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Das Grundgesetz — eine säkularisierte Heilsordnung ? | APuZ 2-3/1974 | bpb.de

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APuZ 2-3/1974 Das Grundgesetz — eine säkularisierte Heilsordnung ? Bestimmungsfaktoren der Föderalismusdiskussion vor Gründung der Bundesrepublik. Zur geistig-politischen Vorformung des Grundgesetzes

Das Grundgesetz — eine säkularisierte Heilsordnung ?

Robert Leicht

/ 15 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Kommt man politisch-programmatischen Zielen schon dadurch näher, daß man sie in die Verfassung schreibt? Kann man also den politischen Kampf um solche Ziele dergestalt vorentscheiden, daß sie nicht mehr eben erkämpft, sondern nur noch eingeklagt zu werden brauchen? Kurzum: Vermag die geschriebene Verfassung mehr, als den politischen Kräften grundsätzliche Spielregeln aufzuerlegen, ihnen nämlich zugleich die politische Planung, Auseinandersetzung und Durchsetzung abzunehmen? Die materiale Verfassung will tatsächlich mehr sein als ein Katalog angeblich bloß formaler Kompetenzzuweisungen. Auch das Grundgesetz greift, zum Teil jedenfalls, auf diese . typisch deutsche'Idee zurück. Unkritisch aufgenommen allerdings verführt dieses Gedankengut zu einer unpolitischen Einstellung gegenüber dem parlamentarischen Parteienkampf, zur Technik der politischen Triebbefriedigung. Nur der maximale Respekt vor dem Minimalkonsens der Verfassung, nicht aber die Stilisierung von Parteiprogrammen zu angeblich „verfassungsmäßigen" Maximalforderungen kann jene politische Integration gewährleisten, die sich eher vollzieht, wenn man politische Konflikte als solche austrägt, als wenn man sie in pseudojuristischen Auseinandersetzungen verdrängt.

Auf zwei Ebenen kann ein parlamentarisches System, wie jede andere Verfassung auch, Gefährdungen ausgesetzt sein. Auf der einen liegen ihre inneren Strukturprobleme. Die zweite, allgemeinere Ebene ist jene des politischen Kontextes, in dem eine Verfassung steht. Diese Beziehungen zwischen der Binnen-struktur einer Verfassung und der politischen Kultur, in die sie gepflanzt wurde, lassen sich zwar mit den Kategorien des Verfassungsrechts nur sehr unvollkommen erfassen, sind aber für das politische Gedeihen oft von weitaus größerer Bedeutung als die Kanten und Ecken ihres inneren Systems.

Trotz aller seiner Abweichungen vom parlamentarischen Idealtypus, trotz aller Reibungen zwischen seinem originär parlamentarischen und seinen übrigen Teilsystemen erweist sich das Grundgesetz als jene Verfassung, welche die parlamentarischen Prinzipien deutlicher ausgeprägt hat als jede andere deutsche Verfassung zuvor. Ihre inneren Strukturprobleme lassen sich recht genau beschreiben, also auch in gewisser Weise entschärfen. Notfalls könnte der Gesetzgeber diese Dissonanzen beheben, durch punktuelle Retuschen und ohne das Grundgesetz in seinem Geist anzutasten. Freilich muß der Verfassungspolitiker stets abwägen zwischen möglichen den Vorteilen einer logischen Verfassungsreform und jenen einer vielleicht nicht sehr systematischen, aber doch gewachsenen Verfassungstradition, eines zwar zwiespältigen, aber doch kraftvollen Modus der Integration.

So gründlich man die Binnenprobleme des Grundgesetzes auch untersuchen muß, sie begründen die Anfechtungen, unter denen der Parlamentarismus in der Bundesrepublik zu schaffen hat, nur zum Teil. Schon eher das Defizit an dezidiert parlamentarischem Denken, welches — davon ging diese Untersuchung aus — in der deutschen politischen Bei dem vorliegenden Aufsatz handelt es sich um ein Kapitel aus dem im Frühjahr 1974 in der . Reihe Hanser" erscheinenden Buch des Verfassers: . Grundgesetz und politische Praxis".

