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Zur politischen Funktion der Rechtsprechung | APuZ 47/1974 | bpb.de

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APuZ 47/1974 Zur politischen Funktion der Rechtsprechung Richterliche Rechtsfindung durch politisches Engagement? Zur Legitimation des politischen Richters

Zur politischen Funktion der Rechtsprechung

Rudolf Wassermann

/ 27 Minuten zu lesen

Rudolf Wassermanns in der fachwissenschaftlichen Diskussion stark beachtete These von der politischen Funktion des Richters und sein Plädoyer für die Bildung eines neuen Bewußtseins in der Justiz haben dazu geführt, daß sehr gegensätzliche wissenschaftliche und politische Standorte bezogen wurden. Die Redaktion hat sich deshalb um zwei kontroverse Darstellungen zum Thema bemüht.

I.

Abbildung 1

Wenn man das Thema „Politische Funktion der Rechtsprechung“ behandelt 1), ist es zweckmäßig, mit der Ausräumung eines Mißverständnisses zu beginnen. Immer wieder wird angenommen, die These von der politischen Funktion der Justiz sei ein Zukunftsprogramm, das beabsichtige, etwas Neues einzuführen, nämlich aus der unpolitischen Justiz der Gegenwart eine politisch handelnde Institution zu machen. Insbesondere meine Position in dieser Debatte wird gern so verstanden, als ob ich die Forderung nach einem politischen Richter erhebe, also dafür eintrete, daß der bisher unpolitische Richter künftig Politik treiben soll. Das ist nicht richtig. Den politischen Richter braucht niemand zu fordern, weil das überflüssig ist. Die politische Funktion des Richters ist nicht etwa ein Postulat, ein Zukunftsprogramm, sondern Wirklichkeit, gegenwärtige, alltägliche Wirklichkeit — allerdings — und darin besteht das Spezifische unserer Situation — schlechte, unbewußte, vor allem ungelernte und unverantwortete Wirklichkeit.

Jede Justiz ist politisch, ob man das nun zugibt oder nicht. Der Richter kann daher gar nicht anders als politisch handeln, und es zeugt von falschem Bewußtsein, wenn man sich gegen diese Einsicht sperrt.

Was ich fordere, ist dreierlei:

Erstens soll sich der Richter des politischen Charakters seiner Tätigkeit bewußt werden.

Zweitens soll sich der Richter zu der damit verbundenen Verantwortung bekennen (also diese weder leugnen noch hinter Gesetzen verstecken, wenn diese ihm Raum für eigenes Ermessen lassen). Mit anderen Worten: Das, was bisher implizit geschieht, soll für jedermann erkennbar gemacht werden.

Drittens soll der Richter bei seinen politischen Entscheidungen nicht privaten Vorlieben oder schichtspezifischen Präferenzen folgen, sondern sich an der Verfassung orientieren (dies unter dem bundesdeutschen Aspekt einer Verfassung gesagt, in der nicht nur formale Regelungen getroffen werden, sondern Staatszielbestimmungen gesetzt sind, positiv als Selbstbestimmung und Sozialstaatlichkeit, negativ als Antitotalitarismus und Rechtsstaatlichkeit).

Soweit man es für richtig hält, von der Politisierung der Justiz als Programm zu sprechen, kann darunter aus meiner Perspektive nur die Bildung eines Bewußtseins in der Justiz verstanden werden, das dieser Situation entspricht, von der Erkenntnis der politischen Funktion angefangen bis hin zur Verinnerlichung („Internalisierung“) jener demokratischen Werte, die nach der Verfassung das soziale Leben bestimmen sollen. Gegen den sogenannten unpolitischen Richter wende ich mich deshalb, weil dieser das, was er tut, entweder nicht erkennt oder bewußt nicht wahrhaben will. Damit aber läuft der Richter Gefahr, nach privaten, Gruppen-oder Schichtenvorurteilen und -vorverständnissen zu entscheiden, wo er sich an Werten des demokratischen und sozialen Rechtsstaats, vor allem an den Menschenrechten zu orientieren hätte. Es geht also darum, das vorhandene po* litische Element in der Justiz aufzudecken, um es kritisch zu prüfen und Lernprozesse einzuleiten oder zu fördern, die die Justiz befähigen, ihrer Aufgabe in der modernen Gesellschaft gerecht zu werden. Dieser These von der politischen Funktion der Justiz steht ein naiver, unreflektierter Sprachgebrauch entgegen, der auf der sog. Zwei-Welten-Theorie beruht. Danach soll die Justiz geradezu eine Gegenwelt zur Politik und der Richter ein Fachmann sein, dessen Alltag unpolitisch ist und allenfalls in Grenzfällen — im Verfassungsrecht oder im Bereich des Staatsschutzes — in Berührung mit der Politik gerät. Nach dieser frühliberalen Auffassung, die die Verfassungsbewegung des 19. Jahrhunderts beherrscht hat, sagen die Gesetze, was Recht ist, und der Richter ist auf Grund seines erlernten in der Lage, als Vollstrecker Wissens der Gesetze auszusprechen, was rechtens ist.

Unschwer ist zu erkennen, auf welche Denkansätze diese These von der unpolitischen Rechts-anwendung zurückgeht. Sie stützt sich einmal auf Montesquieus Formel, wonach die Justiz, die sog. dritte Gewalt, keinen eigenen Willen hat, sondern bloßer Mund des Gesetzes ist. Zum anderen ist sie Hinterlassenschaft des juristischen Positivismus, durch den die in der Gewaltenteilungsdoktrin begründete Trennung von — politischer — Gesetzgebung und — unpolitischer — Rechtsanwendung zur herrschenden Lehre der Jurisprudenz wurde.

Obwohl der juristische Positivismus schon tausendmal totgesagt wurde, lebt er in der Rechts-praxis munter fort, freilich nicht in der Stringenz der Ansätze, wie sie etwa Kelsen durchgeführt hat, sondern in einer diffusen Ausformung und methodisch unsauberen Ergänzung durch einen irrationalen Dezisionismus, der die moralischen Standards der Mittel-schichten widerspiegelt, ohne sich darüber im klaren oder seiner sonstigen politischen und sozialen Abhängigkeiten bewußt zu sein. In der historischen Entwicklung war der juristische Positivismus einmal ein fortschrittlidles Element. In der Form, in der ihn die Praxis pflegt, ist er jedoch mehr und mehr zu einem Werkzeug geworden, mit dem die Justiz den Status quo verteidigt und den Anschluß an die gesellschaftliche Entwicklung versäumt.

