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Die Kontroverse um den Wissenschaftspluralismus Die Reaktion der Sozialwissenschaften und der pluralistischen Demokratie auf die Herausforderung der Neuen Linken | APuZ 26/1974 | bpb.de

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APuZ 26/1974 Artikel 1 Die Kontroverse um den Wissenschaftspluralismus Die Reaktion der Sozialwissenschaften und der pluralistischen Demokratie auf die Herausforderung der Neuen Linken

Die Kontroverse um den Wissenschaftspluralismus Die Reaktion der Sozialwissenschaften und der pluralistischen Demokratie auf die Herausforderung der Neuen Linken

Horst Heimann

/ 115 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Kontroverse um den Wissenschaftspluralismus wurde ausgelöst, als im Zusammenhang mit der Protestbewegung eine Renaissance marxistisch-sozialistischen Denkens begann. Während marxistisch-sozialistische und linksliberale Studenten und Wissenschaftler unter Berufung auf den Wissenschaftspluralismus die Einstellung marxistischer Dozenten forderten, sahen andere im wachsenden Einfluß marxistisch-sozialistischer Wissenschaftler eine Gefahr für den Wissenschaftspluralismus, weil diese nicht die pluralistische Demokratie- und Gesellschaftstheorie und die damit zusammenhängenden Prinzipien und Postulate einer pluralistischen Wissenschaft anerkennen. Eine kritische Analyse beider Konzeptionen des Wissenschaftspluralismus vom Standpunkt eines Demokratischen Sozialismus versucht zu zeigen, daß beide Konzeptionen akzeptable Positionen, aber auch schwerwiegende Mängel enthalten, daß der Gegensatz zwischen beiden nicht unüberbrückbar ist und im Interesse der Hochschulreform eine rationale Auseinandersetzung und eine praktische Zusammenarbeit zwischen Vertretern beider Richtungen notwendig ist. Unzulänglich ist es, wenn Vertreter der an der pluralistisdien Demokratie-und Gesellschaftstheorie orientierten Konzeption des Wissenschaftspluralismus die Ursache für die Bedrohung des Pluralismus und für die Konflikte und die Krise in den Geistes-und Sozialwissenschaften im zunehmenden Einfluß der marxistisch-sozialistischen Wissenschaftskonzeption sehen. Denn diese Diagnose legt die Schlußfolgerung nahe, diese Krise sei durch eine administrative Eindämmung dieses Einflusses zu überwinden; und sie übersieht, daß der wachsende Einfluß marxistischen Denkens nicht die Ursache, sondern eine Folge der Protestbewegung und der Bewußtseins-Revolution der Neuen Linken ist, in der eine Krise des Selbstverständnisses unserer Demokratie und Gesellschaft und auch der Geistes-und Sozialwissenschaften zum Ausdruck kommt. Die bisherigen Reaktionen der pluralistischen Demokratie und der Wissenschaften auf die Herausforderung der Neuen Linken reichen nicht aus, diese Krise in Wissenschaft und Gesellschaft auf liberal-pluralistischer Grundlage zu lösen. Im Interesse einer liberal-pluralistischen Lösung der Krise und der Konflikte wäre es notwendig, in einer offensiven geistigen Auseinandersetzung die vom Denken der Neuen Linken beeinflußten Teile der Bevölkerung, vor allem der akademischen Linken, für einen liberal-pluralistischen Konsensus zu gewinnen. Zu diesem Zweck ist das Spektrum der Ideen und Meinungen, die vom demokratischen Konsensus gedeckt sind, nach links zu erweitern und vor allem das idealtypische Modell einer rein repräsentativen Demokratie durch Elemente direkter Demokratie und durch sozialistische Positionen zu ergänzen und weiterzuentwickeln. Dagegen enthält die Tendenz, marxistisch-sozialistische Positionen aus dem demokratischen Konsensus auszuschließen und administrativ zu unterdrücken, die Gefahr einer autoritär-repressiven Lösung der Konflikte und Krisen; während erst dadurch viele Anhänger der Neuen Linken in eine dezidiert antiliberale und antipluralistische Position gedrängt werden, können andererseits die traditionellen antiliberalen und antipluralistischen Kräfte den Kampf gegen den vermeintlichen Antipluralismus der Neuen Linken zu einem Hebel machen, um liberal-pluralistische Elemente unseres politischen Systems abzubauen. Auch die marxistisch-sozialistische Konzeption des Wissenschaftspluralismus hilft nicht, die Konflikte und die Krisen in den Hochschulen und in der Gesellschaft in progressiver Richtung zu lösen und gegenreformerische Tendenzen abzuwehren. Die Unzulänglichkeiten der marxistisch-sozialistischen Position hängen eng zusammen mit ihrem ungeklärten und zwiespältigen Verhältnis zu Liberalismus und Pluralismus. Theoretisch falsch und praktisch schädlich ist die Auffassung, Triebkraft für die Gegenreform und für die administrative Unterdrückung des Marxismus seien auf politischem Gebiet Liberalismus und Pluralismus und auf wissenschaftstheoretischem Gebiet der kritische Rationalismus. Diese Fehleinschätzung erschwert die praktische Zusammenarbeit aller Reformkräfte und verhindert es, wichtige Elemente von Liberalismus, Pluralismus und kritischem Rationalismus in eine marxistisch-sozialistische Konzeption aufzunehmen und weiterzuentwickeln. Aus diesem Grunde hat auch die marxistische Wissenschaft der Neuen Linken vor der Herausforderung der Protestbewegung versagt, d. h., sie hat nicht dazu beigetragen, die kritisch-oppositionelle Haltung der jungen Generation in eine zielstrebige Reformpolitik umzusetzen. Wegen des apolitischen Verhaltens der akademischen Linken wird die Kluft zu den in der Gesellschaft wirkenden Reformkräften immer größer, wovon allein die Reformgegner profitieren. Zugunsten der Reformkräfte können die akademische Linke und die Geistes-und Sozialwissenschaften nur dann wirksam werden, wenn das Freund-Feind-Denken abgebaut wird und in einer dialogischen Auseinandersetzung ein neues Verhältnis entsteht zwischen geistig-politischem Liberalismus und Pluralismus sowie kritischem Rationalismus auf der einen und den zahlreichen marxistisch-sozialistischen Strömungen auf der anderen Seite.

Das Wort Wissenschaftspluralismus wurde in den letzten Jahren zu einem Schlusselbegriff und auch zu einem polemischen Schlagwort in den politischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzungen an den Hochschulen, vor allem in den geistes-und sozialwissenschaftlichen Fachbereichen. Di-se Auseinandersetzung vollzieht sich auf " we. Ebenen, die allerdings oft nicht klar voneinander unterschieden werden: Einerseits geht es beim Streit um den Wissenschaftspluralismus um unterschiedliche wissenschaftstheoretische Konzeptionen, um das Selbstverständnis und die Kriterien von Wissenschaft, andererseits um unterschiedliche hochschulpolitische und auch gesellschaftspolitische Konzeptionen und Zielvorstellungen.

Aktueller Anlaß für den Ausbruch des Streits um den Wissenschaftspluralismus war nicht ein wissenschaftstheoretisches, sondern ein hochschulpolitisches, genauer personalpolitisches Problem, nämlich die Frage, ob und in welchem Ausmaß marxistische Hochschullehrer und Assistenten eingestellt werden dürfen oder sollen. Es ging also um ein erstes Anzeichen der besonders seit 1973 intensiv diskutierten Frage der sogenannten „Radikalen im öffentlichen Dienst". Entstanden war dieses personalpolitische Problem an den Hochschulen, als die Protestbewegung der Neuen Linken eine Renaissance des Marxismus auslöste, sich ein größerer Teil des wissenschaftlichen Nachwuchses zu einer marxistisch-sozialistischen Wissenschaftskonzeption bekannte und die politisch engagierten Studenten und auch Assistenten die Forderung erhoben, mehr marxistische Dozenten einzustellen. Besonders akut wurde das Pro-Mem, nachdem als politische Antwort auf die Studentenrevolte in mehreren Bundesländern progressive Hochschulgesetze verabschiedet *orden waren, die den Assistenten, Studenten und anderen Dienstkräften in allen Fragen Mitbestimmungsrechte gewährten und ih-nen damit in den Selbstverwaltungsgremien die Möglichkeit boten, ihre Forderungen nach Einstellung marxistischer und sozialistischer Dozenten zu verwirklichen.

Paradox und verwirrend mutet es zunächst an, daß der Begriff Wissenschaftspluralismus von sich bekämpfenden hochschulpolitischen Gruppierungen gebraucht wird, um ganz unterschiedliche Stellungnahmen zur Einstellung marxistischer Wissenschaftler zu begründen. Die eine Richtung beruft sich auf den Wissenschaftspluralismus, um die Forderung „Marx an die Uni!“ zu rechtfertigen und durchzusetzen; denn nach Auffassung dieser Richtung wird der Wissenschaftspluralismus erst dann praktisch verwirklicht, wenn die marxistisch-sozialistische Wissenschaftskonzeption an den Hochschulen von einer angemessenen Zahl überzeugter Marxisten vertreten werden kann. Im Gegensatz dazu beruft sich eine andere hochschulpolitische Richtung auf den Wissenschaftspluralismus, um vor dem wachsenden Einfluß der Marxisten zu warnen, weil nach ihrer Auffassung durch den marxistischen Wissenschaftsbegriff der schon bestehende Wissenschaftspluralismus ernsthaft bedroht werde.

Zur Rechtfertigung dieser einander entgegengesetzten hochschulpolitischen Ziele kann der Begriff Wissenschaftspluralismus deshalb dienen, weil er für jede dieser beiden Richtungen einen anderen Inhalt hat. Die Gruppierung, die mit seiner Hilfe die Einstellung marxistischer Dozenten rechtfertigen und durchsetzen will, vertritt einen praktisch-organisatorischen Pluralismus-Begriff, der nur das faktische Nebeneinander unterschiedlicher Wissenschaftskonzeptionen fordert, aber nichts aussagt über das Wesen dieser unterschiedlichen Konzeptionen. Dagegen vertritt die Gruppierung, die im Einfluß marxistischer Dozenten und Studieninhalte eine Gefahr für den Pluralismus sieht, eine umfassende theoretische Konzeption des Wissenschaftspluralismus, die gleichzeitig theoretische Postulate und Kriterien enthält, die für alle wissenschaftstheoretischen Richtungen und für ihr Verhalten zueinander als verbindlich angese-hen werden. Im marxistischen Einfluß sieht diese Gruppierung deshalb eine Gefahr für den Wissenschaftspluralismus, weil die Marxisten in der Regel diese Postulate und Kriterien nicht als verbindlich anerkennen.

Die durch die bisherige Darstellung nahegelegte Vermutung, daß die beiden Gruppierungen, die unterschiedliche Konzeptionen des Wissenschaftspluralismus vertreten, identisch seien mit dem oft erwähnten Dualismus zwischen bürgerlicher und marxistischer Wissenschaft, entspricht nicht den tatsächlichen Verhältnissen. Denn es gibt zahlreiche nicht-marxistische, also nach marxistischer Auffassung bürgerliche Wissenschaftler, die ebenso wie die Marxisten einen praktisch-organisatorischen Pluralismus-Begriff vertreten und die Einstellung marxistischer Dozenten gerade im Namen des Wissenschaftspluralismus befürworten. Um die Widersprüche und die Bedeutung der Kontroverse um den Wissenschaftspluralismus besser verstehen zu können, ist es erforderlich, auf die gesellschaftspolitischen Grundlagen dieser hochschulpolitischen Auseinandersetzung hinzuweisen und kurz auf die Entwicklung, den Inhalt und die Funktion des Begriffes Pluralismus in der deutschen Gesellschaft und im deutschen politischen Denken einzugehen.

Pluralismus: „Markenzeichen unserer Gesellschaft"

Unabhängig vom Streit um den Wissenschaftspluralismus kennzeichnet der Begriff Pluralismus sowohl die westliche demokratisch-kapitalistische Staats-und Gesellschaftsordnung als auch die Staats-und Gesellschaftstheorien, die diese westliche Ordnung als pluralistisch beschreiben und legitimieren „Das pluralistische Etikett ist gewissermaßen zu einem Markenzeichen unserer Gesellschaft geworden, ebenso selbstverständlich wie unerklärt vorausgesetzt." la)

Doch in der Geschichte der deutschen Gesellschaft und in der Tradition des deutschen politischen Denkens war das „pluralistische Etikett" nicht immer ein „Markenzeichen". Denn die auf der Grundlage der angelsächsischen demokratisch-kapitalistischen Gesellschaftsordnung und des liberalen Denkens entstandenen pluralistischen Theorien standen in scharfem Gegensatz zu der in Deutschland vorherrschenden antipluralistischen und monistischen Staatstheorie und zur Tradition des obrigkeitsstaatlichen Denkens und des Untertanengeistes. Während die Pluralisten den Staat sehr nüchtern einschätzen, „indem der Staat von seinem überhöhten Ehrenplatz gestürzt und auf die ihm nach ihrer Auffassung zukommende dienende Funktion verwiesen werden sollte" wurde im antipluralistischen deutschen Denken die Rolle des Staates metaphysisch überhöht. Auch in der Weimarer Republik war die deutsche Staatstheorie — vor allem unter dem beherrschenden Einfluß Carl Schmitts — weithin antipluralistisch. Die pluralistischen Theorien wurden von den weiter rechts stehenden Kritikern abgelehnt, weil sie „ihrer Meinung nach darauf abzielen, dem Staat seinen ihm gebührenden Ehrenplatz höchster, uneingeschränkt geltender Autorität streitig zu machen und damit seine Diskriminierung, wenn nicht gar seine Auflösung in Kauf nehmen" Das antipluralistische Denken gehörte in der Weimarer Republik zu den intellektuellen Wegbereitern des Nationalsozialismus, dessen totalitärer Führerstaat als extrem antipluralistische Position anzusehen ist. In der Auseinandersetzung mit konkurrierenden Staats-und Gesellschaftssystemen, insbesondere mit den als Totalitarismus bezeichneten Systemen des Nationalsozialismus und des Stalinismus, erhielt die pluralistische Demokratie-und Gesellschaftstheorie eine besondere politische Bedeutung, die weit über das Fachinteresse der Wissenschaftler hinausreichte.Im deutschen politischen Denken gewannen die westlichen pluralistischen Theorien erst nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus größeren Einfluß, und zwar als Theorie der demokratischen und liberalen Mitte, die sowohl gegen die bisher in Deutschland vorherrschenden rechteautoritären Konzeptionen als auch gegen kommunistische Ideen gerichtet war. Bei der Verbreitung dieser aus dem Westen übernommenen pluralistischen Theorien spielten die Sozialwissenschaften eine wichtige Rolle. Besonders die Politikwissenschaftler Emst Fraenkel und Kurt Sontheimer sind als Vertreter des Pluralismus — oder zur Unterscheidung von früheren Pluralisten — des Neopluralismus anzusehen

Wenn die pluralistischen Ideen mit Hilfe der politischen Wissenschaften einen größeren Einfluß als jemals in der deutschen Geschichte erlangen konnten, so ist das auch als ein Anzeichen dafür zu werten, daß sich die politisch-gesellschaftliche Wirklichkeit und das politische Denken in der Bundesrepublik weiter als jemals in der Vergangenheit nach . links’ entwickelt hatten, in Richtung der westlichen kapitalistisch-demokratischen und liberalen Gesellschaft.

Die Grundprinzipien einer pluralistischen Staats-und Gesellschaftsordnung sind zu verstehen als Gegenprinzipien zu obrigkeitsstaatlichen, autoritär-hierarchischen oder totalitären Systemen, in denen alle Bereiche der Gesellschaft dem Willen der zentralen staatlichen oder politischen Führungsinstanz unterworfen sind. In der pluralistischen Ordnung dagegen sind die verschiedenen Bereiche der Gesellschaft, zum Beispiel Wirtschaft, Kultur, Presse, Kirchen, nicht einer zentralen Befehls-hierarchie unterworfen, sondern relativ autonom. Die Gesamtgesellschaft bildet keine monistisch-hierarchische Einheit, sondern besteht aus einer Pluralität autonomer Bereiche und Gruppen, alle die gleichen die Rechte und Chancen besitzen, ihre ökonomischen, weltanschaulichen, religiösen, kulturellen, politischen Interessen-und Zielvorstellungen organisiert in Parteien, Verbänden, Gewerkschaften zu vertreten und politisch wirksam werden zu lassen. Da die pluralistischen Theorien nicht nur die Freiheiten und Rechte der Individuen anerkennen, sondern vor al-lern auch die relative Autonomie sozialer Gruppen und Organisationen betonen, sind sie im Unterschied zum frühen individualistischen Liberalismus als eine fortgeschrittene Entwicklungsstufe des liberalen Denkens anzusehen.

Der Pluralismus versteht sich sowohl als empirisch-deskriptiver als auch als normativer Begriff, daß heißt, diese Theorie geht davon aus, daß einerseits die tatsächliche Struktur der westlichen Gesellschaften dem pluralistischen Modell entspricht und daß andererseits diese pluralistische Struktur wünschenswert ist und daher gegen antipluralistische Tendenzen und Theorien zu verteidigen ist. Die pluralistische Staats-und Gesellschaftstheorie enthält auch einige normative Begriffe, die im Streit um den Wissenschaftspluralismus ebenfalls eine wichtige Rolle spielen, nämlich Begriffe wie zum Beispiel Konsensus, rationale Konfliktaustragung, Kompromiß, Toleranz. Diese normativen Begriffe, die das pluralistische Prinzip durch ein monistisches Prinzip ergänzen, verweisen auf das Problem, daß eine pluralistische Gesellschaft, in der eine Pluralität konkurrierender Interessen und Normen zugelassen ist, nur funktionsfähig ist, wenn es auch Normen gibt, die von allen anerkannt werden. Die pluralistische Gesellschaft kann nur funktionieren, wenn zwischen den konkurrierenden Gruppen ein Konsensus über die Spielregeln rationaler Konfliktaustragung besteht und alle die pluralistische Struktur der Gesellschaft und damit die Legitimität aller Gruppeninteressen grundsätzlich anerkennen, was trotz aller Konkurrenz Toleranz und Bereitschaft zum Kompromiß notwendig macht. Auf diese Weise soll auch trotz Gruppenegoismus das auf das Ganze der Gesellschaft bezogene Gemeinwohl am besten verwirklicht werden.

Da das liberale und pluralistische Denken dem traditionellen politischen Denken in Deutschland radikal widerspricht, ist es nicht überraschend, daß in den sechziger Jahren gewisse Theoretiker und Politiker wieder an die Tradition des rechten Antipluralismus anknüpften und Ludwig Erhard und Rüdiger Altmann als Heilmittel gegen die Mängel der pluralistischen Gesellschaft das Konzept der „Formierten Gesellschaft" propagierten. Ralf Rytlewski nannte in einer kritischen Analyse folgende Motive, die zur Durchsetzung von Erhards Konzept der „Formierten Gesellschaft" beitragen könnten: „Das Motiv der Unternehmer, die in der Person des Kanzlers und ehemaligen Wirtschaftsministers gegebene Chance zur Stabilisierung einer Unternehmer-wirtschaft zu nutzen; das Machterfordernis einer Politik der Stärke; das Motiv, sich gegenüber der Opposition zu behaupten; die von konservativen, staatsidealistischen Kritikern als Antwort auf den Strukturwandel des pluralistischen Staates — von ihnen als Verlust staatlicher Substanz verstanden — geforderte Stärkung der Staatsmacht. Im Augenblick hat es noch den Anschein, als solle der für die formierte Gesellschaft postulierte gemeinwohl-orientierte Interessenausgleich erreicht werden durch die Aktivierung von obrigkeitsstaatlichem Denken und Verhalten, durch eine noch weiter entpolitisierende Entfremdung der Individuen von den Gruppen und durch Appelle an Vulgäransichten und -Verhaltensneigungen der Bevölkerung."

Größere theoretische Bedeutung als die Kritik von rechts erhielt die Kritik der Neuen Linken an der pluralistischen Staats-und Gesellschaftstheorie. Zwischen der pluralistischen Gesellschaftstheorie und dem Streit um den Wissenschaftspluralismus, der durch den zunehmenden intellektuellen Einfluß der Neuen Linken an den Hochschulen ausgelöst wurde, besteht insofern ein Zusammenhang, als eine wichtige theoretische Grundlage für die Protestbewegung die kritische Auseinandersetzung mit eben dieser pluralistischen Gesellschaftstheorie war. Und es sind auch meist Anhänger einer pluralistischen Demokratie-und Gesellschaftstheorie, wie zum Beispiel Kurt Sontheimer und Hans Kremendahl, die die marxistische Konzeption des Wissenschaftspluralismus einer scharfen Kritik unterziehen.

Die erste wirksame Kritik an der pluralistischen Gesellschaftstheorie von links wurde allerdings nicht von den erst in den letzten Jahren zunehmend an Einfluß gewinnenden politökonomisch orientierten Marxisten vorgetragen, sondern von den Vertretern der Frankfurter Schule, also von Adorno, Horkheimer, Marcuse und Habermas, deren Denken stärker am anthropologischen und emanzipatorischen Ansatz in den Frühschriften von Marx orientiert ist.

Trotz aller Unterschiede zwischen den Vertretern der Frankfurter Schule und den politökonomisch orientierten Marxisten lassen sich die Grundgedanken ihrer Kritik am Plu-ralismus wie folgt zusammenfassen: Sie lehnen vor allem den empirisch-deskriptiven Pluralismus-Begriff ab, weil sie in ihm eine Ideologie sehen, die den tatsächlichen Zustand der Gesellschaft nicht richtig beschreibt, sondern verschleiert und beschönigt. Denn nach ihrer Auffassung ist die Struktur dieser Gesellschaft nicht durch einen Pluralismus gleichberechtigter sozialer und weltanschaulicher Gruppen gekennzeichnet, sondern durch den Dualismus und Antagonismus zweier Klassen, nämlich die kleine Minderheit von Herrschenden oder Kapitalisten einerseits und die große Mehrheit von Beherrschten oder Lohnabhängigen andererseits. Zwischen diesen beiden Klassen bestehe ein unversöhnlicher Klassengegensatz. Wer die Interessen der Beherrschten auf Befreiung als legitim anerkennt, kann nicht gleichzeitig das Interesse der Herrschenden an der Aufrechterhaltung ihrer Herrschaft als legitim anerkennen und tolerieren

Während die Vertreter der Frankfurter Schule und die Marxisten in der Bundesrepublik den empirischen Pluralismus-Begriff als ideologische Verschleierung der antagonistischen Struktur der Gesellschaft ansehen und daher eindeutig ablehnen, ist ihre Einstellung zu den normativen Prinzipien des Pluralismus — als Gegenposition zu den Prinzipien des Monismus — weit weniger eindeutig, was wohl auch dadurch bedingt ist, daß sie sehr viel zur Kritik an der bestehenden Staats-und Gesellschaftsordnung geschrieben haben, aber fast nichts über die Strukturprinzipien der wünschenswerten neuen Gesellschaft.

In der Regel lehnen die Marxisten sowohl die pluralistische Demokratie-und Gesellschaftstheorie als auch die damit zusammenhängende umfassende theoretische Konzeption des Wissenschaftspluralismus ab, die verbindliche Postulate und Kriterien für die Kennzeichnung von Wissenschaft enthält. Elmar Altvater, einer der wenigen marxistischen Hochschullehrer, erklärte in einer in der Westberliner Tageszeitung „Der Abend" mit anderen Hochschullehrern des Otto-Suhr-In-stituts ausgetragenen Kontroverse: „Es ist wahr, daß die Marxisten sich nicht einfach der undifferenzierten Forderung nach einem abstrakten Wissenschaftspluralismus unterwerfen." Ein Argument gegen diesen Wissenschaftspluralismus ist für ihn die grundsätzliche Ungleichheit zwischen bürgerlicher und marxistischer Wissenschaft: . Die Ansätze und das theoretische und praktische Interesse der bürgerlichen und marxistischen Wissenschaft (sind) zu unterschiedlich, als daß sie sozusagen als unspezifiziert gleiche von einem abstrakten Pluralismus vereinnahmt werden könnten." Andererseits bekannte sich Altvater ausdrücklich zum praktischen Pluralismus, zur Existenzberechtigung und zum Nebeneinander unterschiedlicher Wissenschaftskonzeptionen, fällte aber über die umfassendere pluralistische Gesellschaftsund Wissenschaftstheorie folgendes Urteil: . Genauso wie die Marxisten gegen das Gerede von der pluralistischen Gesellschaft theoretisch angehen (das übrigens praktisch durch jeden Streik widerlegt wird, da er nur verstanden werden kann als Ausdruck der Klassengesellschaft, in der wir leben), genauso kritisieren sie das theoretische Postulat des Pluralismus der Wissenschaften."

Ausführlich dargestellt und begründet wurde diese Ablehnung der Theorie des Pluralismus und dae Beschränkung des Begriffes Wissenschaftspluralismus auf das praktisch-organisatorische Nebeneinander kontroverser Wissenschaftskonzeptionen in einem Aufsatz der früheren Vizepräsidentin der FU, Dr. Margherita von Brentano Doch vor einer Darstellung dieses praktisch-organisatorischen Pluralismus-Begriffs ist es erforderlich, die umfassende theoretische Konzeption des Wissenschaftspluralismus ausführlicher zu referieren. Dies soll geschehen anhand von drei Beiträgen, die nicht nur als individuelle Meinungsäußerungen, sondern als exemplarisch für die Argumentation engagierter Pluralisten anzusehen sind: 1. Ein Vortrag des in München lehrenden linksliberalen Professors für politische Wissenschaften, Kurt Sontheimer der im Hessischen Rundfunk gesendet wurde und nach seiner Veröffentlichung in der Frankfurter Rundschau eine Kontroverse auslöste; 2. ein Aufsatz von Hans Kremendahl Assistent am Otto-Suhr-Institut in Berlin und Mitglied der hochschulpolitischen Gruppierung der Reformsozialisten; 3. ein Artikel des Berliner Senators für Wissenschaft und Kunst, Professor Werner Stein

Pluralistische Gesellschaftstheorie und Wissenschaftspluralismus

Ähnlich wie nach der pluralistischen Gesellschaftstheorie der Gegensatz zwischen den konkurrierenden sozialen, politischen, religiösen und anderen Gruppen und Organisationen nicht als antagonistisch zu verstehen ist, so gehen die engagierten Pluralisten davon aus, daß sich auch im Bereich der Wissenschaften die kontroversen wissenschaftstheoretischen Richtungen trotz aller Gegensätze nicht in unversöhnlicher Feindschaft gegenüberstehen. Denn es gilt als Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit des Wissenschaftspluralismus, daß zwischen allen Richtungen ein Konsensus über die Spielregeln der Konfliktaustragung besteht, keine Richtung einen absoluten Wahrheitsanspruch erhebt, alle Richtungen von allen grundsätzlich als legitim und gleichwertig anerkannt werden, das Verhältnis der verschiedenen Richtungen zueinander gekennzeichnet ist durch Toleranz und das Bemühen, sich durch rationale Auseinandersetzung gemeinsam der Wahrheit anzunähern. Zu den wichtigsten Normen und theoretischen Postulaten dieser Konzeption des Wissenschaftspluralismus gehören daher einerseits positive Begriffe wie Konsensus, Toleranz, rationale Konfliktaustragung, Dialog, Offenheit sowie andererseits negative Begrif-fe wie Dogmatismus, absoluter Wahrheitsanspruch, Intoleranz, Indoktrination, Heilslehre. Da diese theoretischen Postulate und Normen als Kriterien für Wissenschaft überhaupt und als Maßstäbe für das Verhältnis der unterschiedlichen Wissenschaftskonzeptionen zueinander gelten, ist es im Interesse eines gesunden Zustandes der Wissenschaft wünschenswert, daß alle am Wissenschaftsprozeß Beteiligten diese Normen und Postulate als verbindlich anerkennen. Werden sie dagegen nicht mehr von allen anerkannt, wird das Wesen der Wissenschaft selbst bedroht, so daß sie in eine Krise oder in einen kranken Zustand gerät.

Dennoch folgt aus der theoretischen Konzeption des Wissenschaftspluralismus nicht eine eindeutig antimarxistische Position. Wie später noch genauer zu zeigen sein wird, ist das Verhältnis zwischen engagierten Pluralisten und Vertretern einer marxistischen Wissenschaftskonzeption eher als ungeklärt und zwiespältig zu bezeichnen.

Kurt Sontheimer hält es in seinem Vortrag einerseits durchaus für berechtigt, den bereits bestehenden Wissenschaftspluralismus durch die Einbeziehung überzeugter Marxisten zu ergänzen: „Auch vor der heute von den Studenten allenthalben erhobenen Forderung nach marxistischen Lehrstühlen wurde bei uns marxistische Theorie im Rahmen der Philosophie, Soziologie und Wirtschaftswissenschaft vermittelt, allerdings ohne daß sich die akademischen Lehrer mit dem Marxismus und seiner Lehre identifizierten. Insofern schien es berechtigt, den bereits bestehenden wissenschaftlichen Pluralismus der Fragestellungen und Methoden zu ergänzen durch die Einbeziehung von Wissenschaftlern, die den marxistischen Ansatz nicht nur partiell für richtig hielten, sondern sich ganz mit ihm identifizierten. Das Grundgesetz garantiert die Freiheit von Forschung und Lehre; es wendet sich damit nicht gegen bestimmte Wissenschaftsauffassungen, es will den wissenschaftlichen Pluralismus."

Doch andererseits sieht Sontheimer in eben jener marxistisch-sozialistischen Wissenschaftskonzeption einen Krankheitserreger, der die Geistes-und Sozialwissenschaften mit einer ihr Wesen bedrohenden Krankheit infiziert. Daher schränkt er sein prinzipielles Ja zur Einbeziehung überzeugter Marxisten in den Wissenschaftspluralismus wieder ein, indem er folgenden Sachverhalt als das eigentliche Problem bezeichnet: „Die Auseinandersetzungen der letzten Jahre haben jedoch gezeigt, daß die eigentliche Problematik nicht in der Erweiterung des pluralistischen Spektrums wissenschaftlicher Lehrmeinungen liegt, sondern in der Verengung, nämlich der Reduktion des Pluralismus auf einen Dualismus." Diese Verengung des pluralistischen Spektrums durch seine Erweiterung um Marxisten vollzieht sich nach Sontheimers Auffassung deshalb, weil es in der Sicht der marxistischen Studentengruppen „gar keinen vielfältigen Pluralismus der Wissenschaft (gibt), sondern nur zwei sich bekämpfende Formen von Wissenschaft: die bürgerliche Wissenschaft und die marxistisch-sozialistische Wissenschaft." Diese marxistische Wissenschaft hält Sontheimer für dogmatisch, weil für ihre Vertreter ein unanfechtbarer Wahrheitsanspruch gelte: „Während also im Rahmen des überkommenen freiheitlichen Wissenschaftspluralismus verschiedene Lehrmeinungen miteinander konkurrieren, um sich der Wahrheit anzunähern, gilt für die Verteidiger marxistischer Wissenschaft von vornherein ein unanfechtbarer Wahrheitsanspruch. Wissenschaft wird dogmatisch."

