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Um eine westliche Konzeption der Koexistenz und Zusammenarbeit | APuZ 5/1974 | bpb.de

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APuZ 5/1974 Um eine westliche Konzeption der Koexistenz und Zusammenarbeit Erwiderung auf den Beitrag von Ernst Martin: „Extremistenbeschluß und demokratische Verfassung" Wer ist ein Verfassungsfeind? Stellungnahme zu Hermann Borgs-Maciejewskis Erwiderung

Um eine westliche Konzeption der Koexistenz und Zusammenarbeit

Marshall D. Shulman

/ 41 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der Überblick und die Analyse der Beziehungen zwischen der westlichen Welt, speziell Amerika, und der Sowjetunion geht aus von einer Bestandsaufnahme der heute und in absehbarer Zukunft möglichen Kontaktebenen. Gemeinsame Interessenlagen — aber auch Konfliktpunkte — sind in den folgenden Bereichen festzustellen: auf der Ebene des strategisch-militärischen Wettrüstens, einschließlich der konventionellen Waffen, sowie auf der politischen und wirtschaftlichen Ebene; während vom Bereich des ideologischen Konflikts eine ständige Gefährdung ausgeht, vermögen andererseits die kulturellen Beziehungen und die praktische Kooperation auf zahlreichen technisch-wirtschaftlichen Gebieten eine Stabilisierung der Beziehungen zu erreichen. Diese beiderseitige Ausgangsposition wird sodann konkretisiert durch eine Analyse der sowjetischen Auffassungen über das gegenwärtig praktizierte System kooperativer Beziehungen. Vor allem die folgenden Faktoren haben einen — mehr oder weniger wechselnden — Einfluß auf die sowjetische Westpolitik: die Situation der sowjetischen Wirtschaft, das Erreichen der militärisch-strategischen Parität sowie die Rücksichtnahme auf Westeuropa und Japan als neue Machtzentren, vornehmlich von Bedeutung im Hinblick auf mögliche Entwicklungen in China und Osteuropa. Nach dieser Abgrenzung der wechselseitigen Interessenund Konfliktslagen wird der Versuch unternommen, sowohl generelle Prinzipien als auch spezielle Kriterien für die amerikanische Außenpolitik gegenüber der Sowjetunion zu formulieren. Ihr Ziel sollte es sein, die Sowjetunion für die konstruktive Beteiligung an der Entwicklung eines internationalen Systems zu gewinnen, das die notwendigen Veränderungen der Zukunft ohne Gewaltanwendung ermöglicht.

Das Spannungsbarometer ist während der letzten 26 Jahre der amerikanisdi-sowjetisdien Beziehungen viele Male gestiegen und gefallen. Wenn auch einige Leute befürchten, daß das gegenwärtige Nachlassen der Spannung nicht mehr als eine kurze Windstille ist, besteht doch Grund zu der Annahme, daß wir auf dem Weg zu einem neuen Stadium sind. Wie jedoch dieses neue Stadium beschaffen sein wird, ist in unseren öffentlichen Gesprächen noch nicht deutlich geworden; und wir haben auch noch nicht begonnen, uns selbst über die Richtung klarzuwerden, in die wir die Dinge lenken wollen — soweit das in unserer Macht steht. Trotz der derzeit verwor

I. Ebenen der Beziehungen zwischen den USA und der Sowjetunion

Für diejenigen, die von Wörtern oder Sätzen leben, die die ganze Situation mit einem Blick erfassen, gibt es keinen einfachen Ersatz für den Begriff „Kalter Krieg". Dieser Ausdruck wurde einmal von dem verstorbenen George Lichtheim definiert als „konkurrierende Versuche, das Gleichgewicht der Kräfte (zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten) ohne offene Zuflucht zur Gewalt zu verändern". In dieser Definition hat der Begriff noch immer eine gewisse Gültigkeit, obwohl er eigentlich bestimmte Formen der Zusammenarbeit, wie sie in der letzten Zeit aufgetreten sind, nicht beinhaltet; darüber hinaus ist der Begriff mit solch gefühlsmäßigem Ballast versehen, solchem Beigeschmack absoluMit freundlicher Genehmigung der Herausgeber dem Oktoberheft 1973 der New Yorker Vierteljahreszeitschrift Foreign Affairs entnommen. (Copyright by the Council on Foreign Relations Inc., New York.)

Übersetzung: Therese Müller, Flensburg. renen Verhältnisse können wir uns dieser Aufgabe und den drängenden Entscheidungen nicht entziehen, und wir sollten mehr dabei im Auge haben als nur das, was unsere Nation im Augenblick beschäftigt.

Lassen Sie mich mit drei Fragen beginnen: Wie sollte der gegenwärtige Stand unserer Beziehungen mit der Sowjetunion charakterisiert werden? Sind wir Zeugen eines historischen Wandels in der Außenpolitik der Sowjetunion? Welche Einstellung wollen wir zu unseren Beziehungen mit der kommunistischen Welt haben, welche Ziele wollen wir verfolgen, nach welchen Kriterien wollen wir die eine gegen die andere Politik abwägen? ter und unversöhnlicher Feindseligkeit, daß er es verdient, aus dem Verkehr gezogen zu werden.

Auch die Doppeldeutigkeit des Wortes „Entspannung“, dessen Verwendung weit ver-Hermann Borgs-Maciejewskl Erwiderung auf den Beitrag von Ernst Martin:

„Extremistenbeschluß und demokratische Verfassung" (B 50/73)..................... S. 21 Ernst Martin Wer ist ein Verfassungsfeind? Stellungnahme zu Hermann Borgs-Maciejewskis Erwiderung......................... S. 26 breitet ist, hat zu großer Verwirrung geführt. In seiner einfachsten Bedeutung meint es ein Nachlassen der Spannung, aber einige glauben, daß es gleichzusetzen ist mit „Annäherung", während andere der Ansicht sind, daß es nur eine subjektive Abschwächung der Spannungssymptome ohne eine wirkliche Veränderung ihrer Ursachen bezeichnet; um davon eine grundlegendere Mäßigung im Verhältnis der Gegner zueinander zu unterscheiden, wird manchmal der Ausdruck „wahre Entspannung" verwendet.

Die Sowjets ziehen den Begriff „friedliche Koexistenz" vor, den sie allgemein als eine Form des Kampfes zwischen Staaten mit unterschiedlichen Gesellschaftssystemen ohne die Zuflucht zum Krieg definiert haben, wobei sie aber besonders das Andauern des ideologischen Konflikts betonen. In früheren Zeiten deutete der Begriff auf einen vorübergehenden und nur taktischen Umschwung in den Beziehungen hin, aber im neueren sowjetischen Gebrauch beinhaltet der Ausdruck „friedliche Koexistenz" mehr und mehr eine langfristige politische Strategie. In der Erklärung über die „Grundprinzipien der Beziehungen" zwischen den beiden Staaten, die beim Moskauer Gipfeltreffen von 1972 unterzeichnet wurde, akzeptierten die Vereinigten Staaten die Feststellung, daß es im atomaren Zeitalter keine Alternative zur „friedlichen Koexistenz" gibt. Diese Zustimmung wird von der UdSSR als die grundlegende vertragliche Basis für die „Normalisierung" des Verhältnisses betrachtet. Im Kontext dieser Erklärung über die Grundprinzipien beinhaltet der Begriff also eine Mischung von Rivalität, Beschränkung und Kooperation.

Klammert man Fragen der Definition aus, so bleibt als wichtigstes Sachmerkmal von „friedlicher Koexistenz", daß sie eine vielschichtige Beziehung ist; und die Bewegungen auf den verschiedenen Ebenen, auf denen die beiden Nationen sich jetzt gegenseitig beeinflussen, verlaufen nicht immer in derselben Richtung. Es ist deswegen erforderlich, eine differenziertere Analyse der Beziehungen vorzunehmen, um die unterschiedlichen Aspekte unserer Interessen gegeneinander abzusetzen.

Auf eine knappe Form gebracht, können wir die folgenden sieben Ebenen in den Beziehungen zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten unterscheiden: 1. Die Ebene des strategisch-militärischen Wettrüstens. Offensichtlich muß diese Ebene zunächst betrachtet werden, denn beide Seiten sind zu der nüchternen Erkenntnis gekommen, daß es ihr dringendstes Bedürfnis ist, einen allgemeinen atomaren Krieg zu vermeiden. Die Gespräche über die Begrenzung strategischer Waffen (SALT) haben einen wichtigen Lernprozeß in Gang gesetzt, durch den die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten zu einer vernünftigeren Auffassung ihrer wahren Sicherheitsinteressen kommen; sie beginnen einzusehen, daß ihre strategischen Arsenale ihnen nur begrenzte Vorteile verschaffen, daß ein unbeschränktes strategisches I Wettrüsten zu erhöhten Gefahren und hohen Kosten führt, und es wird ihnen klar, wie wünschenswert und schwierig es ist, ein Gleichgewicht auf niedrigerer Ebene zu finden. Trotz SALT jedoch hat sich das Wettrüsten mit strategischen Waffen noch nicht stabilisiert, denn beide Länder fahren fort, mehr und effektivere Kernwaffen herzustellen. 2. Die Ebene des Wettrüstens mit konventionellen Waflen. Während des vergangenen Jahrzehnts haben beide Länder ihre Fähigkeit (zur konventionellen Kriegführung stark entwickelt, und es fällt ihnen immer leichter, auch auf entfernte Konflikte mit modernen Waffen einzuwirken. Obwohl sich beide Seiten zu bemühen scheinen, einer direkten Kon-1 frontation aus dem Wege zu gehen, bleibt hier eine potentielle Gefahrenquelle für das [kommende Jahrzehnt, denn man hat noch keinen Kodex der Spielregeln für die Einrichtung von Stützpunkten und den Einsatz konventioneller Streitkräfte in Gebieten von strategischer Bedeutung und politischer Unbe-, ständigkeit ausgearbeitet. Eine noch unmittelbarere Bedrohung ist der umfangreiche und Waffenhandel mit den Entwicklungsländern, der wahrscheinlich lokale Konflikte verschlimmert und die Gefahr erhöht, daß die Großmächte darin verwickelt werden.