Ihre ideologische Überhöhung erfährt diese Position durch Sätze wie die, daß die Justiz ihrem Wesen nach konservativ sein müsse und die Mission habe, im Recht überzeitliche Werte zu hüten und für Beharren und Bleiben einzutreten. Damit nicht übereinstimmende Auffassungen werden für politisch oder ideologisch erklärt, während die eigene Position als unpolitisch und sachbezogen deklariert wird — getreu dem Prinzip, daß die eigene Tendenz keine Tendenz ist. Der Auseinandersetzung mit der Realität der politischen Richterfunktion entzieht man sich vorzugsweise durch einen definitorischen Trick, nämlich den, den politischen Richter als Rechtsbeuger und Gesetzes-brecher hinzustellen, der dem Gesetz den Gehorsam aufkündigt und eine auf angeblich fortschrittliche Wertungen gegründete freie Rechtsschöpfung proklamiert.

Daß eine Politisierung eben dies gerade nicht zum Ziele hat, daß sie keine Parteidiktatur ist, bereits um habe ich gesagt. Es geht nicht ein Richten ohne Rechtsgrundlage, sondern um ein besseres und tieferes Verständnis dessen, was Richter tun, wenn sie anhand der Gesetze Recht sprechen, also um das, was man Identitätsfindung nennen kann. Denn eine Justiz, die sich nach Begriffen des 19. Jahrhunderts definiert, hat ihre Identität im 20. Jahrhundert erst noch zu finden. Sie lebt in nicht durchschauter Eigenwelt (Wiethölter), die eine Scheinwelt ist, und täuscht sich und andere, wenn sie ihre Scheinwelt für die wahre Welt ausgibt.

Da hier der Raum zu eingehender Analyse fehlt, muß ich den Leser, der sich umfassender unterrichten will, auf eine Publikation verweisen, die meine Thesen ausführlich erläutert und begründet 2). Dieser Beitrag beschränkt sich darauf, die politische Funktion des Richters anhand einer Darstellung seiner Praxis offenzulegen (II) und die reformerischen Konsequenzen aufzuzeigen, die sich aus der Einsicht in die politische Richterfunktion ergeben (HI).

II.

Die These, daß die Justiz eine politische Funktion hat und die Gerichte politisch handeln, wenn sie Recht sprechen, läßt sich auf drei Ebenen entfalten, je nachdem, was man unter politischem Handeln und Entscheiden versteht.

1. In der Tradition antiker Ansätze zur politischen Philosophie und Wissenschaft steht jene Definition, die Politik als eine gesellschaftliche Grundfunktion versteht, die das Zusammenleben von Menschen in einem Integrat durch allgemeinverbindliche Regeln ordnet. Aus dieser Sicht bedeutet der für viele so leidige und verdächtige Begriff also nichts anderes als die Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten. Politisches Handeln in diesem Sinne ist menschliche Einflußnahme auf die Ordnung zwischenmenschlicher Beziehungen.

Daß Rechtsprechung in diesem Sinne ein politisches Phänomen ist, kann nicht ernsthaft bestritten werden. Das Recht ist nicht nur eine Funktion des Soziallebens, sondern auch ein Instrument zu seiner Gestaltung. Es stabilisiert oder verändert die gesellschaftlichen Zustände, und die Justiz sorgt dafür, daß das Recht nicht bloßes Papier bleibt, sondern Wirklichkeit wird. Als Agentur zur Lösung sozialer Konflikte aktualisiert sie die in der organisierten Gesellschaft geltenden Normen und legitimiert den Staat, der die Gesellschaft organisiert. Dabei kann nicht eingewendet werden, daß dieser Begriff des Politischen die Sprache überdehnt. Auch die Alltagssprache benutzt ihn, wie Wort-verbindungen wie Wirtschafts-, Verkehrs-, Rechtspolitik zeigen. Ebensowenig ist die Auffassung richtig, die Justiz habe es nur mit der Vergangenheit zu tun. Ihre Entscheidungen weisen auch in die Zukunft, sind Muster für künftige Entscheidungen und Direktiven für künftiges Verhalten.

Diese Auffassung vom Recht steht natürlich in diametralem Gegensatz zu jenen Meinungen, die im Recht etwas überzeitliches, Absolutes sehen. Diese Ansicht ist noch keineswegs ausgestorben. Recht sei eine von äußeren Verhältnissen und deren Veränderungen unabhängige Kulturleistung, so äußerte sich ein Richter in einer Tageszeitung, ein Produkt unseres sittlichen Bewußtseins, und ein Richterverband sah diesen Beitrag für so wichtig an, daß er ihn einer Fachzeitschrift dringend zum Abdruck empfahl. Ähnlich äußerten sich kürzlich Richter auf einer Tagung der Deutschen Richterakademie in Trier. Daß diese Auffassung im Widerspruch zur Realität steht, ist offenkundig. Wer Gesetzblätter liest, erlebt Tag für Tag das Recht als verfügbar, machbar, veränderbar, und diese Veränderungen folgen nicht logischen oder sonstigen Eigengesetzlichkeiten, sondern werden von außen her, von der Gesellschaft, beeinflußt.

Wenn die instrumentale Betrachtungsweise, €j das Recht als Mittel zur Organisation und Gestaltung der Gesellschaft betrachtet, trotz dieser Evidenzen auf Widerspruch stößt, so hat das ideologische Gründe. Die Auffassung, daß Recht ein Werkzeug zur Gestaltung gesellschaftlicher Beziehungen und Zustände ist, setzt nämlich voraus, daß soziale Verhältnisse überhaupt machbar, d. h. beeinflußbar sind. Das steht zwar heute außer Frage, wurde aber vor der industriellen Revolution noch nicht so recht erkannt. Die Mehrheit der Bevölkerung nahm damals den Zustand, in dem sie lebte, als natürlich und vorgegeben hin, er schien ihr menschlichen Gestaltungsmöglichkeiten weitgehend entzogen. Solange die meisten Menschen auf dem Lande und von der Landwirtschaft lebten, bestimmten gleichsam Vorgegebenheiten ihr Leben, von Boden und Klima bis zum Rhythmus der Tages-und Jahreszeiten. Auch damals gab es Veränderungen, aber sie vollzogen sich selbst in den Produktionstechniken so langsam, daß sie nicht beherrschend ins Bewußtsein drangen. Heute ist das anders. In der Dynamik seines individuellen wie sozialen Lebens erfährt der Mensch die prinzipielle Veränderbarkeit aller Dinge: Er kann Bestehendes ändern oder in der Auseinandersetzung mit Änderungstendenzen vor Veränderung bewahren. Je mehr die sozialen Verhältnisse aber in den Bereich der Veränderung rücken, um so mehr werden sie auch politisch relevant. Politik ist nicht mehr etwas „Ephemeres, ein Luxusgut gleichsam für privilegierte Herrenschichten.... etwas, was man wie eine zweite Natur duldend hinzunehmen hatte wie Sonnenschein oder Mißernte“ (Christian Graf von Krockow), sondern eine Angelegenheit, die jeden angeht.

