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Systemtheorie als Ideologie contra Systemveränderung | APuZ 51-52/1974 | bpb.de

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APuZ 51-52/1974 Verfassung als Parteiprogramm? Anmerkungen zur Kontroverse um das Grundgesetz nach 25 Jahren Systemveränderung als Ideologie oder Fritz Vilmars Demokratisierungsstrategie Systemtheorie als Ideologie contra Systemveränderung

Systemtheorie als Ideologie contra Systemveränderung

/ 22 Minuten zu lesen

Die Fehlinterpretation meines theoretischen Ansatzes in der Kritik von Adam resultiert wesentlich aus den Wahrnehmungsbeschränkungen, ja aus dem immanenten Denkverbot der von ihm selbst gewählten Gesellschaftstheorie und ihres begrifflichen wie methodischen Apparates: der sogenannten System-theorie. Im Hauptteil meiner Erwiderung werde ich mich daher mit jenem zentralen Ideologiegehalt von Systemtheorie zu beschäftigen haben, der darin besteht, daß sie Systemveränderung nicht als wesentlich zu denken in der Lage ist.

Eine Theorie der Systemveränderung mit Mitteln der Systemtheorie erfassen und kritisieren zu wollen, gleicht dem Versuch, Wasser mit einem Sieb zu schöpfen. Natürlich bleiben in dem Sieb einige unerwünschte, sozusagen nicht-liquide Bestandteile hängen. So enthält auch die Kritik von Adam eine Reihe ernst zu nehmender Details — das sollte trotz des bemüht herablassenden Tons anerkannt werden, und ich werde daher darauf eingehen. Insgesamt aber muß jeder, der meinen Text „Systemveränderung auf dem Boden des Grundgesetzes'(Aus Politik und Zeitgeschichte, B 18/74 vom 4. Mai 1974) oder gar den ihm zugrunde liegenden ausführlichen theoretischen Entwurf „Strategien der Demokratisierung“ (Sammlung Luchterhand) vorbehaltlos gelesen hat, den Eindruck gewinnen, daß Adam gar nicht von meinem Text spricht, sondern von einem uns unbekannten oder zumindest durch selektive Wahrnehmung hochgradig entstellten Text, der mit dem meinigen nur noch eine vage Ähnlichkeit, freilich den gleichen Titel hat.

„Beweisführung“ mit Hilfe nicht vorhandener „Belege“

Das wird sofort deutlich, wenn man die Quellenbelege für die Unterstellungen Adams (die fast nie auf konkrete Zitate sich stützen) in meinem Text sucht: Man findet sie nicht.

Adam, der mit der Attitüde des um Präzision Bemühten stets „Belegbarkeit" fordert, belegt konkret kaum eine seiner kritischen Behauptungen; er begnügt sich mit Seitenhinweisen. Schlägt man dann nach, so ist das dort Gesagte keineswegs der angekündigte Beleg für das von ihm Behauptete. Man könnte das an Dutzenden seiner vielen Fußnoten zeigen — es kann aus Platzgründen hier aber nur an einem, freilich massiven exemplarischen Fall nachgewiesen werden. Adam unterstellt mir — mit Beleghinweisen in den Fußnoten 4— 14 — eine „dualistische Weltbetrachtung“ (für die er übrigens synonym, aber begrifflich falsch den Ausdruck „antagonistisches Bild der Wirklichkeit“ verwendet: antagonistisches und dualistisches Wirklichkeitsverständnis sind durchaus nicht dasselbe; eine der zahllosen Unschärfen in Sprache und Begriffsbildung Adams Schaut man sich die , Beleg‘-Stellen an, so bleibt von Adams Behauptung nichts übrig. Auf Seite 4 spreche ich nicht, wie Adam unterstellt, von ausschließlich „zwei Klassen politisch-weltanschaulicher Gegner“, sondern ich spreche von zwei Extrempositionen der Verneinung reformpolitischer Systemveränderung — was eine Menge anderer Positionen nicht aus-, sondern begriffslogisch geradezu einschließt. Eine breite Skala solcher reform-politischer Positionen wird an der von Adam zum . Beleg'für seine Dualismus-These angegebenen Stelle sogar ausdrücklich genannt: „Die im folgenden entwickelte Konzeption geht von der durch Tausende von Initiativen (!) der letzten Jahre begründeten Hoffnung aus, daß die notwendige Veränderung des herrschenden Gesellschaftssystems in Richtung auf mehr Demokratie, mehr Sozialstaatlichkeit und zunehmende Kontrolle bzw. Einschränkung der Kapitalherrschaft der , 1, 7 °/o‘ durch umfassende Demokratisierungsstrategien durchaus evolutionär, auf dem Boden des Grundgesetzes und seiner Prinzipien einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung, verwirklicht werden kann.'

Selbst sehr vereinfacht, idealtypisch verstanden, wird also an Adams „Beleg-Stelle“ im strikten Gegensatz zu seiner Behauptung nicht ein Dual, sondern eine Trias von politischen Positions-Gruppen entwickelt. (Dasselbe gilt für den „Beleg“ Nr. 7.)

