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Sicherheit und Frieden Ein Beitrag zur Diskussion | APuZ 50/1973 | bpb.de

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APuZ 50/1973 Artikel 1 Extremistenbeschluß und demokratische Verfassung Eine Stellungnahme zu H. Borgs-Maciejewsky: Radikale im öffentlichen Dienst (B 27/73) Sicherheit und Frieden Ein Beitrag zur Diskussion Eine Erwiderung auf H. -J. v. Merkatz'Diskussionsbeitrag „Sicherheit und Frieden"

Sicherheit und Frieden Ein Beitrag zur Diskussion

Hans-Joachim von Merkatz

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Zusammenfassung

Der erste Teil der Erwiderung auf die Standortbestimmung des Interkirchlichen Friedens-rates in den Niederlanden (B 13/73) befaßt sich mit den erkennbaren Zielen der sowjetischen Strategie, die sich auf eine Überrüstung stützt und die als politisches Mittel zur Erlangung der Vorherrschaft über ganz Europa psychologisch genutzt wird. Im zweiten Teil wird von der Diskrepanz zwischen theologischen und politischen Forderungen gehandelt. Der dritte Teil versucht einen völkerrechtlichen Überblick über das Problem der Gewalt, insbesondere der Thesen zum gerechten und ungerechten Krieg und der Problematik der atomaren Gewaltmittel, sowie über Begriff und Wesen der Entspannungspolitik zu geben. Das Problem der Abschreckung wird im Verhältnis zum Verteidigungswillen und der Verteidigungsmöglichkeit aufgeworfen. Im vierten abschließenden Teil werden Konfliktsursachen gestreift, die sich aus dem gegenwärtigen Zivilisationsstand in der Welt, insbesondere aus Mangellagen in der Rohstoff- und Energieversorgung, ergeben und die gebieterisch Solidarität und Zusammenarbeit erfordern. Der Beitrag ist insgesamt eine Kritik an der Grundkonzeption der Standortbestimmung, die gewollt oder ungewollt den Zielen der sowjetischen Strategie durch die Befürwortung von Vorleistungen entgegenkommt.

Die von der Redaktion als Beitrag zur Bereicherung der permanent aktuellen Diskussion über wünschenswerte oder zu vermeidende Entwicklungen in Europa veröffentlichte Standortbestimmung des Interkirchlichen Friedensrates in den Niederlanden (IKV) , Die Zukunft Europas'(B 13/73) hat den erwarteten Widerspruch gefunden. H. J. v. Merkatz setzt sich in einer erweiterten Leserzuschrift mit den dort vertretenen Prämissen und Folgerungen auseinander, auf die ihm P. A. Hausmann als Gastmitglied der 1KV antwortet.

I.

Die Standortbestimmung des Interkirchlichen Friedensrates in den Niederlanden ist in ihrer Ernsthaftigkeit und dem Niveau ihrer Argumente ein verführerisches, weil psychologisch sehr wirksames Instrument, das sich nahtlos in die Hegemonialstrategie der Westpolitik Moskaus einfügt. Die Denkschrift bedarf einer Antwort, die frei von emotionaler Polemik aus den Gegebenheiten der gesellschaftlichen und existenzpolitischen Tendenzen im Zusammenhang mit der machtpolitischen Entwicklung in der Welt erfolgen muß. Gesichtspunkte der militärpolitischen Konzepte reichen dazu nicht aus. Vor allem die gesellschaftlichen Erschütterungen im Westen mit ihren psychologischen Voraussetzungen im Kontrast zur Disziplinierung im kommunistisch beherrschten Osten müssen dabei ins Blickfeld gerückt werden.