Kultur kaum jemals wirklich kräftige Wurzeln geschlagen hat. Das hauptsächliche Hindernis für die notwendigen Lernprozesse in dieser Richtung liegt nun in einer eigentümlichen Kategorie des deutschen Verfassungsdenkens: in jener Vorstellung nämlich, die Verfassung sei nicht nur eine politische Prozeßordnung, sondern darüber hinaus auch eine Art säkularisierter Heilsplan.

Rudolf Smend hat bereits darauf hingewiesen, daß der dritte der von ihm beschriebenen Integrationstypen, die sachliche Integration durch politische Zielsetzungen, nicht zum originären Erhard H. M. Lange Bestimmungsfaktoren der Föderalismus-diskussion vor Gründung der Bundesrepublik .. ................................................. S. 9

Gegenstand einer Verfassung gehört. Hat aber Grundgesetz ganz nicht gerade das im Gegensatz dazu die wesentlichen politischen Ziele der Bundesrepublik verfassungsrechtlich verbindlich niedergelegt: Demokratie, Sozialstaat, Rechtsstaat? Hat es nicht die Grundrechte den der Verfassung bewußt an Anfang gestellt, sie außerdem nicht nur als bloße Programmsätze, sondern als unmittelbar geltendes Recht konzipiert, welches die staatlichen Organe unbedingt bindet und ihrer Verfügung entzogen ist? Ist das Grundgesetz also nicht weit mehr als eine nur formale Ordnung, nämlich eine materiale Verfassung?

Zwei Tendenzen — aus derselben Wurzel stammend, aber auf verschiedenen Stufen des politischen Bewußtseins ausgeprägt — vermischen sich an dieser Stelle , müssen jedoch gleichwohl auseinandergehalten werden: Zum einen das Grundgesetz selbst, ein reflektiertes Ergebnis sowohl des traditionellen deutschen Verfassungsdenkens als auch der Reaktion auf die totale Verleugnung dieser Tradition im Unrechtsstaat des Dritten Reiches; zum anderen aber das unbewußte und selbständige Fortwirken dieser Traditionen im politischen .Grundwasser'. Von dorther bestimmen auch sie in ihrer unverarbeiteten Form die Vorstellung und den Gebrauch des Grundgesetzes in der politischen Praxis der Bundesrepublik — mitunter stärker als die rationalisierte Verarbeitung der Traditionen in der Verfassung selbst.