In dieser Situation muß sich zwangsläufig auch die Einstellung zum Recht wandeln. Dieses verliert die Gloriole seiner Uberzeitlichkeit und wird auf die Erde heruntergeholt. Es wird gleichsam entzaubert und als das entdeckt, was es im Grunde stets gewesen ist: ein Mittel, menschliches Verhalten zu steuern und zu kontrollieren. 2. Die zweite Ebene wird betreten, wenn man sich klarmacht, daß zur Politik das Machtmoment gehört. Macht ist die Voraussetzung politischer Gestaltung. Indessen besteht kein Zweifel, daß die Justiz auch dieses Erfordernis erfüllt

Macht bedeutet nach Max Weber die Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen; Herrschaft soll nach demselben Autor die Chance heißen, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden. Daß der Richter nach dieser Definition Macht besitzt und Herrschaft ausübt, kann schlechterdings nicht geleugnet werden. Im Richter ist nicht nur, wie Adolf Arndt formuliert hat, Macht am Werk. Er besitzt sogar besonders große Macht und ist Bestandteil des rationalen Herrschaftssystems, als das sich der moderne Staat darstellt. Ich verkenne nicht, daß vielen Richtern das Bewußtsein, ein Macht-faktor zu sein, fehlt. Es handelt sich dabei jedoch um ein der gesellschaftlichen Realität inadäquates Bewußtsein, das auf der Selbsttäuschung beruht, in der die Doktrin des juristischen Positivismus den Richter lange gefangen hielt und teilweise auch heute noch gefangen hält. Damit kommen wir zur dritten Ebene, auf der die politische Funktion der Rechtsprechung in ihrer vollen Bedeutung offenbar wird. Von Politik im engeren Sinne kann nämlich auch nach meinem Dafürhalten nur die Rede sein, wo ein gewisses Maß von Entscheidungs-, Wahl-oder Gestaltungsfreiheit gegeben ist. Die politische Entscheidung ist »das genaue Gegenteil der mathematischen oder logischen Schlußfolgerung* (Flechtheim). Idealtypisch gehört sie nicht dem Bereich des Standardisierten und Stereotypen, sondern dem des Schöpferischen an.

Ein solches Maß von Freiheit hat der Richter. Schlichter Rechtsanwender ist er nur dort, wo das Gesetz die Rechtsanwendung eindeutig determiniert, etwa beim neuen 0, 8 o/oo-Gesetz. Da gibt es keinen Spielraum. Meistens aber gibt es Freiräume, wenngleich in unterschiedlicher Art, Spielräume, wo, wie man gern sagt, die richterliche Persönlichkeit zum Zuge kommt. Aber was ist die Richterpersönlichkeit? Sie ist nicht fleischgewordene Objektivität, sondern von mannigfachen Einflüssen abhängig: psychischen und sozialen, insbesondere von den Sozialisationsprozessen, die jeder Mensch von Kindesbeinen an durchläuft, in Verbindung und Abhängigkeit natürlich auch zum jeweili. gen Gesellschaftssystem.

Den Nachweis dafür liefert die juristische Entscheidungstheorie, und zwar die neuere (die ältere hat gerade die Struktur der Entscheidung verhüllt). Mir scheint, ich kann darauf verzichten, im einzelnen darzulegen, welche Erkenntnisse diese Disziplin im einzelnen zutage gefördert und welchen Gang sie insbesondere in Hermeneutik, Psychologie und Soziologie eingeschlagen hat 3). Das Ergebnis reicht jedenfalls aus, um das Bild vom Richter als schlichtem Normanwender endgültig zu zerstören. Davon, daß das juristische Verfahren, wie Savigny meinte, eine Sicherheit habe wie sonst nur die Mathematik, kann nicht entfernt die Rede sein.

Was in der juristischen Ausbildung als logisches Schlußverfahren erörtert wird, sind Elemente der Gedankenordnung, aber nicht der Gedankenerzeugung: keine Gesetze der realpsychischen Vorstellungsfolge im Prozeß der richterlichen Entscheidung, sondern Darstellungsregeln für die Präsentation des Ergebnisses (Luhmann). In Wahrheit wird der Entscheidungsprozeß auf keiner seiner Stufen erschöpfend vom Recht gesteuert.

Das gilt, was vielfach übersehen wird, schon für die Ermittlung der Fakten, die der Richter der Entscheidung zugrundelegt. Kein Rechts-satz sagt dem Richter, ob eine Tatsache wahr ist oder nicht; maßgebend ist vielmehr seine Überzeugung. Auch die Ansicht, daß der Richter alle Informationen aufnimmt, die einen Sachverhalt ausmachen, erweist sich bei näherem Zusehen als Widerspruch zur Realität Nur ein Teil der Informationen wird aufgenommen, ein noch geringerer verarbeitet, und das Interesse, das die Auswahl steuert, wird durch eine Normhypothese (Kriele) beeinflußt, die der Richter sich gebildet hat und im Verlauf des weiteren Entscheidungsprozesses ausbaut oder verändert.

Noch wichtiger aber ist der richterliche Spielraum bei der Normenfindung. Auch hier verfährt der Richter selektiv. Wenn wir unter Ermessen denjenigen Bereich des Entscheidens verstehen, der nicht oder nicht eindeutig vom formellen Entscheidungsprogramm gesteuert wird, so ist der Ermessensbereich außerordent-lieh groß. Die Summe der Normen, die das Entscheidungsprogramm für den Richter bilden, ist keineswegs gleichartig, übersichtlich und widerspruchsfrei. Ist aber die Norm, die gefunden wurde, unscharf, mehrdeutig oder muß sie überhaupt erst formuliert werden, beginnt ein Prozeß der Bearbeitung und Interpretation.