Die Standortbestimmung ist in ihrer geistigen Haltung durchtränkt von der Gleichsetzung des Imperialismus mit dem „Kapitalismus", was zum Teil für das neunzehnte Jahrhundert zutreffen mag, nicht mehr jedoch für das fortgeschrittene zwanzigste Jahrhundert. Diese Gleichsetzung ist eine vornehmlich von der sowjetischen Führung benutzte Waffe der Psychostrategie, um die in kapitalistischen Ländern und in der Dritten Welt angeblich unterdrückten Klassen als Sympathisanten der sowjetischen Macht und möglichst als Aufständische gegen ihre eigenen Regierungen zu gewinnen. Die Herren des sowjet-kommunistischen Imperiums denken und planen weitgehend noch in Vorstellungen des vergangenen Jahrhunderts, in dem die revolutionären Strategien entwickelt worden sind.

In dieser Hinsicht besteht ein Gegensatz zu den neorevolutionären Kräften des Westens und namentlich Westeuropas, die auf eine Zersetzung durch Infragestellen von Grundwerten und auf die Unterwanderung von Institutionen sowie die Lähmung von Autoritäten ausgerichtet sind. Durch Aushöhlen der Widerstandskraft aber arbeitet das den machtpolitischen Absichten Moskaus in die Hände. Der erste Schritt dieser Absichten ist grob skizziert: die Anerkennung der sowjetischen Annexionen, d. h.des neu begründeten, nicht nur machtpolitisch, sondern ideologisch gleichgeschalteten Imperiums mit abhängigen Satellitenstaaten in Verbindung mit internationalen Brückenköpfen in Westeuropa, Lateinamerika, Afrika und Asien. Diese erste Station ist weitgehend von der Sowjetunion erreicht.

Als zweiter Schritt und damit als „Voraussetzung für den Erfolg dieser sowjetischen Hegemoniepläne ist einmal die allmähliche Zersetzung der NATO und sodann die Behinderung einer weiteren westeuropäischen Einigung" im Vollzug (Botschafter a. D. Dr. Berger im Rheinischen Merkur vom 3. 8. 1973). Dazu werden die bilateralen Verhandlungen mit den nationalen Regierungen in Westeuropa und den USA und die Schwächezeichen inneramerikanischer Gärungen genutzt. Vergleicht man damit den Tenor der Standortbestimmung des IKV, der auf Auflösung der NATO und auf Abrüstungsvorleistungen Westeuropas sowie auf Bremsung der Integrationsvorgänge hinausläuft, dann kann man die Übereinstimmung mit sowjetischen Zielvorstellungen nicht übersehen.

Das sowjetische Konzept eines von Moskau letzthin beherrschten Gesamteuropas, einge29 leitet durch die Institutionalisierung gesamteuropäischer Organe mit einem Leitungsorgan, wird, wenn auch geschickt in differenzierten Überlegungen verborgen, in der Denkschrift unterstützt. Der Einbau und die Unterstellung dieser Organe in die Organisation der Vereinten Nationen, wie das in der Standortbestimmung vorgeschlagen " wird, würde die Vorherrschaft Moskaus im Weltmaßstab geradezu unterstreichen. Denn die Beherrschung des westeuropäischen Potentials, das dann mit den Mitteln der zentralistischen kommunistischen Partei und Bürokratie zusammengefaßt werden könnte, würde Moskau ein politisches Weltübergewicht verschaffen, das es auf dem Gebiet überlegener Rüstung schon fast erreicht hat.

Daß die Neutralisierung der Bundesrepublik Deutschland durch Entfremdung von und schließlich Herauslösung aus der NATO eine entscheidende Etappe auf dem Weg zur Beherrschung Restmitteleuropas und dann bald auch Westeuropas wäre, kann man schwer bestreiten. Man nennt einen solchen Prozeß täuschend „Finnlandisierung", von der Vorstellung ausgehend, daß die Zuordnung zum Moskauer Zentrum Spielräume für eigenständige innere Gestaltungen der Gesellschafts-und Wirtschaftsordnungen und freiheitliche Kulturautonomie im Rahmen eines aufgeklärten Sozialismus ließe. Diese Illusion würde machtpolitisch bald als Wunschtraum offenbar werden. Auch eine indirekt ausgeübte Vorherrschaft mit der Möglichkeit zur Intervention — kombiniert mit innerstaatlicher Subversion — diente dem Herrschaftsziel der Hegemonie, die mit wachsender Effektivität keine wesentlichen Freiräume mehr offen lassen würde. Die Möglichkeit dieser Kombination von Intervention und Subversion — realisiert als von innen ausgelöste Invasion verbrüderter Kräfte — lastet als latente Drohung auf dem Restkontinent Europas, und nicht nur auf Europa.