Die Begründung für die Auffassung, daß durch den Einfluß des Marxismus der Wissenschaftspluralismus bedroht und die Freiheit von Wissenschaft und Forschung beeinträchtigt werden, faßt Sontheimer wie folgt zusammen: „Der demokratische Pluralismus unseres politischen Systems setzt voraus, daß ein Konsensus, eine Übereinstimmung über die Grundprinzipien der demokratischen Verfassungsordnung besteht. Der auf der Idee freier Wissenschaft beruhende Wissenschaftspluralismus setzt gleichfalls einen Konsensus voraus, nämlich die Übereinstimmung darüber, daß es legitim ist, mit verschiedenen Methoden und von verschiedenen weltanschaulichen Prämissen her Wirklichkeit zu erkennen und der Wahrheit näherzukommen. Die marxistische Gegenposition innerhalb des wissenschaftlichen Pluralismus ist — so meine ich — vergleichbar den verfassungsfeindlichen Parteien, deren Programmatik und Verhalten den Prinzipien der pluralistischen Demokratie widerspricht. Wir haben es also nicht mit einer Erweiterung des pluralistischen Feldes von Wissenschaft zu tun, die an sich begrüßenswert wäre, sondern mit einer Position, die den Pluralismus grundsätzlich in Frage stellt. ... Das zeigt sich ferner daran, daß marxistische Wissenschaft, von ihrer antithetischen Grundeinstellung her, nur solange in Koexistenz mit bürgerlichen Wissenschaftsauffassungen leben wird, wie die Verhältnisse dies notwendig machen. Ihrem Anspruch nach muß sie darauf aus sein, bürgerliche Wissenschaft abzuschaffen und durch marxistische zu ersetzen."

Auch Hans Kremendahl, dessen Beitrag unter dem programmatischen Titel „Minimalkonsens ist unabdingbar“ am 3. Juni 1972 in der Wochenzeitung „Berliner Stimme" erschien, hält die Existenz unterschiedlicher Wissenschaftskonzeptionen, auch des Marxismus, nicht nur für legitim, sondern er sieht in der kontroversen Diskussion verschiedener Konzeptionen einen dynamischen Faktor, der den wissenschaftlichen Fortschritt fördert, Stagnation und Selbstzufriedenheit aber verhindere. Da aber für ihn „Wissenschaftspluralismus nicht bloßes, unverbundenes Gegeneinander, sondern eine rationale Konfliktaustragung unter Geltung wissenschaftlicher Spielregeln (bedeutet)", lehnt er den von den Marxisten akzeptierten und von M. von Brentano ausführlich begründeten praktisch-organisatorischen Pluralismus-Begriff als zu kurz gegriffen ab; denn dabei werde Pluralismus nur als voraussetzungsloses Neben-und Gegeneinander definiert. Der umfassendere Begriff von Wissenschaftspluralismus dagegen nennt gerade die Voraussetzungen und Spielregeln für ein sinnvolles Nebeneinander unterschiedlicher Konzeptionen: „Wie beim Pluralismus in Gesellschaft und Politik ist die Kontroverse, das Ringen um Meinungen und Interessen, nur die eine Seite. Die andere umfaßt wesensnotwendig einen Minimalkonsens, ein gewisses Maß an Gemeinsamkeit, ohne das Konfliktaustragung zum quasi anarchischen Clinch degenerieren würde."

Zu diesem unabdingbaren Minimalkonsens über die Regeln wissenschaftlicher Kommunikation zählt Kremendahl folgende Prinzipien: •Teile dieses Konsens müssen die Prinzipien der Offenheit und Toleranz gegenüber anderen Auffassungen, der kritischen Überprüfung von Hypothesen an der Realität und der Legitimität neuartiger Fragestellungen sein." Die Feststellung, daß dieser Konsens auch den marxistischen Wissenschaftsansatz nicht ausschließt, schränkt er aber mit der folgenden Bemerkung wieder ein: „Es muß jedoch erlaubt sein, an Hand einleuchtender Kriterien kritische Wissenschaft von Dogmatismus und Einseitigkeit zu unterscheiden. Das Struktur-prinzip Wissenschaftspluralismus erlaubt und verlangt die Existenz jedes wissenschaftlichen Ansatzes und jede wissenschaftliche Fragestellung, jedoch nicht einseitige, geschlossene, unüberprüfbare dogmatische Heilslehren unter dem Deckmantel der Wissenschaft." Ein konkretes Beispiel für solchen Dogmatismus sieht er im „Versuch einiger sich als Marxisten bezeichnender Gruppen an der Universität, den Wissenschaftspluralismus zu reduzieren auf einen Dualismus . Marxismus kontra bürgerliche Wissenschaft'."

Auch der Berliner Senator für Wissenschaft und Kunst, Professor Werner Stein, wandte sich in seinem Aufsatz „Staat, Hochschule, Pluralismus" gegen die Reduzierung des Begriffs Wissenschaftspluralismus auf das bloße „Nebeneinander unterschiedlicher, aber jeweils intoleranter Lehrmeinungen". Denn darin liegt folgende Gefahr: „Es mag dann nur eine Frage der Zeit sein, daß die intolerantere ob-siegt." Daher stellt Stein dem rein praktischen Pluralismus-Begriff folgende theoretische Postulate entgegen: „Der Prozeß der modernen Wissenschaft ist grundsätzlich nach jeder Seite hin offen, d. h. bereit, jede Meinung zu erwägen und zu diskutieren, die der Wahrheitsfindung dienen kann. Er erfordert geradezu, mit jeder Ansicht auch die Widersprüche zu ihr zu prüfen. Wissenschaft ist das genaue Gegenteil von Dogmatismus und Rechthaberei.“ Aus diesen Postulaten zieht Stein folgende Schlußfolgerungen: „Tatsächlich sollte man nur den . Wissenschaftler'nennen, der diesen Pluralismus als praktische Toleranz gegenüber anderen in sich selbst trägt. Insoweit dürfte ein Wissenschaftler als solcher weder . marxistisch'noch . nicht-marxistisch’ sein ..."

Die zentralen Gedanken der Kritik am praktisch-organisatorischen Pluralismus-Begriff der marxistisch-sozialistischen Wissenschaftler lassen sich in zwei Punkten zusammenfassen: 1. Diese marxistische Position beeinträchtigt die Funktionsfähigkeit des von ihnen selbst anerkannten praktischen Wissenschaftspluralismus, weil sie seine theoretischen Postulate und Voraussetzungen nicht anerkennt.

2. Selbst den praktisch-organisatorischen Wissenschaftspluralismus akzeptieren die Marxisten als gegenwärtig unvermeidliches Übel nur solange, wie sie nicht die Macht haben, alle anderen Wissenschaftskonzeptionen auszuschalten.

Marxistisch-sozialistische Wissenschaft und Wissenschaftspluralismus

Vor einer kritischen Analyse dieser bisher nur referierten theoretischen Konzeption des Wissenschaftspluralismus ist es noch erforderlich, die Gegenposition ausführlicher darzustellen, nämlich den praktisch-organisatorischen Begriff des Wissenschaftspluralismus, der vor allem von marxistisch-sozialistischen, aber auch von zahlreichen linksliberalen Wissenschaftlern vertreten wird. Ausführlich dargestellt und begründet wurde dieser praktisch-organisatorische Pluralismus-Begriff — wie bereits erwähnt — im Habilitationsvortrag der früheren Vizepräsidentin der FU, Dr. Margherita von Brentano. Da dieser Vortrag, der in der Zeitschrift „Das Argument" Nr. 66 vom Oktober 1971 und auch in der Beilage zum FU-Info vom 24. Januar 1972 veröffentlicht wurde, eine weite Verbreitung gefunden hat und sich zahlreiche Linke in der Diskussion auf ihn berufen, kann er als repräsentative linke Stellungnahme zur Kontroverse um den Wissenschaftspluralismus angesehen und analysiert werden.

Wenn in der Kontroverse den Marxisten vorgeworfen wird, sie würden den Wissenschaftspluralismus unter anderem deshalb gefährden, weil sie für ihre eigene Wissenschaftskonzeption einen Monopolanspruch stellen und langfristig die Ausschaltung der bürgerlichen Wissenschaft anstreben, so geht M. von Brentano mit keinem Wort auf diese Kritik ein. Sie weist diesen Vorwurf keineswegs als unbegründet zurück, sie macht aber auch keinen Versuch, einen solchen Monopol-anspruch für die marxistisch-sozialistische Wissenschaftskonzeption zu begründen. Sie gibt den gegen den Marxismus erhobenen Vorwurf vielmehr an seine Gegner zurück:

die Richtung, die vorgibt, die Gerade Vielfalt gegen den Antipluralismus der Marxisten zu verteidigen, negiere schon jetzt von den die Marxisten bejahte Vielfalt kontroverser Konzeptionen. Denn sie vertrete einen „Monopolpluralismus", der für die eigene Richtung, die als pluralistisch qualifiziert werde, die Alleinherrschaft erstrebe und alle konkurrierenden Konzeptionen ausschalten wolle.

M. von Brentano geht davon aus, daß der Begriff Wissenschaftspluralismus, der als Ausdruck eines fundamentalen Konfliktes seine Aktualität gewann, mehrere Bedeutungen enthalte. Wenn man ihn auf die Bedeutung des Methodenpluralismus reduziere, werde der eigentliche Konflikt vertuscht, weil der Methodenpluralismus, also die Anwendung einer Vielzahl wissenschaftlicher Methoden, gar nicht umstritten sei und von allen Wissenschaftlern akzeptiert werde. Der fundamentale Konflikt komme dagegen erst in einer zweiten Bedeutung zum Ausdruck, in der das Wort Wissenschaftspluralismus das Problem benenne, „daß Charakter, Status, Begriff und Grenzen von Wissenschaft selbst kontrovers sind, daß verschiedene Konzepte von Wissenschaft mitsamt ihren Wahrheits-und Rele.

vanzansprüchen in Konflikt liegen ...“

Aus diesem Sachverhalt, daß es nämlich eine Pluralität kontroverser Wissenschaftskonzeptionen gibt, leitet von Brentano einen rein praktischen oder wissenschaftsorganisatorischen Pluralismus-Begriff ab, der von den meisten marxistisch-sozialistischen und auch von zahlreichen linksliberalen Wissenschaftlern vertreten wird. Im Gegensatz zur theoretischen Konzeption des Wissenschaftspluralismus enthält der praktisch-organisatorische Pluralismus-Begriff keinerlei Kriterien für Wissenschaft und auch keine Normen für das Verhalten und die Einstellung der Wissenschaftler oder für das Verhältnis zwischen den kontroversen Konzeptionen. Aber aus dem tiefgreifend kontroversen Zustand der Wissenschaft ergeben sich für von Brentano Normen und Forderungen für das Verhalten der die Wissenschaft verwaltenden Instanzen gegenüber den Wissenschaftlern und den unterschiedlichen Wissenschaftskonzeptionen, nämlich die Forderung an die Wissenschaftsbürokratie und die Universität als Institution, im Streit zwischen den kontroversen Konzeptionen von Wissenschaft neutral zu bleiben und nicht für oder eine oder die gegen die andere Wissenschaftskonzeption Partei zu ergreifen. So eindeutig nach Auffassung von Brentanos aus dem Wissenschaftspluralismus Forderungen und Normen für das Verhalten und die Einstellung der Wissenschaftsbürokratie und der Institutionen abzuleiten sind, so eindeutig lehnt sie den Gedanken ab, daraus auch Normen für das Verhalten und die Einstellung der Wissenschaftler abzuleiten, wie dies die Vertreter der theoretischen Konzeption des Wissenschaftspluralismus tun: „Noch weniger kann die Institution im Namen des Wissen-Schaftspluralismus den Wissenschaftlern eine bestimmte wissenschaftliche Einstellung oder ein bestimmtes Verständnis ihrer Tätigkeit als Teilnahmebedingung abverlangen, auch nicht negativ formulierte, wie undogmatisch', . offen’ etc. ..."

Nadi Auffassung von Brentanos geschieht aber gerade das mit Hilfe einer dritten Bedeutung des Wortes Wissenschaftspluralismus, die sie neben der Bedeutung des Wortes als Methodenpluralismus und als Pluralität kontroverser Wissenschaftskonzeptionen herausgearbeitet hat. In dieser dritten Bedeutung kennzeichne dieses Wort nicht mehr die Tatsache, daß es eine Vielzahl von Konzeptionen gibt, sondern es sei der Name für die eine dieser kontroversen Konzeptionen, und zwar für den Neopositivismus: „. Wissenschaftspluralismus'oder auch . Theoretischer Pluralismus'ist nämlich einer der Namen, unter denen die neopositivistische Schule — Popper und die Folgen — auftritt; neben anderen Namen, wie Neorationalismus, Panrationalismus, Kritischer Rationalismus, verwendet sie diesen zur Artikulation ihres wissenschaftstheoretischen Selbstverständnisses. Dieser Name bezeichnet den Aspekt, unter dem der heutige Positivismus sich mit dem Problem der Konkurrenz widerstreitender Wissenschaftskonzepte befaßt, das Problem durch ein eigenes Konzept notwendiger, aber nicht mehr konfligierender Vielheit zu lösen sucht und diesem eigenen Konzept Priorität zu verschaffen unternimmt."

Wenn „pluralistisch" nicht mehr den Sachverhalt kennzeichnet, daß kontroverse Wissenschaftskonzeptionen nebeneinander bestehen, sondern Adjektiv wird zur Kennzeichnung einer dieser konkurrierenden Konzeptionen, dann wird tatsächlich — wie von Brentano schreibt — „Pluralismus ... zur Forderung, nur . pluralistische'Theorien zuzulassen, so daß diese Alleinherrschaft und dazu noch das Richteramt erhalten." Daher spricht sie auch von einem „Monopolpluralismus", auf den sich die Wissenschaftsbürokratie berufen könne, um von allen Wissenschaftlern bestimmte Einstellungen zu fordern, ihren politischen Eingriffen den Schein wissenschaftlicher Legitimität zu verleihen und um den Konflikt zwischen kontroversen Wissenschaftskonzeptionen per Dekret zu beenden, indem unter Berufung auf diese Art von Wissenschaftsplüralismus nur noch die neopositivistische Wissenschaftskonzeption als Wissenschaft anerkannt und an den Hochschulen zugelassen werde.

Indem er sich ausdrücklich und zustimmend auf den Aufsatz von Brentanos berief, begründete Professor Walter Jens den praktisch-organisatorischen Pluralismus-Begriff von einem linksliberalen Standpunkt in einem Vortrag, den er am l. Juli 1972 in Marburg auf dem Kongreß „Wissenschaft und Demokratie" hielt und der in Nr. 7 der „Blätter für deutsche und internationale Politik" im Juli 1972 veröffentlicht wurde. In diesem Vortrag mit dem programmatischen Titel „Plädoyer für einen Pluralismus der Wissenschaft" erklärte Walter Jens: „Plädoyer für einen Pluralismus der Wissenschaft ... das heißt zunächst (Überlegungen folgend, die vor einigen Monaten Margherita v. Brentano angestellt hat) Appell an die Wissenschaft verwaltenden Instanzen: Wahrt gegenüber allen Methoden und Lehrmeinungen szientifischer Art strenge Neutralität, sorgt dafür, daß sich alle wissenschaftlichen Konzeptionen frei entfalten können, daß alle — nicht nur die herrschende: scheinbar neutrale, in Wahrheit parteiische — vom Zwang befreit werden, sich ständig legitimieren zu müssen."

Während der praktisch-organisatorische Pluralismus-Begriff ursprünglich die offensive Funktion hatte, die Forderung „Marx an die Uni!" zu begründen und durchzusetzen, erhielt er in den letzten Jahren immer mehr die defensive Funktion, die Freiheit und die Rechte linker Wissenschaftler gegen ständige Angriffe zu verteidigen, so daß Jens erklären kann: „Das Plädoyer für den Pluralismus der Wissenschaft ... gilt ... Mandanten, deren Recht, als Bürger unter Bürgern ihre Meinung vertreten zu dürfen, zunehmend bedroht ist.

Es gilt linken Hochschullehrern — eine verschwindende Minorität, wie man weiß."

Demokratischer Sozialismus als Grundlage der kritischen Analyse

Da eine kritische Analyse der beiden kontroversen Konzeptionen des Wissenschaftspluralismus nicht wertfrei zu leisten ist, sondern nur auf der Grundlage eines eigenen Standortes und eines spezifischen Erkenntnisinteresses, ist dieser eigene Standort zunächst wenigstens in Stichworten anzudeuten. Dieser eigene Standort ist die gesellschaftspolitische Position eines Demokratischen Sozialismus, der auf der Grundlage einer demokratischen und liberal-pluralistischen politischen Ordnung die evolutionäre Umwandlung des kapitalistischen Wirtschafts-und Gesellschaftssystems in ein sozialistisches System anstrebt. Die Verwirklichung einer neuen Gesellschaft des Demokratischen Sozialismus durch systemverändernde Reformen bedeutet keineswegs, die im politischen Bereich bereits bestehenden demokratischen und liberal-pluralistischen Prinzipien außer Kraft zu setzen, sondern heißt vielmehr, diese Prinzipien auch auf die übrigen Bereiche der Gesellschaft, vor allem auf die Wirtschaft, auszudehnen

Im Rahmen dieses allgemeinen gesellschaftspolitischen Standortes sind Reformen zur Demokratisierung der Hochschulen und des gesamten Bildungssystems integraler Bestandteil der gesamtgesellschaftlichen Reformen. Vor allem die Geistes-und Sozialwissenschaften sind dabei als ein wichtiges intellektuelles Instrument anzusehen, durch das sich die Gesellschaft über ihre eigene Lage aufzuklären vermag und die Menschen zu der Einsicht gelangen können, daß die gesellschaftlichen Strukturen, also ihre sozialen Existenzbedingungen, von Menschen geschaffen wurden und durch ihre soziale Praxis zu verändern sind, zwar sowohl in Richtung von und mehr — als auch von weniger — Freiheit, Rationalität, Humanität, Demokratie, Emanzipation. Die Einsicht, daß die gesellschaftliche Entwicklung das Ergebnis menschlicher Praxis ist, bildet die unentbehrliche Voraussetzung dafür, daß die große Mehrheit der Menschheit die gesellschaftliche Entwicklung nicht mehr nur passiv als unabänderlichen Naturprozeß erleidet und hinnimmt, sondern daß immer mehr Menschen aktiv daran mitwirken können, ihre Geschichte bewußt zu gestalten in Übereinstimmung mit ihren Bedürfnissen, Interessen und humanen Wert-und Zielvorstellungen. Die Feststellung, die gesellschaftliche Entwicklung könne sowohl in Richtung von mehr als auch von weniger Freiheit und Demokratie beeinflußt werden, schließt die schematische Gegenüberstellung einer gegenwärtig total unfreien mit einer zukünftig total freien Gesellschaft aus. Es gibt vielmehr bereits in der gegenwärtigen Gesellschaft sowohl repressive als auch emanzipatorische Faktoren, Entwicklungstendenzen, Institutionen, politische Bewegungen, Normen. Darüber hinaus sind die emanzipatorisch-fortschrittlichen und die repressiv-reaktionären Faktoren und politischen Gruppierungen auch nicht immer wie zwei feindliche Armeen durch ihre unterschiedlichen Uniformen klar und unmißverständlich voneinander zu unterscheiden, so daß jeder Bürger ohne Schwierigkeiten entscheiden kann, ob er in der Armee des Fortschritts oder der Reaktion kämpfen möchte.

Angesichts einer komplexen Verflechtung zwischen progressiv und reaktionär wirkenden Faktoren gehört es zu den zentralen Aufgaben der an der Emanzipation orientierten Geistes-und Sozialwissenschaften, die emanzipatorischen und die repressiv-reaktionären Faktoren, Ideen, Normen zu erkennen und nach zu suchen, um die emanzipatorischen Tendenzen zu verstärken und die Wirksamkeit reaktionärer Faktoren einzuschränken.

Eine kritische Analyse der beiden kontroversen Konzeptionen des Wissenschaftspluralismus wäre sehr einfach, wenn die eine Konzeption eindeutig ein theoretisches Instrument der emanzipatorisch-fortschrittlichen, die andere der reaktionär-gegenreformerischen Kräfte an den Hochschulen wäre. Doch auch in den hochschulpolitischen Auseinandersetzungen ist die Frontlinie zwischen Reformern und Gegenreformern komplizierter, verworrener und fließender als zwischen eindeutig voneinander zu unterscheidenden und deutlich etikettierten Richtungen und Gruppen. So ist diese Frontlinie keineswegs identisch mit dem oft erwähnten Gegensatz zwischen bürgerlicher und marxistisch-sozialistischer Wissenschaft. Denn zu den engagierten Trägern einer progressiven Hochschulreform gehören Vertreter beider Richtungen.

Ebenso entspräche es nicht den tatsächlichen Einstellungen zur Demokratisierung der Hochschulen, wenn man die Anhänger der einen Konzeption des Wissenschaftspluralismus pauschal den Reformern, die Anhänger der anderen Konzeption pauschal den Gegenreformern zuordnete. Denn zu den Trägern einer progressiven Hochschulreform gehören Anhänger beider Konzeptionen des Wissenschaftspluralismus. Nicht nur linksliberale und radikaldemokratische Wissenschaftler — wie zum Beispiel Walter Jens —, die sich zwar zu den Prinzipien der liberal-pluralistischen Demokratie bekennen, andererseits aber ähnlich vieler Marxisten den praktisch-organisatorischen Begriff des Wissenschaftspluralismus vertreten und daher ohne Vorbehalte und Bedenken die Einstellung marxistischer Wissenschaftler befürworten, sind zu den Reformern zu zählen. Auch linksliberale Wissenschaftler — wie zum Beispiel Kurt Sontheimer —, die in Anlehnung an die pluralistische Demokratie-und Gesellschaftstheorie eine umfassende theoretische Konzeption des Wissenschaftspluralismus vertreten und daher im wachsenden Einfluß der Marxisten eine Gefahr für den Wissenschaftspluralismus sehen, sind dennoch als engagierte Reformer anzuerkennen.

Es wäre aber gewiß nicht Ausdruck differenzierenden Denkens, nur noch Reformer zu sehen und zu übersehen, daß das Bekenntnis zum Wissenschaftspluralismus oft gerade jenen nur zum Vorwand gegen Demokratisierung dient, die in der Tradition des antiliberalen deutschen politischen Denkens stehen und die theoretischen Postulate der liberal-pluralistischen Wissenschafts-und Gesellschaftstheorie in Wirklichkeit ablehnen. Von dieser einflußreichen antiliberalen und antjreformerischen Richtung hat sich Sontheimer selbst eindeutig distanziert, als er im Anschluß an seine Bedenken gegen den wachsenden Einfluß der Marxisten klarstellte: »Dies ist kein Plädoyer für den Bund . Freiheit der Wissenschaft', in dem sich vorwiegend Ordinarien zusammengefunden haben, die ihre Privilegien und ihren , way of life'vor Reformen bewahren wollen. Es ist die notwendige Erinnerung daran, daß es heute um die Erhaltung des echten Wissenschaftspluralismus geht."

Obwohl auch eine kritische Auseinandersetzung mit den Gegnern einer progressiven Hochschulreform notwendig wäre, also mit den tatsächlichen hochschulpolitischen und gesellschaftspolitischen Anschauungen jener Gruppen, die das Wort Wissenschaftspluralismus nur als Vorwand für ihren Kampf gegen die Demokratisierung der Hochschulen und des Bildungssystems benutzen, sollen hier nur die Auffassungen der liberal-demokratischen Wissenschaftler untersucht werden, die ihr Bekenntnis zu einer liberal-pluralistjschen Wissenschafts-und Gesellschaftstheorie ernst nehmen und daher auch für die Demokratisierung der Hochschulen eintreten.

Um die besondere hochschulpolitische Bedeutung der hier zu analysierenden kontroversen Konzeptionen des Wissenschaftspluralismus deutlich zu machen, sei ausdrücklich darauf hingewiesen, daß die beiden Konzeptionen nicht als individuelle und subjektive Meinungsäußerungen einzelner Wissenschaftler untersucht werden sollen, sondern als hochschulpolitische und wissenschaftliche Auffassungen, die für zwei wichtige Richtungen und Gruppierungen — nicht Organisationen! — repräsentativ sind. Da für eine erfolgreiche Abwehr der Gegenreform und für die Fortführung der progressiven Hochschulreform die Mitarbeit dieser beiden hochschulpolitischen und wissenschaftlichen Gruppierungen notwendig ist, sind ihre kontroversen Konzeptionen des Wissenschaftspluralismus auch unter der Fragestellung zu analysieren, inwieweit sie die im Interesse der Reformpolitik notwendige Zusammenarbeit und die Entwicklung einer gemeinsamen Strategie aller Reformer fördern oder hemmen.

Die Antwort auf die oben gestellte Frage sei zunächst in der folgenden These vorweggenommen: Einerseits enthalten beide Konzeptionen des Wissenschaftspluralismus Elemente und Positionen, die im Interesse einer gemeinsamen Reformstrategie von den verschiedensten Reformgruppen akzeptiert werden könnten und sollten. Andererseits enthalten aber beide Konzeptionen Unklarheiten, Unzulänglichkeiten und Widersprüche sowie theoretische Positionen, die unter zwei Gesichtspunkten die Entwicklung einer gemeinsamen Strategie aller Reformer erschweren und daher wider Willen die Positionen der Gegenreform stärken, und zwar deshalb, weil in beiden Konzeptionen erstens falsche Diagnosen gestellt werden: sie erklären die Ursachen der Konflikte, Probleme und Schwierigkeiten an den Hochschulen und auch die Ursachen für die Kontroverse um den Wissenschaftspluralismus unzureichend oder sogar falsch. Daher ist zweitens auch die Therapie zur Lösung der Probleme unzureichend oder falsch, wodurch die Zusammenarbeit zwischen Marxisten, Radikaldemokraten, Liberalen und Demokratischen Sozialisten erschwert oder sogar verhindert wird.

Da die Unzulänglichkeiten sowohl der liberal-pluralistischen als auch der marxistisch-sozialistischen Konzeption des Wissenschaftspluralismus eng Zusammenhängen mit dem unklaren, ungeklärten und widersprüchlichen Verhältnis zwischen geistig-politischem Liberalismus und Sozialismus, ist der Gegensatz zwischen beiden Konzeptionen nicht nur von hochschulpolitischer und wissenschaftstheoretischer, sondern auch von entscheidender gesamtgesellschaftlicher Bedeutung. Denn — nach meiner Auffassung — hängen die Zukunftschancen beider Richtungen weitgehend davon ab, wie sich ihr Verhältnis zueinander entwickeln wird. Wenn sich beide Richtungen weiterhin als Gegner bekämpfen, dann werden wahrscheinlich die bisher erreichten liberal-pluralistischen Errungenschaften im politischen Bereich zunehmend abgebaut werden, und dann werden auch die Chancen des Sozialismus wieder abnehmen. Nur wenn sich künftig das Verhältnis zwischen Liberalismus und Sozialismus ändert, wenn Unklarheiten und Vorurteile abgebaut werden, werden beide noch eine Zukunft haben, werden beide künftige gesellschaftliche Veränderungen ihren Wert-und Zielvorstellungen entsprechend mitbestimmen können.

Falsche Diagnose und unwirksame Therapie

Die Vertreter der theoretischen Konzeption des Wissenschaftspluralismus, die die Geistes-und Sozialwissenschaften anhand ihrer theoretischen Postulate und Normen — wie Konsensus, rationale Konfliktaustragung, Toleranz, Dialog, Offenheit — beurteilen, gelangen zu der Schlußfolgerung, daß sich diese gegenwärtig in einem Zustand der Krise oder Krankheit befinden, weil diese Postulate und Normen nicht mehr von allen am Wissenschaftsprozeß Beteiligten anerkannt werden. Da die meisten Marxisten die Verbindlichkeit dieser Postulate und Normen leugnen, sehen die Pluralisten in der marxistisch-sozialistischen Wissenschaftskonzeption den Krankheitserreger, der den Wissenschaftspluralismus und damit das Wesen der Wissenschaft bedroht und der die gegenwärtige Krise und Krankheit der Geistes-und Sozialwissenschaften verursacht hat.

Aus dieser Diagnose ergibt sich für die Therapie die Schlußfolgerung, daß es zum Zwecke der Gesundung der Geistes-und Sozialwissenschaften notwendig ist, den theoretischen Postulaten und Normen des Wissenschaftspluralismus zu einer breiten Anerkennung zu verhelfen bzw.den Einfluß der diese Normen leugnenden marxistisch-sozialistischen Wissenschaftskonzeption einzudämmen und zurückzudrängen. Auf der wissenschaftstheoretischen Ebene könnte diese Auffassung Ausgangspunkt einer fruchtbaren geistigen Auseinandersetzung werden. Denn auf dieser Ebene wären die Argumente für die theoretische Konzeption des Wissenschaftspluralismus an alle Wissenschaftler gerichtet, vor allem auch an die Marxisten, und sie hätten das Ziel, möglichst viele von dieser Konzeption zu überzeugen. Doch die Art der Argumentation für die Postulate des Wissenschaftspluralismus zeigt, daß sie gar nicht an die Marxisten gerichtet ist und kaum das Ziel verfolgt, diese zu überzeugen, sondern daß sie sich eher auf der personal-und machtpolitischen Ebene bewegt. Hauptadressat der Argumente sind nämlich die über Personalfragen entscheidenden Instanzen der Universität und des Staates, die mehr oder weniger deutlich aufgefordert werden, nur solche Wissenschaftler einzustellen, die a priori diese Postulate als verbindlich anerkennen. Die Anerkennung der theoretischen Postulate des Wissenschaftspluralismus wäre dann nicht ein Ziel der wissenschaftlichen Auseinander-setzung, sondern erst die Bedingungen für die Teilnahme an einer solchen Diskussion.