Nicht besser sieht es mit dem unterstellten Dualismus von scheinbarer und realer Demokratie bzw. Volksvertretung („Beleg" Nr. 8) aus. Hier zeigt sich das unten ausführlich darzustellende konstitutive Unvermögen positivistisch-systemtheoretischen Denkens, Systeme transitorisch, in einem teils kontinuierlichen, teils sprunghaften Veränderungsprozeß adäquat zu begreifen. In der Systemtheorie gerinnt das gesellschaftliche System zum starren Gehäuse, innerhalb dessen . Wandel'nurmehr als . hochkomplizierter', möglichst . kybernetisch'durch , feed back'sich regelnder Selbsterhaltungsmechanismus gedacht werden kann und darf. Daher ist typisch die selektive Wahrnehmung von Adam, der das, was ich auf Seite 8 expressis verbis als historischen Prozeß darstelle, statisch-dualistisch uminterpretiert: „Allgemeines Wahlrecht, Existenz von Gewerkschaften und von sozialprogressiven Parteien haben unzweifelhaft auch unter noch vorwiegend kapitalistischen Produktionsbedingungen die Position der Abhängigen erheblich verstärkt und deren Lebensbedingungen wesentlich verbessert. Darüber hinaus aber sind sozialdemokratische parlamentarische Machtübernahmen, seien sie vorerst auch noch so sehr mit kapitalistischen Hypotheken belastet, realisierbar und unter der Voraussetzung einer weiteren Stabilisierung ihrer Wählerbasis in der Lage, die soziokulturellen und sozio-ökonomischen Herrschaftsstrukturen langfristig grundlegend zu demokratisieren. Die Abqualifikation der parlamentarischen Demokratie als einer . bürgerlichen', sprich bourgeoisen Demokratieform ist historisch nachweislich falsch, theoretisch unhaltbar, vor allem aber praktisch-politisch verhängnisvoll... Sozialistische Transformation heißt demnach nicht, den Parlamentarismus historisch-deterministisch zu diffamieren, sondern ihn voranzutreiben (!) zu einem nicht nur scheinbaren, sondern realen System der Volksvertretung."

Das ist gewiß das Gegenteil einer „dualistischen“ Weltbetrachtung! Eine solche Vorstellung von prozeßhaft sich verändernden politischen Positionen, (Teil-) Systemen, Herrschaftsstrukturen etc. ist geradezu eine Grunderfahrung, daher auch Grundstruktur meines Denkens — deshalb enthalten die von Adam genannten „Belegstellen“ 7 bis 12 eben keine dualistische, geschweige denn antagonistisch feststehenden Alternativen, sondern Ausgangs-und Zielbestimmungen von Gesellschaftsprozessen, die aus der Untertanengesellschaft herausführen in Richtung auf eine emanzipierte, mündige und klassenlose Gesellschaft. Unwahr wie die Dualismus-Unterstellung Adams ist schließlich seine allerdings recht merkwürdige Hauptthese: Diese Dualisierung sei sozusagen ein methodischer Trick, um meine Theorie als „einzig mögliche zu suggerieren“. Hier passiert Adam das Mißgeschick, daß er mit seinem eigenen . Beleg'Nr. 6 sich selbst widerlegt: Vom Gelingen eines gesamtgesellschaftlichen Demokratisierungsprozesses — also nicht einer Vilmarsehen Theorie oder Strategie — wird allerdings a. a. O. in der sehr vorsichtigen, doppelt — nämlich erkenntnistheoretisch wie real — hypothetischen Form gesagt: sie scheine (!) unsere einzige Chance (I). Dieser Sprach-und Begriffsgebrauch ist ja wohl das Gegenteil ei-B ner „*Suggestion alleinseligmachenden theoretischen GeltungsanspruchesI Ich habe mit Absicht eine Hauptthese der Kritik Adams in so ausführlicher Weise widerlegt, weil das Ergebnis meine Ausgangs-these verständlicher macht: daß Adam offenbar weithin ein durch selektive Wahrnehmung erzeugtes . Phantombild'meines Textes, nicht aber diesen selbst zum Gegenstand seiner Kritik gemacht hat.

Die Frage ist: Warum? Böser Wille? Politischer Diffamierungsversuch ä la Giselher Schmidt Sicher nicht, obwohl ein konservativer, die Demokratisierungsstrategie möglichst negativ auslegender Grundzug freilich den ganzen Adamschen Text durchzieht. Aber aus welcher persönlichen Lebens-und Interessenlage dieser restriktive Gestus auch mit bestimmt sein mag — wesentlich erscheint mir, daß das nicht zufälligerweise aus Amerika kommende theoretische Handwerkszeug (sei es als Rationalisierungsmedium, sei es als unbewußt prägendes theoretisches Instrumentarium: das soll hier ganz offen bleiben), unkritisch angewandt, mit begriffslogischer Notwendigkeit zu einer derartig selektiven Wahrnehmung und Verarbeitung meines theoretischen Ansatzes führen muß: Die Axiomatik und Begrifflichkeit der System-theorie ist in der Tat nicht in der Lage, Systemveränderung als substantielle Wirklichkeit zu begreifen, weil die Transformation, das Transzendieren von gegebenen gesellschaftlichen Systemen in den Denkhorizont von Systemtheorie lediglich als Negativum, als Unwert, als zu verhindernder Katastrophenfall eintritt.

Das an sich höchst problematische, positivistische Ausgangsaxiom Adams (S. 17), eine Theorie sei Ideologie, wenn sie „kein Abbild der Wirklichkeit" sei, (problematisch, weil hier ein ebenso fragwürdiger Theorie = Abbild-Begriff wie ein naiver, positivistisch-phänomenaler Wirklichkeitsbegriff vorgegeben wird) schlägt also, wenn man es im Sinne immanenter Kritik ernst nähme und auf seinen Autor anwendete, in doppeltem Sinn gegen diesen zurück: Erstens, insofern er als Systemtheoretiker selbst eine entscheidende Dimension der gesellschaftlichen Realität der Systemwirklichkeit — nämlich den Prozeß der Systemveränderung — aus der Betrach-tung ausschaltet (oder lediglich als Bedrohung wahrnimmt, s. u. S. 36 f.), und zweitens, insofern die mir unterstellte, in der Tat wirklichkeitsfremde dualistische Methode eine Fiktion Adams ist. Weder meine analytische noch meine normative Methode ist in irgend einem Punkt dualistisch — das Gegenteil ist der Fall.

Eine erkenntnistheoretische Zwangsjacke, in die ich nicht passe Eine Zwangsvorstellung positivistischen Denkens ist die Konstruktion von gesellschaftlichen Theorien in den Kategorien empiristischer Beweisbarkeit und quasi-naturwissenschaftlicher Stringenz. (Nicht zufällig ist die Poppersche Logik zunächst als Logik der Naturwissenschaften entwickelt worden — Popper selbst freilich hat sich weit darüber hinaus entwickelt.) So unterstellt mir auch Adam (S. 18, 19) empiristisch-stringent belegte Deduktionen und „notwendige" Ablaufprognosen — um dann auftrumpfend festzustellen, daß solche Stringenz, solche Belegbarkeit nicht hergestellt sei.