Sie erklärt vielleicht die Superrüstung der UdSSR und des von ihr geführten Warschau-er Paktes. Diese muß allerdings zugleich mit den Gefahren gesehen werden, die für die Sowjetunion aus der Auslösung eines Weltkrieges durch den gewaltsamen Ausbruch des russisch-chinesischen Konfliktes entstehen könnten. Die Sowjetunion begegnet dieser Gefahr für ihre Sicherheit durch den Aufbau von Übermacht durch Überrüstung, deren politisches Gewicht sich nach dem Westen und dem Osten mit dem Ziel einer Weltvormacht als Mittel zur Weltrevolution auswirkt. Dabei haben das Scheitern ihrer intensiven Bemühungen, zu einem Führungsarrangement mit China zu kommen, sowie interne wirtschaftliche Schwierigkeiten zu einer Hinwendung zum Westen genötigt, ohne machtpolitisch ihre Ziele aufzugeben.

II.

Man würde der Standortbestimmung des IKV nicht gerecht, wenn man ihr nur mit dem Kalkül machtpolitischer Entwicklungen begegnen wollte. Ihr Fundament ist, das mag eingeräumt werden, ein theologisches, das von jeher mit den naturhaften Fakten einer unheilen Welt im Widerspruch steht und die Heilung dieser Abhängigkeit des Menschen von seinen tierhaften Ursprüngen im grundlegenden Bewußtseinswandel sieht, zu dem dem Menschen die Freiheit als gegeben postuliert wird. Daß also alle Opfer und die Bereitschaft zum Leiden in der Friedfertigkeit aufgebracht werden müßten, um den „Neuen Menschen" in bewußter Überwindung seiner naturgegebenen Verstrickung, selbst um den Preis vorübergehender Unfreiheit, zu schaffen.

Was im Bereich der höheren Ordnung des Glaubens Ziel ist, ist in der naturgefesselten Welt der Politik, auch mit der Einmischung ethischer Elemente, nach der Erfahrung noch weitgehend Utopie.

Deshalb darf man der jahrtausende alten Mühe des Christentums und der großen Religionen um die Verwirklichung einer heilen Welt des Friedens und der freundwilligen Zusammenarbeit der Menschen die Achtung und letzte Anstrengung der Politik nicht versagen. Aber Politik gebietet es, daß die äußersten Opfer der Friedfertigkeit, die Tod und Sklaverei von Millionen mit sich bringen können, nicht als mögliche Realität akzeptiert, daß Existenzvernichtung nicht riskiert werden darf.

Diese Konsequenz nimmt auch die Standortbestimmung nicht in Kauf. Was sie aber propagiert, ist das bewußte Risiko, das in Vorleistungen und Verteidigungsschwächung ohne Gegenseitigkeit liegt. Man glaubt, durch Vor-leistungen Gegenleistungen provozieren und moralische Kräfte der Friedenssicherung mobilisieren zu können.

„Mein Reich ist nicht von dieser Welt!" Das grenzt ab, wenn auch die ethische Bemühung um eine Vermenschlichung der Politik nicht nachlassen darf. Doch der Weg zu diesem Ziel ist opferreich und weit, über Menschenverstand und Wille hinaus. Die unerforschliehe Evolution der Schöpfung vollzieht sich, vor allem auf biologisch gebundenen Gebieten, in sehr langen Zeiträumen, und dazu gehört auch die Struktur der Politiker. Nach geschichtlicher Erfahrung sind allerdings plötzliche Sprünge, die oft auch Rückläufigkeiten sind, möglich.