In die personal-und Richtung machtpolitische weist Bemerkung Sontheimers, indirekt eine wenn er seine liberalen Kollegen mit folgendem Hinweis vor den Marxisten warnt: „Die Anhänger eines Wissenschaftspluralismus, die für die Berücksichtigung marxistischer Auffassungen an Hochschulen eintreten, müssen sich darüber sein, daß das klar Problem von der anderen Seite nicht unter dem Gesichtspunkt der Erweiterung der auf Wahrheit gerichteten Bemühungen freier wissenschaftlicher Methoden begriffen wird, sondern im Sinne einer starren Antithese.“

Noch deutlicher in die personal-und machtpolitische Richtung weisen die Ausführungen von Hans Kremendahl, der einerseits gesellschaftspolitisch links steht und zum linken Flügel der SPD gehört, andererseits aber als Mitglied der Reformsozialisten die institutioneile Spaltung des Otto-Suhr-Instituts in Berlin in einen marxistischen und einen nicht-marxistischen Teil befürwortet hat und in seinem Plädoyer für einen Minimalkonsensus an den Staat appelliert: „Die Frage nach dem Wahrer des wissenschaftlichen Minimalkonsens, dem Garanten der Spielregeln wissenschaftlicher Kommunikation, beantwortet sich von daher wie folgt: Es ist legitim und notwendig, daß der Staat als gesellschaftliche Gesamtorganisation die Strukturen festlegt, in denen sich der Wissenschaftsprozeß in Lehre und Forschung vollzieht. Die Spielregeln der inneruniversitären Auseinandersetzung müssen gesichert werden im Rahmen des demokratischen politischen Konsenses der Gesellschaft, der in den staatlichen Institutionen gefunden und artikuliert wird. Von der Universität aus Anstöße zu einer demokratischen Veränderung der Gesellschaft zu geben, ist zulässig, ja unabdingbar. Weder zulässig noch möglich ist es jedoch, die Universität unter Ausnutzung ihrer Autonomie durch die Etablierung eines dogmatischen Ansatzes mit Absolutheitsanspruch zu einem Gegenstaat im Staate umzufunktionieren."

Obwohl die pluralistische Gesellschafts-und Wissenschaftstheorie eine Demokratisierung der Hochschulen impliziert, ihre Vertreter gesellschaftspolitisch zur Mitte und zur linken Mitte zu zählen sind und auch im Hochschulbereich gegen den Widerstand rechter Kräfte Reformen befürworten, werden sie wider Willen in die Richtung der hochschulpolitischen Gegenreformer abgedrängt. Denn ihre Diagnose, daß der wachsende marxistische Einfluß den Wissenschaftspluralismus bedroht, erleichtert es den überzeugten Gegenreformern, den Begriff Wissenschaftspluralismus zur ideologischen Rechtfertigung ihrer reform-feindlichen umzufunktionieren. Haltung Diese Umfunktionierung ist auch deshalb möglich, weil die Diagnose der liberal-pluralistischen Reformer eine Therapie nahelegt — nämlich Eindämmen und Zurückdrängen des marxistisch-sozialistischen Einflusses —, die nicht nur selektiv gegen Marxisten anzuwenden ist, sondern die nur mit dem hochschulpolitischen Programm der Gegenreformer gegen zentrale Elemente der progressiven Hochschulreform durchzuführen ist, und zwar aus folgenden Gründen: Da die meisten Studenten, Assistenten und auch anderen Dienstkräfte keineswegs im marxistisch-sozialistischen Wissenschaftsbegriff die entscheidende Ursache für die gegenwärtigen Konflikte an den Hochschulen und für die Krise der Geistes-und Sozialwissenschaften sehen, werden die Vertreter dieser Gruppen in den demokratisch gewählten Selbstverwaltungsgremien keinen Maßnahmen gegen die Marxisten zustimmen. Eine Therapie, die durch administrative Maßnahmen gegen den geistigen Einfluß der marxistisch-sozialistischen Wissenschaftskonzeption zur Gesundung und einem neuen Aufschwung der Geistes-und Sozialwissenschaften beitragen soll, ist daher nur durchzuführen, wenn die Mitbestimmungsrechte der Studenten, Assistenten und anderen Dienstkräfte radikal eingeschränkt oder gar nicht erst gewährt werden, wenn die Autonomie der Universitäten zugunsten umfassender Eingriffsmöglichkeiten für den Staat weitgehend abgebaut wird und wenn die zahlenmäßig kleinste aller am Wissenschaftsprozeß beteiligten Gruppen, nämlich die Ordinarien, qua Gesetz in allen Gremien, die über Personalfragen, Studienpläne und -Inhalte entscheiden, die absolute Mehrheit erhalten. Genau das aber ist der rationale Kern aller hochschulpolitischen Forderungen und Vorschläge der Gegenreformer. Ein programmatischer Aufsatz von Alexander Schwan, der im Juni 1972 unter dem Titel „Was will die Liberale Aktion?“ anläßlich der Wahlen an der Freien Universität in Berlin veröffentlicht wurde, zeigt besonders deutlich, wie ein engagierter Befürworter der Hochschulreform auf der Grundlage des theoretischen Wissenschaftspluralismus zu der Diagnose gelangt, daß gerade das ursprünglich von ihm gegen konservative Kritiker verteidigte Hochschulgesetz mit seinen demokratischen Mitbestimmungsrechten für alle Gruppen der Universität die Ursache für eine gefährliche Entwicklung an der FU in Berlin ist. Seine scharfe Kritik an der Reformpraxis an der FU faßt die entscheidenden Vorwürfe zusammen, die gegen die hochschulpolitische Entwicklung nach Verabschiedung des progressiven Hochschulgesetztes im Jahre 1969 erhoben werden. Die Notwendigkeit der Novellierung dieses Gesetzes begründet er mit der Feststellung, daß die Ergebnisse der Re-fompraxis nicht den ursprünglichen Zielvorstellungen entsprechen, die er wie folgt formuliert: „Die Hochschulreform sollte im liberalen Verständnis rationale Formen des Konfliktsaustrags" gewährleisten und somit „die Leistungsfähigkeit einer freien, offenen, kritischen und selbstkritischen, pluralistischen Wissenschaft" wie auch „eine auf den Dialog und die Zusammenarbeit verschiedener wissenschaftstheoretischer und politischer Richtungen gegründete Hochschuldemokratie sichern."

Nach Auffassung Alexander Schwans hat aber die Hochschulreform in Berlin nicht zu diesen wünschenswerten Ergebnissen geführt, sondern zu folgendem unhaltbaren Zustand: „Wir haben ein massives Vordringen dogmatisch-kommunistischer und linksopportunistischer Kräfte in der FU zu verzeichnen, die sich der neuen Entscheidungsstruktur bedienen, um via Personalpolitik, Satzungsentscheidungen, Prüfungsbestimmungen u. ä. ihr Lager fest zu etablieren und immer mehr auszudehnen. Durch forcierte Erweiterung eines sich marxistisch verstehenden Lehrkörpers, durch Formalisierung der Studiengänge, durch Aufweichen der Prüfungsordnungen ... wurde und wird — vor allem in den sozial-und geisteswissenschaftlichen Disziplinen, nicht nur dort — ein geschlossen sozialistischer Studiengang und Lehrbetrieb begründet, der die Studierenden von Anfang bis Ende ihres Studiums indoktrinieren und sie zugleich vor der . bürgerlichen'Wissenschaft bewahren soll. Mit solch stupidem Dogmatismus wird der Wissenschaftspluralismus — Grundlage der Freiheit des Lernens, Lehrens und Forsehens — im Kern bedroht, zumal immer wieder auch Vertreter und Lehrveranstaltungen anderer Wissenschaftsrichtungen aktiv angegriffen und in ihrem Daseinsrecht an der FU bestritten wurden. Setzen sich die Mentalität und Anmaßung in Zukunft noch mehr durch als bisher, so sinkt die FU zu einer Partei-und Glaubensschule — wenn auch ohne reale Partei — herab."

Die folgende kritische Analyse geht von der zu begründenden Auffassung aus, daß die Diagnose der engagierten Pluralisten falsch ist, die Nichtanerkennung der theoretischen Postulate des Wissenschaftspluralismus durch die Marxisten gar nicht die entscheidende Ursache der gegenwärtigen Krise ist, also auch die Therapie — nämlich administrative und legislative Maßnahmen gegen den marxistischen Einfluß — die wirklichen Probleme der Geistes-und Sozialwissenschaften nicht zu lösen vermag.

Zuerst sei die Diagnose der engagierten Pluralisten mit dem folgenden Argument in Frage gestellt: Wenn die Annahme richtig wäre, daß das Wesen der Wissenschaft und die Grundlagen der Freiheit von Lehre und Forschung gegenwärtig deshalb bedroht seien, weil infolge der Beteiligung von Marxisten am Wissenschaftsbetrieb nicht mehr alle Wissenschaftler die theoretischen Postulate und Normen des Wissenschaftspluralismus anerkennen, dann wären das Wesen der Wissenschaft und die Grundlagen ihrer Freiheit schon immer bedroht gewesen. Denn auch in Zeiten, in denen marxistische Wissenschaftler an deutschen Universitäten überhaupt keinen nennenswerten Einfluß ausübten, haben die zugelassenen und vorherrschenden wissenschaftlichen Richtungen die theoretischen Postulate des Wissenschaftspluralismus nur völlig unzureichend praktiziert und sich keineswegs zueinander so aufgeschlossen und tolerant verhalten, wie es diese Postulate fordern.

Wertfreiheit der Wissenschaft — Voraussetzung für den Wissenschaftspluralismus?

Darüber hinaus stimmen diese Postulate nicht bei allen Pluralisten überein, so daß einige bestimmte Postulate eindeutig ablehnen, wie zum Beispiel das positivistische Postulat der Wertfreiheit der Wissenschaft, das Professor Werner Stein, Senator für Wissenschaft und Kunst in Berlin, in seinem bereits zitierten Artikel „Staat, Hochschule, Pluralismus" als für alle Wissenschaftler verbindlich erklärte. Indem er auf der Grundlage dieses Postulats der Wertfreiheit Wissenschaft und Politik, Erkennen und Handeln strikt voneinander trennte, verlangte er von der Wissenschaft politische Neutralität und lehnte er ein politisches Mandat der Wissenschaft mit der Begründung ab: „Der wissenschaftliche und politische Entscheidungsprozeß sind völlig unterschiedlich und daher mit Recht verschiedenen gesellschaftlichen Institutionen übertragen.“ Zurückzuweisen seien Versuche — nach Steins Aussage erst „in letzter Zeit“ unternommen —, „durch neue Definitionen des Begriffs Wissenschaft'diesen fundamentalen Unterschied zu verundeutlichen“

Mit seiner Formulierung, daß „in der letzten Zeit versucht (wird)", den Begriff Wissenschaft neu zu definieren, erweckt Stein bei uninformierten Lesern den Eindruck, es habe selbstverständlich immer nur den einzig richtigen Wissenschaftsbegriff des Positivismus gegeben, der nur Tatsachenaussagen anerkennt, Werturteile und Handlungsanweisungen für die Praxis aber als nicht zum Bereich der Wissenschaft gehörend ausschließt. Und er erweckt auch den Eindruck, daß es natürlich wieder die Marxisten sind, die „in der letzten Zeit" versuchen, diesen selbstverständlich einzig richtigen Wissenschaftsbegriff in Frage zu stellen.

Stein unterschlägt in seinen Ausführungen die Tatsache, daß der von ihm anerkannte Positivismus nur ein Wissenschaftsbegriff von vielen ist und daß er überhaupt nur deshalb entstehen konnte, weil angesichts der Fortschritte der exakten Naturwissenschaften einige Philosophen und Wissenschaftler schon in früherer Zeit versuchten — was auch damals schon zurückgewiesen wurde —, den bislang vorherrschenden normativ-prakti-sehen Begriff der Sozialwissenschaften in Frage zu stellen und neu zu definieren. Wollte man tatsächlich nur den an der Methodologie der Naturwissenschaften orientierten Wissenschaftsbegriff des Positivismus anerkennen und als wissenschaftlich zulassen, dann müßte man nicht nur die gesamte sozial-und politikwissenschaftliche Tradition seit Platon und Aristoteles verleugnen, sondern dann müßte man auch eine Vielzahl aktueller sozialwissenschaftlicher Richtungen aus den Universitäten ausschließen, um endlich den Wissenschaftspluralismus zu verwirklichen, der bisher noch durch die Pluralität wissenschaftlicher Richtungen bedroht ist. Doch das könnte selbst Senator Stein nicht wollen, da nicht nur Marxisten davon betroffen wären.

Der Ausschluß aus den Universitäten wegen Abweichung vom positivistischen Wissenschaftsbegriff würde auch eine Richtung treffen, die im Nachkriegsdeutschland zeitweilig vorherrschend war und auch jetzt noch an einigen Universitäten, wie Freiburg und München, eine wichtige Rolle spielt, nämlich die normativ-praktische Konzeption der Politikwissenschaft, auch Freiburger Schule genannt, weil einer ihrer bedeutendsten Repräsentanten, Arnold Bergstraesser, an der Freiburger Universität lehrte

Während Werner Stein eine Ursache für den ungesunden Zustand der Sozialwissenschaften in der Abweichung vom positivistischen Postulat der Wertfreiheit sieht, sehen die Anhänger der normativ-praktischen Konzeption gerade in der Anerkennung dieses Postulats die Ursache für „die Auflösung der politischen Wissenschaft" „Ihr gegenwärtiger Zustand ist die Folge des Ausweichens vor aller normativen Bestimmung des politisch zu Fordernden und Aufgegebenen.“ Durch die Besinnung auf die Tradition, vor allem von Platon und Aristoteles, will Hennis zur Rekonstruktion eines normativen Wissenschaftsbegriffes beitragen, was auch deshalb notwendig ist, weil „die positivistische Zer-Störung der politischen Wissenschaften noch nicht überwunden ist", wie Eric Voegelin feststellte Gegen das Postulat der Wertfreiheit postuliert Hennis: „Es sind wertfreie Sozialtheorien denkbar, aber keine wertfreien politischen Theorien. Die Realität des Politischen steht immer unter einem sittlichen Anspruch, auch ihre Erkenntnis ist nur möglich durch eine das sittliche Urteil berücksichtigende Brechung." *

Während Werner Stein auf der Grundlage seines positivistischen Postulats der Wertfreiheit wissenschaftliches Erkennen und politisches Handeln scharf trennt und ein politisches Mandat der Wissenschaft strikt ablehnt, betonen die Anhänger der normativ-praktischen Konzeption ausdrücklich den untrennbaren Zusammenhang von wissenschaftlichem Erkennen und politischem Handeln. Im Gegensatz zur deskriptiv-analytischen Wissenschaft, deren Gegenstand nur das Bestehende oder Vergangenes ist, definiert Dieter Oberndorfer, Schüler von Bergstraesser, die Aufgaben der normativ-praktischen Wissenschaftskonzeption wie folgt: „Die Konzeption einer praktischen Wissenschaft von der Politik gewinnt den Horizont ihres Forschens nicht aus dem Ziel der Beschreibung von Geschehenem, sondern aus der Frage, was im Lichte des Möglichen und wünschbar Guten geschehen solle und könne. . . . Die Forschung dieser also auf res gerandae bezogenen Wissenschaft richtet sich damit auf mögliches und wünschbares Künftiges." Aus dieser Aufgabenstellung ergibt sich ein anderes Verhältnis zur politischen Praxis, als es Werner Stein für zulässig hält: „Insofern sich die Wissenschaft von der Politik dergestalt das Vordenken von Praxis, von Handeln zur Aufgabe macht, kann sie in Anlehnung an die klassisch-aristotelische Wissenschaftseinteilung als eine praktische bezeichnet werden." Die von der deskriptiv-analytischen Wissenschaft geleistete Beschreibung politischer Sachverhalte ist für Oberndorfer nicht Selbstzweck, sondern nur Mittel, um Grundlagen für das Vordenken politischen Handelns zu erarbeiten: „Die politisch-soziale Deskription soll prinzipiell in die Frage nach den in der jeweiligen historischen Konstellation enthaltenen Alternativmöglichkeiten politischen Handelns einmünden."

Die aus dem normativ-praktischen Ansatz folgende Kritik am positivistischen Wissenschaftsbegriff veranlaßt Oberndorfer zu einem positiven Urteil über die kritisch-dialektische Konzeption der Frankfurter Schule und zu der Feststellung, daß den Zielen der praktischen Wissenschaft jene Vertreter der Soziologie nahestehen, „die als bewußt wertende, gesellschaftskritische, zum Bau einer besseren, menschenwürdigeren Gemeinschaft beitragen wollen" Die Abweichung vom positivistischen Wissenschaftsbegriff, die der sozialdemokratische Senator Stein für unvereinbar mit Wissenschaft hält, zählt auch heute noch der konservative Münchener Wissenschaftler Lobkowicz zu den Verdiensten der Neuen Linken

Wäre dagegen das Postulat der Wertfreiheit tatsächlich verbindlich, dann müßten auch diese sogar von konservativen Wissenschaftlern geschätzten Vertreter der kritisch-dialektischen Theorie aus dem staatlich anerkannten Wissenschaftsbetrieb ausgeschlossen werden. Denn es waren zunächst gar nicht die polit-ökonomisch orientierten Marxisten, sondern Adorno, Horkheimer, Marcuse, Habermas, also die Vertreter der Frankfurter Schule, die in den sechziger Jahren den Wissenschaftsbegriff der Neopositivisten radikal in Frage gestellt haben. Und Vertreter der Frankfurter Schule haben den traditionellen Marxismus ausgerechnet mit dem Argument kritisiert, daß er einen heimlichen Positivismus enthalte Die Vermutung eines heimlichen Positivismus im Marxismus, die vielleicht Senator Stein zu seiner Anerkennung als Wissenschaft veranlassen könnte, wurde selbstverständlich in marxistischer Sicht als schwerer Vorwurf empfunden und daher scharf zurückgewiesen Die von Stein inkriminierte Abweichung der Marxisten vom Postulat der Wertfreiheit kann kaum die Ursache dafür sein, daß der freiheitliche Wissenschaftspluralismus gefährdet ist, weil nämlich viel mehr Wissenschaft-ler anderer Richtungen dieses Postulat ebenfalls ablehnen und auch zahlreiche Vertreter der theoretischen Konzeption des Wissenschaftspluralismus einer normativen Sozialwissenschaft zuneigen.

Dialogische Auseinandersetzung oder polemische Isolation

Auch das theoretische Postulat, daß die unterschiedlichen Richtungen für ihre eigene Wissenschaft keinen Wahrheitsanspruch geltend machen dürften und verpflichtet wären, mit den anderen Richtungen eine ständige dialogische Auseinandersetzung zu führen, um sich mit ihnen gemeinsam der Wahrheit anzunähern, ist zwar eine anzuerkennende Zielvorstellung, wäre aber auch bei Ausklammerung der Marxisten noch keineswegs die Realität des Wissenschaftsbetriebes. Die bedeutendste wissenschaftstheoretische Auseinandersetzung in der Bundesrepublik, der so-genannte Positivismusstreit in den sechziger Jahren, war durchaus kein Dialog, der im Sinne des theoretischen Pluralismus zu einer gemeinsamen Annäherung an die Wahrheit führte, sondern ein unversöhnlicher und polemischer Streit, in dem jede Seite die eigene Wissenschaftskonzeption für richtig, die gegnerische aber für hielt. Obwohl im Verlauf der Auseinandersetzung Gegensätze noch größer wurden, kam damals niemand auf die Idee, dem Dialektiker Habermas und dem kritischen Rationalisten Albert müßte die Qualifikation als Wissenschaftler abgesprochen werden und die Freiheit von Lehre und Forschung sei bedroht, weil sie den Pluralismus auf den Dualismus Kritische Theorie und Neopositivismus reduzierten, sich gegenseitig scharf kritisierten, partout nichts voneinander lernen wollten.

Wolf-Dieter Narr schreibt, verweisend auf die Gegensätze und Unterschiede zwischen den verschiedenen Wissenschaftskonzeptionen: . Sie haben bis heute nicht zu gegenseitiger fortführender Kritik, sondern allenfalls zu gegenseitiger Abdichtung und Polemik geführt." Um „die gegenseitige polemische Isolation der drei Theorieansätze" — dazu gehörte damals noch nicht der marxistische — zu erläutern, zitiert Narr folgende Aussage des Münchner Philosophen Stegmüller, die zeigt, daß auch zwischen den verschiedenen Richtungen der sich differenzierenden Gegenwartsphilosophie keineswegs das von den engagierten Pluralisten geforderte dialogische Verhältnis herrscht: „Parallel mit dieser Differenzierung verläuft als zweites Charakteristikum ein Prozeß der gegenseitigen Entfernung und zunehmenden Kommunikationslosigkeit zwischen den Philosophen verschiedener Richtungen. ... Darin kommt nämlich nichts Geringeres als dies zum Ausdruck, daß das Wort . Philosophie'ein vieldeutiger Terminus geworden ist."

„Gegenseitige polemische Isolation“, „gegenseitige Abdichtung und Polemik" und „gegenseitige Entfernung und zunehmende Kommunikationslosigkeit" sind gegenwärtig gewiß auch weitgehend charakteristisch für das Verhältnis zwischen marxistisch-sozialistischer und anderen Wissenschaftskonzeptionen. Aber erst gegenüber der marxistischen werden gezogen, Richtung Schlußfolgerungen an die bisher niemand dachte, nämlich dieser Richtung die Qualifikation als Wissenschaft abzusprechen und sie durch institutioneile Trennung von den anderen Richtungen aus dem anerkannten Wissenschaftsbereich auszugliedern. Ein Beispiel dafür ist die Forderung nach einer Teilung des Otto-Suhr-Institutes in Berlin in einen nichtmarxistischen und einen marxistischen Teil. Begründet wurde die Notwendigkeit der Spaltung mit dem Hinweis auf eben jene „Kommunikationslosigkeit", die auch das Verhältnis zwischen anderen Richtungen charakterisiert, Ohne den Wunsch nach institutioneller Trennung entstehen zu lassen: „Die Spaltung der Berliner Politikwissenschaft in zwei Lager, die sich gegenwärtig wissenschaftlich nichts zu sagen haben, ist infolge der Intransigenz der Marxisten bereits seit geraumer Zeit praktisch vollzogen." Ein Indiz dafür, daß Grundlage der gegenwärtigen Krise nicht die marxistisch-sozialistische Wissenschaftskonzeption ist, wird sichtbar, wenn man die Unterschiede zwischen der Kontroverse um den Wissenschaftspluralismus und dem Positivismusstreit der sechziger Jahre untersucht. Während die Auseinandersetzungen um den Wissenschaftspluralismus eine breite publizistische Resonanz in der gesamtgesellschaftlichen Öffentlichkeit finden und unter Beteiligung von Politikern und Journalisten auch in den Massenmedien ausgetragen werden, wurde die wissenschaftstheoretische Kontroverse zwischen Vertretern der Frankfurter Schule (Adorno, Habermas) und des Neopositivismus oder Kritischen Rationalismus (Popper, Albert) zunächst von der Öffentlichkeit, selbst der breiteren universitären Öffentlichkeit, kaum bemerkt und nur von wenigen Wissenschaftlern auf exklusiven Fachtagungen und in Fachzeitschriften ausgetragen.

Auch aus der Argumentation von Sontheimer und Schwan ist indirekt zu entnehmen, daß die eigentliche Problematik der Kontroverse um den Wissenschaftspluralismus und der gegenwärtigen Krise in einem weit komplizierteren Phänomen als im marxistisch-sozialistischen Wissenschaftsbegriff zu suchen ist. Sontheimer begründet nämlich seine Befürchtung, daß durch den marxistischen Wissenschaftsbegriff der Wissenschaftspluralismus zerstört werde, indem er auf folgende Situation an einigen Fachbereichen der Freien Universität in Berlin hinweist: „Dort gibt es zwar nach wie vor eine Mehrheit von Dozenten, die dem liberalen Wissenschaftspluralismus verschrieben sind, aber sie werden in wachsendem Maße funktionslos gemacht durch die wirksame Bindung der Masse der Studenten an ein marxistisches Studienmodell, das vorwiegend von Assistenten und Tutoren marxistischer Überzeugung betreut wird. Marxistisch geschulte Studenten, zeigen jedoch keinerlei Interesse mehr für wissenschaftlichen Pluralismus. Sie werden immun gemacht gegenüber bürgerlicher Wissenschaft, so daß die Mehrheit der Studierenden überhaupt nicht mehr mit bürgerlicher Wissenschaft und ihren zahlreichen Varianten vertraut gemacht werden kann."

Dieses Beispiel zeigt deutlich, daß die eigentliche Problematik und die Ursache dieses Sachverhaltes nicht im marxistischen Wissenschaftsbegriff und in seinem antagonistischen Verhältnis zu den anderen Richtungen zu sehen ist, sondern vielmehr im Denken und Verhalten der überwiegenden Mehrheit der Studenten.

Dieses keineswegs zu leugnende einseitige Interesse an marxistisch plakatierten Lehrveranstaltungen war übrigens weitgehend auch Folge eines Nachholbedarfs, der inzwischen soweit gedeckt ist, daß auch die linken Studenten wieder in viel stärkerem Maße soge-nannte „bürgerliche" Lehrveranstaltungen besuchen und damit den Pluralismus auch auf der Nachfrageseite wiederherstellen. Aber selbst wenn dogmatische Denk-und Verhaltensstrukturen die Ursache für dieses einseitige Interesse an marxistischer Wissenschaft waren und sind — was in vielen Fällen durchaus zutrifft —, so ist doch sowohl empirisch als auch theoretisch die Auffassung zu widerlegen, daß diese dogmatischen Denkund Verhaltensstrukturen bei den Studenten deshalb entstanden, weil sie an der Universität dem intellektuellen Einfluß der marxistischen Wissenschaftskonzeption ausgesetzt sind.

Wenn Alexander Schwan in einem Gespräch mit der Tageszeitung „Der Abend" erklärt: „Die Anfangssemester kommen schon richtig geil, gierig, brünstig nach Schulungskursen zu uns" — so gesteht er damit zu, daß sich die dogmatische und einseitige Interessen-orientierung bei diesen Studenten schon in der Schule entwickelte, also noch bevor sie mit den marxistischen Dozenten in Berührung kamen, die andererseits für diesen Dogmatismus verantwortlich sein sollen. Schwan selbst erklärte diesen Dogmatismus im weiteren Gespräch auch gar nicht mit dem Wirken der Marxisten, sondern mit einem Faktor, für den kaum die Marxisten verantwortlich gemacht werden können, nämlich wie es im Bericht der Zeitung referiert wird: „Professor Schwan erklärt diese Sucht nach Ideologie der Jung-studenten mit einer Negativ-Reaktion auf den katastrophal mangelhaften Unterricht in Sachen Demokratie in den Schulen."

Die eigentliche Problematik der Krisen-und Konfliktsituation an den Hochschulen liegt in Denk-und Verhaltensweisen bei vielen Schülern und Studenten, die schon entstanden sind, bevor sie mit dem marxistischen Wissenschaftsbegriff in Berührung kamen. Wer die marxistische Wissenschaftskonzeption als Ursache für die Entstehung dogmatischer Denk-und Verhaltensweisen betrachtet, geht darüber hinaus von der wissenschaftlich nicht haltbaren Prämisse aus, daß dogmatische und auch irrationale Denk-und Verhaltensstrukturen einzig und allein auf intellektuellem Wege und durch intellektuelle Einflüsse entstehen, also durch intellektuelle Rezeption dogmatischer Gedanken und Theorien, durch Hören dogmatischer Vorlesungen, durch Unterricht bei dogmatischen Lehrern, durch Lesen dogmatischer Bücher, durch Gespräche mit Dogmatikern. (Wenn das so wäre, wo kämen dann übrigens die ungebildeten Dogmatiker und Irrationalisten her!?). Wenn diese Prämisse zuträfe, wenn also Studenten und Schüler tatsächlich nur deshalb dogmatisch und antiliberal wurden, weil man ihnen gestattete, dogmatische und antiliberale Gedanken und Theorien zur Kenntnis zu nehmen, dann könnte man die ganze Problematik sehr leicht lösen. Denn dann könnte man sie leicht wieder zu geistig aufgeschlossenen und liberalen Pluralisten machen, wenn man ihnen nicht erlaubte, dogmatische Gedanken zu rezipieren und sie statt dessen zwänge, liberale und pluralistische Ideen zu studieren.

Doch da diese Annahme nachweislich falsch ist, irren jene Wissenschaftler und Hochschulpolitiker, die glauben, man könne durch die administrative Eindämmung der marxistischen Wissenschaftskonzeption zur Gesundung der Geistes-und Sozialwissenschaften beitragen. Denn damit wendet man sich nur gegen ein Symptom der gegenwärtigen Krisen-und Konfliktsituation, weicht aber der wissenschaftlichen und politischen Auseinandersetzung mit der eigentlichen Problematik aus, die in der radikalen Bewußtseins-und Verhaltensänderung der jungen Generation zu sehen ist. So ungeklärt es auch sein mag, welche unterschiedlichen Faktoren die Protestbewegung Ende der sechziger Jahre ausgelöst und ihre Entwicklung in den letzten Jahren beeinflußt haben so klar ist es jedoch: Der zunehmende Einfluß des Marxismus ist nicht die Ursache für diese radikale Bewußtseinsänderung, sondern die in der Protestbewegung erstmals zum Ausdruck gekommene Bewußtseinsrevolte ist umgekehrt die Ursache für den zunehmenden Einfluß des Marxismus. Ein Merkmal des veränderten Bewußtseins ist das Bedürfnis nach neuen Wert-und Zielvorstellungen, das weder von den eher konservativen normativen Sozialwissenschaften noch von den eher liberalen, aber wertfreien und positivistisch orientierten Sozialwissenschaften befriedigt werden konnte. So bot sich nach der Enttäuschung über die mangelnde Verbindung der Frankfurter Schule zur politischen Praxis für viele der Marxismus als neue Weltanschauung an.

Die Ideen der Neuen Linken und die Renaissance des Marxismus sind nur theoretischer Ausdruck dieser Bewußtseins-und Verhaltens-Revolution. Nur wer sich dieses Hinter-grundes bewußt ist, vermag die gesamtgesellschaftliche Bedeutung der Kontroverse um den Wissenschaftspluralismus zu erkennen und zu sehen, daß Grundlage dieser im Hochschulbereich stattfindenden Kontroverse eine Herausforderung ist, die nicht nur an die Geistes-und Sozialwissenschaften gerichtet ist, sondern an die Gesamtgesellschaft.

Liberal-pluralistische oder autoritär-repressiveLösung der Krise in Hochschule und Gesellschaft

Die in dieser Krise enthaltene Herausforderung ist in erster Linie an die konsequenten Vertreter einer liberal-pluralistischen Demokratie gerichtet, weil es vor allem von ihrer politischen Antwort abhängen wird, ob diese Krise eine dynamische und liberal-pluralistische oder eine autoritär-repressive Lösung finden wird, ob zur Lösung dieser Krise die liberal-pluralistischen Elemente unseres politischen Systems gefestigt und weiter ausgebaut oder abgebaut werden. Überlegungen für eine Lösung der im Streit um den Wissenschaftspluralismus zum Ausdruck kommenden Krise in den Geistes-und Sozialwissenschaften können nur zu praktisch relevanten Ergebnissen führen, wenn sie die gesamtgesellschaftlichen Grundlagen dieser Krise berücksichtigen und daher von der Einsicht ausgehen, daß eine angemessene Antwort auf die Herausforderung im wissenschaftlichen Bereich nur zu geben ist im Zusammenhang mit einer gesamtgesellschaftlichen Entgegnung.