Der juristische Laie glaubt vielfach, die Methodenlehre gebe dem Richter eine Anleitung, die sein Vorgehen bei der Auslegung auf klare Grundlagen stellt. Das ist indessen nicht der Fall. Zur Illustration mag genügen, was das Bundesverfassungsgericht zu den verschiedenen Auslegungsmethoden sagt:

. Der Wille des Gesetzgebers fällt zusammen mit dem Willen des Gesetzes. Maßgebend für die Auslegung einer Gesetzesvorschrift ist also der in dieser zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers, so wie er sich aus dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung und aus dem Sinnzusammenhang ergibt, in den diese hineingestellt ist. Diesem Auslegungsziel dienen die Auslegung aus dem Wortlaut der Norm (grammatische Auslegung), aus ihrem Zusammenhang (systematische Auslegung), aus ihrem Zweck (teleologische Auslegung) und aus den Gesetzesmaterialien und der Entstehungsgeschichte (historische Auslegung), Um den objektiven Willen des Gesetzgebers zu erfassen, sind alle diese -Auslegungsme thoden erlaubt. Sie schließen einander nicht aus, sondern ergänzen sich gegenseitig.“

Das bedeutet, daß es ein Angebot von Lösungsvorschlägen gibt, die der Richter vertauschen und kombinieren kann, aus dem er also wählen kann. Die Rechtslehre billigt ihm dabei sogar zu, daß er den Wortlaut erweitern oder einengen kann (sog. extensive oder intensive Interpretation), wenn das Ergebnis nicht befriedigt. Läßt das Gesetz den Richter überhaupt im Stich, darf er im Wege der Gesetzes-und der Rechtsanalogie Regel auch auf eine Fälle erstrecken, die von ihr nach dem Wortsinn nicht umfaßt werden. Als Kriterium wird dabei gern auf sog. Geist der Gesetze einen verwiesen. Was dieser besagt, bestimmen freilich wiederum die Richter. In jede richterliche Entscheidung geht im Grunde eine „Analyse der Gesellschaft* ein, freilich bislang eine solche vorwissenschaftlichen Charakters.

Das Recht kennt darüber hinaus aber auch Normen, bei denen der Gesetzgeber von vornherein auf eine eindeutige Festlegung ihres Inhalts verzichtet. Diese sog. Biankettbegriffe und Generalklauseln sind Rechtsnormen, die den Richter nicht nur zur Ausfüllung und Ermessensbetätigung einladen, sondern diese geradezu von ihm verlangen. Sie stellen kein „materielles Regelrecht des Gesetzgebers'dar, sondern sind „starting points oder Aufhänger für die konkrete richterliche Normbildung" (Esser).

Nehmen wir als Beispiel den wohl bekanntesten Typ der Generalklauseln, die Gute-Sitten-Klauseln, wie sie beispielsweise im Privatrecht in den §§ 138, 826 BGB und § 1 UWG formuliert sind. Verstöße gegen die guten Sitten führen danach zur Nichtigkeit des Rechtsgeschäfts (§ 138 BGB) und begründen eine Schadensersatzpflicht (§ 826 BGB, § 1 UWG). Was der Inhalt der guten Sitten ist, ist indessen so umstritten, daß sich einem Rechtsvergleicher und Zivilrechtler wie Erwin Deutsch der Stoßseufzer entrungen hat, damit sei zu allen Zeiten und in allen Ländern der Wissenschaft ein Rätsel aufgegeben worden. Diese begriffliche Unklarheit hat weitreichende Folgen gehabt und äußert sich täglich neu. Im klassischen liberalen Kontext waren die guten Sitten als Verweisung auf gesellschaftliche Normen, nämlich auf die in der Gesellschaft herrschende Vertrags-, Verkehrs-und Geschäftsmoral gedacht. Das konnte indessen nur bei nichtantagonistischen Interessenstrukturen funktionieren. Je stärker sich der soziale Kontext änderte und im Zuge der ökonomisch-gesellschaftlichen Entwicklung der Glaube an den Marktmechanismus als Instrument sozialer Gerechtigkeit zerbrach, um so pointierter haben sie sich jedoch zu Interventionsnormen entwickelt, mit denen die Gerichte in die Sozialordnung eingreifen.

Die Richter, die diese Normen ausfüllen, setzen damit Recht, nicht anders als der Gesetzgeber. Man verschleiert nur die Wahrheit, wenn man hier, wie das so gern geschieht, von Rechtsfortbildung spricht. Wo Biankettnormen vorhanden sind, geht die Normsetzung vom Gesetzgeber auf die Gerichte über, und nicht anders wenn verhält es sich, der Gesetzgeber gesellschaftlich relevante Konflikte und Probleme gar nicht regelt. Rechtsetzung, Rechtsschöpfung ist aber politische Aktion. Der Richter, der Recht schafft, handelt mithin politisch — nicht nur in dem anfangs erörterten allgemeinen Sinn, sondern ganz prononciert. 4. Damit wird nicht geleugnet, daß die richterliche Rechtsetzung sich in mehrfacher Weise von der Rechtsetzung durch den Gesetzgeber unterscheidet. Alle Unterschiede, so wesentlich sie auch sind, ändern aber nichts daran, daß beide Instanzen am Rechtsbildungsprozeß beteiligt sind. Die traditionelle Lehre, die den Richter auf eine rein vollziehende, unselbständige Gesetzesanwendung beschränkt, stimmt mit der Wirklichkeit nicht überein. Die Verantwortung für Rechtspolitik und Sozial-gestaltung, nämlich für die Steuerung der sozialen Verhältnisse durch das Mittel derRechts, normen, fällt nicht mehr, wie es das herkömmliche Verständnis will, allein den Gesetzgebungsorganen, sondern auch den Gerichten zu.

III.

Es fragt sich, welche Konsequenzen aus der Erkenntnis, daß die Gerichte eine politische Funktion haben, zu ziehen sind. Daß solche Folgerungen notwendig sind, wird vor allem von zwei Lagern bestritten. Das eine bilden die „Romantiker“, die eine Rückkehr zum Gesetzesstaat des 19. Jahrhunderts für möglich halten. Das andere Lager teilt diese Hoffnung nicht, fordert aber eine einschneidende Reform des Gesetzgebungsverfahrens, die der Verlagerung Rechtsetzung auf die Gerichte

Einhalt gebieten soll.

Im Ruf „Zurück zum Gesetz* artikuliert sich ein Heimweh nach der Vergangenheit, das auch sonst im politischen Leben der Bundesrepublik anzutreffen ist Seine Erfüllung setzt die Restauration jener statischen und überschaubaren Verhältnisse voraus, wie sie im 19. Jahrhundert bestanden, als man meinen konnte, daß, der Wandel „in der kurzen Spanne eines Menschenlebens“ in der Regel nicht groß genug sei, „um stark aufzufallen" (so noch Eugen Ehrlich, der Begründer der deutschen Rechtssoziologie). Für die Wiederherstellung solcher Verhältnisse bestehen indessen keine Chancen, weil die gesellschaftliche Entwicklung nicht einfach umkehrbar ist. Weir in der Gegenwart lebt, muß sich damit abfinden, daß die Welt dynamisch geworden ist. Gesetzes-recht ist aber starr und auf Dauer angelegt. Dieser Vorzug wird zur Schwäche, sobald an die Stelle statischer Verhältnisse dynamische Formen des menschlichen Zusammenlebens getreten sind. Dann differenzieren Leistungs-und Gerechtigkeitserwartungen so rasch, daß es unmöglich wird, den veränderten Normierungsbedürfnissen allein durch das Mittel des Gesetzes Rechnung zu tragen. Ein flexibleres Instrumentarium wird nötig, das das Gesetzes-recht nicht etwa beseitigt, wohl aber ergänzt. Die politische Wirklichkeit der Bundesrepublik liefert Jahr um Jahr Anschauungsunterricht dafür, wie sich die Erosion des klassischen Gesetzgebungssystems unter dem Druck der sozialen Verhältnisse vollzieht.