Selbst im Getto solcher Denkschemata gefangen, kann Adam offensichtlich nicht begreifen, a) daß ich mich ihrer nicht bediene, er mir also einen Anspruch unterstellt und streitig zu machen sucht, den ich gar nicht erhebe;

b) daß ich mich ihrer auch gar nicht bedienen kann, weil ich unabgeschlossene emanzipatorische Trends darzustellen und zu analysieren suche und daraus strategische Hypothesen entwickele. Diese sind zwar empirisch durchaus belegbar, jedoch ihrer Natur nach — als Deutungsversuche eines völlig neuen, noch unabgeschlossenen und daher in der Form eines . gegebenen Gegenstandes'auch nicht erforschbaren Partizipationsprozesses — empiristischen Validisierungs-und Urteilsverfahren (noch) nicht zugänglich, von der theoretischen Beschränktheit solcher Urteilsverfahren einmal ganz abgesehen.

Ich kann Adam, der ja mit enormer wissenschaftlicher Prätention auftritt, den meines Erachtens gravierenden Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit hinsichtlich seiner erkenntnistheoretischen Unterstellungen nicht ersparen, weil er es offensichtlich versäumt hat, sich über die wissenschaftstheoretischen Grundlagen meines ausdrücklich als Resümee einer umfangreichen theoretischen Arbeit über „Strategien der *Demokratisierung ausgewiesenen Textes auch nur oberflächlich zu informieren. Diese wissenschaftstheoretischen Grundlagen (und Schwierigkeiten) werden auf den ersten Seiten meines Theoriebandes in aller Klarheit offengelegt, nämlich daß:

„Theoriebildung, die sich nicht auf Gegebenheiten, sondern primär auf Entfaltung eines Noch-nlcht-Seienden (E. Bloch), nur embryonal Vorhandenen bezieht, im vorherrschenden positivistisch-analytisch ... beschäftigten Wissenschaftsbetrieb kaum methodologische oder konstruktiv-kategoriale Vorleistungen vorfindet. Dagegen erweist sich gerade hier wiederum die historisch-dialektische Methode als fähig, die unter dem Begriff einer gesamtgesellschaftlichen Demokratisierung zusammenzufassenden neuen Phänomene adäquat zu erfassen — nämlich derart, daß Theorie nicht nur erkennen, sondern politisch rational zu handeln hilft. Gleichwohl widersetzt die theoretische Bemühung sich dem Zwang, einem wissenschaftstheoretischen . Lager'sich einzuordnen — sei es dem einer Negativen Dialektik — sei es dem eines quasi naturwissenschaftlichen (, sozialtechnologischen') Empirismus — sei es auch dem der marxistischen Okonomie-Überbau-Dialektik oder dem eines weltanschaulichen (ontologischen) normativen Apriorismus. Im Prozeß der (komplexen, aber noch sehr provisorischen) Theorie-bildung hat sich gezeigt, daß auf der Basis einer historisch-dialektischen Totalitätstheorie partielle Erkenntniskapazitäten verschiedener Wissenschaftstheorien auszunutzen sind.“

Ebenso wird schon zu Beginn des ersten Bandes der „Strategien der Demokratisierung" (S. 44 ff.) ausführlich dargelegt, daß und warum m. E. eine Theorie der Demokratisierung a priori nicht als Systemtheorie zu konstituieren ist (wiewohl sie systemtheoretische Methoden instrumental für bestimmte strukturelle und funktionale Analysen durchaus frucht-bringend verwenden kann). Dessenungeachtet fragt sich Adam — nach dem Motto: wer von (Sub-) Systemen handelt, muß Systemtheoretiker sein — welcher systemtheoretischen Richtung ich wohl angehören mag bzw. warum ich dies nicht explizit klar mache (S. 20). Bei einem von ihm zu verlangenden Mindestmaß an Gründlichkeit hinsichtlich der Analyse meiner Arbeit hätte er sich und den Leser von der Zwangsvorstellung befreien können, Theorie des gesellschaftlichen Systems müsse a priori Systemtheorie sein.

Eine Reihe inhaltlicher Irrtümer

Ich müßte auf die Stellungnahme von Adam mit einer Erwiderung von doppeltem Umfang reagieren, wollte ich alle Irrtümer korrigieren, die sein Text enthält. Ich muß mich darauf beschränken, summarisch einige der wichtigsten Fehlinterpretationen aufzuzeigen.

1. Nirgends gehe ich davon aus, daß die Bundesrepublik als System „im umfassenden Sinn“ zu betrachten ist (S. 20). Das Gegenteil ist richtig (vgl. dazu in meiner Arbeit Bd. I, Fußnote 18, S. 428). Nirgends wird ein „geschlossenes System“ angenommen, nirgends wird — und sei es stillschweigend — angenommen, daß die intrasystemaren Demokratisierungsprozesse alle international und intersystemar bedingten Probleme lösen könnten (so Adam, S. 21). Allerdings aber wird nach meiner Auffassung dazu — vom Zentralbereich einer umfassenden Demokratisierung der Wirtschaft her — ein entscheidender intrasystemarer Beitrag geleistet, wie in einem Sonderkapitel meiner Arbeit (Bd. I, Kap. 6. 2.) im Detail gezeigt worden ist: „Auch wenn eine der zentralen ... Thesen dieses Buches die ist, daß eine Demokratisierung der ökonomischen Machtverhältnisse auf allen Ebenen des Produktionsprozesses eine notwendige, nicht aber eine ausreichende Bedingung für die Herstellung einer realen Demokratie ist, so bleibt gleichwohl die Abschaffung ausbeuterischer und autoritärer Verhältnisse am Arbeitsplatz, im Betrieb, im Unternehmen, in den (supranationalen) (I) Konzernen, in den nationalen und supranationalen (I) Gesamt-wirtschaften das wichtigste, gleichzeitig aber komplexeste und konfliktreichste Problem der gesamten Demokratisierungstrategie“ (a. a. O., S. 383).