Auf dem erfahrenen Leben in dieser Welt lastet das schwere Wort: „Liebet eure Feinde! Tut denen wohl, die euch hassen... Tretet für die ein vor Gott, die euch beleidigen" (in der Übersetzung von Jörg Zink).

Jeder Politiker hat wohl den Abstand dieses Gebots von der Wirklichkeit seiner Verantwortung und demgemäß den Notwendigkeiten seines Handelns schon unauflösbar als Christ auf sich lasten gefühlt. Doch liegt auch, selbst im gegenwärtig unvollkommenen Stand menschlichen Vermögens, in diesem Wort politische Weisheit, die Wegweisung gibt. Man suche den Gegner in aller Schärfe des Konflikts in seinen Bedürfnissen und Motivationen zu verstehen, um damit politischen Ausgleich zu finden, seine Menschlichkeit nicht zu verletzen, den Frieden zu fördern und sich nicht vom Haß überwältigen und blenden zu lassen.

Freilich setzt das Umsicht und Großzügigkeit der Gesinnung voraus, die in den Versuchungen der Not oder der Macht auf Distanz vor sich selber zu gehen vermag. Das ist neben einem klaren Willen und dem Abschätzen des Möglichen und Zumutbaren auch ein Gebot gekonnter Diplomatie, die Vertrauen als Fundament des Friedens zu schaffen sich bemüht. Doch versteigen wir uns nicht in einen Tugendhimmel. In der Wirklichkeit dieser Welt gilt der spöttische Satz Wilhelm Buschs: „Der Herrgott muß gewaltig ziehen, dem Teufel fällt’s von selber zu." Daran führt kein Idealismus vorbei.

Man wird mit besonderer Aufmerksamkeit auf die Stellungnahme der Kirchen zur Standortbestimmung warten, deren Lehramt hier das letzte Wort hat, wenn auch der Politiker sein Gewissen in die Hand keiner Institution geben darf. Er muß vor dem Wölfischen im Menschen auf der Hut sein.

III.

Damit sind wir beim Problem der erlaubten und unerlaubten Gewalt und der erlaubten und unerlaubten Gewaltmittel. Eng damit zusammen hängt die Frage des gerechten und ungerechten Krieges, dessen Prototyp der Angriffskrieg ist, während der Verteidigungskrieg als gerecht bezeichnet werden muß. Krieg und Revolution sind geschichtliche Erfahrungen kollektiver Gewaltanwendung. Sie sind keine Rechtszustände, sondern natürliche Tatsachen, die nur begrenzt rechtlicher Regelung zugänglich sind. Mit diesem Ausnahmezustand befaßt sich das Kriegsvölkerrecht, dessen Normen zur Verhinderung sinnloser Grausamkeiten und zum möglichen Schutz der unbeteiligten Zivilbevölkerung auch im Falle des internen Krieges, des „Bürgerkrieges", Anwendung finden, dann nämlich, wenn die Beteiligten als kriegsführende Parteien gegenseitig und international zur Anerkennung gelangt sind.

Man unterscheidet den Krieg, der zur Aufrechterhaltung von Rechten, zu ihrer Durchsetzung oder Wiedererlangung geführt wird, von Kriegen, die Änderung von Rechten bzw. eines Rechts-und Machtzustandes zum Ziel haben. Kurz gesagt: Beim internationalen Krieg geht es um Bewahrung von Recht und Macht, bei Revolution und Bürgerkrieg um Veränderung von Recht, um „Gerechtigkeit", während der Staatsstreich lediglich den Austausch von Machtpositionen im Rahmen einer gegebenen Verfassung zum Ziel hat. Der Staatsstreich verändert jedoch die Verfassungswirklichkeit. In beiden Fällen geht es um Machtgewinn.

Dieses herkömmliche Gefüge der Gewaltanwendung hat im 20. Jahrhundert sowohl direkt wie indirekt tiefgreifende Veränderungen erfahren durch die Entwicklung zum „totalen Krieg", durch die Erfindung der Massenvernichtungsmittel, insbesondere der Nuklearwaffen, und durch den revolutionären Krieg in internationaler Verflechtung.