Der Begriff Krise ist keineswegs negativ zu verstehen, er bezeichnet vielmehr ein Phänomen, das als Voraussetzung für konsequente und grundlegende gesellschaftliche Veränderungen anzusehen ist, nämlich die Bewußtseins-Revolution der Neuen Linken, die das Selbstverständnis der etablierten Wissenschaft und Gesellschaft, ihre Wert-, Ziel-und Ordnungsvorstellungen radikal in Frage gestellt hat und in den Augen vieler Menschen fragwürdig oder unglaubwürdig werden ließ.

Diese Krise enthält durchaus auch Gefahren für Freiheit, Demokratie, Pluralismus und geistig-politischen Liberalismus. Eine Krise des Selbstverständnisses einer Gesellschaft macht zwar grundlegende gesellschaftliche Veränderungen möglich und notwendig, aber sie garantiert keineswegs, daß sich diese Veränderungen in Richtung des Fortschritts zu mehr Demokratie, Freiheit und Mitbestimmung vollziehen. Möglich ist auch eine autoritär-repressive Lösung dieser Krise, also durch Abbau der liberal-pluralistischen Elemente des politischen Systems, und zwar aus folgenden Gründen und unter folgenden Voraussetzungen: Ein liberal-pluralistisches System ist noch nicht allein durch bestimmte Institutio-B nen und Verfassungsbestimmungen lebensfähig, sondern hat noch eine unentbehrliche Voraussetzung im Bewußtsein der Bevölkerung, nämlich einen Minimalkonsensus einer breiten Mehrheit der Bevölkerung. Dieser Minimalkonsensus ist eine Voraussetzung dafür, daß sich eine Vielzahl kontroverser Ideen, Meinungen und Interessen innerhalb des Minimalkonsensus artikulieren und organisieren kann, ohne die für die Funktionsfähigkeit des liberal-pluralistischen Systems notwendige Einheit durch eine Polarisierung zu gefährden. Ein breiter Minimalkonsensus und liberal-pluralistische Überzeugungen der Mehrheit bilden auch die Voraussetzung dafür, daß eine Gesellschaft selbst solchen Meinungen, Ideen und Interessen die Freiheit zubilligen kann, sich zu artikulieren und zu organisieren, die schon außerhalb des Minimalkonsensus stehen.

Wenn aus der Krise des Selbstverständnisses einer Gesellschaft kein neuer Minimalkonsensus hervorgeht, der die große Mehrheit der Bevölkerung umfaßt, wenn sich dagegen eine Spaltung der Gesamtgesellschaft in zwei oder mehrere etwa gleichgroße, sich bekämpfende Gruppen entwickelt, wird die für die Funktionsfähigkeit der Gesellschaft erforderliche Einheit zerstört. Unter diesen Voraussetzungen bietet sich eine autoritär-repressive Lösung der Krise an: Da infolge der Polarisierung der Gesamtgesellschaft die für ihre Funktionsfähigkeit notwendige Einheit nicht mehr durch freiwilligen Konsensus aufrechtzuerhalten ist, übernimmt eine der partikularen Gruppen die Macht und stellt die notwendige Einheit gewaltsam her, indem sie ihre eigenen Normen und Interessen als die der Gesamtgesellschaft ausgibt und die anderen Teile der Gesellschaft gewaltsam daran hindert, davon abweichende Interessen sowie Wert-und Zielvorstellungen zu vertreten. Wenn ein Minimalkonsensus einer großen Mehrheit der Bevölkerung Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit eines liberal-pluralistischen Systems ist, dann scheinen die bisherigen Reaktionen auf die Herausforderung der Neuen Linken auf den ersten Blick durchaus geeignet, die Grundlagen der pluralistischen Demokratie zu stärken. Denn rationaler Kem dieser Reaktionen scheint es doch zu sein, in Hochschule und Gesellschaft ein übergreifen des politischen Denkens der Neuen Linken, das sich doch offensichtlich außerhalb des pluralistischen Minimalkonsensus bewegt, auf breitere Bevölkerungskreise zu verhindern. Während in den Hochschulen größere Einflußmöglichkeiten des Staates und veränderte Paritäten in den Mitbestimmungsgremien — Mehrheiten für Hochschullehrer — diesem Ziel dienen, soll der Einfluß dieses Denkens im gesamtgesellschaftlichen Bereich vor allem mit Hilfe der Beschlüsse der Ministerpräsidentenkonferenz vom 28. Januar 1972 eingedämmt und zurückgerollt werden. Diese „Grundsätze zur Frage der verfassungsfeindlichen Kräfte im öffentlichen Dienst“ wurden in den letzten Jahren unter Begriffen wie „ Radikalenerlaß", „Extremistenbeschluß“, „Berufsverbote" zu einem zentralen Thema der innenpolitischen Auseinandersetzungen und der Diskussion um das Selbstverständnis unserer pluralistischen Demokratie

Minimalkonsensus für ein liberal-pluralistisches System nur unter Einbeziehung der Neuen Linken

Nur bei oberflächlicher Betrachtung klingt die Argumentation überzeugend, man könne durch extensive Auslegung und Anwendung des „Extremistenbeschlusses" den herrschenden Minimalkonsensus sichern, indem man die „Extremisten" und „Radikalen“, deren Meinungen und Theorien außerhalb dieses Konsensus stehen, von wissenschaftlichen und pädagogischen Berufen fernhält, auf diese Weise die heranwachsende Generation ihrem geistigen Einfluß entzieht und verhindert, daß die vom Konsensus abweichenden Ideen einen nennenswerten Prozentsatz der Bevölkerung erfassen. Tatsächlich ist aber mittel-und langfristig die Funktionsfähigkeit eines liberal-pluralistischen Systems in der Bundesrepublik nicht zu gewährleisten, indem man auf administrativ-bürokratischem Wege einen bestehenden breiten Minimalkonsensus am Leben zu erhalten versucht, sondern nur, indem man in einer fundierten geistigen Auseinandersetzung auf intellektuellem Wege einen neuen Minimalkonsensus herstellt. Für die Zukunft politisch tragfähig kann ein solcher Minimalkonsensus aber nur sein, wenn die Neue Linke davon nicht pauschal ausgeschlossen wird, sondern wenn ihre Hauptströmungen eingeschlossen werden, also wenn die meisten der von diesem Denken beeinflußten Menschen für einen liberal-pluralistischen Minimalkonsensus gewonnen werden können.

Die Begründung für diese Behauptung liegt — zunächst für die Hochschulen — in einem Sachverhalt, der gleichzeitig zu erklären vermag, warum in den Kontroversen zwischen marxistischen Richtungen und der sogenannten bürgerlichen Wissenschaft die Spielregeln der wissenschaftlichen Auseinandersetzung nur unzureichend beachtet werden und warum sich zahlreiche Studenten oft nur einseitig für marxistische Lehrveranstaltungen interessieren oder die bürgerliche Wissenschaft a priori geringschätzen: Die von unterschiedlichen Positionen aus angegriffene und für die Krise in den Geistes-und Sozialwissenschaften verantwortlich gemachte marxistisch-sozialistische Richtung nimmt innerhalb dieser Wissenschaften insofern eine Sonderstellung ein, als sie keine universitäre Tradition besitzt und sich nicht organisch innerhalb der Fachdisziplinen entwickeln konnte. Denn da im Zeichen des militanten Antikommunismus in der Bundesrepublik — anders als in den übrigen westlichen Demokratien mit einer starken liberalen Tradition — den Marxisten in der Regel die Universitäten verschlossen waren, gibt es erst seit der durch die Protest-bewegung in einigen Bundesländern ausgelösten Hochschulreform einige wenige marxistische Hochschullehrer, während eine nennenswerte Zahl marxistischer Dozenten nur unter den jüngeren Assistenten zu finden ist. Aber sowohl die nicht-marxistischen als auch die marxistischen Wissenschaftler haben keine Erfahrung in der Auseinandersetzung zwischen so kontroversen Wissenschaftskonzeptionen. Unter dem Gesichtspunkt der innerwissenschaftlichen Auseinandersetzung ist es für die marxistische Richtung ein Nachteil, daß sie sich nicht innerhalb der Fachdisziplinen in ständiger Auseinandersetzung mit anderen Konzeptionen entwickeln konnte. Selbst gegenwärtig, da viele schon eine Monopolstellung des Marxismus fürchten, ist er noch kein nennenswerter Faktor in den etablierten fach-wissenschaftlichen Disziplinen, auf exklusiven fachwissenschaftlichen Kongressen in den zahlreichen fachwissenschaftlichen Zeitschriften und Büchern, die von Fachwissenschaftlern für Fachkollegen geschrieben werden, von diesen gelesen, zitiert und rezensiert werden und daher fachwissenschaftliche Karrieren fördern oder hemmen.

Diese unter fachwissenschaftlichen Gesichtspunkten nachteilige Stellung der marxistischen Richtung im etablierten Wissenschaftsbetrieb war aber ihr großer Vorteil unter dem Gesichtspunkt einer über die Fachgrenzen hinausgehenden intellektuellen Breitenwirkung. Denn die Entwicklung des marxistischen Denkens in der Bundesrepublik wurde nicht bestimmt und eingeengt durch die Kriterien, die Tradition, die Bedürfnisse, die Sachzwänge und Rücksichten des etablierten Wissenschaftsbetriebes, sondern vollzog sich in enger Verbindung mit der Protestbewegung, orientierte sich an den Interessen, Bedürfnissen, Problemen und Fragestellungen dieser intellektuellen Bewegung und brachte dabei eine auf größere Breitenwirkung eingestellte Kommunikationsstruktur hervor. Wenn Wissenschaft, über wertfreie Tatsachenaussagen hinausgehend, auch ein Prozeß der Bewußtseinsbildung, der Selbstreflexion und der Entwicklung von Wert-und Zielvorstellungen für breitere Bevölkerungskreise ist, dann ist marxistisch orientiertes Denken, vor allem in den aktiven Gruppen der jüngeren Generation, in der Bundesrepublik heute schon weitgehend vorherrschend. Das, was die etablierte Fachwissenschaft lehrt, wird zwar auch noch gelernt, wenn es für Prüfungen gebraucht wird. Aber die Ideen, Theorien, methodischen Ansätze, die das Denken und Verhalten, die eigene Überzeugung und das aktive Engagement eines großen Teils der intellektuellen jungen Generation prägen, sind marxistisch bestimmt. Das hängt nicht nur damit zusammen, daß die Themen und . Fragestellungen der Fachwissenschaften oft tatsächlich nur für Fachkollegen interessant sind, sondern auch mit der exklusiven Kommunikationsstruktur der Fachwissenschaften:

Während bei den von anerkannten und etablierten Fachwissenschaftlern veröffentlichten Büchern und Zeitschriften in der Regel nur die Preise sehr hoch sind, die Auflagenzahlen aber extrem niedrig, sind umgekehrt bei den sozialistisch und marxistisch orientierten Veröffentlichungen in der Regel die Auflagenzahl sehr hoch, die Preise aber erstaunlich niedrig.

Diese, die enge Begrenzung der Fachwissenschaft weit überschreitende breite Kommunikationsstruktur entstand nicht in erster Linie durch die Verbindung mit sachfremden politischen Interessen außerhalb des Aufgabenbereichs von Wissenschaft, sondern sie ist sachlich notwendig wegen des Funktionswandels der Sozialwissenschaften: sie dienen nämlich nicht mehr vorwiegend der Wissenschaft selbst und der Ausbildung des eigenen Nachwuchses, sondern sie übernehmen zunehmend eine Ausbildungsfunktion für Berufe außerhalb des etablierten Wissenschaftsbetriebes, vor allem für bewußtseinsbildende soziale und pädagogische Berufe.

Auch wenn der beherrschende geistige Einfluß der Neuen Linken vor allem bei der intellektuellen Jugend festzustellen ist, kann daraus nicht die Schlußfolgerung gezogen werden, daß er bei der Gesamtbevölkerung unbedeutend ist und junge Arbeiter, Angestellte und Beamte weiterhin unbeirrt am etablierten Konsensus festhalten werden. Denn mittel-und langfristig wird das politische Denken der meisten Bevölkerungsgruppen weitgehend durch ihre aktiven Minderheiten geprägt, die schon jetzt unter dem Einfluß der Neuen Linken stehen. Auch bei Arbeitern und Angestellten, vor allem bei ihren jüngeren aktiven Minderheiten, wird das pragmatische, angepaßte und die bestehenden Verhältnisse bejahende Denken zunehmend durch eine kritische und radikal oppositionelle Haltung abgelöst.

Die kritisch-dialektische Konzeption der Sozialwissenschaften und später in verstärktem Maße der politökonomisch orientierte Marxismus waren gewiß nicht die kausale Ursache der Bewußtseins-Revolution, sie dienten aber dazu, das sich verändernde Bewußtsein sprachlich zu artikulieren, theoretisch zu begründen und weiterzuentwickeln, wodurch die Geistes-und Sozialwissenschaften eine größere gesamtgesellschaftliche Relevanz erhielten als je in der Vergangenheit. Während das bis i» die Mitte der sechziger Jahre vorherrschende pragmatische Bewußtsein sich eher „naturwüchsig" entwickelte und am „gesunden Menschenverstand" orientiert war, ist das veränderte Bewußtsein in viel stärkerem Maße theoretisch vermittelt und mit den Geistes-und Sozialwissenschaften verbunden.

Da das Bedürfnis der jungen Generation nach kritischen Analysen der Gesellschaft und nach theoretischer Reflexion sowie Erklärung der gesellschaftlichen Probleme fast ausschließlich durch preiswerte Taschenbücher und Zeitschriften befriedigt wird, die von Repräsentanten der Neuen Linken — meist Sozialwissenschaftlern — geschrieben werden, ist es kaum übertrieben festzustellen: Von den aktiven Abhängern der im Bundestag vertretenen Parteien wurde im letzten Jahrzehnt keine einzige intellektuell relevante und attraktive Idee hervorgebracht, oder genauer formuliert, wurden keine Ideen, Gedanken, Argumente, Theorien, Programme entwickelt, die einen intellektuellen Einfluß auf das politische Denken und auf die Wert-und Zielvorstellungen der oppositionell eingestellten jungen Generation auszuüben vermögen. Dagegen werden auch die in der SPD, vor allem bei den Jungsozialisten, stattfindenden theoretischen Auseinandersetzungen einseitig beeinflußt und geprägt von den Ergebnissen der Theoriediskussion der Neuen Linkep Im Verlauf der Renaissance sozialistischen Denkens wurde zwar die politisch einflußlose DKP, bzw. die SEW in West-Berlin, wieder zu einem einflußreichen Faktor der Theoriediskussion, aber nicht die politisch einflußreiche SPD, auch nicht die Jungsozialisten und die Jungdemokraten. Infolge dieser intellektuellen Breitenwirkung des Denkens der Neuen Linken kann ein neuer Minimalkonsensus für ein liberal-pluralistisches System nur entstehen, wenn die meisten der von diesem Denken geprägten Menschen in die Diskussion um diesen neuen Konsensus einbezogen werden. Doch die Maßnahmen auf der Grundlage einer extensi-ven Interpretation und Anwendung des „Extremistenbeschlusses" wirken diesem Ziel entgegen, weil sie nicht darauf abzielen, die vom herrschenden Konsensus abweichenden Meinungen, Ideen, Theorien, Wert-und ZielVorstellungen in einer dialogischen Auseinandersetzung aufzugreifen, zu verarbeiten und teilweise auch zu korrigieren, sondern weil sie die Konsequenz haben, Bürger mit diesen abweichenden Meinungen auf administrativ-bürokratischem Wege aus bestimmten Institutionen oder beruflichen Positionen auszuschließen. Alle administrativ-bürokratischen Maßnahmen gegen einzelne Vertreter der Neuen Linken können keineswegs verhindern, daß der geistige Einfluß dieses Denkens — besonders auf die aktiven Minderheiten großer Bevölkerungsgruppen — noch weiter zunimmt; denn solche Maßnahmen wirken nur als besonders überzeugende Werbung für diese unerwünschten Ideen.

Obwohl es reizvoll wäre, die Debatte im Deutschen Reichstag über den Gesetzentwurf „gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie" am 16. und 17. September 1878 zu analysieren, um die Kontinuität des deutschen politischen Denkens aufzuzeigen, sei hier nur darauf hingewiesen, welche Wirkungen August Bebel von diesem Gesetz erwartete: „Wir werden Mittel und Wege auf hundertfache Weise finden, dennoch in die Massen, und zwar in die weitesten Kreise derselben, einzudringen. Dabei haben wir bei einem so gespannten und aufregenden Zustande, wie ihn das Gesetz schafft, die Gewißheit, daß die Neugierde schon allein bewirken wird, daß diese sogenannten staatsgefährlichen Broschüren und Schriften massenhaft gelesen werden. Dieses Gesetz wird uns einen so ungeheuren Leserkreis schaffen, wie wir ihn jetzt und noch auf lange hinaus nicht hoffen können zu gewinnen. .. . Ich kann ihnen bestimmt versichern, daß ich sehr tüchtige unserer Parteigenossen habe äußern hören: ich wünschte, das Gesetz ginge durch! Sie könnten uns gar nicht besser nützen als durch Annahme des Gesetzes, denn Tausende und aber Tausende, die heute noch keine Sozialdemokraten sind, werden es dann sicher werden. Wir sind in wenigen Jahren stärker als je zuvor."

Noch weniger als das Sozialistengesetz dürften in der Bundesrepublik administrative Maßnahmen gegen „Radikale" die erhofften eindämmenden. Wirkungen haben, zumal sie bisher weit weniger konsequent sind als die Maßnahmen Bismarcks, So können zum Beispiel die „radikalen" Gedanken, die man durch den „Radikalenbeschluß" von der heranwachsenden Generation fernhalten möchte, weiterhin auf legalem Wege verbreitet werden, solange dieser Beschluß nicht auf die gesamte Publizistik und das Verlagswesen ausgedehnt und die Veröffentlichung und Verbreitung marxistischer Literatur radikal unterbunden wird

Ideologische Erstarrung oder kritische Weiterentwicklung der pluralistischen Demokratietheorie

Wenn die pluralistische Demokratie die Neue Linke administrativ-bürokratisch bekämpft, statt sich mit ihren Ideen geistig auseinander-zusetzen, verzichtet man nicht nur darauf, diese Ideen wenigstens teilweise zu korrigieren und in einen liberal-pluralistischen Konsensus einzubeziehen, man verzichtet auch darauf, die pluralistische Demokratietheorie im Zusammenhang mit den realen sozio-politischen Veränderungen, die teilweise Ursache für die intellektuelle Wirkung der Neuen Linken sind, weiterzuentwickeln. Damit verliert aber die pluralistische Demokratietheorie die dialektische Verbindung mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit, wird ideologisch starr und unbeweglich und daher immer weniger geeignet, als empirischer und normativer Begriff die bestehende Gesellschaft zu beschreiben, zu kritisieren, aber auch gegen antipluralistische und antiliberale Tendenzen -— ganz gleich aus welcher Richtung sie kommen — zu verteidigen.

Die kritische Distanz und Skepsis der Neuen Linken gegenüber liberal-pluralistischen und repräsentativen Demokratiekonzeptionen, die einerseits durch ihren antiautoritären Ansatz und ihre Klassentheorie bedingt ist, wird andererseits noch verstärkt sowohl durch den faktischen Zustand der pluralistischen Gesellschaft als auch durch Unzulänglichkeiten spezifischer pluralistischer Konzeptionen, die keine kritische, sondern nur eine rechtfertigende Funktion erfüllen. Das gilt zum Beispiel für ein vor allem in den USA diskutiertes Pluralismus-Konzept, das auf der Grundlage der Verbändetheorie die Demokratie auf ein Elite-Modell reduziert. Entscheidend in diesem Konzept, hinter dem ein extrem und einseitig repräsentatives Modell der Demokratie steht, ist der Gedanke, daß Subjekte der politischen Aktivität nicht die einzelnen Bürger sind, sondern die zu politischen Entscheidungsprozessen ausdrücklich berechtig-ten Instanzen und Institutionen, vor allem die Verbände bzw. die darin wirkenden aktiven Führungseliten. Nach diesem Demokratieverständnis gilt „Apathie als politische Tugend* und wird geringes politisches Interesse der Bürger und eine „geringe politische Beteiligung als Indiz für allgemeine Zufriedenheit und Systemstabilität'1 gewertet

Dieses konservativ-elitäre Demokratie-und Pluralismus-Konzept wurde hier nur deshalb kurz erwähnt, weil es die Haltung erklärt und ausdrückt, aus der Führungseliten auf unerwünschte Aktivitäten außerhalb kompetenter Instanzen reagieren, zum Beispiel auf die spontanen Streiks im August 1973, zu denen die Frankfurter Allgemeine bemerkte: „Wilde Streiks haben etwas Unheimliches-, sie sind unberechenbar, außerhalb der Kontrolle der zur Tarifpolitik berechtigten Instanzen. Daher sind sie von Gewerkschaften wie von Unternehmern gleichermaßen gefürchtet." Wenn „wilde" Streiks für Gewerkschaften und Unternehmer etwas Unheimliches haben und von beiden gleichermaßen gefürchtet werden, so liegt die Ursache für diese Einstellung gewiß nicht darin, daß sie die oben erwähnten sozialwissenschaftlichen Schriften eines elitären Pluralismus-Konzeptes gelesen haben und sich in einem intellektuellen Erkenntnisprozeß überzeugen ließen, Apathie sei für die Masse der Bevölkerung eine demokratische Tugend und die Demokratie werde gefährdet, wenn auch solche Bürger sich um Beteiligung bemühen, die keine Funktion in den ausdrücklich zur politischen und sozialen Aktivität befugten Instanzen innehaben oder anstreben. Diese Einstellung entwickelte sich vielmehr bei zahlreichen Amts-und Funktionsaatoritäten aus der praktischen Situation unserer Demokratie, in der bis Mitte der sechziger Jahre das Interesse der Bevölkerung an direkter politischer Beteiligung äußerst gering war und daher fast alle an politischer Aktivität interessierten Bürger ein Amt oder eine Funktion in den dafür vorgesehenen Instanzen und Organisationen erhalten konnten. Dieser entpolitisierte Zustand wurde gerechtfertigt durch ein einseitiges Modell einer rein repräsentativen Demokratie, in dessen Selbstverständnis die traditionelle Zweiteilung der Gesellschaft in „die da oben“ und „die hier unten" prinzipiell erhalten blieb.

Erst mit der Protestbewegung entstand eine neue Situation, als eine wachsende Zahl von Bürgern — ohne Ämter und Funktionen — begann, sich in die Politik „einzumischen" und auf diese Weise den Konzepten direkter Demokratie eine praktische Grundlage in der politischen Wirklichkeit verlieh. Die damit entstehende Krise des Selbstverständnisses unserer Demokratie ist auch eine Krise ihrer Amts-und Funktionseliten, die auf die Herausforderung des wachsenden Interesses an Partizipation und verstärkter Basisaktivitäten breiterer Bevölkerungskreise weder theoretisch noch praktisch angemessen zu antworten vermögen. Was anspruchsvoll als „wehrhafte“ und „streitbare“ Demokratie ausgegeben wird, ist mitunter nur ein Ausdruck der Unsicherheit und Hilflosigkeit, mit der die Amts-und Funktionseliten auf die ihnen ungewohnt und unheimlich erscheinende Aktivität an der Basis reagieren und in der sie eine Gefahr für die Art von Demokratie erblicken, die für sie selbst infolge des geringen Interesses an Partizipation und an demokratischer Kontrolle weit bequemer war. Denn in der entpolitisierten Demokratie waren innere Sicherheit und gesundes Selbstbewußtsein der Amts-und Funktionsautoritäten auch weitgehend dadurch gewährleistet worden, daß die tiefe Ehrfurcht, die früher die Untertanen ihrer von Gott eingesetzten monarchischen Obrigkeit entgegenbrachten, nur insofern „demokratisiert" wurde, als sie jetzt von den Staatsbürgern auf die größere Zahl der Amts-und Funktionsautoritäten der repräsentativen Demokratie verteilt und von diesen dankbar entgegengenommen wurde.

Diesen sozialpsychologischen Aspekt hat Kurt Sontheimer für den Bereich der Universitäten herausgearbeitet, indem er folgende Bedingung für eine Demokratisierung der Hochschulen nennt: „Vor allem aber muß der Universitätslehrer darauf verzichten, seine amtliche Stellung in der Universität als Legitimation zur Ausübung von Macht und als autoritativen Anspruch auf Besserwissen und Wissenschaft mißzuverstehen. Noch sitzt gerade diese geistig-autoritäre Einstellung tief in vielen von uns." Mit dieser geistig-autoritären Einstellung, die auch in den anderen Bereichen der Gesellschaft festzustellen ist, erklärt Sontheimer die administrativ-repressive Reaktion auf die Studentenbewegung: „Es ist, so fürchte ich, diese doktrinäre Geisteshaltung, die mangelnde Offenheit und der Mangel an Mut, sich der Kritik auszusetzen und sie anzuregen, welche unsere Universität innerlich so undemokratisch hat werden lassen. Daher kommt es, daß sie, als das berechtigte Unbehagen darüber sich Luft machte, zunächst nur administrativ und repressiv zu reagieren wußte. Ich halte die Zertrümmerung der . autoritären'Lehr-und Geistesstruktur unserer Universität für das legitime Ziel des Demokratisierungsprozesses. . .. Die in ihrer geistigen Struktur freiheitliche demokratische Universität kann, ja muß der auf Amt und Würden pochenden Autorität entraten, weil weder Amt noch Titel echte geistige Autorität begründen können. In der auf Wahrheit, auf das Gute und Gerechte gerichteten geistigen Auseinandersetzung, die wir die akademische nennen und die herrschaftsfrei sein muß, gilt nur das Argument, nicht die soziale Position."

Besonders jene Amts-und Funktionsträger, die nie als Person, sondern immer nur qua Amts-und Funktionsautorität zu handeln vermögen, können sich einfach nicht vorstellen, daß Menschen aus eigenem Antrieb spontan handeln und ihre Interessen und Forderungen auch einmal selbst zu vertreten versuchen. Daher können sie solche Basisaktivitäten, auch spontane Streiks, nur mit der „Rädelsführertheorie" erklären, nach der solche Aktivitäten nur durch die Amts-und Funktionsträger anderer, demokratiefeindlicher Organisationen angezettelt worden sein können. Und so neigen manche Repräsentanten unserer Demokratie dazu, engagierte Radikaldemokraten mit Hilfe des Schlagworts „Rätesystem“ als Feinde der Demokratie zu diffamieren und im Namen der „wehrhaften" Demokratie als Radikale administrativ zu bekämpfen, statt in diesen Basisaktivitäten doch wenigstens teilweise die Erfolge eines Demokratisierungsprozesses zu erkennen, durch den zum Beispiel Arbeiter in einem Betrieb, also „die da unten", befähigt wurden, „unabhängig von den jeweiligen Verbandshierarchien von Fall zu Fall die eigenen konkreten Interessen selbst zu verfolgen."

(In Klammern sei wenigstens angemerkt: Von der gleichen borniert-autoritären Haltung zeugt es, wenn die Autoritäten der neoautoritären Linken Widerspruch gegen ihr Verhalten nur damit erklären können, daß es selbstverständlich nur bezahlte Agenten des Kapitals und des CIA sein können, die ihnen widersprechen.)

Das einseitig repräsentative Modell zeigt — zwar nicht nur, aber auch —, unter welchem spezifischen Gesichtspunkt die Repräsentanten und die Funktions-und Amtsautoritäten die Probleme der Demokratie sehen und beurteilen. Dagegen zeigt das idealtypische Modell der direkten und radikalen Demokratie besonders deutlich, unter welchem Blickwinkel diejenigen Bürger das Problem der Demokratie sehen, die kein Amt und keine Planstelle in den etablierten politischen Institutionen und Organisationen innehaben oder anstreben, die also nur nebenberuflich direkten Einfluß auf politische Entscheidungsprozesse nehmen möchten.

Beide Gesichtspunkte sind durchaus als demokratisch legitim anzuerkennen, aber beide sind auch als einseitig zu erkennen. Eine Gefahr für die Demokratie entsteht nur, wenn ein idealtypisches Modell verabsolutiert wird, zwischen den Anhängern beider Modelle eine „polemische Isolation" und „Kommunikationslosigkeit" herrscht und sie sich gegenseitig nicht mehr als Demokraten anerkennen, sondern sich als Feinde der Demokratie bekämpfen. Wird dagegen diese Verabsolutierung des einen Modells vermieden, dann kann das wachsende Interesse an politischer Beteiligung und die damit verbundene Renaissance der Theorien direkter und radikaler Demokratie sowohl die Demokratie in der Praxis stärken als auch die theoretische Auseinandersetzung befruchten. Denn um den Zustand unserer Demokratie angemessen zu beschreiben, Normen für ihre Weiterentwicklung zu finden und einen neuen Minimalkonsensus zu schaffen, müssen die Gesichtspunkte beider Demokratie-Modelle in eine modifizierte Demokratie-und Pluralismustheorie einbezogen werden

Verschiebung der demokratischen zu einer autoritären Verfassung im Stile von Weimar?

Wenn sich in der Bundesrepublik ein Demokratieverständnis durchsetzt, das Elemente der parlamentarisch-repräsentativen mit Elementen direkter und radikaler Demokratie verbindet, so wird damit das pluralistische Spektrum unterschiedlicher Meinungen und Theorien innerhalb des demokratischen Minimalkonsensus nach links erweitert. Je weiter und großzügiger aber das innerhalb eines Minimalkonsensus akzeptierte Meinungsspektrum gefaßt ist, also je größer die Liberalität und die Vielfalt von Meinungen und Ideen ist, um so größer sind die Chancen, auch außerhalb oder am Rande dieses Konsensus entstehende Gruppierungen, Meinungen und Ideen in einer offenen Diskussion wieder in das Spektrum des Minimalkonsensus einzubeziehen und zu integrieren. Dagegen wird die Meinungsbildung außerhalb des Minimalkonsensus und die Gefahr einer Polarisierung der Gesellschaft in verfeindete Fraktionen um so größer, je enger das Meinungsspektrum innerhalb des demokratischen Konsensus begrenzt ist.

