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Ziele des politischen Unterrichts -noch konsensfähig? Drei Optionen als Vorschlag für einen Minimalkonsens im politischen Unterricht | APuZ 15/1975 | bpb.de

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APuZ 15/1975 Ziele des politischen Unterrichts -noch konsensfähig? Drei Optionen als Vorschlag für einen Minimalkonsens im politischen Unterricht „Frieden in Freiheit": eine zentrale Kategorie politischer Pädagogik

Ziele des politischen Unterrichts -noch konsensfähig? Drei Optionen als Vorschlag für einen Minimalkonsens im politischen Unterricht

Wolfgang Hilligen

/ 43 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Für eine Antwort auf die didaktische Schlüsselfrage: Welche Ergebnisse und Erkenntnisse der Sozialwissenschaften sind von so allgemeiner Bedeutung für das Leben, daß sie jeder (kennen-) lernen muß?, wird hier der Begriff „Leben“ in die beiden — zu unterscheidenden, aber nicht zu trennenden — Dimensionen „Überleben“ und „gutes Leben“ aufgefaltet. „Gutes Leben" wird bestimmt durch eine (politische, aber auch erkenntnistheoretische) Normentscheidung über das, was sein soll. Diese Entscheidung geht auch dann in die Auswahl von Inhalten ein, wenn Lehrende subjektiv überparteilich sein wollen (oder sollen). Interessenwidersprüche und zumal die politische Polarisierung scheinen konsensfähige Antworten auszuschließen — ohne die andererseits weder Uberlebensaufgaben gelöst noch Verfassungen oder Richtlinien zustande kommen könnten. Mit den drei Optionen: für Sicherung der personalen Grundrechte, für die Überwindung struktureller Ungleichheiten, für die Möglichkeit, Alternativen zu vertreten, wird eine didaktische Antwort versucht, die den Dissens nicht ausschließt, sondern thematisiert. Für die Begründung der Optionen werden historische, politische/politikwissensäiaftliche, didaktische und psychologische Erkenntnisse und Argumente beigebracht. Bei der ersten Option geht es vor allem um die historische Genese und um die Schwierigkeiten der Einhaltung im Ernstfall; bei der zweiten Option um den Nachweis dafür, daß die Benachteiligung einer sozialen Gruppe zugleich ein Strukturfehler des sozialen Ganzen ist. Bei der ausführlicheren Begründung der Option „Alternative“ wird der Zusammenhang mit Konflikttheorien (Dahrendorf, Krysmanski) und kontroversen (aber einander nicht ausschließenden) Theorien über Konfliktursachen (Habermas, Luhmann) hergestellt. Antinomien der Institutionalisierung und der emanzipatorischen Prozesse werden thematisiert: die Entscheidung für adäquate Konfliktlösungen wird begründet, aber nicht absolutgesetzt. Zum Schluß werden die Optionen gegenüber dem (früher auch vom Vf. benutzten) Begriff „grundlegende Einsichten“ abgegrenzt. Möglichkeiten und Schwierigkeiten einer wissenschaftstheoretischen Begründung werden unter Hinweis auf die Kritische Theorie skizziert, mit deren Methoden Optionen nicht „bewiesen", aber als „erkenntnisleitende Interessen“ einer wissenschaftlichen Reflexion zugänglich gemacht werden können.

