gemeint sein könnte. Von Sicherheitsabsprachen, die militärische Verpflichtungen einschließen könnten, würde sich Japan auf jeden Fall distanzieren.

Sowohl Tokio als auch Washington sind bemüht, das überstrapazierte Verhältnis zwischen beiden Ländern nicht noch weiter zu belasten. Unsicherheit aber besteht darüber, was die japanische Opposition plant, die grundsätzlich antiamerikanisch ist. Sie könnte sich als nächstes Angriffsziel die US-Stützpunkte auf japanischem Boden vornehmen. Gegenwärtig sind auf den japanischen Haupt-inseln noch 20 000 US-Soldaten und 42 000 auf Okinawa stationiert. Das ist im Vergleich zur Bundesrepublik Deutschland nicht viel; aber auch diese geringe Präsenz der amerikanischen Militärmacht ist für die japanische Opposition weiterhin ein Stein des Anstoßes. Interessanterweise zahlt Tokio bis heute keine Stationierungskosten. Amerika wirft die Frage nicht auf, weil es weiß, daß die Tage seiner Basen dann gezählt sein könnten. Denn würde das Thema Stationierungskosten zur Sprache kommen, gäbe es in Japan gefährliche Spannungen.

Im Gegensatz zu den Deutschen fühlen sich die Japaner nicht bedroht. Der Sicherheitsvertrag war historisch gesehen eine Festschreibung amerikanischer Besatzungsrechte, als Japan souverän wurde. Tokio hat sich nach diesem Vertrag nicht gedrängt. Das Interesse daran lag vor allem auf amerikanischer Seite. Deshalb ist der Sicherheitsvertrag für die USA ein viel empfindlicheres Thema als für Japan. Tokio würde die Amerikaner ziehen lassen, ohne mit der Wimper zu zucken. Die japanische Opposition gründet ihren Widerstand gegen diesen Vertrag auf die inzwischen eingetretene Beruhigung im ostasiatischen Raum und behauptet, durch das neuartige Verhältnis zwischen Washington und Peking sei das japanisch-amerikanische Militärbündnis überflüssig geworden.

Wenn es außenpolitisch in der japanischen Bevölkerung jemals einen Volkswillen gab, dann in der China-Frage. Die besonders von den Massenmedien mobilisierte Emotionalität war zeitweise so stark, daß man gelegentlich an die Bildung einer Achse Peking — Tokio glauben konnte. Nach Jahren der Beherrschung Chinas schien eine Periode der Unterwerfung Japans anzubrechen. Diese panasiatischen Sympathien, einseitig von Japan in Richtung China, haben das Verhältnis zwischen beiden Völkern in der Nachkriegszeit wesentlich beeinflußt und werden auch in Zukunft eine wichtige Rolle spielen.

Auf einer sentimentalen Volkswoge prochinesischer Gefühle reiste Ministerpräsident Ta-B naka im Herbst 1972 nach Peking. Aufgrund der euphorischen Aufnahme seiner Reise in weiten Teilen der japanischen Bevölkerung konnte er gar nicht anders, als sich den chinesischen Forderungen zu beugen. Tanaka kündigte den Friedensvertrag mit Tschiang-Kai-shek auf und brach die diplomatischen Beziehungen mit Taiwan ab. Peking aber gab sich mit den harten Bedingungen für eine Normalisierung der Beziehungen mit Tokio nicht zufrieden, sondern mutete Tanaka zusätzlich einen ganz persönlichen Affront zu: Während des Staatsbanketts von Ministerpräsident Tschou En-lai für seinen japanischen Gast weigerte sich der chinesische Ministerpräsident, auf das Wohl des japanischen Tenno zu trinken.

Seit jenen Tagen steht Ministerpräsident Tanaka unter dem Beschuß des rechten Flügels der liberaldemokratischen Regierungspartei. Er wird beschuldigt, in der Taiwan-Frage hastig, vorschnell und übereilt gehandelt zu haben. Tanaka hätte wegen der Besonderheiten in den Beziehungen zwischen Japan und Taiwan eine „amerikanische Lösung" versuchen sollen. Die USA unterhalten noch heute Militärbasen und eine Botschaft auf Taiwan. Trotzdem aber ist die Volksrepublik in Washington durch einen „Botschafter" vertreten. Ähnlich, so behaupten Tanakas Kritiker, hätte auch Japan mit China verhandeln und Peking zu der Einsicht bringen müssen, daß das Verhältnis zwischen Tokio und Taipeh von einer besonderen Art sei.

Die Erwartungen der Bevölkerung von der China-Reise des japanischen Regierungschefs haben sich bis heute nicht erfüllt. Es gibt zwischen beiden Ländern auch nach der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen noch keinen Friedensvertrag, kein Handels-, Naviga-tions-und Luftfahrtabkommen. Ungeklärt sind auch weiterhin die territorialen Besitzrechte über die ölträchtigen Senkaku-Inseln.