3. Die Ebene der politischen Rivalität. Unter den gegenwärtigen wechselhaften Bedingungen wetteifern beide Großmächte darum, durch politische Schachzüge an Einfluß in Europa, dem Nahen Osten, Asien, Afrika und Lateinamerika zu gewinnen. Die Beilegung des deutschen Problems, das bis vor weniger als fünf Jahren die maßgebliche und schier unlösbare Streitfrage zwischen den USA und der UdSSR zu sein schien, war ein Schlüsselfaktor bei der Öffnung eines Weges zu einer generellen Verbesserung der Beziehungen und auch zu einer Periode flexiblen Manövrierens um den Einfluß in Westeuropa.

Die Sowjetunion ist keine Status-quo-Macht — außer in Osteuropa —, und sie befindet sich in einer historischen Entwicklungsphase, in der sie weltweite Präsenz und weltweiten Einfluß sucht, so wie es ihrem Status als Großmacht angemessen ist. Sie wird in ihren Bemühungen ermutigt durch ihre Auffassung, daß die Vereinigten Staaten den Zenit ihres Einflusses als Weltmacht überschritten haben.

Von besonderer Dringlichkeit sind nach Ansicht der Sowjets ihre Bestrebungen, die sich anbahnenden Beziehungen zwischen den USA und der Volksrepublik China zu begrenzen und die sich ausweitenden diplomatischen Aktivitäten Chinas auf der Weltbühne — besonders in West-und Osteuropa — im Zaume zu halten. Was aber auf der politischen Ebene der Beziehungen auch zur Kenntnis genommen werden muß, sind einige Formen der Kooperation. Im Nahen Osten, den beide Seiten als Krisengebiet ansehen, wird der politische Wettstreit begleitet von Konsultationen und einem beträchtlichen Grad der Zurückhaltung, um so die Gefahr einer direkten Konfrontation mit der anderen Seite zu verringern. Es ist auch zu Konsultationen und stiller Kooperation in bezug auf Südostasien und Berlin gekommen, wo die Sowjetunion Beziehungen zu ihren Verbündeten gegen weitreichendere Gegenleistungen abwog.

4. Die Ebene wirtschaftlicher Konkurrenz und Zusammenarbeit. Im Rahmen der Wirtschaftsbeziehungen können der Handel und die Wirtschaftshilfe als Mittel eingesetzt werden, um politischen Einfluß zu gewinnen, besonders in Gebieten, die über reiche Energiequellen verfügen. In Europa und Japan, wo die Vereinigten Staaten sich im Bereich des Handels und der Währung und mit Investitionen engagiert haben, ist die Sowjetunion mehr als nur ein interessierter Zuschauer. Die Kooperation in den Wirtschaftsbeziehungen spiegelt sich in den massiven Anstrengungen der Sowjets, ihre Importe von Getreide, Maschinen und Verbrauchsgütern auszudehnen und westliche Märkte für sowjetische Güter zu erschließen, um diese Importe in Zukunft finanzieren zu können. Der amerikanisch-sowjetische Handel ist von wenig mehr als 200 Millionen Dollar im Jahre 1971 auf 642 Millionen Dollar im Jahre 1972 angewachsen; für das Jahr 1973 wird der Handel ein Volumen von 1, 4 Milliarden Dollar erreichen, wobei die Agrarprodukte einen Anteil von fast 800 Millionen haben. Zur Zeit übersteigen die sowjetischen Importe aus den Vereinigten Staaten die Exporte um mehr als das Fünffache.

Von noch größerer Bedeutung ist die Tatsache, daß sich die Sowjets in verstärktem Maße um langfristige und umfangreiche Investitionen des Westens bemühen, die ihnen bei der Erschließung der Bodenschätze in Sibirien und anderen Gebieten behilflich sein sollen. 5. Die Ebene des ideologischen Konflikts.

Obwohl die sowjetische Politik durch einen wachsenden Pragmatismus gekennzeichnet ist, beharrt die sowjetische Führung darauf, den ideologischen Kampf gegen einen Feind, unter dem der „amerikanische Imperialismus" zu verstehen ist, fortzuführen und zu intensivieren; das gilt sowohl für das eigene Land als auch für das Ausland. Dieses Beharren hat offensichtlich seine Wurzeln in der Politik bestimmter Organisationen innerhalb des sowjetischen Systems, aber es wirft Probleme in der Außenpolitik auf; denn die Tatsache, daß die Sowjetunion ständig einen Feind von außen braucht, um ihr System der politischen Kontrolle zu motivieren, setzt der Verwirklichung ihrer Politik der „friedlichen Koexistenz" Grenzen. In den Vereinigten Staaten wurden die ehemals heftigen Äußerungen ei-5 ner antikommunistischen. Ideologie dadurch entschärft, daß ein konservativer amerikanischer Präsident, der früher auch diese Richtung vertrat, sich jetzt zum Werkzeug der Versöhnung macht. Die praktisch denkenden Amerikaner sind geneigt zuzugestehen, daß auf dieser Ebene der Beziehungen über die relativen Leistungen beider Systeme gesprochen werden sollte, und zwar ohne begleitenden Propagandawortschwall.

6. Die Ebene der kulturellen Beziehungen. In einer Zeit, da die Technologie des Verkehrs und der Kommunikation schnelle Fortschritte gemacht hat, wird das internationale Leben zwangsläufig durch eine wachsende gegenseitige Durchdringung der verschiedenen Gesellschaftssysteme charakterisiert. Hierdurch ergeben sich ernste Schwierigkeiten für das Funktionieren des sowjetischen Systems der politischen Kontrolle, in der Sowjetunion selbst und in Osteuropa. Darüber hinaus wird die Erweiterung menschlicher Kontakte im Westen als ein notwendiger Bestandteil der „friedlichen Koexistenz“ betrachtet; man glaubt, daß diese Kontakte dazu beitragen könnten, feindliche Klischeevorstellungen zu zerstören und noch bestehende feindliche Gefühle zu mäßigen. Dieses Problem wurde auf dramatische Weise illustriert, als die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa in Helsinki zusammentrat: Die westlichen Bemühungen um die Freiheit der Information und des Reiseverkehrs wurden vereitelt durch die sowjetischen Anstrengungen, den kulturellen Austausch auf kontrollierbare Kanäle zu beschränken. Nirgendwo zeigen sich die Unterschiede zwischen dem sowjetischen und dem westlichen System deutlicher als bei den kulturellen Beziehungen. Wie ungleich verfahren wird, läßt sich weniger in der darstellenden Kunst als vielmehr beim Austausch von Wissenschaftlern, Studenten und Journalisten beobachten.

7. Die Ebene der praktischen Kooperation. Im Laufe von zwei Gipfeltreffen unterzeichneten die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten mehr als zehn bilaterale Abkommen, die sich auf Bereiche der praktischen Zusammenarbeit erstrecken: z. B. Umweltschutz, Medizin und öffentliche Gesundheitsfürsorge, Weltraum, Naturwissenschaft und Technologie, Landwirtschaft, Ozeanographie, Verkehr, Handel und die friedliche Nutzung der Atomenergie. Viele dieser Abkommen sehen Gemischte Kommissionen zur Ausführung der Vereinbarungen vor. Obwohl diese Abkommen nur begrenzte Bedeutung haben und sich auf Randgebiete erstrecken, erfüllen sie eine symbolische Funktion als ein Zeichen, daß die beiden politischen Führungen eine gewisse Gemeinsamkeit der Interessen erkennen; und sie könnten an politischer Bedeutung durchaus gewinnen, wenn das Bewußtsein für die Dringlichkeit der Umweltprobleme wächst. Zusammen mit den Abkommen, die Sicherheit, Handel, Steuern, Seefahrt und kulturelle Beziehungen betreffen, machen diese Formen der Kooperation das „Geflecht der gegenseitigen Abhängigkeit"

aus, an dem die beiden Länder intensiv arbeiten. Etliche allgemeine Bemerkungen sind nötig, um diese kontrapunktische Analyse zu vervollständigen. Obwohl man, was die „Atomsphäre" betrifft, mit Schwankungen und Manipulationen rechnen muß, ist es doch erwähnenswert, daß der Ton der Gespräche geschäftsmäßig war, offen in der Anerkennung von Unterschieden, aber frei von der gefühls-bestimmten Überbetonung dieserUnterschiede, die frühere Perioden charakterisierte.

Es ist auch wichtig, daß sich diese Beziehung vor dem Hintergrund einer schnellen politischen Veränderung entwickelt hat. Dabei ist der Abbau der Spannungen zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten daran beteiligt, daß die internationale Politik weniger durch starke Polarisation als vielmehr durch Beweglichkeit und das Verwischen von Trennlinien bestimmt wird. Nichtmilitärische Formen der Macht, besonders die wirtschaftlichen und technologischen, haben eine wachsende Bedeutung als Quellen des politischen Einflusses gewonnen. Die Rückkehr Japans und Westeuropas als bedeutende Faktoren in der Weltpolitik und das Auftauchen Chinas aus der diplomatischen Isolation haben die Bühne der internationalen Politik verändert. Vor diesem Hintergrund wird es klar, daß die sowjetisch-amerikanische Beziehung weniger die dominante Achse der internationalen Politik ist, als sie es bis jetzt war, und, mehr noch, daß die bedeutenden verändernden Kräfte in der Welt weniger der Kontrolle der beiden Supermächte unterliegen, als jede von ihnen in früheren Zeiten für selbstverständlich gehalten hatte. Der Riß, der zwischen den Industrienationen und den Entwicklungsländern klafft, ist einer der verhängnisvollsten Trends, die auf die Möglichkeit eines gewaltigen anarchistischen Bruches im internationalen System hinweisen.