Die Sowjetunion hat den Anlässen des „gerechten Krieges" den Aufstand unterdrückter Klassen und den Befreiungskrieg gegen koloniale Abhängigkeit hinzugefügt. Er vollzieht sich in den zugleich primitiven wie heimtükkischen Formen des Partisanenkrieges. Er vermag überlegene Militärmacht, wie z. B. in Vietnam, zu unterlaufen, wenn er von außen unterstützt wird.

Das Kriegsvölkerrecht, das — wie gesagt — auch auf interne Verhältnisse Anwendung finden kann, ist, zumal nach der Entwicklung zum Volks-und Weltkrieg, der mit Massen-streitkräften unter Aufbietung aller menschli31 chen und materiellen Potentiale zur totalen Niederwerfung des Feindes geführt wird, nur ein unvollkommenes Instrument zur Zähmung dieser völkerrechtlichen Katastrophe.

Die Technik hat die Entwicklung totaler Vernichtungsmittel möglich gemacht und überrundet ständig mit scheinbar unbegrenzten Innovationen die Begrenzungen der Gewaltwirkungen durch das Kriegsvölkerrecht. Zur Zeit stehen wir im Versuch eines Begrenzungsprozesses der Massenvernichtungsmittel. Dabei steht die Zähmung der Atomwaffen sowohl hinsichtlich der technischen Wirkung als auch ihrer Anwendung im Mittelpunkt. Dieses technisch und politisch angegangene Problem ist in engem Zusammenhang mit der Konfliktforschung, dem Krisis-Management und dem Ziel der Konfliktkontrolle zu sehen. Eine wichtige Station ist das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion über die friedliche Nutzung der Atomenergie vom 21. Juni 1973, die Vereinbarung über Grundprinzipien der Verhandlungen über die weitere Begrenzung der strategischen Angriffswaffen und, vor allem, das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion zur Verhinderung eines Atomkrieges vom 22. Juni 1973.

Auf die beunruhigende Kontroverse, ob in dieser Annäherung der beiden Führungsmächte bisher entgegengesetzter Bündnisse ein Abkoppeln der USA von Europa, ein Entzug des amerikanischen Atomschildes von Europa und damit eine Beendigung oder nur Wandlung der bisherigen Abschreckungsstrategie der NATO beabsichtigt oder vollzogen wurde, kann hier mangels verläßlicher technischer und politischer Information als Grundlage sachverständiger Anlayse nicht eingegangen werden.

Jedenfalls handelt es sich um den Versuch, „ein System gegenseitiger Schranken für das politische Verhalten zu kodifizieren. Ein solches Abkommen sei zwar nicht vor Verletzung sicher, aber das überschreiten der Schranken werde durch ein solches Abkommen erschwert. Das Abkommen sei als ein Beitrag zur Stabilisierung des Ost-West-Verhältnisses zu bewerten" (amerikanische Kommentierung, erwähnt von Gerhard Schröder in Tutzing, Juli 1973).

Es ist klar, daß angesichts dieser Sachlage beim Fehlen hinreichender Verteidigungsfähigkeit Westeuropas gegen die sowjetische Übermacht „jedes Stückchen", das die USA aus Europa gehen oder gedrängt werden", eine gewaltige Machtverschiebung zugunsten des militärischen Riesen, der „Sowjetunion", ist (Gerhard Schröder, ebenda).