Man braucht gar nicht an die Pattsituationen zu denken, die heute nicht nur in der Bundesrepublik, sondern auch in anderen Ländern aufgetreten sind und das Funktionieren des Gesetzgebungsmechanismus wenn nicht in Frage stellen, so doch in erschreckendem Umfang erschweren. Selbst bei größtem Fleiß kann der Gesetzgeber das Maß von Differen -zierung nicht leisten, das heute von der RechtSetzung unter dem Aspekt sozialer Gerechtigkeit erwartet wird. Deshalb ist es auch falsch, hier von einem Versagen der Legislative zu sprechen. Vielmehr muß man sich zu der Einsicht durchdringen, daß die „Zeit der großen Kodifikationen vorbei“ (Kübler) und das Richterrecht heute eine unvermeidliche Ergänzung des Gesetzesrechts ist. Die Aufweichung der Gesetze durch Ermessensbegriffe ist keine Flucht vor der Verantwortung, sondern ein „nötiges Ventil“ (Simitis), das es erlaubt, den sozialen Anforderungen, die heute an das Recht gestellt werden, gerecht zu werden.

Ist damit das Richterrecht zu unserem Schicksal geworden? Ich meine, ja. Unter dem Stichwort „Parlamentsreform" wird zwar immer wieder diskutiert, durch welche Maßnahmen der Gesetzgeber in die Lage versetzt werden kann, seine Verantwortung voll auszufüllen und dadurch seine frühere Macht zurückzugewinnen. Wenn man näher hinsieht, vermag jedoch keiner der Vorschläge zu überzeugen. Die Forderung zum Beispiel, das Gesetzgebungsverfahren so umzugestalten, daß das Parlament nur noch die Direktiven gibt, während die Details auf spezialisierte Sonderbehörden übertragen werden (so Horst Ehmke auf dem SPD-Parteitag 1968 in Nürnberg), kennzeichnet die Zwangslage, in der wir uns befinden. Es steht in der Tat außer Frage, daß das Parlament Aufgaben delegieren muß, wenn es seine Führungs-und Kontrollfunktionen aktiv wahr-nehmen will. Dafür, daß eine solche Delegation vorgenommen wird, bestehen indessen keine reellen Chancen. Da der Teufel nun einmal im Detail steckt, hat das Parlament gute Gründe, sich vor solchen Delegationen zu fürchten. Bei nüchterner Betrachtung wird die Lage daher so bleiben, wie sie ist: Das Parlament wird versuchen, so viele Probleme zu regeln, wie es vermag, und wo seine Möglichkeiten nicht ausreichen, wird es die Probleme in der beschriebenen Form auf die Justiz delegieren. Davon abgesehen, wäre es ein Trugschluß, wenn man annehmen würde, mit der Delegation von Gesetzgebungsmacht auf die Verwaltung (über das bisherige Maß hinaus) wäre das Problem, um das es hier geht, prinzipiell aus der Welt geschafft. Denn auch die Verwaltung als Verordnungs-Gesetzgeber würde wiederum mit Allgemeinbegriffen arbeiten müssen, die dem Richter Gestaltungsfreiheit lassen.

Es hat daher keinen Sinn, den Kopf noch länger in den Sand zu stecken oder sich in Meditationen über die Gefahren des Richterrechts zu verlieren. Noch so bewegte Klagen können an der Realität nichts ändern. Nützlicher ist es, sich Gedanken darüber zu machen, in welcher Weise die politische Richterfunktion in die richtige Verfassung gebracht werden kann.

1. Die erste Konsequenz, die in dieser Richtung zu ziehen ist, scheint mir die Aufklärung Gerichte zu sein. Die müssen ihre politische Funktion kennen, um ihre Verantwortung zutreffend bestimmen zu können. Der Lernprozeß, der in diesem Sinne von der Justiz erwartet werden muß, gilt vor allem der Aufhellung von Vorzugswerten und unbewußten Voreingenommenheiten, die nahezu auf jede richterliche Entscheidung Einfluß nehmen können, bei gestaltenden Entscheidungen aber besondere Relevanz erhalten.

Der Richter muß wissen, daß und wann er eine politische Entscheidung zu treffen hat, er und muß sich über die psychischen und sozialen Bedingungen sowie politischen Implikationen seines Tuns im klaren sein. Wenn die gesellschaftliche Bedingtheit der richterlichen Entscheidungstätigkeit erkannt ist, verringert sich die Gefahr, daß schichten-oder gruppen-spezifische Vorverständnisse Macht über das richterliche Urteil besitzen. Es erhöht sich die Chance, die Intentionen des Grundgesetzes zu treffen.

Für eine in diesem Sinne aufgeklärte Justiz wäre die Erfüllung von vier Forderungen charakteristisch, die alle in der Bundesrepublik seit längerem diskutiert werden.

Einmal handelt es sich um die Entwicklung von Entscheidungsalternativen bei der richterlichen Rechtsfindung. Zur Zeit geht eine noch weitverbreitete Anschauung davon aus, daß es für jeden Rechtsfall nur eine richtige Lösung gibt, die zu entdecken ist. In Wahrheit sind die politischen Entscheidungen des Richters Ermessensentscheidungen, bei denen der Richter zwischen Alternativen wählen kann. Solche Alternativen müssen nun im einzelnen Fall aufgezeigt und zur Wahl gestellt werden. Wenn man z. B. nicht mehr einfach einen Sittenverstoß (§ 138 BGB) damit begründen kann, daß das beanstandete Verhalten nach Überzeugung des Gerichts gegen das Anstandsgefühl der billig und gerecht Denkenden verstößt, sondern wenn rational dargelegt werden müßte, aus welchen Gründen die eine Lösung den Vorzug vor den anderen möglichen verdient, würden sich nicht nur die Möglichkeiten der Selbstkontrolle erhöhen, sondern es würde auch die Rechtssicherheit zunehmen, die heute bei der richterlichen „Kryptopolitik" in beklagenswerter Weise zurückgegangen ist.