Schließlich ist uns stärker bewußt geworden, wie eng die internationale Politik jedes Landes mit der Beziehung zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten verflochten ist. Gemeinsam betrachten wir das faszinierende Schauspiel der Gipfeltreffen zwischen einem Generalsekretär der kommunistischen Partei und einem Präsidenten, die vieles gemeinsam haben — beide sind konservative, nüchterne Realisten, beide vertraten früher die harte Linie. Hinter dem Präsidenten steht eine aus dem Gleichgewicht geratene Gesellschaft, in der sich eingewurzelte militärische Interessen gegen wachsende antimilitaristische Strömungen und die Forderung nach einer Verringerung des amerikanischen Engagements im Ausland zu behaupten suchen, wobei die standhaftesten Verfechter der „friedlichen Koexistenz" sich unter den Vertretern der Geschäftswelt finden. Hinter dem Generalsekretär steht eine Gesellschaft der Paradoxa: militärisch stark, aber wirtschaftlich schwach, streng kontrolliert, aber ängstlich und unsicher, eine Gesellschaft, in der sich die Befürwortung der „friedlichen Koexistenz" durch die Verfechter einer wirtschaftlichen Modernisierung gegen die militärischen Interessen und den orthodoxen Parteiapparat richtet, dessen wohlerworbenes Anrecht auf einen „imperialistischen Feind" sich verbindet mit der Furcht vor den Folgen einer Modernisierung für das System.

Offensichtlich hängt der künftige Gang der Ereignisse nur teilweise von den politischen Führern ab, wie engagiert sie auch immer sein mögen; wir müssen unseren Blick auf die Innenpolitik und die verborgenen Kräfte richten, die in den beiden Gesellschaftssysteme wirksam sind, um die Aussichten für ein Fortbestehen des gegenwärtigen Stadiums ihrer Beziehungen beurteilen zu können. Die amerikanische Seite dieser Gleichung ist unseren Lesern sicher bekannt. Im folgenden Abschnitt werden wir uns einer Analyse der sowjetischen Auffassung der genannten Beziehungen zuwenden und die Faktoren untersuchen, die das Verhalten der Sowjets beeinflussen.

II. Die sowjetische Auffassung über kooperative Beziehungen

Sind wir Zeugen einer historischen Wandlung in der sowjetischen Außenpolitik? Nach Leonid Breshnjew ist die Antwort ein emphatisches Ja. Im Mai 1973 berichtete der Generalsekretär anläßlich seines Bonn-Besuches, welches außenpolitische Ziel sich der sowjetische Parteikongreß 1971 setzte, das 1973 vom Plenum des Zentralkomitees bestätigt wurde, nämlich „eine radikale Wendung in Richtung auf Entspannung und Frieden auf dem europäischen Kontinent" zu vollziehen. Um bessere

Lebensbedingungen für das sowjetische Volk zu erreichen, habe, so sagte er, die sowjetische Führung sich entschieden von der Isolation und Autarkie abgewendet und setze nun ihre Energien für einen friedlichen Aufbau im eigenen Land ein und für eine umfassende Kooperation mit der Welt draußen.

Dann, am 22. Juni 1973, ging Breshnjew in einem Gespräch mit Vertretern der amerikanischen Wirtschaft in Washington noch einen Schritt weiter. Rückblickend auf eine 42jähri-

ge Partei-und Regierungserfahrung sagte er: „Wir waren sicherlich Gefangene jener alten Tendenzen, jener alten Bestrebungen, und bis heute haben wir jene Fesseln nicht gänzlich sprengen können ..." Der Kalte Krieg, sagte er, „bremste die Entwicklung menschlicher Beziehungen, normaler menschlicher Beziehungen zwischen den Nationen und verlangsamte den wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Fortschritt. Und ich frage Sie, meine Herren, wie ich mich selbst frage, war das eine gute Zeit? Diente sie den Interessen der Völker? Und meine Antwort darauf lautet nein, nein, nein und nochmals nein". Zusammenfassend sagte er: „ Es war und ist mein fester Glaube, daß die menschliche Vernunft, der gesunde Menschenverstand und der menschliche Geist immer über den Obskurantismus triumphieren werden.“

Und noch einmal in Washington: „Ich möchte besonders betonen, daß wir überzeugt sind, daß wir auf der Basis eines wachsenden gegenseitigen Vertrauens ständig vorankommen werden. Wir wollen, daß die weitere Entwicklung unserer Beziehung ein im höchsten Maße beständiger Prozeß wird — und darüber hinaus einer, der nicht rückgängig zu machen ist."

Daß dies die herrschende Haltung der sowjetischen Führung ist, wurde unterstrichen durch die Verleihung des Leninfriedensprei-ses an den Generalsekretär am l. Mai dieses Jahres und eine Welle von Lobeshymnen für Breshnjew in der sowjetischen Presse wegen seines „persönlichen Beitrags" zum „Friedensprogramm" der Partei.

Im übrigen Teil der Welt, die andere „Friedenskampagnen“ hat kommen und gehen sehen, wurden Breshnjews Versicherungen mit einer gewissen Reserve aufgenommen. Sind sie mehr als eine taktische Wendung in Richtung auf eine Entspannungspolitik, um wirtschaftliche Hilfe und politische Fortschritte zu erreichen? Wird die neue Politik von Dauer sein?

Zweifellos verschafft der gegenwärtige Kurs der Sowjetunion taktische Vorteile, aber es gibt Gründe zur Annahme, daß etwas Grundsätzlicheres mitspielen könnte, wenn die sowjetische Führung auf bestehende „objektive Faktoren" reagiert, die eine langfristige Festlegung auf eine Politik der Entspannung draußen und eine Konsolidierung in der sowjetischen Sphäre verlangen. Es ist unbedingt erforderlich, daß die sowjetische Politik betrachtet wird aus der Perspektive 20jähriger zögernder, inkonsequenter, mangelhafter, auf Widerstand stoßender Bemühungen, das stalinistische Erbe in der sowjetischen Außenpolitik abzuschütteln. In einem bezeichnenden Sinne stellt Breshnjews Außenpolitik den Höhepunkt einer Entwicklung dar, die Chruschtschow begonnen hatte, aber nicht fortführen konnte.

Seit dem Gipfeltreffen in Genf im Jahre 1955 und dem richtungweisenden Parteikongreß von 1956 versuchte Chruschtschow, sich von der leninistischen Doktrin von der „schicksalhaften Unvermeidlichkeit des Krieges" und dem stalinistischen Geist der Isolation und der uneingeschränkten Feindschaft loszusagen und eine Basis für „geschäftsmäßige" Beziehungen mit dem Westen zu schaffen. Mehrere Faktoren kamen zusammen, um die folgerichtige Verwirklichung seines Vorhabens zu verhindern: sein eigenes überschäumendes Temperament, die Stärke der politischen Opposition, die er mit einer Reihe von Umbildungen in der Partei gegen sich aufbrachte, und die fatale Wirkung einer Reihe von Mißgeschicken: der U-2-Affäre, der Mißerfolge in der Landwirtschaft, der Episode mit den kubanischen Raketen und des offenen Konfliktes mit den chinesischen Kommunisten. Durch seine unbesonnenen Anstrengungen, politisches Kapital aus dem ersten sowjetischen Sputnik und der Interkontinentalrakete als Symbolen einer „Verschiebung des Gleichgewichts der Kräfte" zu schlagen, spornte er das amerikanische Raketenprogramm an und vergrößerte so die strategische Unterlegenheit der Sowjets noch weiter. Mit seinem polemischen Redeschwall über „Kriege der naB tionalen Befreiung" beschwor er die amerikanischen Vorbereitungen für eine „Gegenrevolte" herauf und weckte die Befürchtungen, die zu der amerikanischen Verwicklung in Vietnam beitrugen. Trotz allem war es Chruschtschow, der den Prozeß der Entstalinisierung zu beginnen wagte, der die politischen Bedingungen des atomaren Zeitalters erkannte und die möglichen Vorteile einer langfristigen politischen Strategie der „friedlichen Koexistenz" voraussah.

Während ihrer ersten fünf Jahre von 1964 bis 1969 war die Breshnjew-Kossygin-Gruppe mit drei Hauptproblemen beschäftigt: erstens mit der Konsolidierung einer übereinstimmenden Führung im eigenen Lande, zweitens mit den Auswirkungen des Vietnamkrieges und der von ihnen erkannten Neigung der Amerikaner zur Intervention und drittens mit den beschleunigten Anstrengungen, strategische Streitkräfte, eine große moderne Marine und modernisierte und bewegliche Bodenstreitkräfte aufzubauen. Während der sechzehn Monate zwischen dem ersten amerikanischen Vorschlag von SALT und der ersten sowjetischen Antwort wütete eine Debatte, ob es wünschenswert und möglich sei, eine Stabilisierung des strategischen Wettrüstens mit den Amerikanern zu vereinbaren. Dann kam die Tschechoslowakei, und ein weiteres Jahr verging, während das strategische Wettrüsten um neue Waffen erweitert wurde.

Drei Ereignisse im Jahre 1969 trugen dazu bei, Möglichkeiten für eine weitere Entwicklung der sowjetischen Politik zu eröffnen: In der Bundesrepublik wurde Willy Brandt zum Kanzler gewählt, dessen erste Schritte in der Ostpolitik die Chance boten, das Hindernis der deutschen Frage aus dem Weg zu räumen; in den Vereinigten Staaten wurde Richard Nixon Präsident, der erklärte, daß eine „Ära der Verhandlungen" erwogen werden könne; im November begannen die SALT-Verhandlungen. Vielleicht war hier die Dialektik am Werke, jedenfalls fand das folgende Jahr die sowjetischen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten in einer Talfahrt, als Ergebnis der Ereignisse im Nahen Osten und in der Karibik, während die SALT-Verhandlun-gen über die Frage ins Stocken kamen, ob zuerst Offensiv-oder Defensivwaffen begrenzt werden sollten.