Ein sozio-politisches System, das überhaupt nicht darauf achtet, welche Meinungen, Ideen, Gruppierungen und politischen Strategien sich außerhalb eines für die Funktionsfähigkeit des Systems erforderlichen Minimalkonsensus entwickeln, leistet damit gewiß einen Beitrag zu seiner Selbstzerstörung. Aber ebenso wird die Selbstzerstörung eines liberal-pluralistischen Systems gefördert, wenn das pluralistische Spektrum zu weit eingeengt wird und Meinungen, Ideen, Gruppierungen außerhalb des so verengten Minimalkonsensus nur administrativ-bürokratisch als verfassungsfeindlich bekämpft werden. Diese Wirkung für unser liberal-pluralistisches System hat aber — auch wenn sie nicht von allen Befürwortern beabsichtigt ist — eine extensive Auslegung und Anwendung des „Radikalenerlasses". Denn damit wird eine das liberal-pluralistische System ernsthaft bedrohende Polarisierung in unserer Gesellschaft vertieft und verfestigt, die weit schwerwiegender ist als die im Bereich der Wissenschaft festgestellte „polemische Isolation" und „Kommunikationslosigkeit" zwischen kontroversen Wissenschaftskonzeptionen oder auch nur zwischen Wissenschaftlern, die sich nichts zu sagen haben oder sich nicht vertragen können, nämlich eine „polemische Isolation" und „Kommunikationslosigkeit" zwischen den Repräsentanten unserer Demokratie und andererseits dem größten Teil der vom Denken der Neuen Linken geprägten und oppositionell eingestellten jüngeren Generation. Und dazu gehören auch die Nachwuchsorganisationen von zwei die Bonner Demokratie tragenden Parteien, die Jungsozialisten und die Jungdemokraten. Diese sehen im „Radikalenbeschluß" eine Kampfansage an die junge Generation und „ein neues Sozialistengesetz", das die Funktion hat, „Angehörige der nachwachsenden Generation einer radikal-demokratischen und sozialistischen Bewegung einzuschüchtern bzw. aus beruflichen oder politischen Funktionen herauszuhalten oder zu verdrängen."

Die Tendenz, die kapitalistische Wirtschaftsordnung mit der zu verteidigenden freiheitlich-demokratischen Grundordnung gleichzusetzen, hat die Konsequenz, Befürworter sozialistischer Zielvorstellungen aus dem Verfassungskonsensus auszuschließen. Statt angesichts der Bewußtseinsveränderungen in der jungen Generation und des in allen Bevölkerungsgruppen wachsenden Interesses an politischer Beteiligung den demokratischen Konsensus nach links zu erweitern, wird umgekehrt das pluralistische Meinungsspektrum auf der linken Seite noch weiter eingeengt. Die „streitbare" Demokratie schließt damit vor allem die aktiven Minderheiten der jungen Generation aus dem demokratischen Konsensus aus und drängt auch viele politisch noch Unentschiedene erst in eine isolierte Abseitsstellung, in der sich ihr politisches Denken ohne Auseinandersetzung mit Vertretern der etablierten Demokratie entwickelt und in der es unmöglich ist, dieses Denken zu beeinflussen und teilweise zu kor-rigieren. Und auch die Jungsozialisten und Jungdemokraten, die als Bindeglied zwischen der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie und den radikaldemokratischen Strömungen der Neuen Linken wirken könnten, werden nur noch weiter in das Lager der Neuen Linken getrieben.

Obwohl durch den „Radikalenbeschluß der in den einzelnen Bundesländern völlig unterschiedlich gehandhabt wird, bisher erst relativ wenige existenziell getroffen und an der Ausübung ihrer erlernten Berufe gehindert wurden, hat er das politische Bewußtsein einer weit größeren Zahl beeinflußt. Er hat nämlich bei einer großen Zahl engagierter Schüler, Studenten und Lehrer die Skepsis gegenüber der bestehenden Demokratie verstärkt und vor allem eine emotional belastende Existenzangst geschaffen, die gerade nicht die Chancen für rationale Auseinandersetzungen erhöht, sondern vielmehr irrationale und dogmatische Einstellungen verstärkt. Da die Drohung des „Radikalenbeschlusses" zwar das zu verändern vermag, Was Schüler, Studenten, Lehrlinge, Lehrer in Zukunft vor ihren Vorgesetzten zu sagen wagen werden, nicht aber ihre wirklichen Gedanken, kann dank der „streitbaren“ Demokratie ihr äußeres Verhalten zwar angepaßter und opportunistischer werden. Doch ihre tatsächliche Einstellung wird dadurch eher noch extremer und unzufriedener. Die mit liberalen und pluralistischen Schlagworten begründeten Erklärungen und Maßnahmen gegen „Verfassungsfeinde“ und „Radikale" tragen vor allem dazu bei, ein skeptisch-distanziertes und ungeklärtes Verhältnis zum geistig-politischen Liberalismus und zum Pluralismus erst zu einer dezidiert antiliberalen und antipluralistischen Einstellung zu verfestigen.

Aber diese Entwicklung dient keineswegs einer notwendigen Klärung der Fronten und führt nicht zu einer klaren Trennung zwischen Demokraten und Antidemokraten, Liberalen und Antiliberalen. Sie führt vielmehr zu einer Spaltung und Lähmung der in Deutschland schon sowieso immer schwachen liberalen Kräfte. Denn einerseits verbündet sich ein Teil der überzeugten Anhänger liberal-pluralistischer Prinzipien aus Furcht vor dem Antiliberalismus der Neuen Linken mit konservativen Kräften, die zwar gegen den Antiliberalismus der Neuen Linken polemisieren, aber selbst keineswegs Träger einer liberal-pluralistischen Politik sind.'Andere engagierte Vertreter liberal-pluralistischer Positionen werden sich dagegen mit den administrativ-bürokratisch bekämpften Vertretern der Neuen Linken solidarisieren, statt deren antiliberale Konzeptionen zu kritisieren. Denn gerade engagierte Liberale werden sich weigern, antiliberale Auffassungen zu kritisieren, wenn diese Kritik von den Behörden als Denunziation und als Aufforderung aufgefaßt werden kann, die berufliche Existenz derjenigen zu zerstören, deren antiliberale Konzeptionen kritisiert wurden. Wenn sich aber die überzeugten Vertreter liberal-pluralistischer Positionen aus Furcht vor dem Antiliberalismus der einen Seite mit dem Antiliberalismus der anderen Seite verbünden, dann können liberal-pluralistische Prinzipien kaum noch die Auseinandersetzungen um das Selbstverständnis unserer Demokratie aktiv beeinflussen.

Wenn die liberal-pluralistischen Kräfte geteilt und damit gelähmt und unfähig bleiben, ihre Positionen gemeinsam und offensiv zu vertreten, dann kann der Kampf gegen den Ahtiliberalismus der Neuen Linken zum entscheidenden Hebel werden, mit dessen Hilfe Sich in der Bundesrepublik wieder der traditionelle deutsche Antiliberalismus und Antipluralismus von rechts durchzusetzen und die liberal-pluralistischen Elemente in unserer Gesellschaft wieder abzubauen vermag.

Begründet sei diese Auffassung mit einer thesenartigen Zusammenfassung der Forschungsergebnisse von Kurt Sontheimer 6a). Gegen den „Gemeinplatz unserer politischen Diskussion" — der auch in allen Begründungen für den „Radikalenbeschluß" eine Rolle spielt —, „daß die Demokratie gegen ihre Feinde von links und rechts“ verteidigt werden müs se, weil sie von beiden Seiten gleichermaßen bedroht sei, stellt Sontheimer fest, daß schon in der Weimarer Republik die Gefahr von rechts weit größer war als die von links Und zur Situation der Demokratie in der Bundesrepublik erklärt er trotz aller Kritik an der Neuen Linken: „Diese Demokratie ist nicht von links bedroht, weder durch die DKP, ... und erst recht nicht durch die studentische Linke ..

Dagegen hält Sontheimer das von rechts kommende antidemokratische Denken in der Bundesrepublik besonders deshalb für so gefährlich, weil es sich nicht offen zu antidemokratischen Zielen bekennt, sondern sich einer demokratischen Terminologie bedient und in den demokratischen Konsensus einbezogen ist: „Diese Erweiterung des Demokratieverständnisses durch Assimilation demokratie-fremder Ideen“ hatte zur Folge, „daß diese Demokratie sich zwar vehement gegen die verfassungskritischen und z. T. verfassungsfeindlichen Konzeptionen der Außerparlamentarischen Opposition, nicht aber gegen das antidemokratische und antiliberale Denken auf der Rechten wirksam zur Wehr setzen konnte."

Sontheimer läßt keinen Zweifel daran, daß zu diesem antidemokratischen Denken von rechts nicht nur der NPD-Radikalismus zu zählen ist, „sondern auch die Vorstellungen jener rechtskonservativen Richtungen, die durch den Konsensus der etablierten politischen Gruppen gedeckt sind und darum als selbstverständlich demokratisch gelten, ohne es zu sein.",

Aus der rechtsradikalen Ideologie der NPD arbeitet Sontheimer Ideenbündel heraus, wie zum Beispiel völkisch fundierten Nationalismus, nationales Geschichtsbewußtsein, Antipluralismus, Antiintellektualismus, um zu verdeutlichen, „wie nahe sich bestimmte Vorstellungen des Rechtsradikalismus mit Meinungen berühren, die neuerdings im demokratischen Konsensus der Bundesrepublik akzeptiert sind..." Zu den Faktoren, die eine Aufnahme antidemokratischer Gedanken in den demokratischen Konsensus fördern und eine wirksame Verteidigung gegen antidemokratische Tendenzen von rechts verhindern, zählt Sontheimer neben dem Antikommunismus „die Reaktion der Staatsmacht auf die Herausforderung durch die linke studentische Protestbewegung" In der bisherigen Reaktion auf die Neue Linke wird „die Renaissance der obrigkeitlichen Staatsideologie sichtbar . .. * Unter diesen Gesichtspunkten sieht Sontheimer die größte Gefahr für die liberale und pluralistische Demokratie weder in der Neuen Linken noch in der offen rechtsradikalen Opposition; für schlimmer hält er es, „daß antidemokratisches Denken innerhalb der politischen Gruppen, die diese Republik tragen, an Einfluß und Wirksamkeit gewonnen hat"

Aus Furcht vor der linken Gefahr wurde nach Sontheimers Auffassung die Gefahr des Rechtsradikalismus unterschätzt, die noch durch die Tendenz verstärkt wird, den Kampf gegen die extreme Rechte mit antiliberalen Parolen zu führen, was eine Entfernung vom liberalen Demokratieverständnis und eine Annäherung zwischen der halbrechten und der rechten Position zur Folge haben kann: „Diese (die rechte Position, H. H.) gälte dann nicht mehr als radikal, sondern wäre möglicher Bundesgenosse auf dem Boden eines neuen, nach rechts verschobenen Verfassungskonsensus, der die demokratische Linke vielleicht nicht mehr als möglichen Partner tolerieren würde. Die Verschiebung der demokratischen zu einer autoritären Verfassung könnte so, im Stile von Weimar, vor sich gehen."

Diese von Sontheimer festgestellte allgemeine Tendenz, den Konsensus der bestehenden Ordnung nach rechts zu verschieben und dabei zentrale Elemente einer liberalen und rechtsstaatlichen Demokratie aufs Spiel zu setzen, ist ein Hauptgrund dafür, daß nicht nur Vertreter der Neuen Linken, der Jungdemokraten und der Jungsozialisten, sondern auch Repräsentanten der Bonner Demokratie den „Radikalenheschluß" ablehnen oder wenigstens vor seiner extensiven Auslegung und Anwendung warnen. So stellte zum Beispiel der ehemalige Bundesverfassungsrichter und CDU-Landtagsabgeordnete Herbert Scheltissek fest, daß dieser Beschluß verfassungswidrig sei, nur gegen „Links''angewandt werde und Verfassungsverletzungen der Exekutive begünstige Und Herbert Wehner hatte die Forderung Rainer Barzels, durch eine Grundgesetzänderung Mitglieder einer bestimmten Partei vom öffentlichen Dienst auszuschließen, unter anderem mit folgendem Argument abgelehnt: „Denn wenn man hier einmal anfängt, wo wird man enden? Wann wird die nächste Gruppe fällig sein und die übernächste, wann würden wir dann portugiesische Zustände haben? ... ich sehe keinen Sinn darin, die freiheitliche Grundordnung durch den ersten Schritt zu ihrer Beseitigung schützen zu wollen." Im Zusammenhang mit einem ausdrücklichen Bekenntnis zur Notwendigkeit der geistigen Auseinandersetzung mit dem Kommunismus stellt Wehner fest, man könne diese Auseinandersetzung nicht dadurch führen, „daß man Grundrechte der freiheitlichen Demokratie einengt und beschneidet und nicht, indem man für bestimmte Bevölkerungsgruppen die Spielregeln der Demokratie für außer Kraft gesetzt erklärt, . .. Wer pur noch die Alternative zwischen Unfreiheit und kontingentierter Halbfreiheit oder Dreiviertelfreiheit zu bieten hat, der hat in Wahrheit schon verloren." Und dem oft beschworenen Schlagwort von der „Solidarität der Demokraten“ im Kampf gegen Verfassungsfeinde entgegnet Wehner: „Die Gemeinsamkeit wird von denen verlassen, die plötzlich eine ganz neue, andere Art von Kampf führen wollen und dafür bereit sind, einen Teil unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu suspendieren."

Wenn diese „ganz neue, andere Art von Kampf" sich durchsetzen sollte, dann könnte die von Sontheimer aufgezeigte Gefahr Wirklichkeit werden, daß die Verschiebung der demokratischen zu einer autoritären Verfassung im Stile von Weimar vor sich ginge, indem nämlich im Verfassungskonsensus der Bundesrepublik antidemokratische Vorstellungen von rechts als „demokratisch" akzeptiert, aber demokratische Positionen von links als „verfassungsfeindlich''von diesem Konsensus ausgeschlossen würden.

Liberalismus und kritischer Rationalismus — Ursache für autoritärrepressive Tendenzen in Hochschule und Gesellschaft?

Um die Konflikte und Krisen in Hochschule und Wissenschaft auf liberal-pluralistischer Grundlage zu lösen, ist eine kritische Auseinandersetzung mit der marxistisch-sozialistischen Wissenschaft notwendig, aber nicht ihre administrative Unterdrückung. Der spezifische Gesichtspunkt des von Marxisten und Linksliberalen vertretenen praktisch-organisatorischen Wissenschaftspluralismus, daß staatliche und universitäre Behörden nicht über die Zulassung einzelner Wissenschaftskonzeptionen zu befinden haben und die Exi-stenzberechtigung aller Richtungen anerkennen müssen, kann als Grundlage für einen Minimalkonsensus von den Anhängern aller Wissenschaftskonzeptionen anerkannt werden. Dieser praktisch-organisatorische Aspekt steht auch keineswegs im Widerspruch zu der umfassenden theoretischen Konzeption des Wissenschaftspluralismus, die in Anlehnung an die pluralistische Demokratie-und Gesellschaftstheorie entwickelt wurde.

Gerade wenn man diesen spezifischen Aspekt des praktisch-organisatorischen Wissenschaftspluralismus anerkennt, ist es notwendig, auf theoretische Unzulänglichkeiten und Widersprüche in der Gesamtposition der marxistisch-sozialistischen Wissenschaftler zum Problem des Wissenschaftspluralismus hinzuweisen, und zwar auf Unzulänglichkeiten, die die Entwicklung einer gemeinamen Strategie aller Reformer an den Hochschulen erschweren. Diese theoretischen Unzulänglichkeiten und Widersprüche, die hier einer kritischen Analyse unterzogen werden sollen, hängen zusammen mit dem ungeklärten, unklaren und widersprüchlichen Verhältnis der sozialistischen Neuen Linken zu den Ideen des politischen und geistigen Liberalismus und Pluralismus. Ähnlich wie die Vertreter der theoretischen Konzeption des Wissenschaftspluralismus eine falsche Diagnose stellen, wenn sie in der marxistisch-sozialistischen Wissenschaftskonzeption die Ursache für die Krise in den Geistes-und Sozialwissenschaften sehen, erklären auch marxistisch-sozialistische Wissenschaftler die Ursachen für die Konflikte an den Hochschulen nur unzureichend oder sogar falsch. M. von Brentano sieht die geistigen und politischen Urheber der gegenreformerischen Tendenzen und der administrativ-bürokratischen Maßnahmen gegen marxistische Wissenschaftler nicht in konservativen oder reaktionären politischen Anschauungen und Gruppen, sondern ebenfalls in einer spezifischen Wissenschaftskonzeption, nämlich in der Wissenschaftstheorie des kritischen Rationalismus bzw.des Neopositivismus, den sie ausdrücklich als eine Spätform des Liberalismus bezeichnet.

Sie behauptet nicht etwa, daß der kritische Rationalismus als Vorwand benutzt werde, den Einfluß der marxistischen Wissenschaft administrativ einzudämmen. Sie versucht vielmehr nachzuweisen, daß aus der Wissenschaftstheorie des kritischen Rationalismus die Ablehnung des praktisch-organisatorischen Wissenschaftspluralismus, also des Nebeneinanders kontroverser Wissenschaftskonzeptionen, mit zwingender innerer Logik folge, seine Anhänger daher für ihre eigene Richtung einen Monopolanspruch stellen müßten. Ausgangspunkt für den Beweis der Auffassung, daß das Bekenntnis zum Wissenschaftspluralismus für Anhänger des kritischen Rationalismus bedeute, für die eigene Konzeption durch die administrative Verdrängung aller anderen Richtungen die Alleinherrschaft des Neopositivismus durchzusetzen, ist von Brentanos Feststellung: „Wissenschaftspluralismus’ oder auch Theoretischer Pluralismus'ist nämlich einer der Namen, unter denen die neopositivistische Schule — Popper und die Folgen — auftritt; neben anderen Namen, wie Neorationalismus, Panrationalismus, Kritischer Rationalismus, verwendet sie diesen zur Artikulation ihres wissenschaftstheoretischen Selbstverständnisses."

Zur weiteren Begründung ihrer Auffassung geht von Brentano nicht empirisch vor, indem sie auf bestimmte Vertreter des kritischen Rationalismus verweist, die in den hochschulpolitischen Auseinandersetzungen durch Verdrängung aller Anhänger anderer Wissenschaftskonzeptionen eine Monopolstellung für ihren „Wissenschaftspluralismus“ durchzusetzen versuchen. Daß sich kritische Rationalisten so verhalten müssen, leitet sie vielmehr deduktiv aus einem Aufsatz ab, in dem Helmut F. Spinner unter dem Titel „Theoretischer Pluralismus" vor allem das an Popper und Albert orientierte wissenschaftstheoretische Konzept von Paul Feyerabend darstellt und weiterentwickelt, der auch den Begriff „Theoretischer Pluralismus" geprägt hat.

Um von Brentanos Schlußfolgerungen aus dem „Theoretischen Pluralismus" einer kritischen Analyse unterziehen zu können, ist zunächst dieses wissenschaftstheoretische Konzept anhand des Aufsatzes von H. F. Spinner zusammenfassend darzustellen: Spinner charakterisiert den theoretischen Pluralismus, der auf der Grundlage des kritischen Rationalismus Poppers und Alberts von Paul Feyerabend entwickelt wurde, als Gegenposition zu der auf Fundamentalphilosophie und theoretischem Monismus basierenden Wissenschaftstheorie. Trotz des Anscheins der Mannigfaltigkeit haben die unterschiedlichsten Richtungen der traditionellen Philosophie eine gemeinsame Struktur: sie sind Fundamentalphilosophien, für die das Geltungspro-blem der Erkenntnis, die Unterscheidung echter Erkenntnis von Scheinerkenntnis, ein Begründungs-und Rechtfertigungsproblem ist, „ein Problem der Reduktion auf ein Fundament, dem sie aus irgendwelchen Gründen epistemologische Autorität zuschreiben."

Der Anschein der Mannigfaltigkeit entstand trotz dieser gemeinsamen Struktur aller Fundamentalphilosophien, weil als Fundamente der Erkenntnis, als epistemologische Autoritäten, unterschiedliche Instanzen inthronisiert wurden, wie zum Beispiel im klassischen Empirismus die Erfahrung, die Beobachtung oder die Sinnesdaten, im klassischen Rationalismus Descartes'klare und distinkte Ideen, im Marxismus-Leninismus die Praxis. Unterschiedliche Rechtfertigungsverfahren und Arten der Reduktion erweckten ebenfalls den Anschein der Mannigfaltigkeit. „Die Idee eines Fundaments der Erkenntnis (einer Instanz mit Rechtfertigungspotenz) und eines rationalen Rechtfertigungsverfahrens sind die beiden Pfeiler der Fundamentalphilosophie."

Solche Fundamente der Erkenntnis ermöglichen es nach Auffassung der Fundamental-philosophie, im Zusammenhang mit verschiedenen Rechtfertigungsverfahren und Arten der Reduktion, zu objektiven und gesicherten Erkenntnissen zu gelangen, also die objektive Wahrheit von Theorien zu beweisen, zu verifizieren. Dieser Fundamentalphilosophie wirft Spinner eine autoritäre Struktur vor, die den Erkenntnisfortschritt hemme und theoretischen Monismus zur Folge habe, weil sie davon ausgehe, daß es nur eine Welt, nur eine Wahrheit, nur eine Theorie gebe. „Der theoretische Monismus schränkt das Theoretisieren auf einen konsistenten Standpunkt ein und verhindert die Einführung von Theorien, die den durch die herrschende Autorität gerechtfertigten Theorien widersprechen." (Zum Beispiel bis ins Mittelalter schien die epistemologische Autorität der Beobachtung die Theorie zu beweisen, daß sich die Sonne um die Erde dreht.)

Nach Auffassung Spinners brachte Karl R. Popper die beiden Pfeiler der Fundamental-philosophie, nämlich die Idee eines Fundaments der Erkenntnis mit Rechtfertigungspotenz und eines rationalen Rechtfertigungsverfahrens, zum Einsturz. Indem er die Idee der Rechtfertigung aufgab und durch die Idee der Kritik ersetzte, bewirkte Popper eine Kopernikanische Wende in der Erkenntnistheorie. Auf der Grundlage dieses rechtfertigungsfreien Kritizismus haben wissenschaftliche Verfahrensweisen nicht mehr das Ziel, die objektive Wahrheit von Theorien zu beweisen, sie also zu verifizieren, sie dienen nur noch dem Zweck, durch kritische Prüfung falsche Theorien zu entlarven, zu falsifizieren und diese als falsch erkannten Theorien durch bessere zu ersetzen. „Der Erkenntnisfortschritt vollzieht sich durch Spekulation, Kritik und Elimination der Irrtümer, und sein Ergebnis ist immer , Knowledge without Foundation'(Feyerabend)."

Aus diesem erkenntnistheoretischen Kritizismus und Skeptizismus leitet von Brentano die Schlußfolgerung ab, daß der theoretische Pluralismus für sich selbst ein Monopol beanspruchen und zum Monopolpluralismus werden müsse.

Ein wichtiges Indiz für den Monopolanspruch des theoretischen Pluralismus sieht von Brentano in seiner Orientierung am Erkenntnis-fortschritt, den er erreichen wolle, indem er mit Hilfe methodologischer Regeln die anarchische Konkurrenz der Theorien und Meinungen so organisiert, daß die unbrauchbaren und schlechten verbessert oder eliminiert werden.

Darin sieht von Brentano eine Abweichung vom ursprünglichen Liberalismus John Stuart Mills und die Ursache dafür, daß der Spätliberalismus zu einem geistigen und politischen Urheber für die Einschränkung der Freiheit geworden ist. Während der ursprüngliche Liberalismus die Ausschaltung von Ideen und Meinungen mit dem Argument ablehnte, man könne nicht sicher sein, daß eine Meinung die Wahrheit sei, selbst wenn sie nur von einem einzigen Menschen gegen die Meinung aller vertreten werde, begründe der Spätliberalismus die Ausschaltung von Meinungen durch eine Umkehr dieser Argumentation: „Die Begründung der Organisation und der Eliminierung von Konkurrenten durch den . Monopolpluralismus'• argumentiert umgekehrt: wir können sicher sein, daß alle Meinungen falsifizierbar sind, — also darf diejenige ausgeschaltet werden, die sich für wahr hält.“

Brenta Schon auf den ersten Blick mutet von -nos deduktive Argumentation besonders widersinnig an, weil sie ausgerechnet aus dem wissenschaftstheoretischen Konzept von Paul Feyerabend die Schlußfolgerung ableitet, daß im kritischen Rationalismus und Liberalismus die Urheber für autoritär-repressive Tendenzen zur Einschränkung der Freiheit zu sehen seien. Denn Paul Feyerabend steht politisch links und würde selbst — wie auch von Brentano zugesteht — nie auf die Idee kommen, zur Durchsetzung seiner Konzeption und zur Ausschaltung der marxistischen Konkurrenz administrative Maßnahmen zu fordern oder auch nur zu unterstützen.

Für die politische Praxis ist es eine verhängnisvolle Fehleinschätzung zu übersehen, daß die Gegenreform an den Hochschulen und der Widerstand gegen gesellschaftspolitische Reformen von den traditionellen konservativen und reaktionären Kräften getragen werden, nicht vom Liberalismus. Und autoritär-repressive Tendenzen zum Abbau von Mitbestimmungs-und Freiheitsrechten haben in der Bundesrepublik nicht deshalb noch reale Chancen, weil der geistige und politische Liberalismus immer noch zu stark und noch nicht überwunden ist, sondern weil er immer noch zu schwach ist.

Wenn die Gegner einer Demokratisierung der Hochschulen und der Gesellschaft auf wissenschaftstheoretischem Gebiet Verbündete haben, bann ist das keineswegs in erster Linie der Neopositivismus bzw.der kritische Rationalismus, sondern eher die normativ-ontologische Wissenschaftskonzeption, die zum Beispiel Wilhelm Hennis und der bayerische Kultusminister Hans Maier vertreten

Im Spektrum aller politischen Kräfte und Ideen in der Bundesrepublik ist der politische Liberalismus und auf wissenschaftstheoretischem Gebiet der Neopositivismus, bzw.der kritische Rationalismus, zur linken Mitte zu zählen und eindeutig links von den normativen Theorien der Freiburger Schule einzuordnen, die nach dem Urteil Klaus von Beymes zwar „heute in der wissenschaftlichen Diskussion kaum einen Einfluß (haben)", die aber „als gesunkenes Kulturgut im politischen Selbstverständnis vor allem der deutschen Politiker bis 1969 eine dominierende Rolle spielten" Das schließt allerdings nicht aus, daß einzelne Anhänger des Neopositivismus politisch rechts von einzelnen Vertretern der normativ-ontologischen Wissenschaftskonzeption stehen.

Genau wie M. von Brentano verurteilen übrigens auch Vertreter der normativen Wissenschaftskonzeption die Liberalen und Positivisten wegen ihres verwerflichen Verhältnisses zu Marxismus und Sozialismus. Doch während M. von Brentano Liberale und Positivisten ablehnt, weil sie durch Einschränkung der Freiheit Marxismus und Sozialismus administrativ unterdrücken, kämpfen die Nor-mativisten gegen Liberalismus und Positivismus, weil diese Ideen die geistig moralische Widerstandskraft des Volkes gegen Marxismus und Sozialismus untergraben und daher zu Wegbereitern dieser unsere Freiheit und unsere abendländische Kultur bedrohenden Bewegung werden

Angesichts der starken gegenreformerischen Kräfte schwächt es die Reformer, wenn von Brentano deduktiv argumentiert und große Gruppen von Wissenschaftlern allein wegen ihrer wissenschaftstheoretischen Position automatisch der politischen Reaktion zuordnet. Denn wer Liberalismus und kritischen Rationalismus pauschal aus dem linken Spektrum ausschließt, verschafft damit der Rechten eine Mehrheit und verdammt die Linke zur politischen Ohnmacht.

Statt die Vertreter des kritischen Rationalismus und des Liberalismus zu einer klärenden Antwort auf die Frage herauszufordem, ob sie auch in der Auseinandersetzung mit der Neuen Linken die Prinzipien des Liberalismus — wie Toleranz und uneingeschränkten Ideenwettbewerb — beibehalten oder außer Kraft setzen wollen, bemüht sie sich fast krampfhaft, ihnen zu beweisen, daß sie gefälligst in Übereinstimmung mit ihren liberalen und pluralistischen Überzeugungen für die administrative Unterdrückung der Marxisten einzutreten haben.

Obwohl Spinner auf die Probleme des praktischen Wissenschaftspluralismus und auf die Stellung des Marxismus nicht eingeht, ist aus seinen Ausführungen weder direkt noch indirekt die Schlußfolgerung abzuleiten, daß im Namen des theoretischen Pluralismus der Marxismus als falsifiziert anzusehen und daher aus dem Wissenschaftsbetrieb auszuschließen sei. Wer dennoch diese Schlußfolgerung zieht, interpretiert den theoretischen Pluralismus falsch oder mißbraucht ihn als Vorwand zur Rechtfertigung antiliberaler Forderungen. Denn das am Erkenntnisfortschritt orientierte Ziel, unbrauchbare Theorien zu eliminieren, bezieht sich nur auf einzelne Theorien über Teilbereiche der Wirklichkeit, aber keineswegs auf Gesamtkonzeptionen wie Marxismus oder Liberalismus. Nicht der Marxismus ist falsifizierbar, sondern nur einzelne von Marxisten vertretene Theorien. Und wenn tatsächlich ein kritischer Rationalist so argumentieren sollte, wie er nach Meinung von Brentanos argumentieren müßte — nämlich „V: alle Meinungen (sind) falsifizierbar, also darf diejenige ausgeschaltet werden, die sich für wahr hält“ —, dann wäre ihm entgegenzuhalten: Aus der grundsätzlich erkenntniskritischen Haltung, daß es keine endgültig bewiesenen und gesicherten Erkenntnisse gibt, folgt keineswegs, daß eine Theorie schon dann als falsifiziert zu gelten hat, wenn sie irgendwer als wahre und endgültig gesicherte Erkenntnis ansieht. Daher sind auch die Theorien derjenigen Wissenschaftler in den Wettbewerb einzubeziehen, die selbst den theoretischen Pluralismus ablehnen und ihre Theorien für bewiesene Wahrheiten halten. Denn für die neopositivistische Wissenschaftstheorie ist die subjektive Meinung und Haltung eines Wissenschaftlers kein Kriterium dafür, ob seine Theorien Geltung besitzen oder als falsifiziert anzusehen sind.