2. Nirgends wird von mir als „gegeben“ angenommen, daß gleichzeitig Demokratisierungsprozesse in allen Subsystemen „ablaufen" oder ablaufen müssen, daß „gleiche Ergebnisse zu erhoffen sind" (Adam, S. 20, 22). Daher muß auch kein Subsystem, wie Adam als mögliche Konsequenz unterstellt (S. 24), zum Zwecke synchroner Demokratisierung aller Subsysteme „zur Veränderung gezwungen werden" — ein im Blick auf das angestrebte Ziel: Mit-und Selbstbestimmung — völlig unlogischer Gedanke. Vielmehr wird, auf Grund gewisser Trends, die aktionstheoretische Hypothese aufgestellt: daß, wenn die zunehmende Synchronisierung von Demokratisierungskonflikten und -erfolgen in möglichst vielen Subsystemen erfolgt, eine kumulative emanzipatorische Wirkung im Sinne eines generellen Abbaus undemokratischer Herrschaft von Menschen über Menschen erzielt werden kann, während bei isolierten, „unifrontalen“ Strategien nicht oder nur sehr mühsam eine freiheitliche Struktur der Gesellschaft und ihrer Subsysteme verwirklicht werden kann. Typisch auch hier die akademisch-entfremdende Denkstruktur, die Adam meinem historisch-dialektischen Praxiskonzept überzustülpen sucht: Während ich das in vorhandenen basisdemokratischen Prozessen sich entwikkelnde Potential für eine realistische evolutionäre Gesamtstrategie der Systemveränderung theoretisch bewußt zu machen versuche, wird bei Adam daraus ein voluntaristisches, akademisch-abgehobenes Denk-und Sandkasten-spiel: „Vilmar entwirft eine Methode, mit der in den von ihm bezeichneten Subsystemen Anstöße zur Demokratisierung .. . gleichzeitig in Angriff genommen werden sollen" (S. 23).

Nein, ich entwerfe keine „Methode" — ich suche die an und von der Basis selbst „entworfenen" Methoden theoretisch zu koordinieren und zu effektivieren — ein grundlegender Unterschied des sozialtheoretischen Selbstverständnisses I 3. Adam hält meiner Theorie eine ganze Reihe sehr abstrakt formulierter kybernetischsystemtheoretischer Modellvorstellungen entgegen, die teils — ohne kybernetischen Sprachgebrauch — in meiner Theorie durchaus verarbeitet sind, teils aber ihrerseits Konstrukte (primär Luhmanscher Provenienz) sind, die zwar inzwischen vielerorts nachgebetet werden, deren Realitätsgehalt aber bislang noch nirgends durch empirische Untersuchungen erwiesen ist und aufgrund vielfältiger sozialwissenschaftlicher Analysen prinzipiell in Frage gestellt werden muß. — Es kann keine Rede davon sein, daß ich, wie Adam unterstellt, Macht an die Stelle von Informationsverarbeitung setze — vielmehr sind Informationsvorarbeitungsprozesse als Teil des Arbeitsprozesses, der meinen entscheidungstheoretischen Differenzierungen zugrunde liegt (Seite 11 meines Beitrages) selbstverständlich integriert — ich weigere mich allerdings, die realen gesellschaftlichen Herrschafts-und Produktionsverhältnisse auf in. formationeile Interaktionen und (Dis) -Funktionen zu reduzieren. Vollkommen abwegig ist ferner, meinem Demokratisierungskonzept das " simple stimulus-response-Schema zu unterstellen (S. 22) und ihm das kybernetische Rückkopplungssystem — höhere Differenziertheit demonstrierend! — entgegenzuhalten. Wenn Adam meine Ausführungen über die beiden wichtigsten Strategieformen (kollektive Gegenmachtbildung und institutionalisierte Mitbestimmung (S. 13) informationstheoretisch verarbeitet hätte, statt sich im systemtheoretischen Uberlegenheitsgestus zu gefallen, so hätte er hier nicht nur genau seine beiden Einwirkungsformen wieder entdecken, sondern auch den entscheidungstheoretischen Vorzug notieren können, den ich institutionalisierten Mitentscheidungskonzepten gebe, die in vielen Fällen nichts anderes als herrschafts-bzw.

interessensoziologisch formulierte Rückkopplungssysteme in Entscheidungsprozessen sind!

Schlechterdings nicht akzeptabel ist die von Luhmann übernommene, verblüffend apodiktisch hingesetzte These von der relativen Isoliertheit und Autonomie der Subsysteme (Adam, S. 23), die die sich verflechtenden und verstärkenden Demokratisierungsprozesse im Gesamtsystem in Frage stellten. Zahllose Untersuchungen, z. B. zur Familiensoziologie, zur primären und sekundären Sozialisation, zur Bildungsökonomie, zur politischen Ökonomie wie auch zur Sozialpsychologie zeigen umgekehrt eine enge — heute freilich oft negativ-herrschaftsstabilisierende — Interdependenz, das genaue Gegenteil also von Autonomie: Tiefe Rückwirkungen von Subsystemverhältnissen und -Verhaltensprägungen auf andere, wobei die Einwirkung kapitalistischer Produktions-, Arbeits-und Herrschaftsverhältnisse immer noch überwiegt (aber nicht, wie die marxistische Orthodoxie will, alleinherrschend ist und bleiben muß).

Gerade wegen der Nicht-Autonomie, der Interdependenz vieler zentraler Subsystemgruppen, scheint ein entsprechend sich verflechtender, ein sich wechselseitig verstärkender, multi-frontaler Emanzipationsprozeß aussichtsreicher zu sein als die bisherigen, viel zu isolierten gesellschaftlichen Transformationskonzepte.