Die materiale Verfassung, jene Verfassung, die viel mehr sein soll als eine Ordnung angeblich bloß formaler Kompetenzzuweisungen an politische Organe, ist inspiriert von einem übermächtigen Wunsch nach Integration. Sie will gleichsam jenen „realen Willensverband" welcher aus den politischen Prozessen und Konflikten immer wieder geschaffen werden muß, schon von vornherein mit dem Ziel einer . prästabilisierten Harmonie'verfassungsrechtlich kodifizieren. Sie versucht also, das Prozeßhafte, Dynamische jeder Politik vorweg zu verdinglichen, in der Hoffnung, die ihr inne-wohnenden Konflikte auf diese Weise aufzuheben und zu umgehen. Doch diese sehnsuchtsvolle Vorwegnahme der Integration (ein Versuch mit untauglichen Mitteln) ist das bedrohlichste Hindernis für die reale Integration. Die materiale Kodifikation politischer Ziele (mit der Unterstellung, sie brauchten nicht mehr politisch erkämpft, sondern nur noch ein-geklagt zu werden) bringt diese Ziele nicht näher, sondern rückt sie eher in die Ferne. Diese Idee der materialen Verfassung überträgt also in die politische Auseinandersetzung ein beträchtliches Maß an unpolitischer Mentalität. Wer ist da noch bereit, seine politischen Interessen unverblümt als solche zu bezeichnen, sie somit der kritischen Diskussion um Legitimation und Sanktion auszusetzen? Dabei wäre dies im parlamentarischen System nur für illegitime Ziele ein Hindernis, für berechtigte indessen ein politisches Stimulans. Statt dessen glaubt man sich allzu oft dem Erfolg näher, wenn man seinen Vorhaben zum Zeichen besonderer Dignität den Glorienschein des . zwingenden Verfassungsauftrags des Grundgessetzes'als Legitimationsersatz auf-pflanzt — eine nahezu . typisch deutsche'Haltung, die als aggressiv aus der Defensive zu bezeichnen ist: Was man unmittelbar aus seiner Interessenlage nicht zu fordern wagt, verlangt man als Inhalt eines . Rechtstitels'um so heftiger. Nur als Folge innerer Unfreiheit scheut man davor zurück, sich die eigenen Interessen als nur solche einzugestehen und die erklärte Auseinandersetzung um deren Er-füllung (aufgrund allseits akzeptierter . formaler'Regeln) als dennoch durchaus legitim zu betrachten. Diese regressive Einstellung zur — wenn man so will — Technik der politischen Triebbefriedigung schlägt sich in der allgemeinen politischen Mentalität nieder als jenes vulgär-apolitische Vorurteil, wonach Politik nichts anderes als eben ein schmutziges Geschäft sei. Auf der Ebene der teilweise rationalisierten politischen Kritik prägt sie die berüchtigte Polemik über die angeblich unerträgliche Differenz zwischen Verfassung und Verfassungswirklichkeit — dieser „kleinste gemeinsame Nenner aller an der Bundesrepublik geübten Kritik"

Wie verhält es sich nun mit dem Grundgesetz unter dem Gesichtspunkt dieser Gegenüberstellung von Verfassung und Verfassungswirklichkeit? Demokratie, Sozialstaat, Rechtsstaat, Sozialbindung des Eigentums (Artikel 14 GG), der Katalog der Grundrechte und deren Stellung im Verfassungssystem — sind dies alles nicht klare Beweise für eine dezidiert materielle Verfassung? Muß nicht der politische Status quo stets an ihr gemessen werden? Martin Kriele hat es sich (in einem seiner Tendenz nach durchaus zutreffenden Aufsatz) zu einfach gemacht, als er die philologische Analyse der vor allen anderen einschlägigen Bestimmungen des Grundgesetzes mit der verfassungsrechtlichen gleichsetzte, um auf diese Weise die unbestreitbar vorhandenen Probleme der materiellen Verfassung aufzulösen: „In Art. 20 Abs. 1 des Grundgesetzes heißt es aber: , Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat'nicht: Sie soll einer werden." Doch handelt es sich hier um ein normatives Präsens, also um kein faktisches. Richtig wäre es also, zu lesen: Die Bundesrepublik Deutschland soll ein demokratischer und sozialer Bundesstaat sein, um dabei im Sinn zu haben: Was die Verfassung betrifft, so sind für dieses politische Ziel die nötigen rechtlichen Voraussetzungen bereits getroffen. Die Imperative einer Verfassung darf man also nicht von vornherein als die Behauptung lesen, sie seien bereits erfüllt. Obschon Kriele natürlich etwas ganz anderes und Richtiges im Auge hatte: Solcher philologischer Positivismus erleichtert nämlich die Methode totalitärer Staaten, in ihren Verfas-* sungen den Himmel auf Erden zu versprechen, um in der Tat unter dem Deckmantel der verbalen Verheißung die Hölle zu betreiben.