Die entscheidende Wendung in der sowjetischen Politik und in den sowjetisch-amerikanischen Beziehungen kam in den ersten Monaten des Jahres 1971. Zu diesem Zeitpunkt übernahm Breshnjew persönlich die Verantwortung für das Verhältnis zu den Vereinigten Staaten und der Bundesrepublik und die sowjetische Position bei den SALT-Verhandlungen. Zwischen Breshnjew und Nixon wurde ein Weg für vertraulichen Gedankenaustausch geschaffen, der zu dem Abkommen vom Mai 1971 führen sollte, durch das die Gespräche über die Begrenzung strategischer Waffen wieder in Gang kamen. Vietnam begann auf seine eigene dialektische Weise an politischer Bedeutung zu verlieren. Im Februar wurde die interne Debatte in der Sowjetunion über den neunten Fünfjahresplan und die Politik, die auf dem 24. Parteikongreß im März verkündet werden sollte, dadurch abrupt beendet, das Breshnjew sich mit seinem persönlichen Prestige entschieden für eine „Normalisierung" der Beziehungen zu den Vereinigten Staaten einsetzte. Die Entwicklung, die in dem Moskauer Gipfeltreffen vom Mai 1972 ihren Höhepunkt finden sollte, wurde verstärkt durch die Hinwendung der chinesischen Politik zu einer beweglicheren Diplomatie und die Aufnahme von Kontakten mit den Vereinigten Staaten, wodurch verbesserte sowjetische Beziehungen zu den USA sowohl möglich als auch nötig wurden.

Unter den Faktoren, die für den Gang der Entwicklung in der sowjetischen Politik verantwortlich sind, scheinen die folgenden sechs von besonderer Wichtigkeit zu sein: 1. Die Lage der sowjetischen Wirtschaft ist eindeutig die primäre Determinante in der gegenwärtigen Außenpolitik. Der laufende Fünfjahresplan, der 1971 begann, sah eine ausgedehnte Modernisierung der Technologie vor, Verbesserungen in der Produktivität und große Zuwachsraten bei den Verbrauchsgütern, aber die sowjetische Wirtschaft konnte die Erwartungen bei weitem nicht erfüllen. Schlechte Ernten führten zu einer beträchtlichen Verknappung von Lebensmitteln und Futtergetreide. Die Folgen niedriger landwirtschaftlicher und industrieller Produktivität und der Mangel an industriellen Arbeitskräften verursachten diese negative Entwicklung gemeinsam. Statt daß die sowjetische Führung den politisch schmerzvollen Entschluß faßte, wesentliche wirtschaftliche Reformen durchzuführen, entschied sie sich für massive Anstrengungen, ihre Fehlbeträge dadurch auszugleichen, daß sie den Handel und den Zustrom von fortgeschrittener Technologie und von Kapital aus dem Ausland steigerte. Um ihren Mangel an harter Währung zu beheben, sucht die Sowjetunion Hilfe beim Ausbau von Industrie-zweigen, die Produkte für westliche Märkte herstellen, und ermuntert westliches Kapital und westliche Technologie, bei der Ausbeutung von Bodenschätzen, wie z. B. ihrer großen Erdgasvorräte in Sibirien, zu helfen. Bezahlt werden soll die Erschließung dann mit dem Export dieser Bodenschätze. In seinen Gesprächen mit westdeutschen und amerikanischen Vertretern der Wirtschaft zeigte Breshnjew Möglichkeiten für ausgedehnte Gemeinschaftsunternehmungen über einen Zeitraum von 20 bis 30 Jahren auf. Damit sich diese Erwartungen erfüllen können, brauchen wir offensichtlich ein internationales Klima von verminderter Spannung. 2. Das Erreichen einer strategischen Parität mit den Vereinigten Staaten hat es der sowjetischen Führung möglich gemacht, eine Stabilisierung des strategischen Wettrüstens in Erwägung zu ziehen. Die Grundlage dafür soll das Prinzip der „gleichen Sicherheit" bilden, was nach sowjetischem Verständnis bedeutet, daß die Amerikaner nicht länger aus „Positionen der Stärke" verhandeln. Die sowjetische Führung hat zu verstehen gegeben, daß sie sich bewußt ist, daß die einzige Alternative zu dieser Stabilisierung eine nach oben gerichtete Spirale in ein immer komplexeres und kostspieligeres Waffensystem hinein bilde und daß dies die Entwicklung der sowjetischen industriellen Technologie noch weiter behindern würde. 3. Die Auffassung der Sowjets von den Vereinigten Staaten ermutigt sie in dem Glauben, daß die vom Präsidenten angebotene „Ära der Verhandlungen" eine ernst zu nehmende und dauerhafte Alternative darstellt, da sie — nach Ansicht sowjetischer Analytiker — eine realistische und notwendige Antwort auf gewisse „objektive Faktoren" ist, wie z. B. das Anwachsen der wirtschaftlichen und sozialen Probleme in den Vereinigten Staaten und der Rückgang von Macht und Einfluß Amerikas in der Welt. Diese Faktoren schaffen ihrerseits Möglichkeiten für eine relative Steigerung des politischen Einflusses der Sowjetunion in einem Klima verminderter Spannung. 4. Europa als ein auftauchendes Machtzentrum stellt nach Auffassung der Sowjets sowohl ein mögliches Problem als auch eine gute Gelegenheit dar. Sie reagierten mit dem Appell an Europa, lieber eine neutrale „Unabhängigkeit" anzustreben als eine engere atlantische Bindung an die Vereinigten Staaten. Die Sowjets hoffen, daß Europa in einem Klima verminderter Spannung, die symbolisiert wird durch die europäische Sicherheitskonferenz, seine militärischen Fähigkeiten nicht weiterentwickeln und seinen Beitrag für die Nato verringern wird. Auf dem wirtschaftlichen Sektor führt die Sowjetunion keine Nachhutgefechte gegen die westeuropäische Integration. Nachdem sie die Realität der EWG akzeptiert hat, richtet sie jetzt ihre Anstrengungen darauf, Wirtschaftsbeziehungen zwischen ihr und dem COMECON, der osteuropäischen Wirtschaftsorganisation, offenzuhalten und sie weiterzuentwickeln. In gleicher Weise führen die Auffassungen der Sowjets von der wachsenden wirtschaftlichen Stärke Japans dazu, einen Wettkampf innerhalb des „Dreiecks" der westlichen Industrie-B mächte zu erwarten und zu fördern: den Wettbewerb zwischen den Vereinigten Staaten, Westeuropa und Japan. Auch dieser Konkurrenzkampf kann wahrscheinlich eher in einem Klima der „friedlichen Koexistenz" gedeihen. 5. Sowjetische Befürchtungen in bezug auf China sind ein schwer abzuwägender Faktor in der sowjetischen Außenpolitik, aber es ist klar, daß hier eine Sache von immenser Bedeutung für die Russen vorliegt, die sowohl aktuelle wie langfristige Dimensionen hat.

Ein Aspekt bei der Hinwendung Chinas zu einer Politik der erweiterten Kontakte mit dem Westen war, daß die Sowjetunion von dem hemmenden Vorwurf der Chinesen befreit wurde, „geheime Absprachen" mit dem „Imperialismus" gegen die Politik der „friedlichen Koexistenz" zu führen. Darüber hinaus hat die Furcht vor einer chinesisch-amerikanischen Allianz oder einer amerikanischen Hilfe für China die Sowjets noch stärker ange-spomt, die „Normalisierung" ihrer Beziehungen mit den Vereinigten Staaten zu beschleunigen. Bei wenigstens drei Gelegenheiten — die erste war 1970 — hat die Sowjetunion versucht, die Vereinigten Staaten für ein Abkommen zu gewinnen, das gemeinsame Aktionen mit der Sowjetunion im Falle einer „provokativen Aktion" durch eine dritte Atom-macht — vermutlich China — vorsieht; aber der Vorschlag wurde auf amerikanisches Drängen in den Artikel IV des Abkommens über die Verhütung von Atomkriegen umgewandelt, das in Washington am 22. Juni 1973 unterzeichnet wurde.

Dieser Artikel verpflichtet die beiden Länder, im Falle eines drohenden Atomkrieges zwischen ihnen oder unter Beteiligung anderer Länder in sofortige Verhandlungen einzutreten. Laut Henry Kissinger war man der Ansicht, daß dieser Artikel und die in Artikel II enthaltene Verpflichtung, von der Bedrohung mit oder dem Gebrauch von Gewalt abzusehen, eher dazu dienen würde, die Gefahr eines Krieges zwischen Rußland und China zu verringern. Inzwischen ist Moskau mit den diplomatischen Bemühungen der Chinesen in Westeuropa beschäftigt, die vor den Gefahren einer Entspannung mit der Sowjetunion warnen, und mehr noch mit den chinesischen Anstrengungen, einen höheren Grad der Unabhängigkeit auf Seiten der Länder Osteuropas anzuregen. Die mehr als 7000 km lange Grenze zwischen der Sowjetunion und China ist eine weitere Quelle des Konflikts, den vierjährige Verhandlungen nicht haben lösen können, und die Sowjets unterhalten eine große Armee an dieser Front. Es scheint einsichtig, daß das sowjetische Interesse an normalen Beziehungen im Westen verstärkt wird durch die Notwendigkeit, ein Zweifronten-Engagement im Falle aktiver Feindseligkeiten mit China zu vermeiden.

Breshnjews Erklärung an eine nordvietname-

sische Delegation in Moskau vom Juli 1972, in der er das sowjetische Interesse an einer „gleichberechtigten und gutnachbarlichen Zusammenarbeit zwischen allen asiatischen Staaten ohne Ausnahme" darlegte, wurde als Einladung an China aufgefaßt, auf einem modus vivendi hinzuarbeiten, besonders in der Zeit nach Mao.