Weiter zu verfolgende Hinweise Adams

Ich breche hier ab mit dem Hinweis, daß ich im Vorstehenden nur vielleicht ein Viertel der Fehlinterpretationen meines Konzepts durch Adam wenigstens ansatzweise richtigstellen konnte. Zu unterstreichen bleiben jedoch einige weiter zu verfolgende bedenkenswerte Gedankengänge Adams, wenn man die polemisch-übertreibenden Spekulationen von ihnen abscheidet. a) So ist in der Tat noch genauer, als ich es bisher leisten konnte, zu untersuchen, welches in verschiedenen Subsystemen die „vitalen Interessen" der unmittelbar Betroffenen sind, die deren Vetorecht oder zumindest deren paritätischer Mitbestimmung zu unterwerfen sind. Abwegig ist allerdings das von Adam durchgespielte Beispiel der Schulcurricula (S. 29 f.); hätte Adam sich, wie es bei dem hohen Anspruch seiner Kritik und seinem sonstigen Belegfleiß erwartet werden müßte, anhand meiner ausführlichen Darstellung und Dokumentation der Demokratisierung der Schule (vgl. Band I, S. 364 ff. und Band II, S. 81— 128) informiert statt freiweg zu spekulieren, so hätte er sich seine Horrorvision sparen können. Gleichwohl bleibt das sehr schwierige Problem näher zu untersuchen, was jeweils „vitale Interessen unmittelbar Betroffener“ sind bzw. ob und wie Kompromißfindung zwischen den Bedürfnissen von unmittelbar Betroffenen, Gruppengesamtheiten und einer Gesellschaft insgesamt durch geeignete Partizipationsformen in den Entscheidungsprozessen am besten institutionalisiert werden kann. In meinen Ausführungen über plurale Interessen-strukturen (S. 11 ff.) habe ich diese Problematik ausführlich dargestellt, ohne eine optimale Lösung vorgegeben zu haben. b) Weiter zu untersuchen bleibt, ob nicht in der Tat die grundlegenden Menschenrechts-nonnen, die Sozialstaatsforderung sowie die expressis verbis (Artikel 15 GG) Vergesellschaftung ermöglichende Sozialbindungsverpflichtung des Eigentums in unserer Verfassung Prinzipien setzen, deren gesellschaftspolitische Verwirklichung notwendigerweise zum System eines liberalen, demokratischen Sozialismus führen muß. Adams unwillige Bemerkung, man solle nicht „jeder genuinpolitischer Veränderung das Mäntelchen (!) der Verfassungskonformität" umhängen (S. 25), verweist auf die Furcht Konservativer, unsere Verfassung könne am Ende tatsächlich eher als normativer Mantel einer freiheitlich-sozialistischen denn als Grundlage einer kapitalistischen und verbandsoligarchischen Gesellschaftsordnung geeignet sein. Denn in der Tat geht es ja nicht um irgendwelche Veränderungen, sondern es geht um die Frage der Verfassungsmäßigkeit einer Veränderung des politischen Gesamtsystems. Ich habe in meinen Ausführungen zwar nicht — wie von Adam unterstellt — die These der ausschließlichen Verfassungskonformität einer sozialistischen Ordnung aufgestellt, aber ich konzediere ohne weiteres, daß meine Ausführungen in dieser Richtung interpretiert werden können. Ich möchte die von Adam formulierte Herausforderung daher als Problem uminterpretieren: Es müßte einmal gründlich untersucht werden, ob nicht in der Tat unsere Verfassung ein anderes als das gegenwärtige sozio-ökonomische Gesellschaftssystem erheischt. c) Schließlich ein Wort zu dem rätedemokratischen Konzept, das Adam unterstellt (S. 26 ff.): Sehr bewußt habe ich nirgendwo die Forderung nach einem imperativen Mandat erhoben, vielmehr von einem bedingt imperativen Mandat gesprochen, was bedeutet, daß die Repräsentanten in stärkerem Maße als bisher auf die Interessenartikulation derer, die sie gewählt haben, sich rückbeziehen müssen und zur Rechenschaft sich verpflichtet fühlen sollten. Die von Adam gezogenen Schlußfolgerungen sind also, so wie sie da stehen, in keiner Weise aus meiner Konzeption abzuleiten. Richtig dagegen ist, daß die im präzisen Sinne machbaren, realisierbaren Möglichkeiten einer stärkeren basisdemokratischen Kontrolle und Flexibilität der demokratischen Repräsentationsformen in unseren gesellschaftlichen Subsystemen weiter untersucht werden müssen.

Immerhin glaube ich, durch die im folgenden nochmals zitierten vier Punkte in meinem Aufsatz einige konkrete Hinweise gegeben zu haben, an denen anzuknüpfen wäre: „ 1. Optimale Dezentralisierung von Entscheidungen, d. h. optimale Autonomie der kleineren Subsysteme (oder Teil-Systeme) gegenüber den größeren. 2. Permanente und optimale Eingriffsmöglichkeiten der Betroffenen in Entscheidungsprozesse ihrer Funktionsträger; plebiszitäre Entscheidungsbildung. Verstärkte Kontrollierung und Rechenschaftspflicht der demokratischen Funktionsträger — bedingt imperatives Mandat — evtl. Abwahl. 4. Kollegiale Führung: Rotation der Ämter." 3)

Systemtheorie contra Systemtransformation Durch die Aneinanderreihung von — im wesentlichen m. E. nicht haltbaren — Behauptungen, Annahmen, Unterstellungen und Spekulationen Adams zieht sich wie ein roter Faden das Interessse an einer Abwehr realdemokratischer Systemveränderung auf dem Boden des Grundgesetzes. Diese . Reaktion'erscheint zunächst als formale Widerlegungsstrategie vermittelt. Zu diesem Zweck wird meine Theorie, die nichts anderes ist als der Versuch einer prospektiven Bewußtmachung des realen Demokratisierungsprozesses, um-stilisiert in ein willkürliches akademisches Denkspiel, wird zum erkenntnis-und modelltheoretischen, vom Raster der Systemtheorie erfaßbaren Pappkameraden, der daraufhin re-giegemäß leicht abzuschießen ist. Aber die . Reaktion', der Gestus der Abwehr, zeigt sich auch in unvermittelter Weise: Indem die Gefahr der Leistungsminderung beschworen wird (S. 19; 23); indem der (mögliche) Demokratisierungstrend in eine mögliche bedrohliche Zwangsveranstaltung uminterpretiert wird (S. 24); indem die schlimmen Folgen (von mir gar nicht vertretener) rätedemokratischer Tendenzen ausgemalt werden (S. 26 f.); indem summa summarum — mitten im gegenwärtigen restaurativen Anti-Demokratisierungstrend gewarnt wird, allseitige Demokratisierung könne „auch außer Kontrolle geraten und das System zugrunde richten“ (S. 23 f).

