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Jüdische und israelische Gesellschaftsstrukturen in ihrer europäischen Verbundenheit | APuZ 1/1974 | bpb.de

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APuZ 1/1974 Haben die Parteien noch eine Zukunft? Jüdische und israelische Gesellschaftsstrukturen in ihrer europäischen Verbundenheit Politische Kultur und politische Entwicklung. Motive für die Ausarbeitung einer neuen Konzeption

Jüdische und israelische Gesellschaftsstrukturen in ihrer europäischen Verbundenheit

Schlomo Na'aman

/ 13 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die tiefgehende Europaverbundenheit, die das zahlenmäßig so schwache jüdische Palästina gegenüber Europa in den dreißiger Jahren und während des Zweiten Weltkrieges bezeugte (Bürgerkrieg in Österreich und Spanien, die Krisen der Tschechoslowakei und Polens, Englands im Bombenkrieg und der Widerstand in den durch Hitler eroberten Staaten) ist nicht nur gesinnungsmäßig, sondern auch durch die demokratische Struktur der Gesellschaft des damaligen jüdischen Palästina (demokratische Selbstwehr, auf Freiwilligkeit gründende NationalVertretung, Genossenschaftsbewegung, Kibbuzim, Gewerkschaften) bestimmt. Die tiefgehende Durchdringung des gesamten Gesellschaftsaufbaus mit demokratischen Vorstellungen hat sich auch im jungen Staat Israel vollkommen durchgesetzt und es ermöglicht, die patriarchalisch konstituierten Gruppen orientalischer Juden zum Parlamentarismus zu erziehen. Sozialgeschichtlich ist die Frage zu stellen, wie es kam, daß Juden aus dem despotisch regierten Zarenreich, die das Hauptkontingent der zionistischen Neueinwanderer stellten, sich demokratisch organisierten, wo sie doch subjektiv von autoritären Ideologien der russischen Revolutionsbewegung beeinflußt waren. Die Antwort ist in dem bestimmenden Einfluß der jüdischen Gemeinde zu sehen, die in den europäischen Ländern von Anbeginn republikanisch organisiert war und sich im 19. Jahrhundert auch demokratischen Vorstellungen öffnete. Die jüdische Gemeinde ist niemals nur eine Religionsgemeinschaft gewesen, sondern ebenso wie die europäische Stadtgemeinde, deren Zwillingsbruder sie ist, ein ausgebauter sozialer Organismus (Gilden, Klubs, Lehranstalten, soziale Kassen und Hilfswerke). Sie ist für die osteuropäischen Juden, selbst wenn sie jede religiöse Bindung abgestreift hat-ten, das Bindeglied zur Außenwelt geblieben, und von ihrer sozialen und politischen Struktur haben die jungen revolutionären Zionisten, selbst wenn es ihrer politischen Einstellung durchaus nicht entsprach, die entscheidenden Impulse empfangen. Die jüdische Gemeinde, deren Habitus sich nur aus der Gesellschaftssphäre der europäischen Stadt erklärt, ist der integrierende Faktor in der Entwicklung der neuen jüdischen Gesellschaft in Israel geworden; in ihr verkörpert sich die Europaverbundenheit des jungen Staates, die heute infolge des opportunistischen Abrückens Europas von Israel einer so harten Prüfung ausgesetzt ist. Zu hoffen bleibt, daß dieser Opportunismus einer Neubesinnung weichen wird.

Wir neigen dazu, von Ideen zu sprechen, die Völker verbinden und geistigen Einflüssen nachzugehen, aus denen Gemeinsamkeiten des Handelns entstehen; es wird gern davon gesprochen, wie sehr gemeinsame Geschicke und Erlebnisse die Zusammenarbeit der Nationen förderr. Derartige geistesgeschichtliche Faktoren sollen in ihrer Wirksamkeit keineswegs geleugnet werden, nur soll einmal gefragt werden, was eigentlich wirksam ist, wenn wir historische Gemeinsamkeiten als Potenzen im Zusammenwirken von Menschengruppen erkennen: Sind es wirklich die Ideen, geistige, literarische oder philosophische Leitbilder, oder nicht vielmehr gemeinsame Lebensformen und gesellschaftliche Strukturen, die den Ideen Wirkungskraft verleihen und die Gleichheit des gesellschaftlichen Handelns hervorbringen?