6. Der Wunsch der Sowjets, ihre Position in Osteuropa zu festigen, kann kürzer behandelt werden, aber er darf als einer der Faktoren, die die sowjetische Führung zu einer Politik der „friedlichen Koexistenz" treiben, keinesfalls übergangen werden. Das Fortbestehen des Nationalismus und die gesellschaftlichen und politischen Folgen einer fortschreitenden Industrialisierung wirken zusammen, um dieses Gebiet zu einem Unruheherd und anfällig für mögliche Störungen zu machen, und das sowjetische Problem der Kontrolle wird eher noch verschärft durch die wachsenden Kontakte des Westens mit den Staaten Osteuropas. Die Sowjetunion sucht Garantien dafür, daß der Westen nicht dazu beiträgt, daß diese Schwierigkeiten größer werden und daß der Westen im Falle politischer Unruhen nicht eingreift. Offensichtlich möchte die Sowjetunion nicht noch einmal — wie damals durch die Tschechoslowakei — in Verlegenheit gell bracht werden, obwohl es keinen Zweifel geben kann, daß die sowjetische Führung entschlossen ist, ihre Position in Osteuropa, auf die sie durch den Ausgang des Zweiten Weltkrieges einen Anspruch zu haben glaubt, beizubehalten. Außerdem ist sie der Ansicht, daß ihre Stellung dort aus Gründen der Sicherheit und als Symbol ihres historischen und ideologischen Fortschritts erforderlich ist. Obwohl das Klima der Entspannung für die Sowjetunion Komplikationen in Osteuropa und im eigenen Land schafft, ist es ihrer Meinung nach eine wichtige Voraussetzung dafür, daß der Westen den Status quo in dem Teil der Welt, den die Sowjets als ihre Sphäre ansehen, akzeptiert. Der Fortschritt, der bei der Anerkennung der DDR gemacht wurde, wird als ermutigendes Zeichen für den Erfolg dieser Politik betrachtet.

Diese sechs Faktoren umfassen jedoch nicht das ganze Problem, denn Außenpolitik besteht in der Sowjetunion, wie überall, nicht allein in rationalen Unterscheidungen unter verschiedenen außenpolitischen Alternativen — auch die Innenpolitik spielt mit hinein. Wie Breshnjew andeutete, ist seine Annäherung an eine vollere Verwirklichung der Politik der „friedlichen Koexistenz" nicht ohne Opposition geblieben, und gelegentliches Grollen unheilverkündender Prophezeiungen kann noch immer als Mahnung angesehen werden, daß gewisse Kreise in der Sowjetunion nach Zeichen Ausschau halten, daß ihre Skepsis gerechtfertigt ist. Wie zu erwarten, läßt sich einige Skepsis unter den Berufsoffizieren finden, die, wie ihre Kollegen in den Vereinigten Staaten, ihre Ansprüche auf den Staatshaushalt mit der nationalen Sicherheit identifizieren, mit Mißtrauen gegenüber den SALT-Verhandlungen und der vermuteten Unaufrichtigkeit ihres Gegners. Die Opposition geht jedoch vorwiegend vom orthodoxen Flügel der Partei und ihrem großen ideologischen Apparat und von dem noch größeren Apparat der politischen Polizei aus. Für sie ist „friedliche Koexistenz" gleichbedeutend mit Schwierigkeiten: d. h. einer Schwächung des ideologischen Elans, der ihr Rüstzeug ist, einer Öffnung des Landes für Einflüsse, die sie nur als „subversiv" betrachten können, vermehrten Problemen mit Intellektuellen und Nationalitätengruppen und einer Aushöhlung der Idee von der „imperialistischen Drohung", die ihre Macht legitimiert und von der die Karriere ihrer Mitglieder abhängt. Wo die Hauptlast ihrer Beweisführung liegt, illustrieren gelegentliche Artikel in der Militärzeitung Roter Stern, und im Kommunist, dem theoretischen Organ der Partei, oder sogar in der Prawda: man fürchtet, daß die Abkehr von der Autarkie den Weg zu einer fatalen Abhängigkeit von kapitalistischen Ländern öffnet, daß das Bemühen um Außenhandel und fremde Investitionen wahrscheinlich nicht erfolgreich sein werde, daß die Folgen einer Entspannungspolitik das sowjetische System im eigenen Land und in Osteuropa schwächen würden und daß hinter der Fassade von SALT die amerikanischen „Imperialisten" ihre Führung in der Technologie der neuen Waffen weiter ausbauen. Einige bleiben auch frei von jeder Begeisterung über die Aussöhnung mit der Bundesrepublik, der gegenüber das Mißtrauen noch keineswegs ausgeräumt ist und dessen sozialdemokratische Führung einen traditionellen ideologischen Feind darstellt.

In diese Debatte greifen die Befürworter einer Politik der „friedlichen Koexistenz" aus verschiedenen Verteidigungslinien ein. Einige, wie z. B. Georgi Arbatow, der Leiter des Instituts für die USA, in seinem Artikel in Kommunist im letzten Februar, versuchen die Verfechter der harten Linie zu überzeugen, daß unter den gegenwärtigen Umständen die „friedliche Koexistenz" die wirksamste Form des Kampfes gegen den amerikanischen Imperialismus darstellt. Andere, wie Dimitri Tomaschewski vom Institut für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen in einer Ausgabe des Roten Sterns vom Juli 1972, erörtern ungestüm und offen den Bedarf an westlichem Kapital und westlicher Technologie und halten solche Überlegungen für die im Augenblick wichtigsten. Eine ungewöhnlich weite Perspek-B tive wurde in einem Artikel in der Iswestija im letzten Februar unter dem Titel „Die Logik der Koexistenz" von Wladimir Osipow, einem Redaktionsmitglied, vertreten, Osipow schrieb über „eine ganze Serie von neuen Faktoren im Leben der internationalen Gemeinschaft der Staaten, die jetzt für eine allseitige Kooperation sprechen", und folgerte, daß „die Globalität der gegenseitigen Abhängigkeit der Staaten die Konzepte der Außenpolitik aus vergangenen Jahrhunderten, die auf der Opposition einiger Staaten zu anderen und dem Zusammenbasteln von militärischen Allianzen beruhen, anachronistisch erscheinen lassen". Das Resultat aus diesen sich widerstreitenden Interessen innerhalb der Sowjetunion besteht darin, daß Breshnjew freie Hand bekam, seine Politik der „friedlichen Koexistenz" nach außen zu verfolgen, während dem Kontrollapparat und den Orthodoxen ihrerseits freie Hand gegeben wurde, die Zügel ideologischer Wachsamkeit im eigenen Lande anzuziehen und den „ideologischen Kampf" zwischen Kapitalismus und sowjetischem Sozialismus mit verstärkter Kraft fortzusetzen. Vielleicht zeigt sich auch hier die Dialektik am Werke.

Im Plenum des Zentralkomitees im April 1973 wurde Breshnjews Stellung gefestigt durch die Entfernung von Pjotr J. Schelest aus dem Politbüro, einem augenscheinlichen Anhänger der harten Linie, aber gleichzeitig wurden die beiden wichtigsten Vertreter der Interessen des Militärs einerseits und der Geheimpolizei andererseits, nämlich Marschall Andrei A. Gretschko und Juri V. Andropow, neu aufge-nommen.

Obwohl einige Skeptiker im Westen glauben, daß Breshnjew offen von der Opposition im eigenen Lande spricht, um westliches Entgegenkommen zu fördern, scheint es einleuchtend, daß er die Notwendigkeit erkennt, baldige und greifbare Beweise für den Erfolg der Politik beizubringen, mit der er sich selbst identifiziert hat. Von daher erklären sich die Ungeduld der Sowjets hinsichtlich des Symbolgehalts eines Ost-West-Gipfeltreffens, um die Verhandlungen der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa zu krönen, und die Dringlichkeit von Breshnjews Vorschlägen an westdeutsche und amerikanische Vertreter der Wirtschaft. Die Ratifizierung der Moskauer Verträge mit Bonn und die Verpflichtung der Vereinigten Staaten zu „friedlicher Koexistenz" in der Erklärung über die Grundprinzipien sind in der sowjetischen Presse als frühe Beweise von Breshnjews Erfolgen mit großem Lob bedacht worden.

Welche Schlußfolgerungen können wir angesichts der sowjetischen Innenpolitik und der oben aufgeführten „objektiven Faktoren" im Hinblick auf Chancen für eine Kontinuität der sowjetischen Außenpolitik ziehen? Es ist sicherlich einzusehen, daß unter gewissen Bedingungen Druck auf Breshnjew ausgeübt würde, seine Politik zu ändern, oder daß man ihn sogar zugunsten einer Koalition von unzufriedenen Interessengruppen absetzen würde, wenn nämlich die sowjetischen Erwartungen in bezug auf eine wesentliche Ausdehnung des Handels und der ausländischen Investitionen sich nicht erfüllen, wenn das Wettrüsten zunimmt, wenn es zu einer zweiten Tschechoslowakei in Osteuropa kommen sollte oder wenn ein Konflikt im Nahen Osten oder an anderer Stelle eine amerikanisch-sowjetische Konfrontation heraufbeschwören sollte. Sogar auch ohne diese Ereignisse ist es wegen des Alters der gegenwärtigen sowjetischen Führung immer möglich, daß jüngere Männer in der Sowjetunion an die Macht kommen, und es ist keineswegs klar, wohin sie tendieren werden — wenigstens kann man nicht als selbstverständlich voraussetzen, daß sie sich automatisch dem Pragmatismus verschreiben werden, da sie einer anderen Generation angehören.

Vorausgesetzt, daß es zu keinen vollkommen irrationalen Reaktionen kommt, scheint es eine vernünftige Schlußfolgerung, daß die Grenzen, innerhalb deren sich die gegenwärtige Politik ändern würde, wenn eines der oben beschriebenen Ereignisse eintritt, verhältnismäßig eng gezogen sein würden. Obwohl es möglich ist und sogar wahrscheinlich sein könnte, daß wir Zeiten durchmachen werden, in denen die Politik der „friedlichen Koexistenz" sich auf eine kriegerischere Stufe begibt, würden doch die Grundbedingungen, die die sowjetische Außenpolitik bestimmen, eine Rückkehr zu den extremen Formen militanter Feindseligkeit verhindern. Wenn auch solche Veränderungen bis zu einem gewissen Grad von Vorgängen in der sowjetischen Innenpolitik abhängig sind, so würde wahrscheinlich das Ausmaß ihrer Folgen wesentlich von unseren eigenen Handlungen beeinflußt werden.