Dies nun ist ein klassisch systemtheoretischer Gedanke: „Das System" steht über allem — und vor allem: Kybernetische Systemtheorie hat die Bedingungen anzugeben, unter denen seine inneren Regelmechanismen funktionieren oder „außer Kontrolle" geraten. „Das System“ ist wie eine Dampfmaschine zu verstehen; es muß zwar unter Dampf stehen, auch etwas demokratisches Ol zur besseren Gleitfähigkeit der Systemteile ist ganz gut, aber bitte, alles mit Maßen, damit „das System" nicht etwa aus den Fugen gerät.

Hier sind wir beim Kern der Auseinandersetzung — bei der • Auseinandersetzung Demokratietheorie versus Systemtheorie. Es scheint mir unabdingbar notwendig, aus der Sicht einer konsequenten, nicht-restriktiven Demokratietheorie die verheerenden, den Status quo konservierenden Tendenzen der Systemtheorie zur Sprache zu bringen, sofern sie als umfassende Gesellschaftslehre Geltung beansprucht. Es dürfte daher sinnvoll sein, zu diesem Zweck abschließend generell und nicht länger in der Form einer Auseinandersetzung mit Adam zu argumentieren.

Eine konsequente, also nicht-restriktive Demokratietheorie umfaßt sowohl Demokratisierung wie evolutionäre Systemveränderung. Einer solchen prinzipiell auf geschichtliche Prozesse gesellschaftlicher Transformation bezogenen Theorie der Demokratisierung müssen daher jene Hypothesenkonfigurationen wissenschaftstheoretisch völlig fremd erscheinen, die vom Axiom des . Systems ais einer — per definitionem — durch Selbsterhaltungswillen (eventuell: plus Zielstrebigkeit) konstituierten sozialen Organisation ausgehen und die Existenz wie auch die Funktionalität oder Disfunktionalität der Systemstrukturen und -funktionen ihre Interdependenz, Veränderung etc. von daher beschreiben und beurteilen. Systemtheorien leisten zwar für die Theorie gesellschaftlicher Prozesse auch ihre Dienste, insofern sie systemare Organisationsgerüste und . Nerven'samt ihren Steuerungs-, Produktions-, Informations-, Kontrollund Konfliktmechanismen herauspräparieren, deren Kenntnis nützlich und — wie Naschold (Organisation und Demokratie, Stuttgart 1971) in concreto gezeigt hat — sogar für die Einführung von Demokratisierungsmodellen wichtig sein kann. Aber als Modelle umfassender Gesellschaftstheorie sind Systemtheorien defizient und ideologiehaltig:

a) defizient, ja irreführend, insofern sie ein soziales System nur in seinem Für-sich-Sein begreifen, und sogar nur im Für-sich-Sein der im System herrschenden, das System als ihr Selbsterhaltungssystem gestaltenden Macht-eliten (plus Anhängerschaft). Das Systembewußtsein und -Verhältnis der es , nur‘ Tragenden und unter ihm Leidenden bleibt außer Betracht. Vor allem aber erfaßt die Systemtheorie eben nicht kategorial das An-sich-Sein aller real existierenden Systeme: ihre immanente Widersprüchlichkeit (Destruktivität), ihre Abhängigkeit von vorübergehenden Umwelt-bedingungen, kurz, ihren wesentlich transitorischen Charakter als Herrschaftssysteme in Konkurrenz mit anderen Herrschaftssystemen. b) Systemtheorien sind tendenziell angelegt auf konservative Ideologiebildung, da in dem isolierten (verdinglichten), von seinen Existenz-bedingungen abstrahierten Systembegriff soziale Organisationen zu „Dingen an sich“ werden: das Für-sich, genauer: für die Interessen der Herrschenden und Nutznießer des Systems Seiende wird zum An-Sich. Solche Unterschiebung aber ist genau die der Volksgemeinschaftsideologie: was den Herrschenden nützt, wird als gemeinnützig stilisiert. Systemtheorie stilisiert Klassengesellschaften zu klassenlosen, Herrschaftsverbände zu herrschaftsfreien. Wo doch ihr geschichtlichtransitorischer Charakter das Typische an allen Systemen war und ist, pointiert System-theorie ausgerechnet das überleben — bis hin zur höchst abstrakten Luhmannschen Interpretation des Systems als angeblich lebensnotwendiger . Reduktion'einer schlechten Unendlichkeit von möglichen sozialen (Welt-) Ereignissen, d. h. von . Komplexität'. Die Möglichkeit des Systemzusammenbruchs (der . Entropie) wird zwar durchaus gesehen, bezeichnenderweise aber fast nur diese katastrophale Deformation und nicht eine kreative Transformation! Die wesentliche systemtheoretische Arbeit wird daher darauf verwandt, die Uberlebensbedingungen des . Systems'zu definieren. Freilich spielen dabei . Offenheit und .Wandel'eine große Rolle — also doch Reform, vielleicht auch Demokratisierung, statt der immer neuen Herrschaftsgefüge? Mitnichten — . Wandel'erscheint ausschließlich als Anpassung, als Modernisierung und technokratische Reform.