Wenn wir heute erneut über Dinge nachdenken, die uns längst geklärt schienen, so steht dahinter die erschütternde Erfahrung der letzten Wochen: Unsere Europaverbundenheit ist in Frage gestellt, nicht weil wir von Europa weg wollen, sondern weil Europa sich in einer Art Festlandsbewegung von uns zu entfernen scheint. Wir suchen einen neuen methodischen Ansatz in sozialgeschichtlicher Richtung, um uns von da her neue Sicherheit zu erarbeiten.

Im Verlauf weniger Wochen haben wir den Erdrutsch mit Österreich mitgemacht und den „Continental drift" Afrikas — weg von Israel. Behaupten möchte ich, daß das kleine Österreich uns mehr verletzt hat als der große kollektive Abfall ganz Afrikas. Wirtschaftlich und politisch gesehen, sind die Hartholzwälder, die Diamantenfelder und Investitionsverluste in Afrika wie auch die Einbuße an Prestige wahrscheinlich schwerwiegender als das, was wir an Österreich verloren, aber nur was Österreich uns antat, hat uns innerlich erregt. Im Zusammenhang mit dem, was wir von Frankreich, England und selbst der Bundesrepublik Deutschland hinnehmen mußten, sind wir in eine tiefe Krise geraten, die wir uns nicht verhehlen dürfen: Wir hatten mehr Mitgefühl und mehr Verständnis erwartet; wir lebten im Glauben, daß wir, die wir das Schicksal der Tschechoslowaken 1938/39 oder der Engländer im Bombenkrieg Hollands und Frankreichs im Widerstand genau so tief wie diese mitgefühlt hatten, die gleiche Sympathie finden würden. Wir hatten uns darauf verlassen, daß Begriffe wie Demokratie, Selbstbestimmung, Menschenrechte, Liberalisierung, Sozialismus uns gemeinsam sind und die gleichen Reaktionen hervorrufen wie bei uns und eine solide Brücke des gemeinsamen Verständnisses und gemeinsamer Sympathie bauen. Wir waren gerade darum so naiv, weil wir aus eigener Erfahrung wissen, wie sehr dieselben Begriffe in anderem sozialen Milieu und unter anderen Menschengruppen vollkommen andere Reaktionen hervorrufen: so realistisch wir diesen anderen gegenüber waren, so wenig kritisch waren wir gegenüber Europa.

Aus eigener Erfahrung haben wir gelernt, wie groß die Mißverständnisse sein können, die bei der Übertragung von Begriffen aus einem sozialen Milieu in ein anderes entstehen können: Wieviel Liebe und Missionseifer haben unsere Kooperativ-und Kibbuzbewegungen auf Gewinnung arabischer und afrikanischer Erwiderung verschwendet; herausgekommen sind fast nur Mißverständnisse, denn schon die patriarchalisch-autoritative Familienstruk15 tur macht bei ihnen häufig ein wirkliches Nachleben unserer Gesellschaftsformen unmöglich; was jungen europäischen Studenten zumindest gefühlsmäßig ein leichtes ist, sich in die demokratische Gleichheit eines Kibbu-zes einzuleben, ist ihnen versagt; sie können wohl abstrakt über die Idee der Gleichheit sprechen, sie aber nicht wirklich assimilieren. Viel tragischere Erfahrungen haben die Juden New Yorks mit ihren portorikanischen und Negernachbarn machen müssen: Sie haben ihnen Liberalismus und Gleichheit gepredigt und haßerfüllten Antisemitismus geerntet, der ein weiteres Zusammenleben unmöglich gemacht hat und zu einem wahren Exodus der Juden aus ganzen Wohnvierteln in den Städten der USA geführt hat. Sie mußten am eigenen Leib erfahren, wie fruchtlos es ist, Begriffe ohne ihre soziale Grundlage übertragen zu wollen: Wo die gesellschaftlichen Voraussetzungen gründlich verschieden sind, verbürgt der Wortklang kein Verständnis; die Möglichkeit eines wirklichen Verständnisses und damit das tiefere Mitgefühl kann erst die Kongruenz des sozialen Lebens schaffen.