III. Prinzipien einer konstruktiven Zusammenarbeit

Das wirft die Frage nach unserem Konzept auf, unserer Einstellung zum sowjetisch-amerikanischen Verhältnis. Soweit man in der Vergangenheit überhaupt von einer Einstellung sprechen konnte, war es eine negative — „Eindämmung" oder „Antikommunismus". Die anderen waren die Herausforderer im Kampf um den Status quo, und wir waren die Verteidiger. Meistens reagierten wir auf Krisen, wenn wir sie kommen sahen, manchmal in vernünftiger Weise, manchmal mit getrübtem Urteilsvermögen.

Jetzt haben wir die Möglichkeit, klarer und unabhängiger über unsere Beziehungen zur Sowjetunion und über den Rang, den diese Beziehungen in der Gesamtheit unserer Außenpolitik einnehmen sollten, nachzudenken. In einer Zeit des turbulenten und schnellen Wechsels ist es das zentrale Anliegen unserer Außenpolitik, nach besten Kräften an der Gestaltung der politischen Umwelt mitzuwirken, damit die Werte, die wir — wenn wir uns selbst treu sind — für elementare Bestandteile unserer Gesellschaft halten, fortbestehen und noch bestimmender werden können. Deswegen ist es die Hauptaufgabe unserer Außenpolitik, mit denjenigen Nationen, die dieselben Wertvorstellungen wie wir haben, zusammenzuarbeiten, um das internationale System zu festigen — im Sinne einer Kodifizierung zivilisierter Umgangsformen unter den Völkern und ihrer fortschreitenden Institutionalisierung in den Vereinten Nationen. Das bedeutet nicht, daß der Status quo verteidigt werden soll, was sowieso ein undurchführbares Vorhaben wäre. Gegen den unerbittlichen Druck zugunsten einer Veränderung, der diese Phase des internationalen Lebens charakterisiert, können Imperialismus und hegemoniale Kontrolle keine anhaltende Stabilität garantieren. Die Alternative zur internationalen Gewalt und Anarchie ist die Entwicklung eines internationalen Systems, das Veränderungen ohne Gewaltanwendung ermöglicht und in dem die Sicherheit nicht von der territorialen Kontrolle abhängt. Was daraus folgt, ist, daß es das übergeordnete Ziel unserer Politik gegenüber der Sowjetunion sein sollte, sie nach und nach für eine konstruktive Beteiligung an einem internationalen System dieser Art zu gewinnen.

Das heißt, daß wir auf eine fundamentale Veränderung hinarbeiten müssen. Es heißt nicht, daß wir versuchen sollten, die Sowjetunion zum Kapitalismus zu bekehren; die unterschiedlichen Gesellschaftssysteme brauchen keine Quelle des Konflikts zu sein, und in jedem Falle ist es wahrscheinlich, daß beide Gesellschaftsformen sich in den kommenden Jahrzehnten beträchtlich weiterentwikkein werden, jede auf ihre eigene Weise. Was es wirklich heißt, ist, daß wir ganz offen unser Interesse dafür erklären, daß die Sowjetunion konstruktiv und verantwortlich innerhalb eines Systems mitarbeitet, das weder ihre noch unsere hegemoniale Domäne ist. Daß wir noch für geraume Zeit Rivalen sein werden, scheint von der Lage, in der wir uns befinden, diktiert zu werden. Aber diese Rivalität kann weniger gefährlich für die Welt und weniger von Feindschaft überschattet sein, wenn sie sich nach akzeptierten Spielregeln richtet, und nach einer Weile wird sie vielleicht durch die Erkenntnis wachsender gemeinsamer Bedürfnisse abnehmen. Welches Grundprinzip sollte unsere Politik gegenüber der internen Situation in der Sowjetunion bestimmen? Als Individuen werden wir abgestoßen von dem Ausmaß der Polizeikontrolle über das schöpferische Leben und der Verletzung der Menschenrechte in der Sowjetunion, und wir hoffen, daß eine längere Phase der Entspannung auf internationaler Ebene — trotz ihrer unmittelbaren Rückschritte — auf die Dauer zu einer Abschwächung dieses abstoßenden Aspekts des sowjetischen Systems beitragen wird. Als Individuen und Angehörige privater Gruppen können und sollten wir unserer Betroffenheit wegen der Verletzung der Menschenrechte in der Sowjetunion Ausdruck verleihen, wie wir es ebenfalls tun sollten, wenn Menschenrechte in unserem eigenen Lande oder in anderen Ländern, auch wenn sie mit uns verbündet sind, verletzt werden. Die Aussicht auf eine modernisierte Sowjetunion, deren Bürger gut ernährt und gekleidet sind und in angemessenen Wohnungen leben, in der Raum ist für die freie Äußerung des menschlichen Geistes, wäre ein Grund zum Jubel, denn diese Leute sind unsere Mitmenschen. Aber das Interesse unserer Regierung beschränkt sich auf jene Aspekte des sowjetischen Systems, die sich direkt auf die Außenpolitik auswirken, z. B. auf das Ausmaß des militärischen Einflusses in der sowjetischen Politik.

Wenn hier unsere langfristigen Ziele liegen, welche Prinzipien sollten dann unser augenblickliches Verhalten gegenüber der Sowjetunion bestimmen — vorausgesetzt, daß die so-

wjetische Führung gegenwärtig taktische Vorteile in einer Verfolgung der politischen Strategie der „friedlichen Koexistenz" sieht? Wenn wir recht haben mit unserem Glauben, daß dieser Kurs auch eine langfristige Annäherung an eine gemäßigte und kodifizierte Mischung aus Wettbewerb, Zurückhaltung und Kooperation spiegelt, was folgt daraus? Es ist nicht zu bezweifeln, daß wir diese Entwicklung begrüßen und alles tun sollten, um sie zu fördern und in konkrete Maßnahmen umzusetzen. Dabei sollten wir uns keinen Illusionen hingeben. Die Sowjetunion strebt noch immer von den unsrigen gänzlich verschiedene Ziele an; sie wird sich ihr bietende Gelegenheiten ausnutzen, um ihren Einfluß zu vergrößern und auf eine Ausweitung ihres Herrschaftsbereiches hinzuarbeiten. Unter Entspannungsbedingungen werden die Anforderungen an uns und unsere Verbündeten größer sein als während der einfacheren Zeit des Kalten Krieges, und in gleichem Maße muß unsere Bereitschaft, sich ihnen zu stellen, wachsen. Wir müssen uns klar darüber werden, wie das notwendige militärische Gleichgewicht beschaffen sein soll und welche Rolle andere Formen der Gewalt spielen können. Wir werden die tiefgreifenden Veränderungen, die innerhalb der Nationen und unter ihnen stattfinden, neu überdenken müssen. Aus all diesen Gründen sollten wir die gegenwärtige Wendung in der sowjetischen Politik fördern, vor allem deshalb, weil so die Gefahr eines Atomkrieges vermindert werden kann und gesundes Urteilsvermögen und Sinn für Proportionen bei der Handhabung der modernen Waffensysteme, die herzustellen wir gelernt haben, wirksam werden können. Wir sollten diese Politik begrüßen, weil wir unter ihren Bedingungen erfolgreich konkurrieren können und weil sie die Möglichkeit zu einer langfristigen Veränderung in eine konstruktive Richtung bietet.