Den Problemen der materialen Verfassung kann man also mit solchen sprachlichen Kniffen nicht aus dem Weg gehen. Zutreffender setzt sich Thomas Ellwein mit ihnen auseinander, wenn er schreibt: „Rechtsstaat und Sozialstaat sind in diesem Sinne kein . Angebot des Grundgesetzes, wohl aber eine Aufforderung, sich um ihre Entwicklung oder Weiterentwicklung zu bemühen. Weil das Grundgesetz fraglos solche Aufforderungen enthält, geht es über eine bloße Summation von Organisations-und Rahmenvorschriften, innerhalb dessen beliebiger politischer Wille entstehen kann, hinaus. Es deutet zumindest einen Weg an und benennt für ihn in aller Vorsicht einige Wertvorstellungen. Deshalb kann man tatsächlich von einem Minimalkonsens sprechen."

Die verblüffende Weisheit des Grundgesetzes zeigt sich darin, daß es selbst seine materialen Verheißungen weitaus sparsamer dosiert, als jene vorgeben, die es im Alltag anzuwenden haben. Nur punktuell führen die konkreten Leistungszusagen der Grundrechte zu verfassungsstrukturellen Problemen: Ein Beispiel dafür aus jüngster Zeit ist das Numerus-clausus-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Juli 1972. Nach dem klaren Wortlaut des Artikels 12 GG haben alle Deutschen das Recht, ihre Ausbildungsstätte uneingeschränkt frei zu wählen. Demnach hätte das Bundesverfassungsgericht im Grunde den Numerus clausus als prinzipiell verfassungswidrig erklären müssen. Doch erkennt man gerade in diesem Fall, wie wenig ein solches Judiz in Wirklichkeit zur Gewährleistung dieses Grundrechts beitragen könnte: Kann man politische Zusagen machen, ohne zugleich festzulegen, wie sie in der praktischen Politik einzulösen sind? Das Bundesverfassungsgericht ist aber außerstande, seine Urteile auf die finanziellen Ressourcen des Staates einzurichten und in die Prioritätenliste politischer Zielsetzungen konkret einzugreifen. Weder konnte das Bundesverfassungsgericht — für den Fall der unbedingten Verfassungswidrigkeit des Numerus clausus — sagen, durch welche konkreten Maßnahmen er zu beseitigen sei: etwa durch eine Vermehrung der Studienplätze, durch Bildungsangebote, welche die Universität zu entlasten vermögen usf.; noch konnten die Karlsruher Richter bestimmen, welche an-deren Projekte in der Bildungs-und übrigen Politik dafür zurücktreten müßten. Politik ist der angemessene Ausgleich von Interessen unter dem Mangel an Mitteln, sie alle gleichzeitig und maximal zu befriedigen. In diese Auseinandersetzung kann ein Gericht indessen schlechterdings nicht eingreifen, ohne seine legitime Funktion zu überschreiten. Deshalb begnügten sich die Verfassungsrichter im Nu-merus-clausus-Urteil mit der Feststellung, der absolute Numerus clausus liege „am Rande des verfassungsrechtlich Hinnehmbaren“, um sich unterhalb der Schwelle der ausdrücklichen Verfassungswidrigkeit dieser Beschränkung der freien Wahl der Ausbildungsstätte mit den rechtsstaatlichen Kriterien auseinanderzusetzen, nach denen dieser Mangel zu verwalten sei. Dies war zwar unter den gegebenen Umständen ein kluges Urteil, doch wurde dabei zweifellos die ausdrückliche Garantie des Artikels 12 GG erheblich abgeschwächt und die Funktion des Gerichts in diesem Fall verschoben: Nicht mehr der unmittelbaren Durchsetzung einer sozialen Verheißung dient das Urteil, sondern der rechtsstaatlichen Praxis unter einem Mangel. Wenn man so will, hat sich das Gericht auf das ihm verfassungspolitisch angemessene Maß selbst reduziert: nicht die Gestaltung sozialer Leistungen oder Verhältnisse nach politischen Programmen und finanziellen Ressourcen, sondern die richterliche Garantie der Gleichbehandlung nach einwandfreien Rechtsgrundlagen.