Es ist sicher die Aufgabe der Menschheit, die soziale Grundlage für ein allgemeines menschliches Verständnis zu schaffen, aber wir befassen uns heute mit einer gegebenen Situation, die die historische Basis der europäischen Verbundenheit Israels untersuchen möchte, um die jetzige Krise überwinden zu helfen. ,

Wie bekannt, sind die Grundlagen des neuen Israel von osteuropäischen, meist russischen Juden gelegt worden: Das war im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, als eine intellektuelle und soziale Erneuerungswelle Rußland in Bewegung brachte und auch die jüdische Intelligenz erfaßte; berüchtigt sind die Pogrome, die positiv wie negativ diese revolutionäre Bewegung begleiteten; sie haben einen Teil der jüdischen Intelligenz zionistisch umgeprägt. Der der russischen Bewegung eigentümliche intellektuelle Rigorismus mit der Forderung des absoluten persönlichen Einsatzes brachte dann die ersten Einwanderungsgruppen, die wir die erste und zweite „Alijah" nennen. Welches gesellschaftliche Gesicht hatten nun die Grundlagen, die diese Revolutionäre legten, die doch alle an elitären Leitbildern geschult waren, deren Vorstellungen von autoritären Geheimbünden herkamen, in denen immer diese oder jene Sorte von Diktatur (darunter auch die Diktatur des Proletariats) vorherrschte? In deren geistiger Nachbarschaft gab es keinerlei Tradition von Gesellschaftsdemokratie, keine demokratische Praxis, obwohl man abstrakt über Volksrechte und Demokratie diskutierte; aus dieser revolutionären Gärung ist ja auch historisch nie eine Demokratie entstanden. Nur die zionistischen Außenseiter und Eigenbrötler haben scheinbar paradoxerweise im primitiven damaligen „Palästina" die Grundlagen zu einer wirklichen Demokratie gelegt, indem sie sich sogleich demokratisch organisierten, jede nichtdemokratische Tendenz überwanden und auch unter stärkstem Druck diesen Weg nie verließen, obwohl in ihren Köpfen das gesamte Rüstzeug elitärer und autoritärer Ideale sich gesammelt hatte und immer wieder neu verarbeitet wurde. Wo man auch hinblickt, vom ersten Tage an schuf man sich demokratisch gewählte und kontrollierte Komitees für alle Lebensbereiche, sei es zur Arbeitsbeschaffung oder zur Krankenpflege, zur Interessenvertretung auch der kleinsten Gruppen oder auch zur Gründung der ersten Siedlungen: am Anfang waren Versammlung und Beratung, Wahl und Kontrolle. Die ersten Winzer und die ersten Lehrer, die ersten landwirtschaftlichen Lohnarbeiter und die ersten Setzergehilfen — sie alle entwik-kelten eigene demokratische Organe. Es sei bemerkt, daß der kooperative Siedlungsplan Franz Oppenheimers boykottiert wurde, weil er das Selbstbestimmungsrecht der Siedler zu schmälern schien.

Woher die Selbstverständlichkeit demokratischer Praxis? In Osteuropa hatte sie ihre Wurzeln nicht; dort gab es keine Gesellschaftsinitiative. Es gab sie auch nicht im politischen Untergrund, nicht einmal im Exil. Selbst die jungen Zionisten, die wie Chajim Weizmann durch die Schule der Emigration gegangen sind, haben ihre demokratischen Begriffe nicht von dort.

Es gibt nur eine Quelle, aus der demokratische Praxis gespeist werden konnte, und das ist die jüdische Gemeinde.