IV. Kriterien für die Regelung des politischen und militärischen Wettbewerbs

Um diese allgemeinen Prinzipien auf spezifische zu reduzieren, wollen wir zu der vielschichtigen Analyse, die wir am Anfang dieses Textes Vornahmen, zurückkehren und se-hen, welche Kriterien uns bei den Entscheidungen leiten sollen, die wir über jeden einzelnen Aspekt unserer Beziehungen zur Sowjetunion fällen müssen. 1. Auf der Ebene des strategisch-militärischen Wettbewerbs bleibt eine Anzahl von Grundfragen der strategischen Doktrin und Politik ungelöst: ob wir eine Parität akzeptieren können oder versuchen sollen, die Überlegenheit wiederzugewinnen; ob Parität Gleichheit bedeutet oder ein asymmetrisches Gleichgewicht; ob wir auf gegenseitige Abschreckung vertrauen oder zusätzliche Streitkräfte verlangen sollen, die sowohl einen Atomkrieg führen als auch nur militärische Ziele in der Sowjetunion treffen können. Wir neigen dazu, diese Fragen nicht durch rationale Diskussion und Entscheidung zu lösen, sondern uns beeinflussen zu lassen durch das Wechselspiel von politischen und wirtschaftlichen Kräften und die heimlichen Auseinandersetzungen bürokratischer Gruppen. Wir sollten aber in erster Linie von der Frage ausgehen, wo unsere wahren Sicherheitsinteressen im Atomzeitalter liegen. Wenn wir unsere militärischen Bedürfnisse auf der Grundlage rationaler Prinzipien ermittelten und sie auch klar formulierten und gegenüber untergeordneten engstirnigen Interessen durchsetzten, so könnte dies richtungweisend für eine aufgeklärte öffentliche Meinung werden; das Resultat wäre, daß Sonderinteressen kritisch gegeneinander abgewogen würden und das Wechselspiel der Kräfte im gegnerischen Lager beeinflußt würde. Zwei Kriterien für ein klareres Konzept der Sicherheit, die aus unserer vorangegangenen Diskussion fließen, sind: erstens, daß ein militärisches Gleichgewicht mit der Sowjetunion eine notwendige Bedingung für internationale Stabilität ist — nicht nur für Europa —, und zweitens, daß unseren optimalen Sicherheitsinteressen am besten dadurch gedient würde, wenn jenes Gleichgewicht so stabil und auf so niedriger Ebene gehalten wird, wie durch Verhandlungen erreicht werden kann. Diese Kriterien veranschaulichen, daß es anachronistisch ist, eine Überlegenheit anzustreben in dem Glauben, daß sie vielleicht politische, wenn nicht militärische Vorteile bietet, denn diese Denkweise führt unweigerlich zu einem verstärkten Wettrüsten. Und weiter, wenn wir unter Parität Gleichheit in der Anzahl jeder Art von Waffensysteme verstehen, würden beide Seiten ihr militärisches Potential weiter ausbauen. In Anbetracht der großen und noch immer wachsenden Waffenarsenale bei den Sowjets und den Amerikanern und der Tatsache, daß eine Verbreitung nuklearer Waffen auf noch mehr Länder und sogar Organisationen keinesfalls auszuschließen ist, sind wir zu gleichgültig gegenüber der Möglichkeit eines Atomkrieges. Wir sollten eine radikale Beschleunigung der SALT-Verhandlungen anstreben, um die Gesamtzahl an Waffen auf beiden Seiten zu verringern und die Weiterentwicklung von Mehrfachsprengköpfen und Präzisionswaffen unter Kontrolle zu bringen, die sonst eine große Instabilität schaffen würden. Wir sollten über die Erfahrung, daß kurzsichtige „Feilsch" -Taktiken eine Unterminierung des eigentlichen Zweckes von SALT zur Folge hatten, nachdenken. Die mannigfaltigen Schwierigkeiten bei der Ausarbeitung von gerechten Vereinbarungen über die Waffenbeschränkung verlangen wirksamere Unterstützung auf personellem Gebiet für die Rüstungskontrolle — einem unerläßlichen Aspekt unserer Sicherheitspolitik —, als sie im Augenblick die recht geschwächte Arms Control and Disarmament Administration erhält. Außerdem braucht man dann eine aktivere und besser informierte Öffentlichkeit. 2. Das Wettrüsten mit konventionellen Waffen könnte eine drohendere Gefahr für die nächsten Jahre darstellen. Denn die Wahrscheinlichkeit eines Konflikts wächst, weil beide Seiten sich bemühen, die Lage in Krisengebieten durch den Einsatz von Streitkräften zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Die hier anzuwendenden Kriterien sind: erstens, daß ein militärisches Gleichgewicht bei den konventionellen Waffen nötig ist, dessen negative Funktion darin besteht, sicherzustellen, daß keine Seite Gewalt anwendet, um politische Veränderungen zu fördern oder zu verhindern; zweitens, daß das Gleichgewicht sich auf so niedrigem Niveau einpendeln sollte, wie durch Verhandlungen und das gegenseitige Beispiel zu erreichen ist; drittens, daß wir feste Regeln für das Engagement in Krisengebieten brauchen. Das würde nahelegen, daß das Wettrüsten mit konventionellen Waffen und deren Einsatz zum Gegenstand von Verhandlungen auf höchster Ebene, analog zu SALT, gemacht würden. Dies könnte ein nicht weniger komplexes Problem als SALT darstellen, wie die Gespräche über die Verringerung der Streitkräfte in Europa zeigen, denn es ist enger mit kollidierenden politischen Zielen verknüpft. Ein Aspekt des Fragenkomplexes, der durch Vereinbarungen geregelt werden könnte, wäre die Konkurrenz bei den Waffenverkäufen, die die Probleme des Nahen Ostens und des amerikanischen Subkontinents verschlimmern und das Aufkommen von Militärdiktaturen in den Entwicklungsländern unterstützen. Das Zusammentreten einer internationalen Konferenz über den Waffenhandel, wie es von Senator Mondale vorgeschlagen wurde, könnte wenigstens dazu dienen, die öffentliche Aufmerksamkeit auf die dunkle Welt des Handels mit konventionellen Waffen lenken. 3. Was die politische Rivalität betrifft, so müssen wir die Grundsätze definieren, nach denen wir uns bei unserer Reaktion auf die sowjetischen Anstrengungen, ihren Einfluß in den Entwicklungsländern und in Westeuropa und Japan auszuweiten, richten können und ebenso in unserem Verhalten gegenüber Osteuropa und China. Wie wir gesehen haben, kommt es mehr und mehr zu einer weltweiten sowjetischen Präsenz. In der Vergangenheit neigten wir dazu, jede Ausdehnung des sowjetischen Einflusses als gefährlich zu betrachten und zu glauben, daß wir dagegen Widerstand leisten sollten. Welche Kriterien können unsere gegenwärtigen Reaktionen auf diese Ausdehnung bestimmen? Wir können zunächst versichern, daß eine verantwortliche und konstruktive Beteiligung der Sowjetunion an der Hilfe für die Entwicklungsländer bei solchen Problemen wie wirtschaftliche Entwicklung, Bevölkerung und Umwelt wünschenswert ist und unterstützt werden sollte — durch die Vereinten Nationen, wo das möglich ist, und zweitens, daß in jenen Fällen, wo der sowjetische Einfluß ein solches Übergewicht bekommt, daß er die Unabhängigkeit des betreffenden Landes bedroht, Anstrengungen unternommen werden sollten, jenen Einfluß durch politische und wirtschaftliche Mittel ins Gleichgewicht zu bringen.

Zwei zusätzliche Erwägungen tragen dazu bei, dieses Problem weniger akut werden zu lassen: die demonstrierte Fähigkeit der Entwicklungsländer, Bedrohungen ihrer Unabhängigkeit zu widerstehen, und die Beschränkung der sowjetischen Geldmittel, die eine Konzentration der sowjetischen Anstrengungen auf eine begrenzte Anzahl von Ländern zur Folge hat. In Europa versucht die Sowjetunion, durch bilaterale Kontakte und die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa die Nationen Westeuropas auf einen neutralistischen Kurs zu bringen. Außerdem möchte sie erreichen, daß der Westen Osteuropa als sowjetischen Einflußbereich anerkennt. Schon oben führten wir aus, von welch zentraler Bedeutung eine enge Freundschaft mit den Nationen Westeuropas für die USA ist, da ihre gemeinsamen Wertvorstellungen sie zur Stärkung des internationalen Systems befähigen. Hieraus läßt sich ableiten, daß ein aktives Vorgehen gegen diese sowjetischen Anstrengungen nötig ist. Ähnliche Erwägungen könnten auf Japan zutreffen. Die hegemoniale Kontrolle der Sowjets über Osteuropa, die sowieso dieses Verhältnis zu einem anachronistischen und instabilen macht, sollte nicht vom Westen akzeptiert werden, da sie nicht mit dem Recht auf freien Zugang und auf Nichteinmischung bei Prozessen innerer Veränderungen zu vereinbaren ist. Im Augenblick ist die Sowjetunion empfindlich, was dieses Problem angeht, aber nach einiger Zeit könnten die Sowjets zu der Einsicht kommen, daß auch ihren eigenen Interessen besser gedient ist mit einer elastischeren Beziehung, die den Staaten Osteuropas gestattet, sich aktiv an den Formen zweckbetonter loser Zusammenschlüsse zu beteiligen, die sich zwischen den europäischen Staaten entwickeln. Einige Worte müssen über den politischen Wettbewerb hinzugefügt werden, sofern er unsere Beziehungen zur Volksrepublik China betrifft. Obwohl es gewiß wünschenswert war, daß wir Kontakte zu China aufnahmen, und obwohl diese Kontakte eine nützliche Wirkung auf unser Verhältnis zur Sowjetunion gehabt haben, sollte es nicht eines unserer Ziele sein, den chinesisch-sowjetischen Konflikt zu verschärfen, und wir sollten sorgfältig darüber wachen, daß unsere Aktionen nicht so gedeutet werden können, als verfolgten sie diesen Zweck. Unser Ziel sollte sein, beide Länder auf ihrem Weg zu einer Politik der Mäßigung und Kooperation zu unterstützen; besonders freuen wir uns auf die Zeit, da China sich sicher genug fühlen wird, um an internationalen Abkommen über Rüstungsbeschränkungen teilzunehmen. 4. Der wirtschaftliche Aspekt der sowjetisch-amerikanischen Beziehung betrifft einige der interessantesten und schwierigsten Entscheidungen überhaupt. Wir haben gesehen, daß die Hoffnung der sowjetischen Führung auf eine Ausweitung des Handels mit dem Westen und auf verstärkte westliche Investitionen — besonders amerikanische •— ein bedeutender Faktor in ihrer gegenwärtigen Politik ist. Natürlich hängt die Reaktion der amerikanischen Firmen weitgehend von deren privaten Interessen ab und wird nur insoweit von koordinierter Regierungspolitik gelenkt, als man auf umfangreiche Kredite, Regierungsgarantien oder gesetzgeberische Maßnahmen im Rahmen der Bestimmungen über die „Most Favored Nation" angewiesen ist. Sogar in diesem Bereich kann es nützlich sein, die Gegenleistungen, um die es hier geht, von der nationalen Perspektive her abzuwägen. Von einem rein wirtschaftlichen Standpunkt ist nicht zu leugnen, daß die Vorteile hauptsächlich auf Seiten der Sowjetunion liegen, ob-wohl die Aussicht, auf sowjetischen Märkten zu verkaufen, eine starke Anziehungskraft für einzelne Sparten der Geschäftswelt hat und obwohl die sowjetischen Rohstoffvorkommen helfen könnten, Amerikas künftigen Energiebedarf zu decken. Betrachtet man diese Dinge nicht vom wirtschaftlichen Standpunkt aus, so sprechen gewisse Argumente für eine positive Reaktion: z. B. daß eine wachsende gegenseitige wirtschaftliche Abhängigkeit die Sowjetunion zu verstärkter Zurückhaltung veranlassen, zu einem Vertrauensverhältnis beitragen und vielleicht zu einer langfristigen Veränderung im sowjetischen System führen wird. Andererseits fürchtet man, daß der US-Handel und die US-Investitionen es der Sowjetunion ermöglichen, später die Vereinigten Staaten auf wirtschaftlichem oder militärischem Gebiet herauszufordern, daß ausgedehnte Kredite der Sowjetunion Macht als Schuldnerstaat verleihen und daß dieser Zustrom von Handel und Technologie daran mitwirkt, notwendige wirtschaftliche Reformen im sowjetischen System aufzuschieben.