Die Normalisierung des Verhältnisses zwischen Japan und China war vor allen Dingen eine politische Entscheidung. Aber natürlich haben auf beiden Seiten auch Wirtschaftsinteressen eine Rolle gespielt. Theoretisch sind die Perspektiven eines möglichen Handels zwischen beiden Ländern ideal. China, direkt vor Nippons Haustür gelegen, könnte Japan zu günstigen Preisen dringend benötigte Rohstoffe liefern. Japan könnte seinerseits das riesige, aber arme Entwicklungsland China mit allem versorgen, was es braucht: mit Stahlwerken, Raffinerien, Schiffen, Industrie-produktenaller Art. China und Japan gleichen dem Idealbild komplementärer Volkswirtschaften — wenn das eine nicht ein kommunistisches und das andere nicht ein kapitalistisches Land wäre. Dieser grundsätzliche Unterschied zwingt Japans freie Unternehmer zur Vorsicht. Sie erinnern sich immer noch an den Zwischenfall von Nagasaki. Dort wurde 1958 in einem Warenhaus eine Fahne der Volksrepublik heruntergerissen. Als Repressalie brach Peking den Handel ab. über Nacht konnte Japan an China keinen Stahl mehr verkaufen. Zum Arger der Japaner machten damals die Konkurrenten aus der Bundesrepublik das große Geschäft. Solche abrupten und ausschließlich politisch motivierten Aktionen der Chinesen könnten auch in Zukunft drohen. Denn bisher hatten die japanischen Regierungen in den Pekinger Massenmedien eine ausgesprochen schlechte Presse. China schoß in der Presse ganze Breitseiten gegen das Wiedererwachen des japanischen Militarismus ab. Zur Zeit ist dieser Propagandakrieg abgeklungen, kann aber von den Chinesen, wenn es ihnen paßt, jederzeit wieder aufgenommen werden. Diese Unwägbarkeiten muß die japanische Industrie bedenken. Auch nackte Zahlen sprechen eine nüchterne Sprache. Der japanische China-Handel liegt gegenwärtig bei rund 3, 2 Milliarden Mark. In etwa der gleichen Höhe aber liegt auch der Japan-Handel mit Taiwan, mit einer Insel von nur 14 Millionen Einwohnern. Selbst wenn Japan seinen Handel mit dem 800-Millionen-Volk der Chinesen vervierfacht, was theoretisch um 1980 erreicht sein soll, würde auch diese Summe vom japanischen Gesamtaußenhandel nur drei Prozent ausmachen. Deshalb kann vom großen Klingeln in Japans Kassen beim China-Geschäft auf absehbare Zeit noch keine Rede sein.

Das japanisch-chinesische Verhältnis ist entscheidend für die Zukunft ganz Ostasiens. Bei der Entwicklung dieses Verhältnisses aber hat Japan in der westlichen Welt ein psychologisches Handikap: Denn wie sich sein Verhältnis zu China auch immer gestalten mag — ob als Kooperation, Rivalität oder Unterordnung —, es ist Japans Tragik, daß die Sympathien des Westens dabei den Chinesen gehören. Die euphorischen Kommentare westlicher Zeitungen über die sensationelle Peking-Reise von Präsident Nixon lasen sich, als habe der Westen in Ostasien den verlorenen Sohn wiedergefunden und als sei Japan im letzten Vierteljahrhundert im Grunde doch nur ein Stiefkind gewesen. Wenn es im Verhältnis zwischen Völkern und Kulturen etwas ähnliches geben sollte wie „Liebe", dann hat der Westen diese „Liebe" in Ostasien für die Chinesen aufgespart. Die China-Lastigkeit westlicher Interessen und Gefühle auf Kosten Japans hat eine lange Geschichte. Sie hängt mit der großen Kultur des Reiches der Mitte zusammen, mit der Küche Chinas, aber vor allem mit seinen Menschen. Man stelle sich einmal vor, Mao Tse-tung würde in Tokio regieren und der kulturrevolutionäre Amoklauf nach innen und außen hätte sich in Japan ereignet: die antijapanischen Ressentiments wären in den westlichen Zeitungen explodiert. China aber hatte in Europa, selbst als während der Kulturrevolution die britische Botschaft verwüstet wurde, eine relativ objektive Presse. Japanern ergeht es ähnlich wie den Deutschen. Würden in der Bundesrepublik, wie im Frankreich des Frühjahrs 1973, Kommunisten und Sozialisten als Volksfront zu einer aussichtsreichen Parlamentswahl antreten, spräche die ganze Welt erneut von einer deutschen Gefahr. Den Franzosen aber wurde das marxistische Linkskartell verziehen. Was Frankreich in Europa, ist — in der öffentlichen Meinung vieler Völker — China in Ostasien.

’ ; . : .. 2 Peking weiß, daß die China-Sentimentalität im Westen sein großer Verbündeter ist. Japan aber hat wenig Freunde. Bei allen Erklärungen dafür bleibt ein Rest, der sich nicht auflösen läßt. Es sind jene Imponderabilien der Sympathie und Antipathie, die sich aus Quellen speisen, die nicht ins Bewußtsein treten. Dieses Irrationale aber ist eine Realität, von der für Japan Gefahren ausgehen.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Hans Wilhelm Vahlefeld, Dr. phil., geb. 1928 in Lüdenscheid, Studium der Philosophie und Rechtswissenschaft in Freiburg, Hamburg und München; nach Redaktionsjähren in der „Tagesschau" des Deutschen Fernsehens ARD-Korrespondent für Fernsehen und Funk in Tokio (1960— 1964) und anschließend in Hongkong bis 1968; zwei Jahre „Internationaler Korrespondent" der Tageszeitung „Die Welt" und heute wieder Sonderkorrespondent beim NDR-Fernsehen. Veröffentlichungen: 100 Millionen Außenseiter. Die neue Weltmacht Japan; Weltrevolution aus Fernost. Das neue China. Beide Bücher erschienen auch in japanischer Sprache.