Das jüdische Gemeindeleben in Osteuropa war keineswegs nur Ausdruck der Gemeinsamkeit gewisser theologischer Vorstellungen und religiöser Normen, deren Ausleben ein gesellschaftliches Eigenleben verlangte. Die jüdische Gemeinde war eine geschlossene, historisch gewachsene Gemeinschaft, in der Theologie und Ritus nur einen Teil des Ganzen darstellten. Die jüdische Gemeinde war bis zu ihrem Untergang in Osteuropa ein sozialer Organismus, der als Ganzes mit der Umwelt in einem festen funktionellen Zusammenhang stand, dessen Normen aber keineswegs der Umwelt angehörten, sondern ein Einfuhrprodukt waren. In mancher Beziehung berührt sich darin die jüdische Gemeinde mit der deutschen Stadt (oder deutschen Siedlung) in Osteuropa, und das darf nicht verwundern, denn beide sind ein Produkt der gleichen Siedlungsentwicklung. Die jüdische Gemeinde hat sich in den Stadtkernen zwischen Loire und Rhein in ihrer europäischen (sogenannten „aschkenasischen") Eigenart konstituiert und sich vollkommen parallel mit der westeuropäischen Stadt nach Osten verpflanzt. Ihr letzter Ausläufer ist das polnische Kolonisationsgebiet in Weißrußland und in der Ukraine, das dann im 17. Jahrhundert an Ruß-land kam.

Die aschkenasische Gemeinde war als unabhängige Korporation in naher Anlehnung an die Stadtgemeinde konstituiert, wobei gegenseitige Beeinflussung vorauszusetzen ist; die jüdische Gemeinde war aber immer republikanischer als die europäische Stadt, weil sie weniger hierarchisch-feudalen Einflüssen ausgesetzt war, die Klassengegensätze weniger ausgebildet waren und daher weniger autoritäre Überwachung nötig hatte. Die aschkenasische Gemeinde, „Kehillah" genannt, enthält sämtliche genossenschaftlichen Elemente einer deutschen Stadt; aber nur wenn man damit den Habitus einer protestantischen Sekte kombiniert, bekommt man einen annähernd richtigen Begriff von der Vielfalt des sozialen und kulturellen Lebens einer aschkenasischen Kehillah. Das erklärt dann auch, warum das jüdische Gemeindeleben in Osteuropa weiterhin so einschneidend auf Menschen eingewirkt hat, die sich von jedem religiösen Brauch längst emanzipiert hatten: Auch der emanzipierteste junge Jude blieb im Zaren-reich dem Gemeindeleben verhaftet, denn mit den russischen kommunalen oder anderen Behörden trat er vornehmlich über die jüdische Gemeinde in Verbindung, und das gilt wegen der rechtlichen Diskriminierung sogar für die Hauptstädte Moskau und Petersburg. Ohne die schützende Hand der Gemeinde war der einzelne Jude vogelfrei.

In jeder jüdischen Gemeinde bestand außer den öffentlichen Institutionen religiöser und sozialer Funktion ein engmaschiges Netz von freiwilligen Vereinen, Kassen, Berufsverbänden, Lehranstalten, religiösen Korporationen aller Schattierungen und Richtungen, die um die Jahrhundertwende, also die Zeitspanne um die es hier geht, verschiedenste politische und soziale Weltanschauungen vertraten, manchmal republikanisch-oligarchisch, meist aber streng demokratisch organisiert waren. Das despotisch-autoritäre Rußland kannte außer dem Establishment nur hierarchisch organisierte Geheimbünde — oder aber in den jüdischen Gemeinden Inseln regelrechter praktischer Demokratie, von denen allerdings das offizielle Rußland kaum Kenntnis nahm. Diese demokratische Praxis bildete in den Köpfen der jungen Revolutionäre die Unter-schicht des politischen Bewußtseins und machte die autoritären Theorien zu einer Art „falschem Bewußtsein“, das im realen Leben des neuen Israel immer mehr verkümmerte.

Die Pioniere einer neuen jüdischen Gesellschaft stießen im neuen Land auf eine Mehrheit ganz anders gesinnter Juden, häufig streng orthodoxer Observanz, aber meist traditionstreu mit kleinbürgerlichen Juste-Mi17 lieu-Begriffen. Ihnen sind auch die Siedler zuzurechnen, die Baron Rothschild bewußt förderte, weil sie seinem Ideal des „guten Juden“ entsprachen. Obwohl die weltanschaulichen Gegensätze deshalb oft hart aufeinander stießen, gelang es doch, gemeinsame Institutionen zu schaffen, weil allen die Organisationsformen der traditionellen Gemeinde vertraut waren. So entstanden im primitiven und despotischen Ottomanischen Palästina eine Vielfalt öffentlicher demokratischer Institutionen, Verbände und Parteien, aus denen zuerst in Jaffa, dann aber besonders im jungen Tel Aviv noch vor dem Ersten Weltkrieg munizipale Verbände und Vertretungen hervorgingen; eine allgemeine jüdische Nationalvertretung war im Entstehen, wurde aber erst nach dem Ersten Weltkrieg verwirklicht. Ohne den gemeinsamen Mutterboden der jüdischen Gemeinde und ihrer Organisationsformen wäre eine derartige Zusammenarbeit ideologisch so gegensätzlicher Elemente unmöglich gewesen. Man bedenke: Auf der einen Seite die Siedler von Petach-Tikwah, das ein Ableger der ultra-orthodoxen Jerusalemer Gemeinde war, auf der anderen sozial-revolutionäre Neueinwanderer.