Eng damit verknüpft ist die Forderung nach vermehrter Transparenz des Richterrechts. In der Entscheidung selbst müssen die Gründe offengelegt werden, die den Ausschlag für eine bestimmte Alternative gegeben haben.

Zustand Der heutige läßt sich, zugespitzt, durch Bonmot kennzeichnen, wonach es drei das Arten von Urteilsgründen gibt, die geschriebenen, die (in der Beratung) geäußerten und die unausgesprochenen.

Immer wieder stößt man auf Begründungen, in denen durch die Berufung auf vage Begriffe wie Unzumutbarkeit, Verhältnismäßigkeit, allgemeines Rechtsgefühl und Gerechtigkeitsempfinden der Eindruck erweckt wird, das Urteil ließe sich aus gesichertem geltendem Recht oder allgemeiner Rechtsvernunft ableiten, während es sich in Wahrheit um politische Entscheidungen handelt. Zutreffend spricht Biedenkopf der diesen Sachverhalt an der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts demonstriert hat, von Scheinbegründungen, die für den irrationalen Charakter des Urteils kennzeichnend sind und die derzeitige Hilfslosigkeit der Richter gegenüber ihrer politischen Funktion unterstreichen.

Ein solches Versteckspiel mindert nicht nur die Berechenbarkeit des Richterrechts und damit die Rechtssicherheit, sondern macht eine ratio-nale Auseinandersetzung über das Für und Wider rechtspolitischer Vorstellungen, die hinter dem Urteil stehen, unmöglich. Würden dagegen die Entscheidungssituationen entwickelt und die Wertungen offengelegt, die der Entscheidung zugrunde liegen, hätte dies schon den Vorteil, daß der Richter ein Mittel zur Selbstkontrolle und inneren Widerspruchsfreiheit seiner Argumentation gewinnt. Vor allem aber hätten Wissenschaft und politische Öffentlichkeit die Möglichkeit, die Wertungen des Gerichts nachzuvollziehen, über ihre Hintergründe zu diskutieren, Bedenken geltend zu machen und Alternativen zu entwickeln.

Ein wichtiger Schritt zur Förderung solcher Transparenz wäre die Bekanntgabe abweichender Meinungen, der sog. dissentlng opinions, zu Mehrheitsentscheidungen in Kollegialgerichten. Wenn die überstimmte Minderheit nicht zum Schweigen verurteilt Ist, sondern ihre Ansichten darlegen darf, erhöht dies die Durchsichtigkeit des Richterrechts Und schafft bessere Chancen für Diskussion und Kritik.

Schließlich ist die Bereitschaft der Justiz wichtig, die Hilfe der Kritik anzunehmen und nicht nur mit der juristischen Fach-, sondern auch mit der allgemeinen politischen Öffentlichkeit in einen Dialog zu treten. Wie der parlamentarische Gesetzgeber, so darf sich auch der recht-setzende Richter nicht vor der Gesellschaft abschirmen, er muß vielmehr umgekehrt an ihren Sorgen, Nöten und Problemen teilhaben. Wenn die Öffentlichkeit fragt, warum die Gerichte bei politischen Entscheidungen ihr Ermessen so und nicht anders ausgeübt haben, so ist es falsch, wenn die Justiz versucht, die öffentliche Neugier mit dem Hinweis auf die traditionellen Schutzschilder „Gesetz* und „richterliche Unabhängigkeit" abzuwehren; der Richter sollte sich vielmehr der Kritik stellen. 2. Aufklärung zielt auf Bewußtseinsveränderung. Wandlungen dieser Art brauchen ihre Zeit. Sie führen bei den davon Betroffenen durch Identitätskrisen hindurch und rufen daher zwangsläufig Reibungen und Widerstände hervor. Diese verlieren an Kraft, je mehr in der Gesellschaft selbst der Prozeß demokratischer Bewußtseinbildung fortschreitet. Was dabei schulische Sozialisation zu bewirken vermag, ist bekannt. Aber auch Reformen im Rechtswesen können den Richer befähigen, seiner politischen Funktion besser gerecht zu werden.

a) Bisher wurde der Richter für Normanwendung und Subsumtion ausgebildet und nicht dafür, daß er Normen schafft und soziale Beziehungen und Verhältnisse gestaltet. Der Richter, der zum Rechtsetzer geworden ist, darf nicht mehr Windscheids „Jurist als solcher" sein. Er braucht mehr und bessere Kenntnisse über die soziale Wirklichkeit als sein Vorgänger, auch tiefere Einsicht in das komplizierte Gefüge unserer Verfassungsordnung. Er darf sich nicht mehr auf seine zufällige Alltagserfahrung verlassen, sondern braucht exaktere Informationen. Die konfligierenden Erwartungen, denen der Richterspruch genügen soll, muß er ebenso bedenken wie die sozialen Folgen seiner Entscheidung.

Da der unpolitische Jurist der Gegenwart das Produkt der herkömmlichen, auf Gesetzesausführung und nicht auf Sozialgestaltung gerichteten Ausbildung ist, ist die Konsequenz einet grundlegenden Umotientietung der Juristenausbiidung, wie sie zur Zeit in den sog. Einstufenmodellen (z. B. Niedersachsen, Frankfurt, Bremen, Hamburg) vorbereitet wird, unumgänglich. Das soziale Wissen des Juristen muß vermehrt, das vom juristischen Positivismus entpolitisierte juristische Denken wieder politisiert werden. Das erfordert den Einbau der Sozialwissenschaften in das Rechtsstudium. Die Rechtsdogmatik behält ihren Wert, aber sie wird relativiert: Wirtschaftsrecht darf nicht mehr losgelöst von Wirtschaft, Verwaltungsrecht nicht mehr isoliert von der Verwaltung, Staatsrecht nur im Zusammenhang mit der Politik und Arbeitsrecht nur noch im Bezug auf die soziale Problematik der lohnabhängigen Arbeit betrieben werden. Wenn die Gerichte 2. B. Wirtschaftspolitische Entscheidungen zu fällen haben, dann müssen die Richter auch die Strukturen und Handlungsabläufe, die dabei eine Rolle spielen, die sozialen und ökonomischen Gegebenheiten kennen, und zwar auf wissenschaftlicher Grundlage. b) Die Verwissenschaftlichung des Rechts-studiums durch seine Öffnung zu den Sozial-wissenschaften stellt allerdings noch nicht sicher, daß der notwendige Repolitisierungsprozeß in Richtung auf die Aneignung demokratischer Werte verläuft. Entscheidend ist, daß der Richter auch den Willen hat, diese durch sein Verfahren und seine Entscheidung zu verwirklichen. Er muß sich mit dem Staat, dessen Recht er gestaltet, solidarisch fühlen, sich mit ihm identifizieren und die Prinzipien und Werte der Demokratie in sich aufnehmen, verinnerlichen.