Dies wird allerdings von der informationellen (kybernetischen) Systemtheorie Karl Deutschs (Politische Kybernetik, Freiburg 1969) bestritten. In ihr wird das (Regierungs-) System definiert in einem im Grunde sehr altmodischen Sinne (nämlich dem des philosophischen Idealismus: Der Geist bestimmt die Materie): durch Prozesse der Informationsverarbeitung (bes. a. a. O., S. 233 ff. und 255 ff.). Die Uberlebensfähigkeit eines derart definierten Systems bemißt sich nach Deutsch wesentlich durch dessen . Lernkapazität'. Zerfall der Lernfähigkeit (Lernpathologie) wird geradezu zum Indikator von sich vermindernder Lebensfähigkeit, und demokratische Regierungsprozesse sind eben solche, die gegenüber lernunwilligen, bloßen . Willens'-und . Macht'-Faktoren im System den sozialen Lern-und damit Wandlungsprozeß durchsetzen.

Aber auch die Systemtheorie von Deutsch bezieht sich auf vorfindliche . Regierungssysteme'. Diese sind — rebus sic stantibus — hochgradig durch den Selbstbehauptungswillen herrschender Machteliten bestimmt. Definiert nun Deutsch die Überlebensfähigkeit eines Regierungssystems, vereinfacht gesagt, als Lernfähigkeit, so kann diese sich im wesentlichen nur auf adaptives, niemals jedoch auf emanzipatives Lernen richten. Denn genau dort, wo Lernen sich herrschaftskritisch auswirkte, begänne es statt des überlebens des Systems im Gegenteil die Transformation des . Regierungssystems'voranzutreiben. Kurz gesagt: Jn einem herrschaftlich konstituierten Regierungssystem kann ich nicht gleichzeitig die Systemziele der Selbsterhaltung und Herrschaftskritik realisieren. Ganz anders wäre

die Sachlage zu beurteilen, wenn wir es statt mit Systemtheorie (in denen Demokratie eine kontingente Rolle spielt) explizit mit Demokratietheorie zu tun hätten: das . überleben'der Demokratie erfordert allerdings emanzipative, Herrschaftspositionen und -Ideologien auflösende, systemverändernde Lernprozesse. Insgesamt jedenfalls verwundert, wenn man die Prämissen der Systemtheorie zugrunde-legt, keineswegs das total negative Urteil, das Gisela Zimpel aufgrund eingehender Beschäftigung mit amerikanischen systemtheoretisehen Arbeiten über deren Einschätzung der Demokratisierung, der political participation formuliert: Demokratisierung, basisdemokratische Aktivität, wird, wenn überhaupt, nur so lange akzeptiert, wie ihre . funktionale', d. h. systemstabilisierende Wirkung angenommen werden kann: „Was die Systemtheorie spezifisch für die Begriffe Demokratie und politische Beteiligung bedeutet, sollen folgende Beispiele erläutern: ... Da Politik ... als ein System vorgestellt wird, dessen Erhaltung oberstes Ziel ist, sind alle diejenigen Handlungen als positiv-funktional zu bestimmen, die eben das Systemgleichgewicht garantieren. Dazu gehört unter Umständen auch ein gewisses Maß an politischer Apathie ... Da der einzelne unter den modernen Bedingungen als a priori unqualifiziert erscheint, ist es, wie Lester W. Milbrath meint, unklug, wenn nicht gar gefährlich, ihm nach klassischem Vorbild ausgedehnte Teilnahmemöglichkeiten zu eröffnen. Es geht also nicht mehr darum, daß die Bürger politisch aktiv sind, um ihre natürlichen Freiheitsrechte zu bewahren oder sittliche Vervollkommnung zu erreichen, sondern lediglich darum, wie viele Bürger teilnehmen sollen, um das soziale Gleichgewicht zu erhalten. Zu viel politische Apathie, so meint man, isoliert die Individuen, sie staut antisoziale Aggressionen (Robert E. Lane) oder birgt in sich die Gefahr einer totalitären Mobilisierung (David Riesman, Nathan Glazer, William Kornhauser). Umgekehrt hat zu viel politische Aktivität politische Unruhe zur Folge, die Staatsbürger drohen aus mangelndem Sachverstand die Rationalität politischer Entscheidungen zu gefährden ... Und — so schreibt Eugene Burdick — es gibt keinen Grund, warum eine Theorie des Konsensus nicht auf der Voraussetzung von Passivität und geringer Informiertheit seitens der Wähler beruhen kann.“ (Zimpel, Der beschäftigte Mensch, Beiträge zur sozialen und politischen Partizipation, München 1970, S. 30 ff.)

Einen besonderen Fall konstituiert demokratietheoretisch die Systemtheorie Luhmanns — deren Faszination mir eine typisch deutsche zu sein scheint. Wiewohl sie mit schon penetrant amerikanisierter Untermauerung, fast als Theorieimport, auftritt, erinnert sie in der schillernden Unbestimmtheit ihrer Konstruktionen an die Philosophie Heideggers (mit der sie übrigens auch — in glücklichen Fällen konkreter Problemdarstellung — die Begabung zu erhellend-verfremdender Phänomenologie teilt). Was ihren Beitrag zur Demokratisierungstheorie betrifft, so ist das Urteil von Hondrich (Demokratisierung und Leistungsgesellschaft, Stuttgart 1972), so sehr ihm zuzustimmen ist, noch sehr milde: „Was der führende deutsche Theoretiker sozialer Systeme dem Ratsuchenden mitzuteilen hat, ist jedoch weniger erhellend als herausfordernd: die Provokation einer überstrapazierten System-theorie. Zwar wehrt sich Niklas Luhmann mit Recht dagegen, daß das Theoretisieren mit sozialen Systemen an sich schon als ideologisch abqualifiziert wird. Nur trägt er leider selbst dazu bei, Systemtheorie, die als formales Konstrukt ein nützliches Denkinstrument ist, in ideologischen Verruf zu bringen. Dies nicht durch den hohen Abstraktionsgrad und die Neuartigkeit der Begriffe, sondern durch den Gebrauch, den er von ihnen macht: Ein formales Interpretationsschema bauscht er zu einer ganzen inhaltlichen Weltdeutung auf ... Begriffe, die ihm nicht passen, wie der Herrschaftsbegriff, diskutiert er ersatzlos und ohne theoretische Argumente aus dem Weg... (während er ändere , alte'Begriffe wie Macht, Liebe, Geld etc. unbesehen übernimmt); konkrete soziale Probleme verschwinden im Abstraktionsnebel neo-banaler Formulierungen — so etwa heißt Demokratie Erhaltung der Komplexität trotz laufender Entscheidungsarbeit, Erhaltung eines möglichst weiten Selektionsbereichs für immer wieder neue und andere Entscheidungen 1 ... Der Leser mag entscheiden, ob er, wie Luhmann verheißt, daraus Problem-Einsichten gewinnt, die Interpretation von Demokratisierung durch das alte Konzept der Herrschaft hinfällig macht“ (a. a. O., S. 17).