Schon in diesem frühen Stadium, bevor noch der „Jischuw" (die Gesamtheit der Palästina-Juden) die Einhundertausend-Ziffer überschritten hatte, zog die demokratisch-parlamentarische Zusammenarbeit selbst diejenigen Juden in ihren Bann, die noch in autoritären Sippenverbänden organisiert worden waren, so die erste Welle der jemenitischen Einwanderer der Jahre 1908/09, die, weit von jedem europäischen Einfluß, streng patriarchalisch gegliedert waren. Sie brachten ihre eigene Organisation hervor, die zwar nach innen autoritär aufgebaut war, aber an parlamentarischen Organen mitwirkte und sich allmählich anpaßte. Nur so ist es zu erklären, daß die Masseneinwanderung orientalischer Juden, die sogleich mit der Staatsgründung im Jahre 1948 einsetzte und während einer gewissen Zeitspanne eine numerische Mehrheit im Staate bildete, sich den demokratisch-parlamentarischen Organisationen und ihren Bräuchen angepaßt hat — heute dürfen wir behaupten: endgültig!

Es besteht im Lande, wie bekannt, eine erhebliche Spannung zwischen der jungen Generation der orientalischen Einwanderer und den sogenannten „Aschkenasim“. Einige Beobachter meinten, daß sie das Gesellschaftsgefüge des israelischen Staates sprengen müsse. Es ist ja tatsächlich zur Gründung einer „Schwarzen-Panther-Bewegung “ gekommen, die mehrfach einigermaßen gewalttätig aufgetreten ist. Nun ist es so weit, daß diese „Schwarzen Panther" sich an den parlamentarischen Wahlen beteiligen und vermutlich er-heblichen Erfolg haben werden. Wenn also im nächsten Parlament ihre Vertreter zur Tagesordnung sprechen werden und ihre Interpellationen einreichen, hat sich die parlamentarische und demokratische Ordnung als eine Assimilationskraft erwiesen, und damit scheint das parlamentarische System für diese Generation gesichert.

Strukturen bedeuten demnach mehr als Ideologien, wie wir erprobt haben. Es hat in unserer jungen Geschichte auch nicht an Versuchen gefehlt, autoritäre — und selbst totalitäre — Ideen zu verwirklichen. Ein Schulbeispiel liefert die Entstehung der jüdischen Selbstverteidigung. Noch vor dem Ersten Weltkrieg haben revolutionäre junge Juden, unter ihnen Ben Gurion und der nachmalige Staatspräsident Ben Zvi, eine paramilitärische Geheimorganisation geschaffen, die sich „Haschomer" nannte und deren Namen in der bekannteren „Haschomer-Hazair" -Bewe-gung fortlebt. Dieser „Haschomer" war nach bestem revolutionären Rezept als illegale Organisation mit legaler Fassade organisiert und hat bis nach dem Ersten Weltkrieg eine umstrittene Rolle gespielt: Er ist gescheitert und hat der durch und durch demokratischen „Haganah" -Organisation weichen müssen; gescheitert ist er aber an dem Unwillen der jüdischen Gesellschaft, in ihrer Mitte eine unkontrollierbare Organisation zu dulden.