Wenn man die Standortbestimmung des IKV in diesem Zusammenhang resümiert, so zielt sie auf die Durchbrechung des Prozesses heilloser Konfrontation und Eskalation, die bis zur ultima ratio gehen könnte, in der Verteidigung die eigene Totalvernichtung in Kauf zu nehmen. Vom NATO-Bündnis wird der tödliche Gegenschlag angedroht, nachdem nach abgestufter Verteidigungsreaktion keine andere Wahl bleibt. Krisismanagement genüge nicht, man müsse die Konfliktursache erkennen und, wie gesagt, das Risiko eingehen, durch Vorleistung eine Deeskalation politisch und militärisch einleiten. Macht könne infolge der Gegen-macht, die sie hervorruft, gar nicht „positiv" (das heißt zur Befriedung) angewendet werden. Darin liegen m. E. Denkfehler, denn Konflikt-beherrschung und Friedenserhaltung ist nur durch Macht und etwa gleichgewichtige Gegenmacht, die beide sich ihrer Risiken und Grenzen bewußt sind, möglich. Dazu kommt, daß ja nicht die rein defensiv angelegte NATO die Sowjetunion militärisch bedroht, sondern umgekehrt, die wachsende sowjetische Überrüstung als bedrohlich bewertet werden muß.

Richtig ist, durch Vertrauen schaffende Kooperation die Konfliktsituation abzubauen und dazu Wege der Verständigung zu suchen. Dabei kann der vorläufige Verzicht auf das Geltendmachen von Rechtspositionen notwendig werden. Wenn damit auf Gewaltlösungen verzichtet wird, existentielle Rechtstitel aber weiter behauptet und Rechtsansprüche offen gehalten werden sollen, dann muß das dem Gegner zur Kenntnis gebracht und durch fortgesetzte schlüssige Handlungen deutlich gemacht werden. Sonst kommt es bei vorerst unrealisierbaren Ansprüchen angesichts des Effizienzgebotes des Völkerrechtes zum Erlöschen des Rechtstitels.

Solche Konfliktentschärfung geschieht nicht durch Schwäche und Teilkapitulation, sondern auf der Grundlage hinreichender Verteidigungsfähigkeit durch vergleichbare Leistung und Gegenleistung. Das aber ist der Kern einer vernünftigen „Entspannungspolitik". Sicher liegt in der atomaren Abschreckung insofern ein Circulus vitiosus, der bei ihrem Versagen in das Absurde gegenseitiger Total-zerstörung führt. Die Fähigkeit, noch „aus dem Grabe" einen Gegenschlag zu führen, ist nicht überzeugend. Europa kann atomar vor einem Angriff geschützt, nicht aber atomar im Falle eines Krieges verteidigt werden, denn der Gegenstand der Verteidigung, wenn auch nur die nackte Existenz, wäre nach dem ersten Atomschlag eines Angreifers nahezu untergegangen.

Rein logisch läßt sich der Circulus vitiosus, wenn man sich in ihm verfängt, nicht auflösen. Das Atomzerstörungspotential ist kein militärisch sinnvolles Mittel, sondern eine politisch-psychologische Kraft, die den Einsatz hemmt und insofern bei annähernd gleicher Fähigkeit zum Schlag und Gegenschlag sich gewissermaßen selbst ausschaltet. Es ist also ein Mittel, um den Angriffskrieg zu verhindern und selbst lokale Operationen mit einem unkalkulierbaren Risiko zu belasten. Atomwaffen sind ein ständiger Appell an die Vernunft und somit eine Schutzwehr gegen un-friedliche Leidenschaften mit ihren Fehlkalkulationen.

Vom Sittlichen her gesehen, ist ihr Besitz als Barriere von Gewalt nicht zu verurteilen und ihre Abschaffung nicht zu fordern, ihr Einsatz jedoch ist moralisch immer verwerflich, weil Totalzerstörung kein höheres Gut mehr übrig läßt. Die Wirkung dieser Waffe, soweit sie unbegrenzt in der Zerstörung ist, ist ein technisches Spiegelbild des Nihilismus, der absoluten Sinnlosigkeit in der Negierung menschlicher Existenz und der Auslöschung aller Werte. Darin zeigt sich die größte Gefahr unserer Zeit, die eine Umkehr notwendig macht, denn sonst ist der Untergang gewiß.

In dieser Betrachtung ist das Absurdum einer Abschreckungsstrategie erkennbar. Sie reicht als Instrument der Friedenserhaltung nicht auf die Dauer aus und muß durch eine Friedensstrategie ergänzt werden, deren Konturen sich erst allmählich herausbilden.