Im Gegensatz zu von Brentanos Schlußfolge rung, daß die Orientierung am Erkenntnisfort schritt einen Monopolanspruch impliziere und „nichtpluralistische" Theorien ausschließe, erklärt Spinner selbst ausdrücklich, aus seinen Ausführungen über den Erkenntnisfortschritt folge, „daß methodologische Regeln regulative Prinzipien sind und nicht den Charakter von Aufnahmebedingungen — von Teilbedingungen für neue Ideen am . Wissenschaftsspiel’, an der Theoriekonkurrenz — haben dürfen"

Antithetisches Denken und Freund-Feind-Schema in den Geistes-und Sozialwissenschaften

In den Ausführungen von Brentanos zum Wissenschaftspluralismus wird eine nicht-dia-logische und antithetische Denk-und Argumentationsweise sichtbar, die nicht als individuelle Haltung eines einzelnen Wissenschaftlers, sondern nur als Ausdruck der gegenwärtig vorherrschenden intellektuellen Struktur der Kommunikation zwischen kontroversen Positionen in den Geistes-und Sozialwissenschaften zu analysieren und zu erklären ist. Diese intellektuelle Struktur der Kommunikation — im Unterschied zur technischen und institutioneilen Struktur gebildet durch bestimmte Denk-und Verhaltensweisen, die die Art und Weise, den Zweck und die Richtung des Kommunizierens und des Argumentierens bestimmen — ist nicht dialogisch, sondern antithetisch im Sinne eines Freund-Feind-Schemas. Auf der Grundlage der im Bereich der Hochschulen bestehenden vielfältigen Polarisierungen, Freund-Feind-Gruppierungen und Fraktionierungen entwickelte sich die antithetische Tendenz, bei Auseinandersetzungen zwischen gegnerischen Gruppierungen die Argumente von Vertretern der eigenen Fraktion a priori für richtig, die der gegnerischen Fraktion grundsätzlich für falsch zu halten. Denn man ist überzeugt, daß die Position der eigenen Fraktion als Ganzes richtig ist, die Auffassungen der gegnerischen Fraktionen aber als Ganzes falsch sind. Auf-diese Weise wird die Fraktionsdisziplin, die in der Regel auf praktisches Verhalten, zum Beispiel bei Abstimmungen, beschränkt ist, verinnerlicht und tendenziell auch auf das Denken ausgedehnt.

Ausdruck dieser Institutioneller „Fraktionierung" des Denkens ist es, daß jede Fraktion über eine eigene Zeitschrift verfügt, in der auf vielfältige Weise die eigene Position als richtig, die der anderen Fraktionen als falsch dargestellt werden. Kaum denkbar ist es, daß in ein und derselben Zeitschrift die kontroversen Auffassungen von zwei Fraktionen sowohl verteidigt als auch kritisiert werden.

Diese antithetische Struktur der Kommunikation hat eine entscheidende Konsequenz für die Argumentationsweise und für die Richtung und die Zielsetzung der Argumentation: Die Argumente in einer Kontroverse richten sich an die Anhänger und Sympathisanten der eigenen Gruppierung und haben das Ziel, diese in ihrer Sympathie für die eigene Richtung und in ihrer Ablehnung der gegnerischen Position zu bestärken. Dagegen richten sich die Argumente fast nie in einem dialogischen Sinne an die Gegner oder an Zweifler mit dem Ziel, diese für die eigenen Anschauungen zu gewinnen oder sie zu veranlassen, einzelne ihrer Positionen zu korrigieren. Man setzt in der Regel voraus, daß der Gegner sowieso unbelehrbar sei und daß man selbst von diesem unbelehrbaren, im Irrtum verstockten Gegner nichts lernen könne. Kontroverse Auseinandersetzungen werden daher kaum in der Absicht geführt, neue Erkenntnisse zu gewinnen, Unklarheiten und Mißverständnisse aufzuklären, sondern vielmehr mit dem Ziel, die als richtig feststehenden Standpunkte zu festigen, die bewiesenen Wahrheiten gegen die nachweislichen Irrtümer zu verteidigen. Beide Seiten argumentieren in der Kontroverse also antithetisch, rechtfertigend und affirmativ.

Ein Faktor, der bei Marxisten die Entwicklung des antithetischen Denkens und Argumentierens förderte, ist in der spezifischen Art und Weise zu sehen, in der große Teile der politisch-aktiven jungen Generation, vor allem der akademischen Jugend, zu Marxisten wurden: Sie wurden in der Regel nicht in einem kritisch-rationalen Erkenntnisprozeß zu Marxisten, wurden nicht durch die geschickte Argumentation von Marxisten oder durch das intensive Studium der Schriften von Marx und Engels allmählich von den Vorzügen dieses Denkens überzeugt, sondern sie fühlten sich schon als Marxisten, als sie noch kaum etwas von Marx gelesen hatten. Sie wurden nicht zu Marxisten, weil sie den Marxismus intensiv studiert hatten, sondern sie begannen — und das auch nicht immer — ein intensives Studium des Marxismus, weil sie zu Marxisten geworden waren. In einem weniger rational, sondern eher psychologisch zu erklärenden Prozeß der Auflehnung gegen das Bestehende bot sich vielen als Alternative zu den abgelehnten Denk-und Verhaltensweisen der Marxismus an.

Die a priori vorhandene große Zahl überzeugter Marxisten hat im marxistisch-sozialistischen Denken eine antithetische Tendenz gefördert, da ja ein dialogisches Argumentieren überflüssig und funktionslos war. Denn die marxistischen Theoretiker oder Dozenten brauchten ihre Kenntnisse des Marxismus nie anzuwenden, um durch geschickte Argumentation und durch ein Eingehen auf Gegenargumente und Vorbehalte die Diskussionspartner von der Überlegenheit des Marxismus zu überzeugen.

Unzulänglichkeiten der marxistisch-sozialistischen Konzeption eines praktisch-organisatorischen Wissenschaftspluralismus

Eine Folge des antithetischen und rechtfertigenden Denkens ist es, daß zwar gegen bestimmte Konzeptionen des Wissenschaftspluralismus scharf polemisiert, über die Sachproblematik des Pluralismus aber zu wenig reflektiert wird.

Wie das Sachproblem des Pluralismus verdrängt wird, wenn man den Begriff Pluralismus undifferenziert als Kampfbegriff der hochschulpolitischen Reaktion denunziert, zeigt auch ein längerer Aufsatz „Zum Problem des Wissenschaftspluralismus" von Ulrich K. Preuß Preuß, der in weiten Teilen die Ausführungen von Brentanos zustimmend referiert, formuliert als Ausgangspunkt seiner Überlegungen über den Wissenschaftspluralismus den Gedanken, daß dieser Begriff „eine neue Variante des Versuchs (kennzeichnet), der wissenschaftlichen Arbeit in den Ausbildungsinstitutionen der Bundesrepublik die Restriktionen aufzuerlegen, die auch die Institutionen der politischen Herrschaft bestimmen"

Die antipluralistische Funktion des Begriffs Wissenschaftspluralismus begründet er mit einem Hinweis auf den Berliner Politologen Richard Löwenthal, allerdings nicht mit dessen Tätigkeit im „Bund Freiheit der Wissenschaft", sondern mit der Verbindung des wissenschaftlichen mit dem politischen Pluralismus, die nach Auffassung von Preuß Löwenthal hergestellt habe mit seiner These, daß „die Entwicklung der Wissenschaft (...) entscheidend behindert (wird), wenn eine bestimmte Ideologie eine institutionelle oder faktische Monopolstellung gewinnt. Volle Entfaltung des wissenschaftlichen Fortschritts erfordert daher eine freiheitliche politische Ordnung, die einen Pluralismus der politischen und gesellschaftlichen Kräfte und der Weltanschauungen ermöglicht und schützt"

Obwohl eigentlich nur antiliberale Antimarxisten ein Interesse daran haben können, in der administrativen Unterdrückung marxistisch-sozialistischer Tendenzen das wichtigste und oft einzige Merkmal einer freiheitlichen Wissenschaft und einer „freiheitlichen politischen Ordnung" zu sehen, entwickelt Preuß eine solche Interpretation mit besonders großem Eifer.

Eine rationale Auseinandersetzung mit den Thesen Löwenthals müßte unterscheiden zwischen seinen empirischen Aussagen über die gesellschaftlichen und politischen Bedingungen des wissenschaftlichen Fortschritts einerseits und den normativen Schlußfolgerungen, die möglicherweise aus diesen empirischen Aussagen für das Verhalten gegenüber der marxistisch-sozialistischen Wissenschaftskonzeption gezogen werden können.

Eine dieser normativen Schlußfolgerungen, die aber Preuß offensichtlich in Übereinstimmung mit militanten Antimarxisten nicht für möglich hält, wäre es, daß in einer freiheitlichen politischen Ordnung, die einen Pluralismus der politischen und gesellschaftlichen Kräfte und der Weltanschauungen ermöglicht und schützt, selbstverständlich auch die freie Entfaltung sozialistischer Bewegungen und der marxistisch-sozialistischen Wissenschaft ermöglicht und geschützt ist, wie es — im Gegensatz zu politischen Ordnungen wie in Griechenland oder Spanien — in freien und pluralistischen politischen Ordnungen wie zum Beispiel in Italien, Frankreich, Großbritannien tatsächlich der Fall ist.

Statt diese normative Schlußfolgerung zu verteidigen gegen Schlußfolgerungen, wie sie in Griechenland oder im Konzept der „streitba-ren" Demokratie gezogen werden, macht Preuß das Problem der politischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen des Wissenschaftspluralismus noch verworrener, indem er den Eindruck erweckt, daß eine freiheitliche politische Ordnung mit einem Pluralismus der politischen und gesellschaftlichen Kräfte die marxistisch-sozialistische Wissenschaft nicht dulden könne. Daß es sich dabei dber nicht um eine dezidiert antiliberale und intpluralistische Position handelt, sondern lur um ein ungeklärtes und verworrenes Ver-

ältnis zu Liberalismus und Pluralismus, wird daran deutlich, daß Preuß in seinen weiteren Ausführungen zahlreiche Bedingungen für en praktischen Wissenschaftspluralismus lennt, die nur in einer freiheitlichen und plu-a istischen Ordnung zu erfüllen sind.

Eine Klärung des grundsätzlichen Verhältnisses der marxistisch-sozialistischen Wissenschaftler zum Pluralismus wäre nicht nur notwendig, um sich gegenüber der „wehrhaften" Demokratie zu rechtfertigen, sondern auch um die Voraussetzungen für die Entwicklung einer gemeinsamen Strategie aller Reform-kräfte an den Hochschulen zu verbessern.

Selbstverständlich kann es nicht die Voraussetzung für eine hochschulpolitische Zusammenarbeit und für einen Minimalkonsensus auf der Grundlage des praktisch-organisatorischen Wissenschaftspluralismus sein, daß sich die marxistisch-sozialistischen Wissenschaftler vollständig mit dem geistig-politischen Liberalismus und dem kritischen Rationalismus identifizieren. Aber sie müßten wenigstens den wichtigsten Vorbehalt der engagierten Liberalen entkräften, nämlich die Befürchtung, die Marxisten befürworteten den praktisch-organisatorischen Wissenschaftspluralismus, also die Zulassung aller Wissenschaftskonzeptionen, nur für eine Übergangszeit, in der sie noch nicht die Macht haben, alle anderen Wissenschaftskonzeptionen auszuschalten. Die grundsätzliche Ablehnung des Wissenschaftspluralismus, auch des gegenwärtig von den Marxisten so sehr verteidigten praktischen Wissenschaftspluralismus, zeigt sich nach Auffassung Sontheimers daran, „daß marxistische Wissenschaft, von ihrer antithetischen Grundeinstellung her, nur solange in Koexistenz mit bürgerlichen Wissenschaftsauffassungen leben wird, wie die Verhältnisse dies notwendig machen. Ihrem Anspruch nach muß sie darauf aus sein, bürgerliche Wissenschaft abzuschaffen und durch marxistische zu ersetzen

Gerade wenn man den Antipluralismus des Marxismus nicht als bewiesene Tatsache ansieht und das Bekenntnis zum praktisch-organisatorischen Pluralismus als ehrlich anerkennt, muß man darauf hinweisen, daß M. von Brentanos theoretische Begründung für die Notwendigkeit des praktisch-organisatorischen Wissenschaftspluralismus doch so unzulänglich ist, daß sie die Schlußfolgerung Sontheimers nicht prinzipiell ausschließt, die-se Wissenschaftskonzeption müsse nach ihrem Selbstverständnis die Überwindung des gegenwärtig akzeptierten praktischen Pluralismus zum Ziel haben. Sie begründet nämlich ihre Forderung, die Institution, die staatliche und universitäre Wissenschaftsverwaltung, müsse angesichts des Konfliktes kontroverser Wissenschaftskonzeptionen neutral bleiben und alle zulassen, mit dem Argument, daß der Institution „keine Theorie, keine Methode und kein Konzept als Kriterium für die Schlichtung des Konflikts zur Verfügung steht" Und sie betont ausdrücklich, daß sie diese Neutralität der Institution keineswegs im Namen des Liberalismus als Prinzip fordert, sondern mit folgendem Argument, das bei nicht genauer Lektüre durchaus für ein liberales Prinzip gehalten werden könnte: „In dem Konflikt, der mit dem Begriff Wissenschaftspluralismus indiziert ist, ist die Institution und Bureaukratie durch nichts zum Urteil befähigt, also nicht zum Richter oder auch nur Schiedsrichter in der Sache legitimiert. In diesem Konflikt also kann Neutralität von ihr gefordert werden — nicht — wohlgemerkt, im Namen des Liberalismus als Prinzip, denn dieser ist Kontrahent im Konflikt, sondern weil kein Prinzip sie zur Entscheidung befugt."

Es ist nicht Haarspalterei oder kleinliche Wortklauberei, zur Beurteilung dieser Begründung von Brentanos auf folgende, nebensächlich anmutende sprachliche Kleinigkeit hinzuweisen: Von Brentano sagt nicht, die Institution müsse deshalb neutral bleiben und alle Wissenschaftskonzeptionen zulassen, weil es überhaupt „keine Theorie, keine Methode und kein Konzept" gibt, um den Konflikt zwischen den kontroversen Konzeptionen zu entscheiden und die Wahrheit gegen den Irrtum durchzusetzen. Sie sagt vielmehr einschränkend, daß der Institution keine solche Theorie oder Methode zur Verfügung steht. Sie begründet also die gegenwärtige Berechtigung der Pluralität kontroverser Wissenschaftskonzeptionen mit einem Mangel, der vielleicht doch noch zu beheben ist. Wenn es nämlich eine solche Theorie oder Methode zur Entscheidung des Konflikts gibt oder geben kann — was nur vom Liberalis-mus als Prinzip und vom erkenntnistheoretischen Skeptizismus grundsätzlich geleugnet wird —, dann kann natürlich auch eines Tages die Institution über diese Theorie oder Methode verfügen und den Konflikt zwischen den kontroversen Wissenschaftskonzeptionen objektiv zugunsten der einen und wahren Wissenschaft entscheiden, also die heute noch als notwendiges Übel bestehende Pluralität überflüssig machen. über diese grundsätzliche erkenntnis-theoretische Unzulänglichkeit hinaus ist aber noch die Frage zu untersuchen, ob das von den Marxisten befürwortete praktische Nebeneinander kontroverser Wissenschaftskonzeptionen unter den von M. von Brentano genannten Bedingungen schon praktisch funktionieren kann. Denn diejenigen, die wie Sontheimer und Kremendahl ihr Konzept des Wissenschaftspluralismus in Anlehnung an die pluralistische Gesellschafts-und Demokratie-theorie entwickeln, behaupten ja, daß Wissenschaftspluralismus nicht allein im faktischen Nebeneinander kontroverser Konzeptionen besteht, sondern die Anerkennung bestimmter Normen und theoretischer Postulate durch die Wissenschaftler zur Voraussetzung hat, wie zum Beispiel Toleranz, Konsensus, Offenheit, Dialog, Spielregeln für rationale Konfliktaustragung Während diese linksliberalen Wissenschaftler überzeugt sind, daß der Wissenschaftspluralismus gefährdet ist, wenn diese Normen und Postulate nicht anerkannt werden, sieht von Brentano gerade eine Gefahr für den praktischen Pluralismus, wenn von den Wissenschaftlern bestimmte Einstellungen verlangt werden

Wenn auch von Brentano zuzustimmen ist, daß die Wissenschaftsbürokratie nicht das Recht erhalten darf, von den Wissenschaftlern die Anerkennung bestimmter Nonnen und Postulate zu verlangen, so können doch die Wissenschaftler an sich selbst die Forderung stellen, die Normen und Postulate zu erkennen und anzuerkennen, die die Funktionsfähigkeit des praktischen Wissenschaftspluralismus begünstigen. Der praktische Wissen Schaftspluralismus, der bedeutet, daß an allen Fachbereichen Wissenschaftler der verschiedensten Richtungen lehren und forschen, ist insofern auch vom Denken und Verhalten der Wissenschaftler abhängig, als über die Einstellung von Wissenschaftlern in der Regel nicht die staatliche Wissenschaftsbürokratie entscheidet, sondern die Selbstverwaltungsgremien der Hochschulen. Und in diesen Gremien sitzen neben anderen Dienstkräften und Studenten vor allem Wissenschaftler, die darüber entscheiden, ob Vertreter aller Richtungen oder nur einer eingestellt werden. Und sie entscheiden dort nicht qua Institution, als kollektives und neutrales Über-Ich, sondern sie entscheiden als Individuen auf der Grundlage ihrer individuellen Überzeugungen und Normen. Die Forderung nach einem praktischen Wissenschaftspluralismus ist also nicht zu verwirklichen, wenn man sie nur an eine neutrale und objektive Behörde richtet, die Wissenschaftler aber ausdrücklich von solchen Forderungen ausnimmt. Denn nur wenn die Wissenschaftler in den Selbstverwaltungsgremien die Forderung nach einem praktischen Wissenschaftspluralismus für berechtigt und sinnvoll halten, werden sie in den Institutionen entsprechende Entscheidungen fällen.

Die theoretischen Positionen von Brentanos reichen also nicht aus, den praktischen Wissenschaftspluralismus grundsätzlich zu begründen und die Voraussetzungen für seine Verwirklichung und Funktionsfähigkeit zu erkennen.

Indem die Marxisten den Eindruck erwecken, daß liberal-pluralistische Konzepte prinzipiell den praktischen Wissenschaftspluralismus ausschließen und das Bekenntnis zum kritischen Rationalismus und zur pluralistischen Demokratie-und Gesellschaftstheorie identisch sei mit dem Appell an die Behörden zur administrativen Unterdrückung der marxistisch-sozialistischen Wissenschaft, weichen sie der inhaltlichen Auseinandersetzung mit diesen Konzepten aus.

Dieses Ausweichen vor der inhaltlichen Aussinandersetzung hat seine Ursache allerdings neht allein im antithetischen Denken der arxisten, sondern vor allem auch in der Art und Weise, in der in der Bundesrepublik —-imUnterschied zu den westlichen Demokratien — die Auseinandersetzung mit marxistisch-sozialistischen Positionen in Gesellschaft und Wissenschaft geführt wird.

In dem einer rationalen Auseinandersetzung wenig günstigen psychologischen Klima des Freund-Feind-Denkens ist es nicht verwunderlich, wenn auch die rationale Kritik an einer Konzeption gleichgestellt wird mit der Forderung nach ihrer administrativen Unterdrückung. Denn widerspricht es nicht allen Erfahrungen in unserer „wehrhaften" Demokratie, daß jemand eine Meinung scharf kritisiert und als falsch ablehnt, aber gleichzeitig ebenso engagiert dafür eintritt, daß diese Meinung frei vertreten werden darf?

Alfred Grosser, Politologe aus dem Lande Voltaires, urteilt über unsere „wehrhafte" Demokratie: „Die Bekämpfung des Linksradikalismus in der Bundesrepublik ... hat Formen angenommen, die von Frankreich aus gesehen erschreckend sind." Wenn Freiheit und Demokratie in einer Grosser an die McCarthy-Periode des Kalten Krieges erinnernden Art verteidigt werden, so deshalb, „weil es seit einem Vierteljahrhundert in der Bundesrepublik einen Mangel an Selbstsicherheit gibt, der den Außenstehenden nur verblüffen kann. So viel Stabilität, so viele — bald 100 Prozent — Wähler für die drei grundgesetzbejahenden Parteien, so viel Wirtschaftsmacht — und immer noch so wenig Selbstvertrauen! Ein kommunistischer Sozialarbeiter — und schon ist die Demokratie bedroht?"

Das mangelhafte Selbstbewußtsein äußert sich nicht nur in der Neigung zur rein administrativen Bekämpfung oppositioneller Kräfte, sondern hat auch noch eine Kehrseite. Denn es gibt ja auch zahlreiche Liberale, die engagiert die Freiheit der marxistisch-sozialistischen Wissenschaftler verteidigen und mit ihnen hochschulpolitisch zusammenarbeiten. Doch auch diese liberale Toleranz bietet kaum einen Ansatz für eine inhaltliche Auseinandersetzung zwischen liberal-pluralistischen und marxistisch-sozialistischen Konzeptionen. Denn Liberale und auch Sozialdemokraten, die für die Freiheit der Marxisten ein-treten und mit ihnen zusammenarbeiten, verzichten in der Regel auf eine kritische Auseinandersetzung mit marxistischen Konzeptionen, und zwar offensichtlich aus zwei Gründen: einmal möchte man nicht mit denen gleichgesetzt werden, die den Marxismus theoretisch verwerfen, um seine praktische Unterdrückung zu rechtfertigen. Andererseits möchte man durch eine theoretische Auseinandersetzung nicht die als notwendig erachtete praktische Zusammenarbeit gefährden; denn manche marxistische Intellektuelle reagieren sehr empfindlich auf Kritik und neigen dazu, auch Versuche zur rationalen Auseinandersetzung mit marxistischen Positionen als unverschämte Einmischung der Bourgeoisie in die inneren Angelegenheiten des Proletariats zurückzuweisen.

Pluralismus und Sozialismus

Die folgenden Ausführungen sind nicht zu verstehen als erschöpfende Analyse und Lösung der Problematik des Pluralismus in Wissenschaft und Gesellschaft. Es handelt sich vielmehr nur um thesenartige Zusammenfassungen und Schlußfolgerungen, die für die weitere Diskussion besonders relevant erscheinen und die auch die Richtung anzeigen sollen, in der die Probleme, Konflikte und Krisen in der Wissenschaft und in der Gesellschaft auf liberal-pluralistischer Grundlage gelöst werden könnten.

Aus der Analyse der marxistisch-sozialistischen Äußerungen zum Wissenschaftspluralismus lassen sich folgende Schlußfolgerungen ziehen: Die grundsätzlich erkenntniskritische Haltung des theoretischen Pluralismus und kritischen Rationalismus und die pluralistische Demokratie-und Gesellschaftstheorie schließen keineswegs — wie M. v. Brentano und U. K. Preuß meinen — den von den marxistisch-sozialistischen Wissenschaftlern befürworteten praktisch-organisatorischen Wissenschaftspluralismus mit zwingender Logik aus. Mit dieser erkenntnisskeptischen Position ist vielmehr die Freiheit und Existenzberechtigung aller Wissenschaftskonzeptionen viel überzeugender zu begründen als mit der ungeklärten erkenntnis-und wissenschaftstheoretischen Position M. v. Brentanos. Gerade die Erkenntnisskepsis vermag keinen Monopolanspruch für eine einzige Richtung zu fordern, sondern kann im Gegenteil den praktisch-organisatorischen Wissenschaftspluralismus als Voraussetzung für jeden demokratischen und rationalen Wissenschaftsbetrieb begründen, und zwar auch für eine künftige sozialistische Gesellschaft, in der es weniger Herrschaft und Abhängigkeit, weniger Privilegien und Ungerechtigkeit, mehr Freiheit, Chancengleichheit und Rationalität geben soll.

So wie der theoretische Pluralismus eine bessere erkenntnistheoretische Grundlage für den praktisch-organisatorischen Wissenschaftspluralismus ist, so ist eine pluralistische politische und gesellschaftliche Ordnung eine Voraussetzung für die Freiheit aller Wissenschaftskonzeptionen, auch des Marxismus. Und eine politische und gesellschaftliche Ordnung, die die Freiheit marxistischer Wissenschaft und marxistisch-sozialistischer Bewegungen administrativ einschränkt, ist höchstens noch auf sehr eingeschränkte Weise pluralistisch.

Eine weitgehende Einbeziehung von Prinzipien des theoretischen Pluralismus und der pluralistischen Demokratie-und Gesellschaftstheorie in ihre eigene Theorie ist der Neuen Linken nicht nur zu empfehlen, damit sie den praktisch-organisatorischen Wissenschaftspluralismus theoretisch besser zu begründen und Vorbehalte der Liberalen gegen eine Zusammenarbeit mit Marxisten überzeugender zu entkräften vermag. Ein sozialistisches Pluralismus-Konzept könnte auch dazu beitragen, die politischen Schwächen der Neuen Linken besser zu erkennen, zu erklären und zu korrigieren. Nicht wegen einer durchdachten und dezidiert antipluralistischen Konzeption, sondern weil sie das Sachproblem des Pluralismus ignorieren, erwecken manche Stellungnahmen marxistisch-sozialistischer Wissenschaftler den Eindruck, daß sie den theoretischen Monismus einem theoretischen Pluralismus grundsätzlich vorziehen. Das gilt zum Beispiel für das folgende Urteil des Marxisten Elmar Altvater: „Die Marxisten halten vielmehr die Forderung nach Wissenschaftspluralismus selbst für einen Ausdruck der Hilflosigkeit des unsicher gewordenen Bürgertums in bezug auf seine Wissenschaften. Man weiß nicht mehr so recht, was wahr und was falsch ist."

Betrachtet man den geistigen und organisatorischen Zustand der Neuen Linken, ist es eigentlich unbegreiflich, daß ihre Theoretiker die Alternative theoretischer Pluralismus oder Monismus nicht als zentrales Problem ihrer Bewegung erkannt haben. Im Prinzip müßte zwar eine monistische Postition, die der marxistischen Wissenschaft Sicherheit und Gewißheit verleiht, eine ungeheuere Überlegenheit der politischen Praxis der Neuen Linken über die bürgerliche Politik zur Folgen haben. Doch die feste monistische Über-zeugung, daß es nur eine einheitliche und bewiesene sozialistische Theorie und Praxis gibt und pluralistische Konzepte überflüssig sind, hat in der Praxis nicht zum Aufbau einer einheitlichen und großen sozialistischen Massenorganisation geführt, sondern nur zu einer großen Masse kleiner sozialistischer Organisationen. Und da sich diese Masse von Mini-Parteien gegenseitig erbittert und oft fanatisch als Revisionisten und Verräter an der einen und einzig wahren „korrekten Massen-linie“ bekämpfen, haben sie kaum noch Zeit und Kraft, sich für die Probleme der Massen zu interessieren

Zwischen der Neigung zum theoretischen Monismus und der praktischen Zersplitterung der Neuen Linken in zahlreiche Organisationen und Richtungen besteht insofern ein Zusammenhang, als die Prämisse, daß es nur eine einzige objektiv wahre sozialistische Theorie und Praxis gibt, dazu geeignet ist, sektiererisches Verhalten theoretisch zu rechtfertigen und alle von der einzig wahren Position abweichenden Auffassungen als objektiv falsch, revisionistisch und konterrevolutionär zu disqualifizieren. Nur ein Konzept des sozialistischen Pluralismus könnte der praktischen Zersplitterung entgegenwirken und die Neue Linke zu zielstrebigem politischen Handeln befähigen. Eine in diesem Zusammenhang erforderliche Einbeziehung der Prinzipien des theoretischen Pluralismus in die Theorie der Neuen Linken würde keineswegs bedeuten, daß sie kritiklos als neues Dogma den kritischen Rationalismus mit seinen positivistischen Implikationen übernehmen müßte. Da diese Prinzipien nicht gebunden sind an ein Bekenntnis zu allen spezifischen wissenschaftlichen und politischen Konzepten von Popper und Albert, kann man durchaus viele Positionen dieser kritischen Rationalisten als unzulänglich ablehnen, aber die Prinzipien des theoretischen Pluralismus akzeptieren.

Um die Prinzipien des theoretischen und dia-logischen Pluralismus und der pluralistischen Demokratie-und Gesellschaftstheorie in eine sozialistische Theorie einzubeziehen, ist es auch nicht erforderlich, Marxismus und Sozialismus über Bord zu werfen. Diese Befürchtung kann bei den Theoretikern der Neuen Linken in der Bundesrepublik nur deshalb entstehen, weil sie pluralistische Konzepte a priori für antisozialistisch halten, obwohl einer der Väter der Theorien des Pluralismus der englische Sozialist Harold Laski war, der aus seinem pluralistischen Ansatz die Forderung ableitete, die kapitalistische Klassengesellschaft müsse zur Verwirklichung der pluralistischen Postulate durch eine klassenlose sozialistische Gesellschaft überwunden werden Die Theoretiker der Neuen Linken ignorieren auch weitgehend die Diskussion über Konzeptionen eines sozialistischen Pluralismus, die seit Jahren in osteuropäischen Staaten, in der Kommunistischen Partei Frankreichs und am intensivsten in der Kommunistischen Partei Italiens stattfindet Dieser weitgehend unreflektierten Abneigung gegen den Gedanken des Pluralismus sei hier folgende These entgegengestellt: Nicht der theoretische Pluralismus, sondern der Monismus steht im Widerspruch zur dialektisch-materialistischen Methode und zum emanzipatorischen Anspruch von Marx; diese grundsätzlichen Positionen des Marxismus enthalten sogar als unverzichtbaren Bestandteil den theoretischen und dialogischen Pluralismus Dagegen ist der Anspruch des theoretischen Monismus, Einheit und Gewißheit des Denkens und der Erkenntnis zu garantieren, nur mit einem dogmatisch-idealistischen Standpunkt theoretisch zu begründen. Denn Einheit und Gewißheit des Denkens und der Erkenntnis sind nur denkbar, wenn es ein über den empirisch existierenden Menschen stehendes Dogma oder eine Idee gibt, die insofern also absolut anzusehen sind, als sie über alle anderen Ideen, Theorien, Interpretationen herausgehoben sind und zum Maßstab dafür gemacht werden, welche Theorien und Interpretationen wahr oder falsch sind.