Die Reste des „Haschomer" haben sich einer Einwanderer-Gruppe aus dem bolschewisti18 sehen Rußland angeschlossen, die es unternahm, eine avangardistische und zentralistische Gesellschaft zu formen, in der auch eine militärische Geheimorganisation wirkte. Der Versuch ist gescheitert und der intransigente Teil ist 1927 nach Rußland zurückgekehrt, wo sie Stalin dann in KZ-Lager schickte. Die Nachfolge trat der „Kibbuz-Hame’uchad“ an, der vollkommen demokratisch durchgegliedert ist. Er ist heute eine der drei großen Kibbuzbewe-gungen.

Es würde zu weit führen, den Versuchen nachzugehen, die in den dreißiger und vierziger Jahren unternommen wurden, faschistischen Ideen im „Jischuw" Heimatrecht zu verschaffen; es bestehen heute Nachfolge-Organisationen derartiger Gruppen, aber sie sind nicht nur auf parlamentarische Demokratie festgelegt, sondern, was wichtiger ist, ihr innerer Aufbau ist so strukturiert, daß sie vom Standpunkt einer autoritären Machtbildung wertlos geworden sind. Es gibt heute rechte und linke Parteien, aber keine außerparlamentarischen Gruppierungen von nennenswerter Bedeutung.

Ein sehr populärer israelischer General (ohne Augenklappe), der befragt wurde, was geschehen würde, falls er seinen Soldaten den Befehl geben würde, sich der Staatsmacht zu bemächtigen, um „Ordnung“ zu schaffen, soll geantwortet haben, man würde ihn auslachen, genauer übersetzt: die Leute würden vor Lachen sterben.

Jede wirklich ernste politische Krise ist immer zugleich auch eine Probe der Tragfähigkeit des politischen Systems. Wir befinden uns heute in einer tiefgehenden Krise, deren Ausmaß sich erst abzuzeichnen beginnt; einer ihrer Aspekte ist die Diskrepanz zwischen physischer Widerstandskraft und politischer Ohnmacht. Demokratische Systeme sind an weniger einschneidenden Krisen gescheitert: Weimar ist an der „Welt-von-Feinden'-Ideo-logie zugrunde gegangen und an den Folgen der „Dolchstoßlegende". Es gehört zum Wesen jeder echten parlamentarischen Demokratie, daß sich außenpolitische (und unter ihnen auch militärische) Krisen nach innen übertragen. Jede Hemmung dieses Prozesses verwandelt die politische Krise in eine Krise des demokratischen Systems. So müssen wir hoffen, daß es uns gelingen wird, unsere Krise ehrlich nach innen auszutragen und sie weder abzudrosseln noch nach außen abzudrängen. Man spricht bei uns mit einer gewissen Scheu vom Austragen der „jüdischen Kämpfe“, wie man sich in Anlehnung an Flavius Josephus ausdrückt. Diese Scheu ist verständlich. Aber die Diskussion, die im Publikum längst im Gange ist, läßt sich nur im Parlament vertagen — und es besteht die große Hoffnung, daß sie die Widerstandskraft nicht lähmen, sondern daß unser Gemeinwesen im Endergebnis gereift aus dieser furchtbaren Prüfung hervorgehen wird. Diese Hoffnung ist mehr als ein frommer Wunsch, denn sie basiert auf der Grundtatsache, daß unser demokratisch-parlamentarisches Verhalten die Gewißheit eines Reflexes angenommen hat und in den tiefsten Schichten unseres gesellschaftlichen Bewußtseins verankert ist: Jede kleine Synagoge ist zugleich ebensosehr ein Klub wie jedes Kaffeehaus, jeder Israeli ist Mitglied mehrerer Vereinigungen, aber auch jedes Mietshaus hat seinen gewählten Mieterrat und jeder kleine Betrieb seine gewählte Vertretung: es ist fast unmöglich, eine Lohn-und Wirtschaftspolitik zu betreiben, die nicht wenigstens den größeren Teil der Beteiligten überzeugt. Das demokratische Mißtrauen ist wohl nirgends so entwickelt wie gerade bei uns. In Friedenszeiten läßt sich wohl kein Volk so schwer, aber in Krisenzeiten keines so leicht regieren wie das unsrige.

Uber die historische Europa-Verbundenheit der israelischen Demokratie haben wir ein wenig nachgedacht. Wie steht es nun mit der Verbundenheit der europäischen Demokratie mit Israel?