Festzuhalten aber ist, daß die wahre Abschreckung in einem unbeugsamen Verteidigungswillen liegt, der kein Lebensopfer scheut. In diesem Zusammenhang ist auf die Doppelnummer August/September 1973 der Zeitschrift „Defense Nationale" hinzuweisen, die von Adelbert Weinstein in der FAZ vom 13. August 1973 besprochen wurde. Die psychologische Abwehrkraft der nuklearen Strategie darf nicht schon durch Zersetzung des Verteidigungswillens eines Volkes gebrochen sein, bevor sie politisch wirksam werden kann.

Wenn der Verteidigungswille, auch in konventioneller Dimension, selbst in extrem verzweifelten Lagen in Frage gestellt wird, wie etwa durch das moralische Propagieren der Wehrdienstverweigerung — und das geschieht mit der Bejahung dieser Weigerung als fundamentales Menschenrecht in der Standortbestimmung —, dann ist der politische Sieg des militärisch überlegenen Gegners schon im Frieden gewonnen. Von Abschrek-kung kann keine Rede mehr sein, die Hemmungen werden abgebaut, der Mächtigere kann sein Potential psychologisch ohne Skrupel politisch einsetzen.

Ein Grundgedanke der Standortbestimmung ist die Annahme, daß gegenseitig anerkannte Sicherheit zu Wandlungen, zwar nicht im Sinne der Konvergenz der Systeme, so doch durch dann mögliche Zusammenarbeit zu einem schöpferischen Frieden führen könnte.

Sicherheit ist Grundlage des äußeren Friedens und fortzeugende Gewährleistung seiner Erhaltung. Sie kann aber nicht allein auf psychologischer Erwartung, sie muß auf annähernd gleiche Kräfte und auf die beiderseitige Überzeugung begründet sein, daß von dieser Macht bei Bedrohung Gebrauch gemacht wird. Einseitige Friedfertigkeit allein genügt nicht, zumal gegenüber einem Gegner, der seine Soldaten und seine Jugend zu strenger Disziplin und Haß erzieht.

Namentlich bei dem Kapitel über wirtschaftliche und sozialpolitische Beziehungen Westeuropas sind Einflüsse des norwegischen Friedensforschers Johan Galtung spürbar, der dem Zusammenschluß Westeuropas zu einer machtpolitisch wirksamen Einheit praktisch ablehnend gegenübersteht und in der Auflösung der NATO eine friedensfördernde Entwicklung begrüßen würde. Den Organisationen, die alle europäischen Länder umfassen, müsse Priorität eingeräumt werden, um schließlich die subregionale Zusammenarbeit Westeuropas und die regionale Europas in die Mondiale der Vereinten Nationen einzufügen. Unter den gegebenen Machtverhältnissen würde das, wie bereits ausgeführt, zum beherrschenden Übergewicht des Sowjetimperiums führen.

IV.

Die Gefährdung des Friedens in der Welt ist größer, als es die Entspannungseuphoriker und pazifistischen Moralisten wahrhaben wollen. Aufgabe der inneren und äußeren Politik ist es, diese Lage zu erkennen. Eine allgemeine, international kontrollierte Abrüstung und ausgewogene, d. h. in ihrer Wirkung vergleichbare Reduzierung der Streitkräfte wäre ein militärisches. Mittel der Friedenssicherung. Das aber gnügt nicht. Die politische Bemühung um Bereinigung von Konfliktursachen im Wege von echten Kompromissen — und nicht in verschleierten Unterwerfungen oder Übervorteilungen — muß weiter greifen.

Dazu kann eine bedrückende Überlegung nicht verschwiegen werden, die sich aus der Betrachtung des zivilisatorischen Zustandes nicht nur der entwickelten Länder ergibt.