Hinsichtlich des materialen Akzents des Grundgesetzes muß man also unterscheiden zwischen seinen allgemeinen Postulaten (dem Sozialstaat, beispielsweise) und den konkreten Grundrechten. Obwohl die Grundrechte mehr sein sollen als bloße Deklamationen, obwohl sie überdies nicht nur im überlieferten Sinn liberal inspirierte Abwehrrechte gegen obrigkeitliche Übergriffe darstellen, sondern darüber hinaus auch unmittelbar rechtlich gestaltenden Charakter haben: Das Grundgesetz hat sie so ausgeprägt, daß sie im Prinzip keine Leistungsversprechungen enthalten, die nur die politische Praxis, nicht aber allein eine verfassungsrechtliche Garantie erfüllen könnte. Als in den Beratungen des Parlamentarischen Rates ein Abgeordneter verlangte, das Recht auf Arbeit müsse in der Verfassung verankert werden, soll Theodor Heuss erwidert haben, dann verlange er aber auch das Recht auf Faulheit. Vollbeschäftigung ist ein sozial sehr notwendiges politisches Ziel; wie aber kann ein Verfassungsartikel ernsthaft garantieren, daß sie jederzeit und unter allen volkswirtschaft-liehen Verhältnisses uneingeschränkt gewährleistet werden, ja geradezu eingeklagt werden kann? Wie sehr eine Verfassung ihre Würde und Glaubwürdigkeit riskiert, wenn sie sich zu sehr und direkt politischen Verheißungen hingibt, zeigt das Beispiel der Verfassung des Freistaates Bayern

In ihren politisch-verfassungsrechtlichen Postulaten geht es der materialen Verfassung darum, die rechtspositivistische Gleichsetzung von formellen Gesetzen und dem materiell-inhaltlich gerechten Recht zu überwinden; wäre es doch im schlimmsten Fall ein leichtes, durch mehrheitlich korrekt beschlossene Gesetze das blanke Unrecht zu verordnen. Deshalb steht im Art. 20 Abs. 3 GG ausdrücklich, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung seien an Gesetz und Recht gebunden. (Freilich, gerade der Unrechtsstaat des Dritten Reiches berief sich gegen die parlamentarische Verfassung, als quasi positivistische Ordnung, auf eine brutale Art des Naturrechts, jenes nämlich, welches der . Führer'setzte.) Andererseits hat Ellwein zu Recht den potentiell denunzia-torischen Unterton jener Gegenüberstellung von Verfassung und Verfassungswirklichkeit aufgedeckt: „Die Verteufelung der Wirklichkeit mit Hilfe von , rein‘ normativen Maßstäben, welche die sozialen Voraussetzungen von Recht und Verfassung negieren.“ Nur muß man befürchten, daß die materielle Verfassung weder dem denunziatorischen Mißbrauch ihrer Normen noch einen ernsthaften Anschlag auf ihre politischen Vorstellungen wirklich gewachsen ist. Sowohl der Versuch der materialen Aufladung der Verfassung als auch jener ihrer positivistischen Entleerung basieren auf einem gemeinsamen Grundzug im politischen Verhalten, dem die materiale Verfassung also einerseits entgegentreten will, auf den sie andererseits aber antithetisch fixiert bleibt: einem Legalismus, der dazu neigt, politische Konflikte in pseudo-juristische umzudeuten, also politische Ziele als Rechtstitel auszugeben oder unter Berufung auf die förmliche Rechtslage zu verleugnen.