In der Tat handelt es sich bei Luhmann (wie bei Heidegger) nicht einfach um . Abstraktionsnebel', die Banalitäten zugleich verhüllen und hochstilisieren. Es handelt sich, wie in der existentialen Ontologie, um eine wert-wie geschichtsblinde (sich jenseits . alteuropäischer Metaphysik 1 dünkende) Entschlossenheit zu Beliebigem, um dezisionistischen Nihilismus im strengen philosophischen Sinn: Die nirgends empirisch oder theoretisch nachgewiesenen, sondern axiomatischen Bestimmungen des . Luhmannschen 1 Sozialsystems: Komplexität und Kontingenz, konstruieren dieses als vollkommen zufällig, wie ein Kaleidoskop durch eine beliebige (nicht notwendige) Manipulation der Entscheidungen strukturierbar und , selektierbar 1. Dies ist das . Neuartige 1, . Moderne'von Sozialsystemen: „Wir praktizieren kontingente innerhalb einer Politik"

„radikale(n) Erweiterung des Horizonts der Möglichkeiten" (Politische Planung, Opladen 1971, S. 38).

Bei solchem Insistieren auf die weiten „Horizonte des Möglichen", Kontingenz dessen, was ist, und „Selektionsspielraum , könnte es in diesem Text wie auch an anderer Stelle (z. B. S. 44) so scheinen, als sei Luhmanns Arbeit mit seinem Sprachgestus totaler Distanziertheit und Entfremdung jedenfalls nicht ohne weiteres den herrschaftsstabilisierenden Tendenzen der amerikanischen systemtheoretischen Tradition zuzurechnen. Seine Interpretation demokratischer und juristischer Verfahren belehrt einen jedoch eines Schlimmeren: Hier schlägt der normative und geschichtliche (totalitätstheoretische) Nihilismus in pure Herrschaftssicherung um: die — demokratietheoretisch gerade fragwürdige — Legitimationswirkung rituell-traditionaler Verfahrensformen obrigkeitlichen und formal-demokratischen Handelns werden ausdrücklich als notwendige Abschirmung und Unterstützung von Herrschaft gerechtfertigt. Der Sinn von Demokratisierung wird dabei auf den Kopf gestellt: „Die Demokratisierung der Politik als eines Systems der Sicherstellung politischer Unterstützung für legitime Macht auf der einen Seite, die voll ausgebaute Gerichtsbarkeit in öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten auf der anderen Seite, sind institutioneile Errungenschaften, die durch ihren Verfahrensstil zwar in ihrem Potential für Komplexität begrenzt sind, aber eine Legitimität der staatlichen Entscheidungsfähigkeit gewährleisten können, nämlich durch Verbreitung eines symbolisch vermittelten Konsens für das politische System und seine jeweilige Regierung auf der einen Seite und durch expressive Isolierung von Protesten auf der anderen“ (Legitimation durch Verfahren, Neuwied 1969, S. 216). Habermas resümiert zutreffend die fällige Kritik des Luhmannschen systemtheoretischen Ansatzes: „Hinter dem Versuch, Reduktion von Welt-komplexität als obersten Bezugspunkt des sozialwissenschaftlichen Funktionalismus zu rechtfertigen, verbirgt sich die uneingestandene Verpflichtung der Theorie auf herrschaftskonforme Fragestellungen, auf die Apologie des Bestehenden um seiner Bestands-erhaltung willen. Luhmann erneuert auf subtilere Weise den Irrationalismus der Lebens-philosophie, indem er die kritiklose Beugung der Gesellschaftstheorie unter die Zwänge der Reproduktion der Gesellschaft selber bereits im methodologischen Selbstverständnis der Theorie verankert“ (Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Frankfurt 1971, S. 170).

Fussnoten

Fußnoten

  1. Nichts sollte uns weniger imponieren als die gegenwärtig modisch gewordene, überstilisierte akademische Hochsprache — ein Jargon, der durch Unverständlichkeit zu bluffen sucht, oft aber bei genauerem Hinblick und hartnäckiger Satzanalyse als Ansammlung von vieldeutigen, also wissenschaftlich aussagearmen und mystifizierenden Abstrakta oder gar als höheres Kauderwelsch sich entpuppt. Gerade auch bei Systemtheoretikern, bei Luhmann zumal, findet sich dieser nur scheinbar präzise Jargon, und Adam ist in vielem Luhmanns gelehriger Schüler. Ich lasse hier eine Reihe von Sätzen folgen, die zeigen, daß Präzision von Adam vielfach mehr behauptet als verwirklicht wird.

  2. Vgl. Giselher Schmidt, Zur Problematik von „Demokratisierung" und „Systemveränderung', in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 32/74, S. 3 ff.; ferner Giselher Schmidt (unter dem Pseudonym „Georg Scheid"): „Eine Prise Lenin", in: Rheinischer Merkur vom 5. 7. 1974 und „Das Grundgesetz in Frage stellen?“, in: Die Welt vom 31. 10. 1974.

  3. Vgl. Fritz Vilmar, Systemveränderung auf dem Boden des Grundgesetzes. Gesellschaftsreform als Prozeß umfassender Demokratisierung, a. a. O., S. 9.

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