Die technische Wachstumszivilisation, die in der ganzen Welt mehr oder weniger wirksam ist, hat natürliche Grenzen überschritten, was zum Zusammenbruch dieser Zivilisation in einer weltweiten Katastrophe führen kann. Solche Grenzüberschreitungen, nicht nur im Bereich natürlicher Ressourcen, führen überhaupt nach geschichtlicher Erfahrung zu den Zusammenbrüchen von Kulturen, wenn die sie tragende moralische Disziplin erschlafft.

Angesichts dieser West und Ost und die so-genannte Dritte Welt bedrohenden Gefahr ist ein Umdenken in der Ordnung machtpolitischer Kategorien und ein neuer Geist weltweiter Zusammenarbeit im Frieden erforderlich. Die Katastrophe eines machtpolitischen Zusammenstoßes der Großen, der kaum Neutralitätsinseln zuließe, würde die Menschheit in ihrer sittlichen und kulturellen Existenz nicht mehr überstehen.

Die Verknappung der Rohstoffe und in der Energieversorgung sowie die Umweltschäden, die auch mit zu erwartenden technischen Innovationen kaum noch überwunden werden können, sind unübersehbare Warnzeichen.

Aus ihnen können Machtkämpfe entstehen, die aus dem Machtzuwachs vieler Länder der Dritten Welt, die im Besitz von Rohstoff-und Energieressourcen sind, mörderisch verschärft werden könnten.

Gewisse Systemveränderer, denen eine rationierte Armutsgesellschaft willkommen wäre, weil sie mit staatlichen Herrschaftszwängen notwendig verbunden wäre und endlich die materielle Gleichheitsgesellschaft herstellen müßte, wie wir es annähernd in der Kriegs-wirtschaft erlebten, nutzen diese berechtigten Ängste für ihre Zwecke aus. Damit verbindet sich ein unterschwelliges Propagieren sozialistischer Organisations-und Herrschaftsmodelle, und es soll sich geradezu aufdrängen, daß vor allem der straffe zentralistische Kommunismus sowjetischer Prägung mit diesen Problemen fertig werden könnte.

Jedoch weder der Staatskapitalismus sowjetischer Prägung noch sozialistische Funktionärsherrschaften, gestützt auf mächtige Verbandsorganisationen, die beide im Bürokratismus erstarren werden, können mit der Problemlage fertig werden — und sicher nicht ein liberales „Laisser-faire". Die Chance liegt bei den Kräften der Spontaneität freiheitlicher Ordnungen, wenn es ihnen gelingt, ein hohes Maß sozialer Gerechtigkeit im notwendigen gesellschaftlichen und menschlichen Ausgleich ideell und materiell zu erringen. Im Kampf mit Egoismus, Gewinnsucht, Gewissenlosigkeit, Kurzsichtigkeit, Herrschsucht und Bürokratismus wird es sich erweisen, ob die Beschränkung des Freiheitsraumes des einzelnen fortschreiten wird oder ob neue Freiheit des Geistes errungen werden kann, die ihr Maß in gesteigerter Verantwortung und Mitwirkung an den Entscheidungen solidarischer Gesellschaften findet.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Hans-Joachim v. Merkatz, Dr. jur., geb. 5. Juli 1905 in Stargard/Pommern; Studium der Rechtswissenschaft und der Nationalökonomie in Jena und München; 1946 bis 1949 juristischer Berater der Deutschen Partei, insbesondere auch im Parlamentarischen Rat; 1949 bis 1969 Mitglied des Deutschen Bundestages (1949 bis 1960 DP, ab 1960 CDU); 1949 bis 1952 mit der Wahrnehmung der Geschäfte eines Staatssekretärs im Bundesministerium für Angelegenheiten des Bundesrates beauftragt; 1953 bis 1955 Fraktionsvorsitzender der DP im Deutschen Bundestag; 1955 bis 1962 Bundesminister für Angelegenheiten des Bundesrates und der Länder; 1956/57 zugleich Bundesminister der Justiz; 1961/62 zugleich Bundesminister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte; 1964 bis 1968 Vertreter der Bundesregierung im Exekutiv-Rat der UNESCO; 1958 bis 1972 Lehrbeauftragter an der Universität Bonn; 1966 Titel: Professor.