Gewiß, das Grundgesetz hält sich den Versuchungen einer vulgär-materialen Verfassung fern, formuliert „in aller Vorsicht" einen „Minimalkonsens“. Aber wie kann es sich selbst davor in Schutz nehmen, daß die politischen Kontrahenten ihm jeweils ihre eigenen Ziele als verfassungsrechtlich geweihten Maximal-konsens auf eine solche Weise unterzuschieben trachten, daß der politische Gegner — sofern er diese Ziele nicht eilends teilt — alsbald als jener erscheinen muß, der außerhalb der Verfassung steht — als politisch gewissermaßen vogelfrei? Jemanden als Reaktionär oder als linkssozialistischen Kollektivisten zu bezichtigen ist zwar an sich schon ein schönes Verdammungsurteil; doch zündend hört es sich erst an, wenn der Betroffene außerdem nicht mehr auf dem . Boden des Grundgesetzes'steht, also nicht nur politisch, sondern zudem . rechtskräftig'verdammt ist. Die Gegenreaktion liegt auf der Hand: Weil es politisch nicht gerade förderlich ist, dermaßen gebrandmarkt zu sein, schwört nun wiederum jeder Stein und Bein auf das Grundgesetz, alle auf denselben Artikel, so daß außer großem verbalen Aufwand nicht mehr gewonnen ist als eine heillose Verdeckung des eigentlichen politischen Konflikts.

Hier zeigt sich also die Ambivalenz jeder materialen Verfassung: Je konkreter ihre Verheißungen ausfallen, um so irrealer die Verfassung; je allgemeiner hingegen ihr materialer Akzent ist, um so willkürlicher kann sie politisch interpretiert, in Anspruch genommen, wenn nicht gar vergewaltigt werden. So notwendig und legitim die politische Auseinandersetzung zwischen der . sozialen Marktwirtschaft'und dem .demokratischen Sozialismus'auch ist: Es wäre verfassungsrechtlich abwegig und politisch hoffärtig, das eine oder das andere als exkluvisen Verfassungsauftrag auszugeben. Die materiale Verfassung ist nur in einer solchen politischen Kultur vor Mißbrauch sicher, welche die politischen Interessenkonflikte frei und offen als solche anerkennt und austrägt; die sich im übrigen, um Freiheit und soziale Gerechtigkeit zu sichern, nicht auf einen regressiven Legalismus verläßt, sondern im politischen Konflikt auch einen Weg zur politischen Integration sieht. Aber gerade eine solche politische Kultur braucht keine materiale Verfassung. Die materiale Verfassung ist — so, wie sie in der politischen Diskussion in der Bundesrepublik allzu oft bemüht wird — also in gewisser Weise der Versuch, sich an den eigenen Haaren aus den Verstrickungen der Tradition herauszuziehen. Dabei ist ihr Gegensatz zur angeblich bloß formalen Verfassung in verfassungstheoretischer Hinsicht keineswegs so groß, wie sie vorgibt. Wenn man in der (Cromwells Verfassung Revolutionsverfassung trug die -Über schrift Instruments of Government) ein Gefüge von Kompetenzzuweisungen sieht, so ist die materiale Verfassung hinsichtlich ihrer verbindlichen Programme strukturell nichts anderes als eben eine solche Kompetenzzuweisung, eine negative nämlich: Die Formulierung bestimmter politischer Ziele ist der Kompetenz der parlamentarischen Willensbildung vorweg und pauschal entzogen. Andererseits — interpretiert man eine Verfassung im politischen Kontext, so verlieren die Kompetenz-zuweisungen alsbald den Charakter des bloß Formalen. Die Wirklichkeit einer Verfassung ist stets und von vorneherein mehr (nicht etwas völlig anderes) als ihre Urkunde. Die Verfassung soll gewisse Aspekte der politischen Wirklichkeit regeln, aber sie kann niemals die volle Wirklichkeit selbst sein wollen. Um einen Satz Immanuel Kants zu variieren: Verfassung ohne politische Wirklichkeit ist leer, politische Wirklichkeit ohne Verfassung ist blind. Erst die Wechselwirkung zwischen den Anordnungen der geschriebenen Verfassung und den politischen Vorgängen, auf die sie bezogen sind und in welche sie eingreifen, macht die Verfassung, den Status, wirklich aus. So gesehen sind die förmlichen Kompetenzzuweisungen nur jener Ausschnitt aus den vielfältigen Integrationsprozessen in der politischen Wirklichkeit, der sich regelhaft und generell festlegen läßt. Gegenüber dem negativ apostrophierten Rechtspositivismus wäre es ein naiver . positiver'Positivismus, wollte man die gesamte politische Wirklichkeit in die papierene Form einer Verfassungsurkunde zwingen. Nur aus einer solchen Mentalität konnte man (im nicht zuletzt taktischen Zusammenhang der Notstandsgesetzgebung) auf den grotesken Gedanken verfallen, das selbstverständlichste — allerdings auch problematischste — aller politischen Rechte, die ultima ratio des Widerstandsrechts, positiv in der Verfassung zu normieren: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist" (Art. 20 Abs. 4 GG). Ein gesetzgeberisches Unikum, ein Rechtstitel, den im Falle eines Falles keines der staatlichen Organe zu honorieren bereit wäre — denn gerade deren Rechtlosigkeit, einschließlich jener der Verfassungsgerichtsbarkeit, ist ja gerade die Voraussset-zung, unter der das Widerstandsrecht aktualisiert wird.