Es liegt keine Übertreibung darin, wenn man darauf hinweist, daß das Funktionieren unseB rer politischen Ordnung ganz wesentlich mit davon abhängt, daß der Justiz bei ihren politischen Entscheidungen diese Identifikation und Solidarisierung gelingt. Warnende Beispiele, wohin es führen kann, wenn der politischen Funktion, die den Gerichten zufällt, kein politisch-demokratisches Verantwortungsbewußtsein entspricht, liefert die Weimarer Republik. 3. Die Entdeckung der politischen Richter-funktion wirft indessen nicht nur Ausbildungsund Sozialisationsprobleme auf, sondern auch verfassungspolitische Fragen. Dabei geht es um die Einbindung der politischen Richterfunktion in das demokratische System. Es müssen Regeln entwickelt werden, die den politischen Charakter der Richterfunktion voll anerkennen, aber die Gefahren vermindern, die ihr anhaften.

a) Im Vordergrund steht die Neubestimmung des Verhältnisses des Richters zur Legislative, wobei sowohl die Kompetenzen zwischen Legislative und Rechtsprechung abgegrenzt als auch die Beziehung zwischen den beiden Organen geklärt werden müssen. Wenn auch keine Rede davon sein kann, daß die richterliche Rechtsschöpfung das Gewaltenteilungsprinzip verletzt, so handelt es sich doch materiell um die Konkurrenz zweier Staatsorgane in einem Bereich, der nach dem ursprünglichen Demokratiemodell einem einzigen Organ, nämlich der Legislative, zugewiesen war. Die Problematik verliert jedoch an Schärfe, wenn man sich vergegenwärtigt, daß von der unterschiedlichen Aufgabenstellung gleichsam natürliche Grenzen die Rechtsetzung durch den Richter einschränken.

Diese Grenzen ergeben sich daraus, daß der Erlaß genereller Rechtsnormen unbestritten Sache der Gesetzgebung ist, während die Domäne des Richters der Einzelfall ist.

Das Gericht kann Recht nur punktuell schaffen, und auch das nur im Rahmen eines konkreten, vor ihm anhängigen Verfahrens. Sein Aktionsbereich ist daher wesentlich geringer als der der Legislative, die auf eigene Initiative den Kosmos der sozialen Beziehungen gestalten kann und dabei keine anderen rechtlichen Schranken als die von der Verfassung gezogenen zu respektieren braucht. Aus dem Bezug auf den Einzelfall ergibt sich zugleich das Gebot an den Richter, seine Rechtsschöpfung auf das zu beschränken, was zur konkreten Entscheidung notwendig ist, und im übrigen die Zuständigkeit und Verantwortlichkeit des Gesetzgebers festzustellen.

Zwischen Legislative und Justiz besteht aber nicht nur eine Arbeitsteilung (H. P. Schneider) in diesem Sinn, sondern auch eine unterschiedliche Gewichtung. Im parlamentarischen System nimmt die Legislative unbestritten deshalb eine Vorzugsstellung ein, weil ihr Haupt-träger, das Parlament, unmittelbar vom Volk gewählt wird. In ihm verkörpert sich also der Volkswille ohne Zwischenschaltung anderer Gremien. Vom Gesichtspunkt der Verfassungstreue her kann die Rechtsschöpfung durch die Gerichte daher auch aus diesem Grunde nur als Ausnahme vom Prinzip angesehen werden.

in Da unserem politischen System in erster Linie die Gesetzgebung berufen ist, Zielkonflikte zu entscheiden, müssen die Gerichte grundsätzlich die Prärogative der Legislative für Rechtsetzung anerkennen.

Die Justiz ist deshalb zur Zurückhaltung verpflichtet, wo die Verfassung der Legislative ausdrücklich Gesetzgebungsaufträge erteilt hat, wie etwa in Art. 6 Abs. 5 GG bezüglich der unehelichen Kinder. Weiter erfordert die Loyalität gegenüber dem Gesetzgeber, daß vom Parlament verworfene Änderungsvorschläge nicht durch die Rechtsprechung verwirklicht werden. b) Eine große Rolle bei der Erörterung, wie das Richterrecht in das Verfassungssystem der Bundesrepublik eingeordnet werden kann, spielt seit längerem die Frage der Richterwahl. Dies zu Recht: Es ist eine Schwäche des Richter-rechts, daß die Richter, die es setzen, nicht in dem Maße durch den demokratischen Souverän, das Volk, legitimiert sind wie das Parlament. Auch vom Justizminister oder der Regierung ernannte Richter können sich zwar auf eine demokratische Legitimation berufen, weil der Minister oder die Regierung vom Vertrauen des Parlaments abhängig sind. Es ist aber richtig, wenn darauf hingewiesen wird, daß ein parlamentarischer Wahlausschuß, der die Richter wählt, die demokratische Legitimation des Richters erhöhen würde. Für die Richter am Bundesverfassungsgericht und an den obersten Bundesgerichten, die in besonderem Umfang rechtsschöpferisch tätig sind, existieren bezeichnenderweise solche Wahlausschüsse bereits. nen. Es handelt sich um eine Neuschöpfung, die der erhöhten politischen Verantwortlichkeit des heutigen Richters Rechnung trägt. Sie hat nicht einmal den Vorwurf vorsätzlichen Verhaltens zur Voraussetzung: Angeklagt werden kann jeder Richter, der im Amt oder außerhalb seines Amtes gegen die Grundsätze des Grundgesetzes und die verfassungsmäßige Ordnung eines Landes verstößt. Ankläger sind die Parlamente. Diese Institution ist auf den politischen Richter zugeschnitten; sie zeigt deutlich, welcher Richtertyp der Verfassung entspricht.

Eine darüber hinausgehende rechtliche Kontrolle des Richterspruchs scheidet aus. Das Prinzip der richterlichen Unabhängigkeit beschränkt die Dienstaufsicht und das Disziplinarrecht zur praktischen Bedeutungslosigkeit — und das ist gut so.