Eine solche dogmatisch-idealistische Konstruktion, die eine einzelne Theorie verabsolutiert und zum Richter über andere Theorien und Meinungen macht, schließt die dialektisch-materialistische Methode prinzipiell aus. Auch der Marxismus, alle Gedanken und Thesen von Marx und von Marxisten, sind nur Bestandteil des theoretischen und praktischen Bemühens der Menschen, die gesellschaftliche Entwicklung zu verstehen und zu beeinflussen. Der Marxismus ist also keine absolute Position, die über der empirischen Gesellschaft steht, ist keine Sammlung der „wahren“ Erkenntnisse, mit deren Hilfe man immer entscheiden kann, ob eine spezifische Idee oder Theorie über die Gesellschaft „wahr" oder „falsch" ist, je nachdem, ob sie mit den Aussagen von Marx übereinstimmt oder ihnen widerspricht. Unter diesem Gesichtspunkt, daß der Marxismus gerade nicht eine Sammlung aller wahren Erkenntnisse ist, sondern theoretisches Instrument, um ständig neue Erkenntnisse zu erlangen, hat Georg Lukäcs die Frage behandelt, welche Thesen die Quintessenz des Marxismus ausmachen und welche Thesen kritisiert oder gar verworfen werden dürfen. Nach seiner Auffassung war gegenüber dieser Frage ein unwissenschaftliches Verhalten zu beobachten, nämlich: „... statt sich . unbefangen'der Erforschung von . Tatsachen'hinzugeben, Sätze und Aussagen älterer, von der modernen Forschung teilweise . überholter'Werke wie Sätze der Bibel scholastisch auszulegen, in ihnen und nur in ihnen einen Born der Wahrheit zu suchen" Diesem scholastischen Verhalten gegenüber dem Marxismus stellt Lukäcs seine Postion entgegen: „Denn angenommen — wenn auch nicht zugegeben —, die neuere Forschung hätte die sachliche Unrichtigkeit sämtlicher einzelnen Aussagen von Marx einwandfrei nachgewiesen, so könnte jeder ernsthafte . orthodoxe'Marxist alle diese neuen Resultate bedingungslos anerkennen, sämtliche einzelnen Thesen von Marx verwerfen — ohne für eine Minute seine marxistische Orthodoxie aufgeben zu müssen. Orthodoxer Marxismus bedeutet also nicht ein kritikloses Anerkennen der Resultate von Marx’ Forschung, bedeutet nicht einen . Glauben’ an diese oder jene These, nicht die Auslegung eines . heiligen’ Buches. Orthodoxie in Fragen des Marxismus bezieht sich vielmehr ausschließlich auf die Methode. Sie ist die wissenschaftliche Überzeugung, daß im dialektischen Materialismus die richtige Forschungsmethode gefunden wurde, daß diese Methode nur im Sinne ihrer Begründer ausge-baut, weitergeführt und vertieft werden kann.“

Auch im deutschen Neomarxismus besteht die Gefahr, daß man sich weniger „unbefangen“ um die Erkenntnis der sich ständig verändernden Wirklichkeit bemüht als um die einzig „wahre" Interpretation des ewig unveränderlichen Marxismus.

Im Gegensatz zu dogmatisch-idealistischen Positionen ist die dialektisch-materialistische Methode — wie ähnliche Ansätze, die unabhängig von der Autorität schon formulierter Theorien die Analyse und die praktische Beeinflussung der gesellschaftlichen Entwicklung zum Ziel haben — erkenntnistheoretischer Ausdruck des praktischen Strebens nach Emanzipation. Da es nach dem dialektisch-materialistischen Ansatz keine über den menschlichen Ideen und Gedanken stehende absolute Idee gibt und sich also kein Mensch und keine Behörde auf eine solche absolute geistige Autorität berufen kann, um bestimmte Ideen, Theorien, Meinungen qua Autorität als falsch und unzulässig zu erklären, folgt aus diesem Ansatz, daß alle Menschen gleichberechtigt am Erkenntnis-und Willensbildungsprozeß der Gesellschaft teilnehmen können. Eine unvermeidliche Folge dieser Souveränität und Gleichberechtigung aller Menschen ist ein faktischer Pluralismus von Ideen, Theorien, Meinungen, Forderungen für die Praxis. Dieser faktische Pluralismus ist selbst dann nicht zu vermeiden, wenn eine soziale Klasse oder eine politische Bewegung sich von grundsätzlich gleichen Interessen und Zielen leiten lassen. Denn es gibt keine Verfahrensweisen, mit denen zum Beispiel alle über die richtige sozialistische Theorie und Praxis nachdenkenden Sozialisten zu völlig gleichen Ergebnissen gelangen können.

Während der theoretische Pluralismus einen solchen faktischen Pluralismus von Ideen und Auffassungen akzeptiert und sogar als Mittel gegen geistige und gesellschaftliche Stagnation und für den Fortschritt einschätzt, sieht der theoretische Monismus darin einen Mansel, den es zu überwinden gilt. Wenn angesichts des faktischen Pluralismus einzelne Personen oder Gruppen auf dem Standpunkt des theoretischen Monismus stehen und . ihre spezifischen Auffassungen für die absolute Wahrheit halten, an der gemessen die anderen objektiv falsch, revisionistisch und konterrevolutionär sein müssen, ist eine praktische Zersplitterung und politische Handlungsunfähigkeit unvermeidliche Konsequenz.

Daß es zur sektiererischen Zersplitterung führt, wenn sich einzelne Personen oder Gruppen im Besitz der absoluten Wahrheit und der einzig wahren sozialistischen Konzeption dünken, hat schon Friedrich Engels für die Frühphase der sozialistischen Bewegung festgestellt: „Der Sozialismus ist ihnen allen der Ausdruck der absoluten Wahrheit, Vernunft und Gerechtigkeit . .. Dabei ist dann die absolute Wahrheit, Vernunft und Gerechtigkeit wieder bei jedem Schulstifter verschieden; und da bei jedem die besondere Art der absoluten Wahrheit, Vernunft und Gerechtigkeit wieder bedingt ist durch seinen subjektiven Verstand, seine Lebensbedingungen, sein Maß von Kenntnissen und Denkschulung, so ist in diesem Konflikt absoluter Wahrheiten keine andere Lösung möglich, als daß sie sich aneinander abschleißen."

Dennoch ist auch auf der Grundlage des theoretischen Monismus die praktische Zersplitterung und die Lähmung der politischen Handlungsfähigkeit zu vermeiden, allerdings nur dann, wenn eine der Personen oder Gruppen, die sich im Besitz der absoluten Wahrheit dünken, gleichzeitig im Besitz der absoluten Macht ist, also mit Hilfe autoritär-repressiver Machtstrukturen ihre „besondere Art der absoluten Wahrheit, Vernunft und Gerechtigkeit“ sozial wirksam gegen die anderen absoluten Wahrheiten durchzusetzen vermag. Der theoretische Monismus kann zwar die Einheit des Denkens und der Erkenntnis mit Hilfe einer dogmatisch-idealistischen Konstruktion theoretisch postulieren und als logisch denkbar begründen. Aber praktisch durchzusetzen ist sein Anspruch nur mit Hilfe eines politisch-gesellschaftlichen Monismus, einer autoritär-bürokratischen Gesellschaftsstruktur. Denn Einheit im Denken und Erkennen gibt es nur, wenn nur einer denkt, bzw. wenn einer oder eine elitäre Gruppe die Macht haben, alle anderen Menschen und Gruppen zu zwingen, die Ergebnisse des eigenen Denkens als für alle verbindlich anzuerkennen.

Dägegen ist die dialektisch-materlalistische Methode nicht nur als Theorie liberal und pluralistisch orientiert. Aus ihr folgt für die gesellschaftliche Praxis die Forderung, autoritär-repressive Gesellschaftsstrukturen abzubauen. Denn diese von der Souveränität und Gleichberechtigung aller Menschen ausgehende Erkenntnistheorie ist sozial wirksam anzuwenden nur in einer liberal-pluralistisch strukturierten Gesellschaft, in der keine zentrale Autorität unter Berufung auf ein Dogma oder eine absolute Idee für alle verbindlich entscheiden kann, welche Fragen und Methoden zulässig sind, welche Erkenntnisse und Theorien richtig oder falsch sind. Ausgehend von dem in einer liberal-pluralistischen Gesellschaft unvermeidlichen faktischen Pluralismus hat der dialogische Pluralismus die Funktion, durch eine dialogische Auseinandersetzung zwischen den kontroversen Positionen einen Konsensus für gemeinsames Handeln zu schaffen, also gemeinsames Hah.dein zu ermöglichen, ohne mit Hilfe einer zentralen Autorität die Vielfalt der Gedanken administrativ zu unterdrücken und eine sterile Einheit im Denken zu erzwingen.

Wenn die Kontroversen und Auseinandersetzungen innerhalb der Neuen Linken nicht mehr das Ziel hätten, den wahren Marxisten vom Revisionisten zu unterscheiden, dann könnte eine Rationalität der politischen Auseinandersetzung entstehen, die — ähnlich wie H. F. Spinner die Rationalität der Wissenschaft von Dogmatismus, Magie und Aberglauben unterscheidet — darin besteht, „daß wir durch rationale Argumentation zu bestimmen versuchen, welche Theorien unsere Probleme am besten lösen, und daß wir dadurch aus unseren Fehlern lernen können"

Erkenntnisfortschritt in den Sozialwissenschaften und praktischer Fortschritt in der Gesellschaft

Aus den Ausführungen über die Grundprinzipien der dialektisch-materialistischen Methode läßt sich die Schlußfolgerung ziehen, daß die gegenwärtige Kommunikationslosigkeit und die Feindschaft zwischen kritischem Rationalismus und marxistisch-sozialistischer Wissenschaft weder wissenschaftstheoretisch noch politisch begründet sind und daher auch nicht als unabänderlich anzusehen sind. Vor allem das gruppendynamisch bedingte Freund-Feind-Denken verhindert die Einsicht, daß beide Richtungen zumindest vergleichbare emanzipatorische Ziele haben, oft vor den gleichen Problemen stehen und sogar vergleichbare Lösungsvorschläge entwickeln, die man sich aber dann gegenseitig zum Vorwurf macht, wie an folgendem Beispiel deutlich wird: Wenn es keine mit Sanktionsbefugnissen ausgestattete Autorität gibt, die für alle verbindlich echte Erkenntnisse von Scheinerkenntnissen unterscheidet, wenn eine Vielzahl kontroverser Theorien in Umlauf ist, besteht die Gefahr eines völligen Relativismus, so daß unter dem weiten Schirm des Pluralismus jede Theorie und Meinung wahllos und kritiklos akzeptiert werden muß. Um das zu verhindern, möchte H. F. Spinner die Konkurrenz der kontroversen Theorien mit Hilfe inetamethodologischer Regeln so organisieren, daß unbrauchbare Theorien eliminiert oder verbessert werden können und ein Erkenntnisfortschritt erreicht wird. Ohne zu prüfen, ob es sich dabei nicht doch um einen diskutablen Lösungsvorschlag für ein Sachproblem handelt, hat von Brentano dagegen den Vorwurf erhoben, daß damit nur der Monopolanspruch des Neopositivismus und die administrative Unterdrückung des Marxismus gerechtfertigt werden sollten.

Da es wohl eine Bankrotterklärung der Wissenschaft wäre, wenn unter dem Deckmantel des Pluralismus alle Theorien und Meinungen wahllos akzeptiert werden müßten, sollte es zieht von vornherein als Versuch zur Unter drückung des Marxismus angesehen werden, wenn die Notwendigkeit, im Interesse des Erkenntnisfortschritts bestimmte Theorien zu eliminieren oder zu verbessern, mit folgendem Argument begründet wird: „Denn schließlich gibt es das Kriterium der Wahrheit, nach dem die Wissenschaft zu beurteilen ist ... Wieviel Scharlatanerie hat es in der Vergangenheit gegeben, mit der ein Pluralismus ohne jeden Sinn bliebe." Und es wäre auch zu prüfen, ob es nicht doch gerechtfertigt ist, den Begriff „Freiheit der Wissenschaft" durch folgende Feststellung gegen völligen Relativismus abzugrenzen: „Sicher heißt (Freiheit der Wissenschaft) nicht, daß jeder Unsinn im Namen des Wissenschaftspluralismus als Universitätslehre verbreitet werden darf."

Wenn diese Einwände gegen einen total relativistisch verstandenen Pluralismus nicht — wie die Ausführungen Spinners — als Aufforderung zur Unterdrückung des Marxismus interpretiert werden, dann allein deshalb, weil sie von den Marxisten Altvater und Holz stammen. Denn ob methodologische Überlegungen über den Erkenntnisfortschritt als Angriff auf den Marxismus verstanden werden, hängt in erster Linie gar nicht vom Inhalt dieser Überlegungen ab, sondern von ihrem Autor, bzw. von der hochschulpolitischen Richtung, der er angehört oder zugeordnet wird.

Wenn der kritische Rationalist H. F. Spinner mit Hilfe des theoretischen Pluralismus einen Erkenntnisfortschritt erreichen möchte, so ist das durchaus vergleichbar der Aufgabe, die H. H. Holz dem Marxismus in den Sozialwissenschaften stellt. Angesichts der Arbeitsteilung und Spezialisierung, die zu einer „Zerfällung des klassischen Universalitätsanspruchs der Wissenschaften" führten, die vom Positivismus verewigt werde und auch von der Philosophie nicht mehr zu überwinden sei, stellt Holz dem Marxismus die Aufgabe der Integration: „Eine solche Funktion kommt nun aber einer philosophischen Theorie zu, denn die Zerfällung der Wissenschaften bedeutet ja, daß wir nicht mehr in unserer Welt rational uns zurechtfinden können, sondern daß wir die Rationalität von Teilbereichen durch einen Irrationalismus im ganzen uns erkaufen müssen. Unter allen Theorien, die diese Zerfällung der Wissenschaft zu überwinden trachten, scheint mir nun deshalb der Marxismus die leistungsfähigste — wie ich etwas unorthodox zu sagen pflege — Metatheorie zu sein, weil der Marxismus zum einen die Wirklichkeit in ihrer unendlichen Totalität nicht als ein abgeschlossenes, sondern als ein in Veränderung begriffenes offenes System konstruiert. ..., wobei die Offenheit zugleich dadurch gewährleistet wird, daß in der Praxis selbst eine dauernde Korrektur von Theorie sich vollzieht, das heißt die Empirie die Theorie dauernd korrigiert..

Da im Klima des Freund-Feind-Denkens beide Richtungen zu der Annahme neigen, daß sie ihre guten Absichten vor allem wegen der Existenz und des Wirkens der anderen nicht zufriedenstellend verwirklichen können, übersehen beide Richtungen, daß sie auch vor allem wegen der Unzulänglichkeiten der eigenen Wissenschaftskonzeption ihre hohen Ansprüche kaum einzulösen vermögen. Denn wo ist der Erkenntnisfortschritt erkennbar, den der theoretische Pluralismus verwirklichen soll? Und wo gibt es Anzeichen dafür, daß es der marxistisch-sozialistischen Wissenschaft gelungen ist, „die Zerfällung der Wissenschaften" zu überwinden und dazu beizutragen, daß die Menschen, oder wenigstens die Marxisten, sich besser „in unserer Welt rational ... zurechtfinden können"?

Wenn es auch in Teilbereichen der Geistes-und Sozialwissenschaften einen qualitativen Erkenntnisfortschritt geben mag, der dem Fortschritt der Naturwissenschaften vergleichbar ist, so dürfte das kaum für die Erkenntnis der Gesamtgesellschaft gelten. Entspricht nicht der Zustand der Geistes-und Sozialwissenschaften, auch der marxistisch-sozialistischen Richtungen, weitgehend unserer am rein quantitativen Wachstum orientierten Konsumgesellschaft? So wie die quantitative Steigerung der Produktion Selbstzweck ist und nicht zielstrebig genutzt wird, um die Qualität der Gesellschaft, der Lebens-und Arbeitsbedingungen in Übereinstimmung mit den menschlichen Bedürfnissen und Zielvorstellungen zu verbessern, so dient auch in den Sozialwissenschaften die quantitative Anhäufung von empirischen Untersuchungen, neuen methodischen Ansätzen, interessanten Hypothesen und Theorien, geistreichen Interpretationen kaum dazu, diese Wissenschaften und das Wissen über die Menschen und die Gesellschaft auf eine qualitativ höhere Ebene zu heben.

Zusätzlich problematisiert wird der sozialwissenschaftliche Erkenntnisfortschritt wegen seiner gesellschaftlichen Dimension: Qualitativer Erkenntnisfortschritt kann sich nicht allein als ein intellektueller Erkenntnisprozeß einzelner Sozialwissenschaftler vollziehen, sondern wird erst real im Zusammenhang mit einem Fortschritt der Gesellschaft, wenn diese Erkenntnisse den Menschen helfen, die Probleme ihrer Gesellschaft besser zu erkennen und auf vernünftige Weise zu lösen. So werden zum Beispiel die Erkenntnisse über „die Grenzen des Wachstums" erst dann zu einem gesellschaftlich relevanten Erkenntnisfortschritt, wenn sie dazu beitragen, den „Wachstumstod" der hochentwickelten Gesellschaften zu verhindern. Diesem praktischen Ziel können aber die Erkenntnisse und Hypothesen über „die Grenzen des Wachstums" nur dienen, wenn sie mit anderen, auf die Möglichkeiten praktischer Veränderungen der Gesellschaft bezogenen Erkenntnissen verbunden werden, und wenn dieser durch Überwindung der „Zerklüftung der Wissenschaften" erreichte Erkenntnisfortschritt auch an die Gesellschaft vermittelt wird und die Praxis zu beeinflussen vermag.

Wenn die Sozialwissenschaften in einem qualitativ fortschreitenden Erkenntnisprozeß feststellen, welche Normen, Denk-und Verhaltensweisen, institutionellen Regelungen die Demokratie stärken, die wirtschaftlichen Probleme lösen, die Emanzipation und die Selbstverwirklichung der Menschen fördern, so können sie damit einen gesellschaftlich relevanten Erkenntnisfortschritt nur dann einleiten, wenn sie zum Gegenstand ihrer Erkenntnis auch die Frage machen, auf welche Weise diese Normen, Denk-und Verhaltensweisen verstärkt und diese institutioneilen Regelungen praktisch durchgesetzt werden können.

Die Zweifel an der gesellschaftlichen Wirksamkeit der Sozialwissenschaften werden noch verstärkt durch die Tatsache, daß es ihnen selbst im Bereich des eigenen Wissenschaftsbetriebes nicht gelungen ist, die Probleme und Konflikte, die mit der Protestbewegung sichtbar wurden oder entstanden, auf der Grundlage einer wissenschaftlichen Analyse sachgerecht einzuschätzen und rational zu lösen. Wenn in den geistes-und sozialwissenschaftlichen Fachbereichen — besonders in der Verfallsperiode der Studentenbewegung seit 1969 — die Konflikte oft noch emotionaler und irrationaler ausgetragen wurden als in anderen Fachbereichen und in der Gesamtgesellschaft, so gewiß auch deshalb, weil dort die radikale Bewußtseins-Revolution ihren Ausgangspunkt und Schwerpunkt hatte und noch hat. Aber ein wichtiger Grund liegt auch im Versagen vor dieser Herausforderung. Obwohl es zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten über die Protestbewegung gibt, ist es nicht gelungen — sogar nicht einmal versucht worden —, die Einzelergebnisse so zu einem qualitativen Erkenntnisfortschritt zusammenzufassen und wenigstens an die Sozialwissenschaftler zu vermitteln, daß sie befähigt wurden, rational auf diese Herausforderung zu antworten und auf argumentativem Wege diese Bewußtseins-Revolution in Richtung einer größeren politischen Rationalität zu beeinflussen. Wie sollen sozialwissenschaftliche Erkenntnisse Gesellschaftsgruppen außerhalb der Hochschulen zu zweckrationalem Verhalten befähigen, wenn sie nicht einmal das Verhalten der im sozialwissenschaftlichen Wissenschaftsbetrieb Tätigen in diesem Sinne zu beeinflussen vermögen? Wenn auch die Sozialwissenschaftler noch immer die negativen Konsequenzen und die Irrationalität des Freund-Feind-Denkens in allen Bereichen der Gesellschaft und in den internationalen Beziehungen scharfsinnig analysieren und kritisieren, so suchen dennoch in den hochschulpolitischen Auseinandersetzungen die verfeindeten Fraktionen weniger nach den Ursachen der Konflikte und Krisen sowie nach Methoden zu ihrer rationalen Lösung, sondern nach den Feinden, die an allem schuld sind und nach Freunden für personal-politische Mehrheiten, um diese schuldigen Feinde in den Gremien zu überstimmen.

Wenn in den letzten Jahren die Basis für eine progressive Hochschulreform in den Universitäten und in den politischen und staatlichen Institutionen immer schmaler geworden ist, so liegt die Ursache dafür nicht allein in der verstärkten Aktivität der Reformgegner und im Versagen der etablierten Wissenschaften, sondern auch in der Entwicklung der Protest-bewegung zum chaotischen Aktionismus und im Versagen der politischen und wissenschaftlichen Theorien der Neuen Linken vor dieser Herausforderung.

Das apolitische Denken und Verhalten der Neuen Linken

Das Versagen der marxistisch-sozialistischen Sozialwissenschaften und des politischen Denkens der Neuen Linken insgesamt ist nicht in erster Linie in der mangelnden Fähigkeit zur selbstkritischen Betrachtung der eigenen Bewegung zu sehen. Denn es gibt eindrucksvolle Beispiele dafür, wie Vertreter der Neuen Linken Fehler und Schwächen, dogmatische, irrationale und sektiererische Tendenzen in den eigenen Reihen schonungslos darstellen und kritisieren Aber diese Beispiele zeigen gleichzeitig, daß diese schonungslose, scharfsinnige und geistreiche Selbstkritik die Ursachen für die kritisierten Mängel nicht zu erklären vermag und daher auch nicht dazu beitragen kann, diese Mängel zu überwinden und die politische Praxis der Neuen Linken zu verbessern. Diese Auffassung sei kurz begründet anhand eines Aufsatzes des kritischen Marxisten Wolf Wagner Er analysiert dogmatische Denk-und Verhaltensweisen, die nicht-dialogisch sind und nicht nur die rationale Kommunikation zwischen verfeindeten Fraktionen, sondern auch innerhalb linker Gruppen verhindern. Um die Deformation der Kommunikation innerhalb linker Gruppen zu charakterisieren, zitiert er aus einem . Mannheimer Papier': „Die steuernde Kraft für das, was gesagt bzw. verschwiegen wird, ist meistens nicht die politische Vernunft, sondern die Angst vor dem negativen Urteil der anderen, vor allem der Großgenossen.“ Im Laufe der letzten Jahre „entwickelte sich die Theorie der . Neuen Linken'selbst zum sozialerwarteten Wissen, in einigen gesellschaftswissenschaftlichen Instituten sogar zu einem Teil des institutionell erwarteten Wissens“

Im Zusammenhang mit den angesichts nicht einzulösender Ansprüche entwickelten Bluff-techniken sieht Wagner auch „die Tendenz, den Marxismus als bloßes Instrument zu begreifen, mit dem man . Bürger knacken'kann, und die Abneigung, sich mit bürgerlicher Wissenschaft konkret-inhaltlich auseinander-zusetzen ..., und sich durch sie verunsichern zu lassen" Und so entsteht „die Gefahr, daß aus der osmotisch entstandenen herrschenden Lehre ein Dogmatismus der stimmigen Formulierungen wird und vor lauter kämpferischer täglicher Praxis die theoretische Durchdringung der realen Bewegung nicht mehr geleistet werden kann"

Da auch und gerade nach marxistischen Kriterien eine Analyse schwerwiegender Mängel in der sozialistischen Bewegung das Ziel ha-ben muß, daraus Schlußfolgerungen für eine Überwindung dieser Mängel abzuleiten, stellt Wagner schließlich noch fest: „Eigentlich gehört an den Schluß eines solchen Aufsatzes die Antwort auf die Frage , was folgt daraus?'" Doch überraschenderweise fährt er fort: „Dazu bin ich aber weder fähig noch willens, ..."

Die Theoretiker der Neuen Linken haben zwar immer wieder die Praxis der Studenten-bewegung nachträglich einer scharfen Kritik unterzogen, aber sie waren nicht in der Lage, ein langfristiges politisches Konzept zu entwickeln und das Abgleiten der Studentenbewegung in einen apolitisch-chaotischen Aktionismus zu verhindern. Peter Brückner, einflußreicher Theoretiker und — weniger einflußreicher — Kritiker der Neuen Linken, kritisiert als eine Ursache für ihre unzureichende politische Wirksamkeit ihre mangelhafte Ausdauer und ihren sprunghaften Wechsel von einem Projekt der politischen Arbeit zum anderen. Im Zusammenhang mit der Feststellung, die studentische Linke verliere die historische Kontinuität, wirft er ihr vor: „Sie läßt eine halbfertige Goldgräberstätte nach der andern als Spur ihrer zeitlichen Wirksamkeit zurück. Mehrere Aktionen und Kampagnen wurden, trotz deutlicher (strategischer, politischer) Relevanz nicht auf Dauer gestellt, sondern nach dem Prinzip der Drehtür (oder des Wetterhäuschens) durch den Weg in neue Aktionen abgelöst."

Obwohl die Studentenbewegung auch in ihrer Aufstiegsphase bis 1968 über keine langfristige Strategie verfügte, so heißt das doch nicht, daß sie politisch völlig sinnlos und ergebnislos war. Wenn die Studenten tatsächlich wie Goldgräber oder Schatzsucher von einer halbfertigen Goldgräberstätte zur anderen weiter-zogen, immer wieder von der Hoffnung beflügelt, mit dem neuesten Aktionsmodell endlich auf den verborgenen Schatz zu stoßen, die Revolution, so haben sie zwar nicht gefunden, was sie suchten. Aber wie der Schatzsucher, der beim Umgraben des Bodens zwar den gesuchten Schatz nicht fand, aber dabei doch den Boden urbar und fruchtbar machte, so hat auch die Studentenbewegung durch die Suche nach der Revolution den verkarsteten innenpolitischen Boden in der Bundesrepublik für längst überfällige Reformen empfänglich gemacht. Doch die chaotischen Revolutionsspiele der Reststudentenbewegung der letzten Jahre haben keineswegs mehr diese positiven Nebenwirkungen. Wenn man im Gleichnis des Schatzsuchers bleiben will, dann helfen diese chaotischen Aktionen nur noch, die Ernte zu vernichten und die Felder zu verwüsten, die in der Aufstiegsphase der Studentenbewegung für Reformen urbar und fruchtbar gemacht wurden. Im Gegensatz zur Aufstiegs-phase, als die Studentenbewegung indirekt wertvolle Triebkraft und Hilfe für die gesellschaftspolitischen Reformkräfte war, ist die aktionistische Reststudentenbewegung, von wenigen Ausnahmen abgesehen, zu einer starken Triebkraft und Hilfstfuppe der Reformgegner geworden.

Wenn einerseits die Aktivitäten rechter Reformgegner in Staat und Hochschule zahlreiche Studenten, die ein Interesse an der Reform haben, den pseudolinken Reformgegnern in die Arme treiben, so drängen andererseits die chaotischen Aktionen dieser Studenten-gruppen zahlreiche Wissenschaftler, die gesellschaftspolitisch links stehen und die Hochschulreform zunächst aktiv unterstützt haben, in die Zusammenarbeit mit rechten Reformgegnern. Das ist sogar ein Ziel dieser Studentengruppen, die nie versuchen, Bündnis-partner für die Durchsetzung studentischer Interessen zu finden, sondern die sich fast krampfhaft bemühen, auch die engagiertesten Vertreter einer konsequenten Hochschulreform als „Agenten und Handlanger des Kapitals" zu entlarven. Im Verlauf der praktischen Erprobung der Mitbestimmungsmodelle wurde daher die Zahl derjenigen, die in den politischen und staatlichen Institutionen und in den Hochschulen die Reformen aktiv unterstützen und verteidigen, immer geringer.

Am stärksten entfaltet ist die Unfähigkeit, die Konsequenzen des eigenen Verhaltens zu kalkulieren, reale Alternativen zu erkennen und die Mitbestimmungsregelungen sinnvoll zu nutzen und zu verteidigen, in der Regel in den geistes-und sozialwissenschaftlichen Fachbereichen. Gerade in jenen Wissenschaften, die eigentlich die politische Rationalität in def Gesellschaft stärken sollten, ist die politische Unvernunft am stärksten und finden die aktionistischen Studentengruppen, die als Avantgarden des Proletariats auftreten, eine breitere Basis unter den Studenten als in anderen Fachbereichen. Wenn die politische Rechte die Sozialwissenschaften wegen ihrer . zersetzenden“ Wirkung weitgehend einschränken möchte, so ist das von diesem Standpunkt aus durchaus rational. Doch völlig irrational ist es, wenn linke Studenten glauben, sie könnten dem „Kapital“ einen schweren Schlag versetzen, wenn sie durch sich ständig wiederholende „aktive Streiks“ und andere militante Aktionen immer wieder sozialwissenschaftliche Institute und Fachbereiche lahmlegen und eine Selbstliquidierung der Sozialwissenschaften fördern. Und irrational ist es auch, wenn andere linke Studenten und Wissenschaftler das immer wieder zulassen.

Daß apolitische Denken und Verhalten in den Sozialwissenschaften besonders ausgeprägt ist, zeigen auch folgende Ergebnisse einer Meinungsumfrage: Während sich von allen Studenten 87 °/o für Reformen aussprachen, und zwar 41 0/o für „gemäßigte", 46 °/o für „konsequente Reformen", waren nur 67 0/0 der sozialwissenschaftlichen Studenten für Reformen, aber 29 0/o für revolutionäre Veränderungen (von allen Studenten nur 10°/0) Da in der Regel die für revolutinäre Veränderungen eintretenden Studenten am aktivsten sind und wegen ihres Engagements im sozialen und pädagogischen Bereich einen großen intellektuellen Einfluß ausüben, tragen sie zur weiteren Schwächung des Reformpotentials in der Gesamtgesellschaft bei. Ihr revolutionärer Glaube wird zwar keine Revolution zustande bringen, aber er hilft den rechten Reformgegnern, demokratische Reformen zu verhindern oder rückgängig zu machen.

Die meisten marxistisch-sozialistischen Wissenschaftler üben zwar scharfe Kritik am irra-tionalen Aktionismus der sich für marxistisch-leninistisch und maoistisch haltenden Studentengruppen. Doch diese Kritik bleibt praktisch weitgehend wirkungslos, weil sie nur mit dem gesunden Menschenverstand begründet werden kann, aber nicht mit einer alternativen politischen Strategie und mit einem gesamtgesellschaftlichen Reformkonzept, in das die Bedeutung einer demokratisierten Hochschule sinnvoll eingeordnet ist. Ein solches Reformkonzept können die Theoretiker der Neuen Linken kaum entwickeln, wenn sie von der dogmatischen Prämisse ausgehen, daß wirkliche gesellschaftliche Veränderungen nur durch eine Revolution zu erreichen sind.