So sehr die Verlagerung der politischen Konflikte auf eine pseudo-verfassungsrechtliche Ebene das parlamentarische System stören muß, so unverkennbar rührt diese Tendenz andererseits wiederum von bestimmten Störungen des parlamentarischen Kräftespiels her. Zum ersten: Wenn man die . eigentlichen" politischen Zielsetzungen und Konflikte ins Verfassungsrecht transponiert, so werden die parlamentarischen Integrationsprozesse um eben diese Dimensionen ärmer. Dies setzt die parlamentarische Politik und ihre Organe zu Unrecht in ihrer Bedeutung herab. Zum zweiten: Das politisch-programmatische Pochen auf die Verfassung ist nicht so sehr die Eigentümlichkeit einer bestimmten politischen Richtung, sondern vielmehr in erster Linie durch die parlamentarische Rollenverteilung bedingt. Eine Partei, die über viele Legislaturperioden hinweg in einer fast aussichtslosen Opposition steht und dadurch politisch frustriert wird, verfällt eher der Neigung, ihre politischen Ziele statt auf der parlamentarischen Bühne auf der des Verfassungsrechts zu manifestieren. Dies war das Schicksal der SPD zwischen 1949 und 1966. Die jeweilige Opposition „weicht aus in die Dritte Gewalt" Wenn die Oppositionsrolle zum Dauerzustand wird, kann sich das Ausweichen auf die Dritte Gewalt als eine der vielen möglichen Formen der politischen Regression verfestigen. (Eben darin lag ja das politische Verdienst Herbert Wehners: die SPD davon abgebracht zu haben, sich in einem , Erst-recht" -Trotz mit der Rolle der ewigen Minderheit abzufinden, deren einzige sterile Befriedigung darin liegt, niemals den Versuchungen der Macht auf Kosten der programmatischen Reinheit nachgegeben zu haben.) Auf jeden Fall trägt eine allzulange festgelegte Rollenverteilung in einem parlamentarischen System zu seiner Desintergration bei und enthält die Gefahr, daß die Opposition ihrerseits ein politisches Verhalten annimmt, das ihre Desintegration aus der Mitte des politischen Systems verstärkt.

Immerhin hat die Opposition als Ganzes nach dem parlamentarischen Rollenwechsel 1969 trotz aller Drohungen schließlich darauf verzichtet, wegen der Ostpolitik das Verfassungsgericht anzurufen; freilich, die Bayerische Staatsregierung und die CSU scherten beim Grundvertrag letztlich doch aus. Allerdings darf man sich grundsätzlich über das , Aus-weidien'der Opposition in die Dritte Gewalt nicht allzusehr wundern. Denn welche von den politischen Kräften sonst soll sie überhaupt in Anspruch nehmen? Die Möglichkeit für eine parlamentarische Minderheit, der Mehrheit in den Arm zu fallen, falls diese die Verfassung anzutasten droht, wurde ja nicht ohne Grund in der Verfassung vorgesehen. Es kann also bei der Kritik solchen Verhaltens nicht um das Prinzip gehen, sondern nur um dessen mehr oder weniger sinnvollen Gebrauch.