Nach welchen Kriterien sollen die Vereinigten Staaten vorgehen bei ihren Entscheidungen, auf welcher Ebene, mit welchem Typ von Handel und Investitionen und in welchem Zeitraum sie reagieren sollen? Wenn man alle Faktoren berücksichtigt, so scheint es, als wäre eine positive Reaktion nützlich, hauptsächlich aus nichtökonomischen Gründen. Wird der gegenwärtige sowjetische Kurs von uns als wünschenswert angesehen, so ist es offensichtlich notwendig, dessen wirtschaftliche Motivation auf einem bestimmten Niveau zu halten. Eine zurückhaltende Zusage — hauptsächlich für Getreide, Verbrauchsgüter und Maschinen — mit der Aussicht auf eine schrittweise Zunahme in kommenden Jahren, worunter auch langfristige Investitionen für gemeinsam finanzierte Projekte zur Rohstoffgewinnung fallen würden, hieße einen vorsichtigen Kurs einschlagen und würde einen ständigen Anreiz für die sowjetische Führung bedeuten, sich in ihrem Verhalten Beschränkungen aufzuerlegen. Wenn wir dagegen der Sowjetunion Handel und Investitionen vor-enthielten in der Erwartung, daß sie dann verpflichtet wären, fundamentale wirtschaftliche Reformen einzuleiten, wäre dies ein riskanter Kurs, und die Konsequenzen wären unvorhersehbar, während wahrscheinlich der Zustrom von amerikanischer Technologie und amerikanischen Geschäftsleuten über eine bestimmte Zeit eher den inneren Druck zugunsten einer modernisierten Verwaltung, einer gewissen Dezentralisierung der Planung und eines größeren Vertrauens in marktwirtschaftliche Mechanismen verstärkt.

Die Frage wurde aufgeworfen, ob die Ausweitung von Handel und Investitionen von ausdrücklichen Bedingungen abhängig gemacht werden sollte. Zum Beispiel hat der Senat einen von Senator Humphrey vorgeschlagenen Zusatzantrag verabschiedet, der den Präsidenten auffordert, eine Vereinbarung mit der Sowjetunion anzustreben, in der die Gewährung von Krediten und Garantien durch die amerikanische Regierung an eine beidseitige Verminderung von Rüstung und militärischen Ausgaben geknüpft ist. Ob sich eine solche Vereinbarung als möglich erweist oder nicht, der Zusatzantrag dient dazu, festzustellen, daß künftige Vergrößerungen des militärischen Potentials in der Sowjetunion mit in Erwägung gezogen werden sollen als Teil des Kontextes, in dem künftige Kredite diskutiert werden. Senator Jacksons Zusatzantrag, der die Most-Favored-Nation-Klausel mit der Frage der unbeschränkten Auswanderung — mit besonderem Hinweis auf die Emigration von sowjetischen Juden — verband, hatte eine noch nicht dagewesene Anstrengung auf seifen der Sowjetunion zum Ergebnis, den Kongreß in einer Sache zufrieden zu stellen, die in Moskau als empfindliche innere Angelegenheit betrachtet wird. Grundsätzlich könnte eine wirksame Kombination von privaten und Gruppeninteressen einerseits und einer von der Regierung formal vertretenen Position der Nichteinmischung in sowjetische innere Angelegenheiten andererseits langfristige Vorteile gegenüber einer vornehmlich nur von der Regierung unterstützten Forderung haben.

5. Der ideologische Aspekt der Beziehungen könnte irgendwo auf einer Skala liegen, die von einem ruhigen Wettstreit der Ideen bis zu einem lauten Gezänk zwischen Fanatikern reicht. Es gibt einen fundamentalen Widerspruch in der sowjetischen Einstellung, daß eine „friedliche Koexistenz" von Staaten mit verschiedenen Gesellschaftssystemen möglich sei, daß sie sich aber vereinbaren lasse mit „ideologischem Kampf", ja ihn sogar verstärke. Obwohl die sowjetische Presse seit kurzem ungewöhnlich zurückhaltend in ihren Berichten über das Leben in Amerika ist, fährt sie fort, „Imperialismus" als Synonym für die amerikanische Politik zu verwenden und ruft regelmäßig zu einem „systematischen Kampf gegen reaktionäre Ideologie und Propaganda" auf. Es ist offensichtlich, daß diese Kampagne eine organisatorische Konzession an die Kalten Krieger im eigenen Land darstellt, aber ihre Wirkung beschränkt sich nicht auf die Sowjetunion. Vom amerikanischen Standpunkt aus verewigt eine Kampagne des „ideologischen Kampfes“ gegen den „imperialistischen Feind" die Haltung unversöhnlicher Feindschaft und setzt einer Entspannung enge Grenzen; außerdem zeigt sich hier eine seltsame Unvereinbarkeit zwischen dieser Haltung der Sowjets und ihren Angriffen auf ausländische Radiosendungen, weil sie angeblich den Geist der „friedlichen Koexistenz" verletzen.

6. Der Aspekt der kulturellen Beziehungen zwischen Sowjets und Amerikanern enthält eine Reihe von Dilemmen. Grundsätzlich sind sich beide Seiten einig, daß die kulturellen Beziehungen erweitert werden sollten. In den „Grundprinzipien der Beziehungen" bekräftigten der Präsident und der Generalsekretär „ihre Absicht, die kulturellen Bindungen zueinander zu vertiefen und eine größere Vertrautheit mit den kulturellen Werten des anderen zu fördern". Ein weiteres Abkommen über diesen Gegenstand wurde in Washington im Juni 1973 unterzeichnet. In seiner Fernsehansprache an die Amerikaner sagte Breshnjew: „Um in Frieden zu leben, müssen wir einander vertrauen, und um einander zu vertrauen, müssen wir uns besser kennen.

Wir möchten, daß die Amerikaner sich ein möglichst vollständiges und korrektes Bild von unserer Lebens-und Denkweise machen." An diesen Gedanken ist nichts auszusetzen, aber die Durchführung stößt auf Schwierigkeiten. Wenn die amerikanische Seite enge Kontakte zu sowjetischen Institutionen knüpft und sowjetische Verfahrensweisen übernimmt, kommt sie in ein zentralistisches Fahrwasser, wird in Regierungskanäle gelenkt und hat sich mit Kontingenten, Wie-du-mir-so-ich-dir-Spielen bei verschiedenen Restriktionen und anderen demütigenden Manövern auseinanderzusetzen, die die Wahrheit des französischen Sprichworts demonstrieren, daß „jeder das Antlitz seines Gegners annimmt". Im sowjetischen System werden kulturelle Beziehungen als hochempfindliche Angelegenheiten betrachtet: sie müssen von einem komplizierten und allgegenwärtigen Kontrollapparat überwacht werden, der den Austausch auf von offizieller Seite ausgesuchten Delegationen und Vertreter aus bewährten Bereichen beschränkt. In allen sowjetischen Einrichtungen haben die Außen-ressorts, die die Verantwortung für die Über-prüfung und Billigung aller Kontakte mit Ausländern tragen, ihren eigenen Standard, nach dem sie die Nützlichkeit kultureller Beziehungen beurteilen. Unzweifelhaft ergeben sich sogar in dem jetzt möglichen begrenzten und unausgewogenen Austausch für beide Seiten Vorteile, aber sie könnten beträchtlich größer sein, wenn sie mit dem von Breshnjew erwähnten Standard übereinstimmten. Wir lassen uns im wesentlichen von dem Glauben leiten, daß uneingeschränkte menschliche Kontakte elementare Bestandteile einer „Normalisierung" der Beziehungen zwischen Nationen sind, und während wir uns den unglücklichen Restriktionen der Gegenwart anpassen, sollten wir nicht die Hoffnung verlieren, die kulturellen Beziehungen zur Sowjetunion auf den sonst üblichen Standard zu bringen. 7. Die bilateralen Abkommen über praktische Zusammenarbeit auf verschiedenen Gebieten und die diversen Gemischten Kommissionen, die in diesen Abkommen vorgesehen sind, könnten in der Zukunft eine größere Bedeutung erlangen, als man jetzt vermutet. Schon heute sind die amerikanisch-sowjetischen Beziehungen am besten, wenn sie Spezialisten mit gemeinsamen beruflichen Interessen zusammenbringen; die Berichte über eine enge und erfolgreiche Kooperation — z. B. auf dem Gebiet der Ozeanographie und bei Umweltfragen —-sind ermutigend. Auf die Dauer wird wahrscheinlich ein wachsendes Bewußtsein für die drängenden Probleme der Umweltverschmutzung und der Rohstoffe, die notwendig sind, um das Leben auf diesem Planeten zu erhalten, sich auf unsere Auffassung von der nationalen Souveränität auswirken; die Zusammenarbeit auf diesen Gebieten wird den Kontext erweitern, in dem Sicher-beitsprobleme behandelt werden. Wenn die Zeit kommt, daß dieser Aspekt der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen nicht mehr nur am Rande existiert, sondern an zentrale Stelle rückt, muß sich das Wesen der Beziehung in ihren fundamentalen Perspektiven ändern.

Ob es Jahre oder Jahrzehnte dauern wird, bis die Erkenntnis, daß sie auf dem gleichen kleinen Planeten leben, im Bewußtsein der Menschen einen größeren Raum einnimmt als die Rivalität zwischen den Nationen, kann niemand voraussagen. Veränderungen wandern manchmal langsam wie ein Gletscher, manchmal rollen sie wie eine Lawine. Auf dem Verhandlungswege haben wir es erreicht, uns von den bloßen Feindseligkeiten der Vergangenheit zu lösen und in eine Phase überzuwechseln, die durch eine komplizierte Mischung von Miteinander und Gegeneinander charakterisiert ist — eine Phase, für die eine Bezeichnung zu finden nicht einfach ist. Wenn wir den unsicheren Zustand der Koexistenz verlassen und in ein gefahrloseres und konstruktiveres Stadium der Zusammenarbeit eintreten wollen, so verlangt dies einerseits Geduld und Vertrauen auf unser Orientierungsvermögen in der Welt, während wir andererseits um eine wirksam funktionierende Gesellschaftsordnung im eigenen Lande bemüht sein müssen.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Marshall D. Shulman, Professor of Government, Direktor des Russian Institute an der Columbia Universität. Veröffentlichungen u. a.: Beyond the Cold War; Stalin's Foreign Policy Reappraised.