Wenn die Neue Linke kein langfristig angelegtes Konzept für eine konsequente Reform-politik entwickelte und die Studentenbewegung nicht zu einem zielstrebigen politischen Handeln anleiten konnte, so liegt das auch daran, daß ihr theoretisches Denken weitgehend apolitisch ist und die politische Dimension der Gesellschaft und die Möglichkeiten zielstrebigen politischen Handelns ignoriert

Die Neue Linke, deren Ideen, Begriffe, Theorien und kritische Urteile über den Kapitalismus im Denken der aktivsten Teile der jungen Generation vorherrschend sind, deren Denken also im Gegensatz zu den Gedanken, die von Vertretern der im Bundestag vertretenen Parteien geäußert werden, intellektuell so attraktiv und einflußreich ist, hat allerdings keinen einzigen Gedanken hervorgebracht, der für eine zielstrebige politische Praxis relevant ist — und zwar politisch relevant in dem Sinne, daß diese Gedanken und theoretischen Konzepte den durch die Ideen der Neuen Linken mobilisierten Menschen helfen können, ihre kritische Haltung in eine zielstrebige politische Praxis umzusetzen, die erfolgreich die abgelehnten Verhältnisse zu überwinden und durch eine bessere Gesellschaft zu ersetzen vermag. Die Neue Linke, und zwar sowohl die vom Denken der Frankfurter Schule als auch die politökonomisch orientierte Richtung, hat nicht einmal Ansätze für eine politische Strategie entwickelt, die zu zweckrationalem Handeln anzuleiten vermag, die einzelne Etappen und konkrete Zwischenziele einer langfristigen gesellschaftsverändernden Strategie nennen kann, die Institutionen, Organisationen, Methoden und Mittel anbietet, mit denen konkrete Zwischenziele praktisch verwirklicht werden können.

Da diese praktisch-politische Dimension im Denken der Neuen Linken fast völlig fehlt, wurde aus ihrem Anspruch und Bemühen, die Wissenschaft stärker in den Dienst der Gesamtgesellschaft bzw. ihrer unterprivilegierten großen Mehrheit zu stellen, nur ein kurzer Marsch aus dem ruhigen Elfenbeinturm der reinen Wissenschaft in den unruhigen Elfenbeinturm der revolutionären Illusionen. Diese Revolutionsillusionen großer Teile der akademischen Linken vergrößern ihren Abstand zu den in der Gesamtgesellschaft wirkenden linken Reformkräften. Aus diesem Grunde wird in den in der Gesamtgesellschaft stattfindenden Auseinandersetzungen zwischen Reformern und Gegenreformern, von deren Ergebnissen auch das Schicksal der Hochschulreform abhängt, die akademische Linke kaum noch zugunsten der Reformkräfte wirksam.

Angesichts der großen Kluft zwischen der akademischen Linken und der Gesellschaft ist die oben angesprochene Frage, wie die Erkenntnisse der Sozialwissenschaften so an die Gesellschaft vermittelt werden können, daß sie dem gesellschaftlichen Fortschritt dienen, durch folgende Frage zu ergänzen: Wie kann die Gesellschaft ihre Probleme so an die Sozialwissenschaften vermitteln, daß diese sich überhaupt mit den tatsächlichen Problemen der gegenwärtigen Gesellschaft und den realen Alternativen für ihre weitere Entwicklung befassen und dadurch erst in die Lage versetzt werden, Erkenntnisse zu gewinnen, die für die gesellschaftliche Praxis relevant werden können.

Eine wichtige Ursache für das apolitische Denken und die damit verbundene Kluft zwischen linken Sozialwissenschaften und Gesellschaft ist die Tatsache, daß die politischen Kräfte der sozialliberalen Koalition, die wichtigste Träger gesamtgesellschaftlicher Reformpolitik sind, in den bewußtseinsprägenden theoretischen Auseinandersetzungen der Geistes-und Sozialwissenschaften völlig fehlen. Das heißt nicht etwa, es gäbe an den Universitäten keine Mitglieder und Anhänger der Parteien der sozialliberalen Koalition: im Gegenteil, sie haben gerade an den Reformuniversitäten die entscheidenden Schlüsselstellungen in der universitären und staatlichen Wissenschaftsverwaltung inne. Doch diese große Zahl einflußreicher administrativer Positionen wird nicht ergänzt durch eine einflußreiche geistige Position. Auch in den hochschulpolitischen Auseinandersetzungen zwischen den vielfältigen Fraktionen sind sie überall zu finden, und zwar als unauffällige, aber äußerst rührige und unentbehrliche Hilfstruppen bei allen Gruppierungen von den extremsten rechten Reformgegnern bis zu den pseudolinken „Revolutionären" und Chaoten. Aber in der großen Zahl der wissenschaftlich-politischen Richtungen, die mit bewußtseinsprägenden Konzeptionen und Theorien um geistigen Einfluß ringen, stellen sie keine eigenständige Kraft dar.

Die Fragestellungen und Probleme, die sich für Befürworter einer konsequenten Reform-politik ergeben, werden nicht in die wissenschaftliche Diskussion eingebracht und beeinflussen nicht die wissenschaftliche Reflexion, Theorie-und Meinungsbildung und die Forschung gerade in jenen Bereichen der Geistes-und Sozialwissenschaften, die eine breite Schicht von Studenten für soziale und pädagogische Berufe ausbilden. Also gerade das politische Bewußtsein jener Studenten, die zu aktiven Vermittlern politischen Denkens und Verhaltens in der Gesellschaft werden, wird vorwiegend vom apolitischen Denken der Neuen Linken geprägt, das keine Verbindung hat zu den gesamtgesellschaftlich und politisch relevanten Gruppen, Parteien, Organisationen und Institutionen.

Ein aktives Engagement von Anhängern der sozialliberalen Koalition, die Einbeziehung der Position des Demokratischen Sozialismus und eines linken Sozialliberalismus in die bewußtseinsprägende wissenschaftliche und hochschulpolitische Auseinandersetzung, könnten das apolitische Denken und Verhalte» der akademischen Linken teilweise korri gieren und damit das Reformpotential in der Gesellschaft vergrößern. Doch in letzter Zeit wird eher ein umgekehrter Einfluß sichtbar, der sich negativ auf die Reformchancen auswirkt: Da in der SPD einerseits ein verstärktes Interesse an sozialistischer Theorie entstanden ist, andererseits aber die wissenschaftliche und theoretische Reflexion darüber so gut wie ausschließlich von den Repräsentanten der akademischen Linken geleistet wird, dringen Elemente eines apolitischen Denkens und Verhaltens auch in die theoretischen Auseinandersetzungen der Jungsozialisten ein. Diesem geistigen Einfluß sind die Jungsozialisten auch deshalb ziemlich hilflos ausgeliefert, weil die SPD zur Auseinandersetzung mit diesem Einfluß nicht über ausreichende eigenständige theoretische Konzeptionen und Reflexionen verfügt und statt dessen oft nur mit dem geistig dürftigen und scholastischen Argument operiert, die Theorien der Neuen Linken stimmten ja gar nicht mit dem Godesberger Programm überein.

Als Ergebnis dieser Analyse läßt sich die Schlußfolgerung ziehen, daß sowohl die Träger der pluralistischen Demokratie, ihre Parteien, Institutionen und theoretischen Konzepte, als auch die Geistes-und Sozialwissenschaften, und zwar die etablierten und die neueren marxistisch-sozialistischen Richtungen, vor der Bewußtseins-Revolution der jungen Generation weitgehend versagt haben.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Da dieses Problem hier nicht ausführlich dargestellt werden kann, sei auf folgenden Reader hingewiesen: Hrsg. Franz Nuscheler/Winfried Steffani, Pluralismus — Konzeptionen und Kontroversen, München 1972; dieser Reader enthält neben einer Einführung von Steffani ausgewählte Texte von Theoretikern des Pluralismus sowie kritische Auseinandersetzungen mit den Theorien des Pluralismus von rechten und von linken Positionen aus.

  2. Nuscheler/Steffani, a. a. O., S. 10.

  3. Ebd., S. 24.

  4. Ernst Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, Stuttgart 1964. Kurt Sontheimer, Staatsidee und staatliche Wirklichkeit heute, in: Beiträge zur Theorie und Kritik der pluralistischen Demokratie, Bonn 2, 1969.

  5. Ralf Rytlewski, Die Formierte Gesellschaft, in: Der Politologe, Nr. 20, Juli 1966, S. 34.

  6. Eine übersichtliche Darstellung der Theorien des Pluralismus, vor allem in den USA, sowie der Kritik von links enthält: Robert Paul Wolff, Jenseits der Toleranz, in: Robert Paul Wolff, Barrington Moore, Herbert Marcuse, Kritik der reinen Toleranz, Frankfurt 1966; für die linke Kritik am Pluralismus in der Bundesrepublik vor allem: Johannes Agnoli und Peter Brückner, Die Transformation der Demokratie, Berlin 1967.

  7. Elmar Altvater, Die Stunde der Wahrheit? — Die Antwort der Marxisten, in: Der Abend, 7. Juli 1971, S. 7.

  8. Ebd.

  9. Ebd.

  10. Margherita v. Brentano, Wissenschaftspluralismus — Zur Funktion, Genese und Kritik eines Kampfbegriffs, in: Das Argument, Nr. 66, Oktober 1971.

  11. Kurt Sontheimer, Vortrag über Wissenschafts-Pluralismus im Hessischen Rundfunk, 1971.

  12. Hans Kremendahl, Minimalkonsens ist unabdingbar — Pluralismus: Kampfbegriff oder wissenschaftspolitisches Strukturprinzip?, in: Berliner Stimme, 3. Juni 1972, S. 6.

  13. Werner Stein, Staat, Hochschule, Pluralismus, in: Der Tagesspiegel, 4. Juli 1971.

  14. Alle folgenden Zitate von Sontheimer, Kremendahl und Stein aus den in den Fußnoten 11), 12) und 13) angegebenen Quellen.

  15. M. v. Brentano, a. a? O., S. 477.

  16. Ebd. S 478.

  17. Ebd. S. 478.

  18. Ebd. S. 478.

  19. Walter Jens, Plädoyer für einen Pluralismus der Wissenschaft, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Juli 1972, S. 722.

  20. Ebd. S. 723.

  21. Zu meiner Konzeption eines Demokratischen Sozialismus vergleiche auch meine Beiträge: Demokratischer Sozialismus in Ost und West, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 36— 37/72; Überwindung der Spaltung Europas und Deutschlands durch demokratischen Sozialismus — Eine Erwiderung auf kritische Stellungnahmen, in: Aus Politik und Zeit-geschichte, B 20/73; Die Bedeutung der Strategie Systemüberwindender Reformen und Langzeitprogramm für die sozialistische Theorie und Praxis, in: Demokratischer Sozialismus und Langzeitprogramm, Hrsg. Scharping/Wollner, Reinbek bei Hamburg 1973.

  22. Kurt Sontheimer, Vortrag über Wissenschaftspluralismus, a. a. O.; ssur hochschulpolitischen Konzeption Sontheimers vgl. auch seinen Beitrag: Die Demokratisierung der Universität, in: Alexander Schwan und Kurt Sontheimer (Hrsg.), Reform als Alternative — Hochschullehrer antworten auf die Herausforderung der Studenten, Köln und Opladen 1969.

  23. Kurt Sontheimer, a. a. O.

  24. Hans Kremendahl, Minimalkonsens ..., a. a. O.

  25. Alexander Schwan, Was will die Liberale Aktion?, in: Alternative — Studentenzeitung der Freiheitlichen Hochschulgruppe Berlin (F. H. G.), Nr. 1, 17. Juni 1972, S. 5.

  26. Ebd. S. 5.

  27. Ebd. S. 5.

  28. Werner Stein, Staat, Hochschule, Pluralismus, a. a. O.

  29. Ebd.

  30. Arnold Bergstraesser, Politik in Wissenschaft und Bildung, Freiburg 19662.

  31. So der Titel des VII. Kapitels in dem Buch von Wilhelm Hennis, Politik und praktische Philosiphie — Eine Studie zur Rekonstruktion der politischen Wissenschaft, Neuwied/Berlin 1963.

  32. Ebd. S. 19.

  33. Ebd. S. 2 f.

  34. Ebd. S. 19.

  35. Dieter Oberndorfer, Politik als Wissenschaft, in: ders. (Hrsg.), Wissenschaftliche Politik, Freiburg 1962; darin auch: Alexander Schwan, Die Staats-philosophie im Verhältnis zur Politik als Wissenschaft.

  36. Dieter Oberndorfer, a. a. O., S. 20.

  37. Ebd. S. 20.

  38. Ebd. S. 22.

  39. Nikolaus Lobkowicz, Der Wissenschaftsbegriff der Neuen Linken, in: Politische Studien, Nr. 204, Juli/August 1972.

  40. Jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt 1968; Darstellung des Positivismus-Vorwurfs auch bei Albrecht Wellmer, Kritische Gesellschaftstheorie und Positivismus, Frankfurt 1969; darin das II. Kapitel: Der heimliche Positivismus der Marxschen Geschichtsphilosophie.

  41. Renate Damus, Habermas und der „heimliche Positivismus" bei Marx, in: Sozialistische Politik, Nr. 4, Dezember 1969.

  42. Wolf-Dieter Narr, Theoriebegriffe und System-theorie, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1969, S. 85.

  43. Ebd. S. 84.

  44. Alexander Schwan, Warum das OSI geteilt werden muß, in: Der Abend, 17. 4. 1972, S. 2.

  45. Ausgangspunkt dieser wissenschaftstheoreti-sehen Auseinandersetzung war eine Arbeitstagung der „Deutschen Gesellschaft für Soziologie" im Oktober 1961 in Tübingen, auf der Karl R. Popper und Theodor W. Adorno einführende Referate hielten, die 1962 in der „Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie" veröffentlicht wurden. Fortgesetzt und verschärft wurde diese Kotroverse durch einen Beitrag von Jürgen Habermas 1963 in einer Festschrift für Adorno, auf den Hans Albert 1964 in der „Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie" antwortete, in der 1965 noch je ein Beitrag von Habermas und Albert erschienen. Alle Beiträge dieser Kontroverse sind abgedruckt in: Th. W. Adorno u. a., Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Neuwied/Berlin 1969.

  46. Kurt Sontheimer, a. a. O.

  47. Der Abend, 26. Mai 1971.

  48. Ebd.

  49. Von dieser optimistischen Prämisse geht offensichtlich der Berliner Senat aus, wenn er glaubt, durch eine Änderung der Prüfungsordnung die Studenten zum „divergierenden Denken“ veranlassen zu können. Vgl. dazu: Wolf-Dieter Narr und Uwe Wesel, Staatsexamen, Wissenschaft und Pluralismus — Zum Verhältnis von Staat und Hochschule, in: Dokumentation FU Berlin, Nr. 4/72. Darin abgedruckt auch ein Schreiben des Senators für Schulwesen vom 20. Dezember 1972 (Dokument 15). Eine Antwort des Senats auf die Stellungnahme von Narr und Wesel ist enthalten in einer Druckschrift: Der Senator für Schulwesen Berlin, 2. Februar 1973 — Wissenschaftsfreiheit, Wissenschaftlichkeit und Berufsbezogenheit im Zusammenhang mit der Ersten Staatsprüfung für Lehrer.

  50. Vgl. Karl Markus Michiel, Wer wann warum politisch wird — und wozu —“ Ein Beispiel für die Unwissenheit der Wissenschaft, in: Kursbuch Nr. 25, Oktober 1971.

  51. Der Wortlaut des Beschlusses und eine Reihe kontroverser Stellungnahmen in: „Radikale" im öffentlichen Dienst? Eine Dokumentation, Fischer Taschenbuch „Informationen zur Zeit“ Nr. 1405, Frankfurt 1973; zu diesem Thema auch: Hermann Borgs-Maciejewski, Radikale im öffentlichen Dienst, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 27/73, und Ernst Martin, Extremistenbeschluß und demokratische Verfassung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 50/73.

  52. Eine Ausnahme bildete der Kongreß der „Deutschen Vereinigung für Politologie" in Hamburg im Oktober 1973.

  53. Ausführlicher analysiert habe ich den beherrshenden geistigen Einfluß der Neuen Linken auf Me Theoriediskussion bei den Jungsozialisten in einem Beitrag: Die Neue Linke füllt das Vakuum MTheorie — Weder die Jusos noch die SPD hatten mtluß auf den Inhalt der Bewußtseins-Revolution, n Frankfurter Rundschau, 8. August 1973, S. 12.

  54. August Bebel am 16. September 1878 im Deutschen Reichstag, in: Deutsche Parlamentsdebatten, Bd. 1 — 1871— 1918, Fischer Bücherei 6064, Frankfurt 1970, S. 100 f.

  55. Gewiß gibt es Politiker, die diese Unzulänglid keit unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung erkannt haben und sie zunächst wenigstens durch moralische Appelle abzuschwächen suchen So wandte sich der Kultusminister von Baden-Württemberg, Prof. Dr. Wilhelm Hahn, in einen offenen Brief im Juni 1972 nicht nur an Hochschu-lehrer und Lehrer, sondern auch an die Verleger, „die die Buchhandlungen mit revolutionärer Literatur überschwemmen und dabei ein großes Geschäft machen". An diese Verlage appelliert Hahn: „Wir müssen die Verlage auffordern, ohne jede Zensur sich selbst die Frage vorzulegen, ob der massenhafte Abdruck solcher Schriften zu verantworten ist." Abdruck des Briefes in: „Radikale" im öffenl liehen Dienst?, a. a. O., S. 52 ff.

  56. Vgl. zu diesem Pluralismus-Konzept Nuscheler Steffani, a. a. O., S. 42 ff. Kritisch analysiert werden diese konservativen Pluralismus-Konzeptionen von Fritz Scharpf, Demokratietheorie zwischen Utopie und Anpassung, Konstanz 1970, und von Raine: Eisfeld, Pluralismus zwischen Liberalismus und Sozialismus, Stuttgart 1972; aus beiden Büchern Auszüge in Nuscheler/Steffani, a. a. O.

  57. Zit. in: Frankfurter Rundschau, 6. 9. 1973.

  58. Kurt Sontheimer, Die Demokratisierung der Universität, a. a. O., S. 72 f.

  59. Ebd. S. 73.

  60. Fritz Scharpf, in: Nuscheler/Steffani, a. a. O., S. 268. Unter dem Gesichtspunkt der Partizipation erklärt und bewertet Scharpf spontane Aktivitäten an der Basis anders als es in der „Rädelsführertheorie“ geschieht: „Unter diesem Aspekt erscheint es deshalb keineswegs als ein Zufall und erst recht nicht als ein Argument gegen die Mitbestimmung, wenn die spontanen Arbeitsniederlegungen im September 1969 gerade in jenen Industriezweigen begonnen haben, in denen die paritätische Mitbestimmung praktiziert wird. Die Forderung nach einer breiteren Einübung politischer Verhaltensweisen an der Basis hat also durchaus auch eine Spitze gegen die etablierten Führungsgruppen in Gewerkschaften, Verbänden und Parteien, die bei ihrer Definition des jeweiligen Verbandsinteresses eher Anlaß haben werden, auch die Möglichkeit einer spontanen Mobilisierung der Mitgliedschaft in ihre politische Kalkulation einzubeziehen." Ebd. S. 268.

  61. In der Demokratietheorie gibt es durchaus schon zahlreiche Ansätze, die repräsentative Demokratie durch Elemente der Partizipation zu ergänzen und auf andere Bereiche der Gesellschaft auszudehnen. Beispiele für diese Ansätze, mit umfangreichen Literaturhinweisen, bei Nuscheler/Steffani, a. a. 0., und Martin Greiffenhagen (Hrsg.), Demokratisierung in Staat und Gesellschaft, München 1973.

  62. Beschluß der Bundesdelegiertenkonferenz der Jungdemokraten am 24. und 25. Juni 1972, abgedruckt in: „Radikale" im öffentlichen Dienst, a. a. O., S. 82; in dieser Dokumentation auch Entschließungen von Jungsozialisten und Gewerkschaften gegen den „Radikalenbeschluß“.

  63. Kurt Sontheimer hat sich intensiv mit der Erforschung des antidemokratischen Denkens in Deutschland befaßt., Die Ergebnisse dieser Forschungen erschienen in seinem Buch „Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik", das in einer Neuauflage 1968 durch eine Studie über „Antidemokratisches Denken in der Bundesrepublik ergänzt wurde. Weitere Aufsätze zu diesem Prot blem sind zusammengefaßt in dem Sammelband „Deutschland zwischen Demokratie und Antidemokratie", München 1971. " ’

  64. Kurt Sontheimer, Gefahr von rechts — Gefahr von links, in: ders:, Deutschland zwischen." a. a. O., S. 172.

  65. Ebd. S. 181.

  66. Ebd. S. 194.

  67. Kurt Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Bundesrepublik, hier zit. nach: ders., Deutschland zwischen.. a. a. O., S. 147.

  68. Ebd. S. 147.

  69. Ebd. S. 151.

  70. Ebd. S. 154.

  71. Ebd. S. 165.

  72. Ebd. S. 169.

  73. Ebd. S. 201.

  74. Herbert Scholtissek, Die Streitfrage — Radikale im Staatsdienst, in: Stuttgarter Nachrichten, 24. Februar 1973.

  75. Herbert Wehner am 21. Januar 1972 in der „Augsburger Allgemeinen", abgedruckt in „Radikale" im öffentlichen Dienst, a. a. O., S. 59.

  76. Ebd. S. 60

  77. Interview mit Herbert Wehner am 1. Februar 1972, ebd., S. 62.

  78. M. v. Brentano, a. a. O., S. 478.

  79. Helmut F Spinner, Theoretischer Pluralismus — Prolegomena zu einer kritizistischen Methodologie und Theorie des Erkenntnisfortschritts, in: Hans Albert (Hrsg.), Sozialtheorie und soziale Praxis, Meisenheim am Glan 1971.

  80. Ebd. S. 19.

  81. Ebd. S. 20.

  82. Ebd. S. 21.

  83. Ebd. S. 28 f.

  84. M. v. Brentano a. a. O., S. 492.

  85. Zur grundsätzlichen Ablehnung der Demokratisierung durch Hennis vgl.seinen Beitrag: Demo-vatisierung. Zur Problematik eines Begriffs, in: Martin Greiffenhagen (Hrsg.), Demokratisierung in Wund Gesellschaft, München 1973. über Demoratisierungsforderungen fällt er folgendes Urteil:

  86. K. v. Beyme, Die politischen Theorien der Gegenwart, München 1972, S. 35.

  87. Vgl. dazu vor allem: Eric Voegelin, Die neue Wissenschaft der Politik, München 1959, und ders., Wissenschaft, Politik und Gnosis, München 1959; Voegelin setzt Positivismus, Liberalismus, Nationalismus und stalinistischen Kommunismus gleich. Die Gefahr des Kommunismus, im Westen ist deshalb so groß, weil er nur die konsequentere Form des Liberalismus darstellt und daher der Übergang vom Liberalismus zum Kommunismus nur folgerichtig ist: „Denn wenn der Liberalismus als die immanente Erlösung von Mensch und Gesellschaft verstanden wird, ist der Kommunismus zweifellos sein radikalster Ausdruck; es handelt sich um das Ende einer Entwicklung, die schon durch John Stuart Mills Glauben an den Advent des Kommunismus für die Menschheit vorweggenommen wurde.“ (Voegelin, Die neue Wissenschaft.... a. a. O., S. 241) Gegen „die zerstörende Wirkung des Positivismus" sieht Voegelin in den USA seit 1950 eine theoretische Erneuerung wirksam werden (d. h. eine antiliberale und antipositivistische Tendenz, die mit dem Wirken McCarthys zusammenfällt), die er wie folgt beurteilt: „Die Bewegung der theoretischen Erneuerung ist in der. Tat als eine Genesung von der Zerstörung der Wissenschaft durch den Positivismus ... zu verstehen.“ (a. a. O., S. 20) Der „neuen Wissenschaft der Politik“ fällt nach Voegelin eine verantwortungsvolle Aufgabe zu: „Bei der Austreibung der Dämonen kann die Politische Wissenschaft helfen — in dem bescheidenen Maß von Wirksamkeit, das unsere Gesellschaft der episteme und ihrer Therapie zugesteht.“ (Voegelin, Wissenschaft, Politik und Gnosis, a. a. O., S. 61)

  88. H. F. Spinner, a. a. O., S. 32.

  89. Ulrich K. Preuß, Zum Problem des Wissenschafts-Pluralismus, in: ders., Legalität und Pluralismus — Beiträge zum Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt 1973.

  90. Ebd. S. 117.

  91. Zitiert ebd. S. 123; der Beitrag Löwenthals in: Die Deutsche Universitätszeitung, Nr. 14 1971, 2. Juli-Ausgabe, S. 456.

  92. K. Sontheimer, Vortrag über Wissenschafts-Pluralismus, a. a. O.

  93. M. v. Brentano, a. a. O., S. 477.

  94. Ebd. S. 477 f.

  95. Vgl. die Darstellung dieser Konzeption in di sem Beitrag S. 7 f. . ..

  96. Vgl. Die Darstellung dieser Konzeption in d sem Beitrag S. 10 f.

  97. Alfred Grosser, in: Die ZEIT, 11. Januar 1974.

  98. Ebd.

  99. Elmar Altvater, a. a. O.

  100. Zur großen Zahl der aus der zerfallenden Studentenbewegung hervorgegangenen „kommunisti-SChen Parteien“ vgl. H. Heimann, Linke SPD und antirevisionistische Neue Linke, in: Hrsg. Norbert ansei, überwindet den Kapitalismus — oder was wollen die Jungsozialisten? Reinbeck bei Ham-bürg 1971.

  101. Nuscheler/Steffani, a. a. O., S. 18 ff. und S. 81 ff.

  102. Einen Überblick über diese Diskussion bietet ein Reader von Udo Bermbach/Franz Nuscheler (Hrsg.), Sozialistischer Pluralismus, Hamburg 1973.

  103. Der Begriff „dialogischer Pluralismus" wurde entwickelt von dem italienischen Retormkommunisten Lucio Lombardo-Radice, Pluralismus in einer sozialistischen Gesellschaft, in: Christentum und Marxismus — heute, Frankfurt/Zürich 1966; jetzt auch abgedruckt in: Bermbach/Nuscheler, a. a. O.; S. 89 ff. Lombardo-Radice entwickelt den Begriff eines dialogischen Pluralismus am Beispiel des wissenschaftlichen Pluralismus. Vgl. dazu auch H. Heimann, Wissenschaftskonzeption, Pluralismuskritik und politische Praxis der Neuen Linken, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 14/70.

  104. Georg Lukäcs, Was ist orthodoxer Marxismus, in: Geschichte und Klassenbewußtsein, Berlin 1923, S. 13.

  105. Während der Begriff „orthodoxer Marxismus oft auch zur Kennzeichnung dogmatischer Positionen dient, gebraucht ihn Lukäcs im Gegenteil zur Charakterisierung einer undogmatischen Haltung, so daß er etwa dem von Kolakowski verwandten Begriff „intellektueller Marxismus" entspricht, der die Gegenposition zum institutioneilen und dogmatischen Marxismus kennzeichnet.

  106. G. Lukäcs, a. a. O., S. 13.

  107. Friedrich Engels, Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, in: Marx-Engels I, Studienausgabe, Philosophie, Hrsg, von Iring Fetscher, Frankfurt 1966, S. 156.

  108. H. F. Spinner, a. a. O., S. 29.

  109. Elmar Altvater, a. a. O.

  110. Hans Heinz Holz, Was heißt Freiheit der Wis-senschaft, Uber den unsinnigen Begriff des Wissen-schaftspluralismus; in: Frankfurter Rundschau, 28. 8. 1971.

  111. Hans Heinz Holz in einem Interview mit der in Berlin herausgegebenen Studentenzeitschrift „Colloquium", Juni 1971, Nr. 6, S. 5. Darin bezeichnet Holz den Marxismus selbst als „eine höchst multiple Angelegenheit" mit einer „Pluralität von Auffassungen". Und er plädiert für ein Bündnis zwischen Liberalen und Sozialisten und eine „Konvergenz sozusagen eines fortschrittlich sich selbst verstehenden Liberalismus mit dem Sozialismus". Zur Einschätzung der Funktion des Marxismus vgl. auch H. H. Holz, Thesen zur Rolle des Marxismus an der Universität — Die Diskussion mit den Einzelwissenschaften hat begonnen, in: Die Deutsche Universitätszeitung, 1971, 1. Juni-Ausgabe, S. 351 f.

  112. Dennis Meadows u. a., Die Grenzen des Wachstums, Stuttgart 1972.

  113. Vgl. z. B. das von Hans Magnus Enzensberger in Berlin herausgegebene Kursbuch Nr. 25, Oktober 1971.

  114. Wolf Wagner, Der Bluff — Die Institution Universität in ihrer Wirkung auf die Arbeitsweise und as Bewußtsein ihrer Mitglieder, in: Probleme des aSsenkampfs — Zeitschrift für politische Okonound sozialistische Politik, Nr. 7, Mai 1973.

  115. Ebd. S. 64.

  116. Ebd. S. 64 f.

  117. Ebd. S. 72.

  118. Ebd. S. 72.

  119. Ebd. S. 81.

  120. Ebd. S. 81.

  121. Peter Brückner, Debray und andere. Drei Versuche über die Ratlosigkeit, in: Kursbuch Nr. 25, Oktober 1971, S. 167.

  122. Frankfurter Rundschau, 13. Februar 1974.

  123. Vgl. dazu auch meine Beiträge: Wissenschaftskonzeption, Pluralismuskritik und politische Praxis der Neuen Linken, a. a. O., sowie: Das unpolitische Totalitätsdenken bleibt, in: Frankfurter Rundschau, 8. Juli 1972.

Weitere Inhalte

Horst Heimann, geb. 1933, Dipl. -Pol., Assistent am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin, Studium der Politologie, Geschichte und Philosophie in Berlin und Paris. Veröffentlichungen: Freiheit als Idee und als Ideologie, in: Der MONAT, April 1966; Israels Wirtschaftsordnung, in: Israel — Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, hrsg. v. Kurt Sontheimer, München 1968; Linke SPD und antirevisionistische Neue Linke, in: überwindet den Kapitalismus oder was wollen die Jungsozialisten?, hrsg. v. Norbert Gansel, Reinbek bei Hamburg 1971; Die Bedeutung der Strategie systemüberwindender Reformen und Langzeitprogramm für die sozialistische Theorie und Praxis, in: Demokratischer Sozialismus und Langzeitprogramm, hrsg. v. Rudolf Scharping und Friedhelm Wollner, Reinbek bei Hamburg 1973. In „Aus Politik und Zeitgeschichte" erschienen folgende Beiträge: Neue Wege des politischen Engagements?, B 25/69; Wissenschaftskonzeption, Pluralismuskritik und politische Praxis der Neuen Linken, B 14/70; Demokratischer Sozialismus in Ost und West — Anregungen zu einer konkreten Utopie, B 36-37/72; Überwindung der Spaltung Europas und Deutschlands durch demokratischen Sozialismus — Eine Erwiderung auf kritische Stellungnahmen, B 20/73.