Immer dann, wenn sich ein politisches Interesse voreilig die Würde des Verfassungsauftrags überstreift, täuscht es zunächst über seine Legitimationsgrundlage. Schließlich — und das ist für das parlamentarische System der Bundesrepublik auf die Dauer das Bedrohlichste: Je mehr die politischen Kräfte dazu neigen, nur solche Interessen für achtbar zu halten, die sich direkt auf einen Verfassungsauftrag berufen können, um so stärker leisten sie dem fatalen Vorurteil Vorschub, wonach politische Interessen für sich genommen nicht nur nicht besonders anerkennenswert sind, sondern geradezu verwerflich. Diese Denunziation des Politischen muß ein parlamentarisches System auf das empfindlichste treffen, abgesehen von dem hohen Maß an Realitätsverlust, das sie bei seinen Bürgern auslösen kann. Andererseits ist gerade ein lebhaftes parlamentarisches System mit seinen wechselseitig verschränkten Initiativen und Kontrollen, mit seiner engen Koppelung von Legitimation und Sanktion geeignet, die integrativen Elemente des politischen Konflikts hervorzukehren, politischen Fehlentwicklungen indessen möglichst zu steuern.

Aber eben jene Parallelität zwischen parlamentarischer Rollenverteilung und der Reklamation der materialen Verfassung läßt wiederum Hoffnungen zu. Der parlamentarische Machtwechsel von 1969 mit seiner Umverteilung der Rollen hat einen großen Teil jener Bürger mit dem politischen System der Bundesrepublik versöhnt, die es vorher schwer hatten, sich damit zu identifizieren; waren sie doch bis dahin politisch zu kurz'gekommen. Das Integrationssurrogat der materialen Verfassung wird also in jenem Maße entbehrlich, in dem die originär parlamentarische Verfassungspraxis mit der real erfahrenen Chance des Machtwechsels die Formen der politischen . Ersatzbefriedigung'hinfällig werden läßt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, in: Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, Berlin 19682, S. 120.

  2. Wilhelm Hennis, Verfassung und Verfassungswirklichkeit. Ein deutsches Problem, Tübingen 1968, S. 5, Anm. 1.

  3. Martin Kriele, Das Grundgesetz im Parteienkampf, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 1973, S. 129 ff. Hervorhebung durch Kriele.

  4. Thomas Ellwein, Das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1973’, S. 104.

  5. So heißt es in Art. 125: „Gesunde Kinder sind das köstlichste Gut eines Volkes“; in Artikel 131: „Die Schulen sollen nicht nur Wissen und Können vermitteln, sondern auch Herz und Charakter bilden" sowie: „Die Mädchen sind außerdem in Säuglingspflege, Kindererziehung und Hauswirtschaft besonders zu unterweisen". Was immer man von solchen Vorstellungen halten mag, sie sind kein Gegenstand des Verfassungsrechts

  6. Thomas Ellwein, a. a. O.

  7. Martin Kriele, a. a. O.

Weitere Inhalte

Robert Leicht, geb. 1944, Studium der Rechte in Berlin und Saarbrücken, seit 1970 Leitartikler (Innenpolitik) bei der „Süddeutschen Zeitung", München. Veröffentlichungen: Obrigkeitspositivismus und Widerstand, in: Gedächtnisschrift für Gustav Radbruch, herausgegeben von Arthur Kaufmann, mit einem Geleitwort von Gustav Heinemann, Göttingen 1968; Von der Hermeneutik-Rezeption zur Sinnkritik in der Rechtstheorie, in: Rechtstheorie, Ansätze zu einem kritischen RechtsVerständnis, herausgegeben von Arthur Kaufmann, Karlsruhe 1971; mehrere Aufsätze zu Fragen der Verfassungsund Deutschlandpolitik in den »Frankfurter Heften“ und im »Merkur".