Zunächst ist festzustellen, daß „parlamentarische Demokratie'nicht irgendein System ist, in dem ein Parlament besteht: Echte parlamentarische Demokratie existiert nur da, wo die ganze Gesellschaft von parlamentarisch-demokratischen Elementen durchdrungen ist. Sie ist also recht selten. Vergessen wir nicht, daß ein Land wie Frankreich seine parlamentarische Demokratie zugunsten materiellen Wohlstandes leichthin aufgegeben und England sich nie der Mühe unterzogen hat, seine Demokratie auch in Nordirland zu verwirklichen. Italien ist zweifellos ein parlamentarischer Staat; ob es aber eine echte parlamentarische Demokratie ist, muß angesichts der nicht ausgetragenen inneren Widersprüche und Gegensätze doch sehr fraglich scheinen. Die parlamentarische Demokratie ist in Wahrheit kein „System“, sondern ein Prozeß, der in immer tiefgreifender Erfassung aller gesellschaftlichen Strukturen durch demokratische Aktivität besteht und immer neue Probleme in Angriff nimmt. So gesehen ist sie wohl die höchste Stufe politischer und gesellschaftlicher Entwicklung, die Menschen bis heute verwirklicht haben (im Gegensatz zu ausgedachten Utopien). Sie ist aber zugleich auch die am meisten gefährdete, denn für jedes Problem, das mittels langwieriger Diskussion in Angriff genommen wird, scheint eine autoritäre Entscheidung eine elegantere Lösung anzubieten, und es fehlt nicht an Menschen, die auch in der Politik Ästhetik suchen. Der Abfall von der parlamentarischen Demokratie scheint beinah die Norm zu sein, dem nur mit Hilfe von Solidarität aller interessierten Gemeinwesen beizukommen ist. Pflicht der Selbsterhaltung aller parlamentarischen Demokratien wäre es, mit Israel solidarisch zu stehen. Wenn in diesem Winter ein Teil der Europäer frieren sollte, während ein anderer in gut geheizten Räumen sich schön-geistig-revolutionär unterhält, dann wäre das nicht die Solidarität, die nottut. Frankreichs politischer Darwinismus ist keineswegs nur ein Problem Israels: Das demokratische Europa erstrebte im Gemeinsamen Markt auch ein Instrument der Demokratie.

Für die Juden in aller Welt ist das Gedeihen Israels ein persönliches Anliegen, und zwar mit gutem Grund. Andererseits wird Franzosen und Engländern nichts passieren, wenn sie die Existenz Israels untergraben; daß aber damit ihre Demokratie weiteren Schaden nimmt, ist fraglos. Der Versuch, Grundfragen des demokratischen Zusammenlebens auf dem Weg des geringsten Widerstandes zu lösen, wird Schule machen, hat jedenfalls schon Frankreich auf Wege gewiesen, die von parlamentarischer Demokratie immer weiter wegführen. Die israelische Demokratie ist heute eigenständig und kann durchaus auch abge-schnitten von ihrem europäischen Mutterboden existieren, und doch wäre es ein großes Glück, wenn sie sich in weitgehender Solidarität mit den europäischen Demokratien entwickeln könnte: Ein demokratischer „common market“ und ein „pool“ politischer und gesellschaftlicher Erfahrung würden dem Entwicklungsgang der parlamentarischen Demokratie Kontinuität und Festigkeit verleihen, die ihre Zukunft verbürgten. Da, wo wir unser demokratisches Leben angefangen haben, und wie wir es angefangen haben, würden wir gerne weiter wirken, wenn nur die europäischen Demokratien uns nicht im Stiche lassen.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Dr. Schlomo Na'aman, o. Professor für Sozialgeschichte, Mittelalter und Neuzeit an der Universität Tel Aviv, geb. 1912; deutsches Abitur 1932; im'gleichen Jahr nach Palästina; Hebrew Teachers’ College und Universität Jerusalem (B. A., M. A., Ph. D.); Gymnasiallehrer. Veröffentlichungen (hebr. und deutsch): Sozialgeschichte des frühen Mittelalters; Monographien zur Geschichte der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts; Lassalle-Biographie; in Vorbereitung: Dokumentation und Darstellung zur Gründung der deutschen Arbeiterbewegung.