Die richterliche Unabhängigkeit ist zwar kein Privileg der Richter, aber ein Bollwerk der Bürgerfreiheit, auf das im Rechtsstaat auf keinen Fall verzichtet werden kann — erst recht nicht in einer Zeit, in der die Freiheit der Bürger immer wieder durch die Macht ökonomischer und sozialer Tendenzen in Frage gestellt wird. Der Begriff der Kontrolle ist jedoch zu eng gefaßt, wenn man darunter nur die Rechts-kontrolle mit der Möglichkeit der Aufhebung von Entscheidungen und der Disziplinierung ihrer Urheber versteht.

Zu denken ist vielmehr an die Kontrolle, die durch die Öffentlichkeit ausgeübt wird, in der Bundesrepublik ist nicht etwa die „Skribative" eine institutionalisierte Vierte Gewalt, die als Obergewalt die anderen Gewalten vor ihren Richterstuhl ziehen kann. Die Massenmedien haben jedoch eine Kontrollfunktion in dem Sinne, daß sie sich mit dem auseinandersetzen, was in der Justiz und durch die Justiz geschieht. Als „scharfäugige Wächter“ (Löffler) haben sie nicht nur Mißstände aufzuspüren, sondern auch die Entscheidungen der Justiz aus der Sicht der „Justizkonsumenten" zu beurteilen und die schwachen Stellen der Begründungen aufzudecken.

Voraussetzung für einen solchen Dialog ist jene erhöhte Transparenz, von der bereits un. ter die Rede war. 4. Zuguterletzt ein Hinweis auf die Konsequenz verbesserter Information über das Richterrecht, Wenn Richterrecht das Gesetzesrecht ergänzt, muß es ebenso wie dieses allgemein zugänglich sein. Man kann nicht die Existenz des Richterrechts bejahen und es dennoch im dunkeln lassen. Diese Situation erfordert, daß Anstrengungen zur Erhöhung der Publizität des Richterrechts unternommen werden.

Bei dieser Forderung treffen zwei Bestrebungen zusammen. Einmal ist es notwendig, den Informationsaustausch der Juristen untereinander zu verstärken. Richterrecht entwickelt sich in der Regel nicht sprunghaft, etwa durch kühne Innovationen, sondern auf einem kontinuierlichen Wege, den der große amerikanische Richter Cardozo zutreffend als Wachstumsprozeß bezeichnet hat: Die eine Entscheidung knüpft an die andere an, und selbst Entscheidungen, die zu grundlegend neuen rechtlichen Aussagen vorstießen, setzen meist eine Reihe von früheren Urteilen voraus, die sich erst langsam zu den Konsequenzen getastet haben.

Zum anderen bemühen wir uns seit längerem, den Bürgern der Bundesrepublik den Zugang zum Recht zu erleichtern, damit sie sich nach ihm richten und ihre Ansprüche durchsetzen können. Das Interesse, das die Presse an recht-fortbildenden Entscheidungen der Gerichte nimmt, ist erfreulich; die dadurch bewirkte Publizität reicht aber zur Information der Rechtsuchenden nicht aus. Hier liegt in erster Linie eine Aufgabe für die Zukunft. Zusammen mit der Information für professionelle Konsumenten kann sie von solchen Informationssystemen geleistet werden, die auf elektronischer Datenverarbeitung beruhen. Aber auch zur Verbesserung der Publizität des Richterrechts mit den herkömmlichen Informationsmitteln läßt sich manches tun.

IV.

Die hier entwickelte Auffassung von der politischen Funktion des Richters wird als sozial-staatlich-demokratische These zum Verhältnis von Politik und Rechtsprechung bezeichnet’).

Mir scheint, daß diese Charakterisierung zutreffend ist. In der geschichtlichen Transformationsperiode, die durch den Übergang vom liberalen zum sozialen Rechtsstaat gekennzeichnet ist, versucht sie, die Frage nach dem Verhältnis von Politik und Rechtsanwendung unter den Bedingungen der Zeit zu beantwor-ten und der Justiz zu helfen, sich über ihre Situation und über ihre Aufgaben klar zu werden. Oft wird die Frage aufgeworfen, weshalb zur Kennzeichnung der sozialgestaltenden Funktion der Justiz nicht auf das Wort politisch verzichtet und an dessen Stelle von der sozialen Funktion der Justiz gesprochen wird. Das Wort politisch, so heißt es, ist ein „Reizwort“. Würde dafür eine andere Formulierung gewählt werden, so hätte die These es leichter, Anerkennung zu finden.

Idi kann dieser Anregung keinen Geschmack abgewinnen. Dadurch, daß man vor Vorurteilen zurückweicht, kann man keine Probleme lösen. Daß solche Vorschläge überhaupt gemacht werden, zeigt vielmehr umgekehrt, wie notwendig der Klärungsprozeß ist, zu dem die Erkenntnis der politischen Funktion des Richters einen Beitrag leistet.

Solange das Wort . politisch'für die Justiz noch ein Reizwort ist, hat die „Versöhnung von Justiz und Demokratie" (Sontheimer), die der Justiz aufgegeben ist, noch nicht stattgefunden. Die Deutschen sind, was ihr Verhältnis zu Politik und Demokratie angeht, eine „verspätete Nation“ (H. Plessner). Für alle Zeiten darf es aber nicht bei dieser Verspätung bleiben. Wohin es führt, wenn Richter unpolitisch sein wollen, haben wir am Beispiel der Weimarer Republik gesehen. Es wäre daher falsch, vor „antipolitischen“ Stimmungen in der Justiz zurückzuweichen. Die Verwendung des Wortes . politisch'zur Charakterisierung der sozial-gestaltenden Funktion der Justiz ist vielmehr selbst ein Moment im Prozeß der Identitätsfindung, von der im ersten Abschnitt die Rede war.

Der Richter ist seiner Funktion nach eine politische Persönlichkeit. Er sollte sich deshalb, wie Adolf Arndt, einer der großen Juristen unserer Zeit, einmal gesagt hat, auch nicht fürchten, eise solche genannt zu werden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Auszug aus einem Vortrag, den der Verfasser am 11. Juli 1973 im Wiener Justizpalast auf einer Veranstaltung der österreichischen Juristenkommission und des Europahauses Wien gehalten hat.

  2. Rudolf Wassermann, Der politische Richter, München 1972.

  3. Siehe R. Lautmann, Richterliches Verfahren, in: Handlexikon zur Rechtswissenschaft, hrsg. von A. Görlitz, München 1972, aber auch J. Esser, Verständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, Frankfurt (Main) 1970.

  4. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Band 11, Seite 130 f.

  5. Die Betriebsrisikolehre als Beispiel richterlicher Rechtsfortbildung, Karlsruhe 1970, S. 26.

  6. So . B. L. Helbig, Politik und Recht, Studienbogen aus Recht und Gesellschaft, Heft 1, 1973.

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