I. Zum Stellenwert der politischen Normentscheidung in der Didaktik und zur Problematik von Parteinahme und Konsens

1. Zum Stellenwert der Normentscheidung In der didaktischen Konzeption des Verfassers Die didaktische Konzeption, deren Optionen 1) — politische Normentscheidungen — erläutert und begründet werden sollen, kann kurz durch folgende Merkmale skizziert werden: — durch ein didaktisches (heuristischesI) Instrumentarium aus Schlüsselbegriffen und Schlüsselfragen, mit dessen Hilfe Lernziele und Leminhalte offengelegt, begründet, ausgewählt und kritisierbar gemacht werden können; — durch den existentiellen Ansatz bei der subjektiven und objektiven Betroffenheit von typischen Chancen und Gefahren unserer historischen Situation, wie sie sich aus sozialwissenschaftlichen Analysen erschließen lassen; — durch die Thematisierung (nicht nur Offenlegung!) der politischen Grundentschei(hing mit Hilfe von drei Optionen für Men-schenwürde, für die Überwindung sozialer Un-gleichheiten und für Alternativen, — durch den Versuch, diese Entscheidung nicht nur historisch, politisch und didaktisch, sondern auch erkenntnistheoretisch zu be-; gründen;

Die hier skizzierten Überlegungen zu einer Norm-entscheidung für die politische Didaktik sind — nur wenig verändert — einem Kapitel aus dem Didaks en Prolog für den Fernstudienlehrgang Sozial-Kunde entnommen, der beim Deutschen Institut für ernstudien an der Universität Tübingen in diesem ommer beginnen wird; eine Buchfassung des Pro°gs wird demnächst beim Leske Verlag erscheinen. — durch die These von einer grundsätzlichen strukturellen Übereinstimmung von Wissenschaftsdidaktik und Schulddidaktik;

— durch die Auffassung, daß didaktische Theorie spekulativ bleibt, solange sie ihre Theoreme und Erklärungshypothesen nicht bis in einzelne Schritte des Unterrichts hinein verfolgt;

— durch die Berücksichtigung der kognitiven Lerntheorie in Verbindung mit der Erkenntnistheorie, insbesondere was das Verhältnis von Besonderem und Allgemeinem anbelangt.

Ausgangspunkt dieser Didaktik ist die Frage: Welche Ergebnisse und Erkenntnisse der (Sozial-) Wissenschaften sind von so allgemeiner . Bedeutung für das Leben" daß sie jeder (kennen-jlernen muß, wenn er befähigt werden soll, sein Dasein in einer Zeit weltweiten Wandels zu bewältigen? Oder — in der Terminologie Robinsohns:

Welche Curriculumelemente qualifizieren Studierende und Lernende, Lebenssituationen zu bewältigen?

Das allgemeinste (existentielle) Wichtigkeits-kriterium wird in der hier vertretenen didaktischen Konzeption aufgefaltet in die beiden Schlüsselbegriffe „überleben" und „gutes Leben*. Für die Auswahl und Gewichtung von Informationen heißt das: Inhalte sind lehrnotwendig, sofern sie für das Leben in diesen beiden Dimensionen bedeutsam sind.

Diese beiden Kriterien sind natürlich nicht zufällig oder aus einer subjektiven Entscheidung des Verfassers entstanden. Vielmehr bildet sich in ihnen — wie im folgenden noch ausgeführt wird — der Stand der Diskussion zwischen zwei führenden Richtungen in den Sozialwissenschaften ab: den empirisch-analytischen Theorien (auch der Systemtheorie), die primär nach den Bedingungen des überlebens fragen, und der Kritischen Gesellschaftstheorie, die primär nach einer gerechteren Gesellschaft fragt.

In bezug auf Überleben wird gefragt:

— Von welchen Lebenssituationen, in denen sich Gefahren und Chancen nachweisen lassen, sind nach Aussagen der Sozialwissenschaften (und anderer Wissenschaften vom Menschen) heute — und voraussichtlich morgen — einzelne Menschen, Gruppen, die Menschheit als Ganzes in besonderem Maße betroffen?

Wie sich durch Auffaltung der Begriffe „Gefahren* (Hunger, Unterdrückung, Vernichtung) und „Chancen“ (Bedürfnisbefriedigung, Selbstbestimmung, Mitbestimmung, Frieden) die fast unendliche Zahl denkbarer „Lebenssituationen* auf diejenigen reduzieren läßt, auf die es für überleben und gutes Leben ankommt, wird an anderer Stelle ausführlich erläutert Bei dem Begriff „gutes Leben“ (der seit Aristoteles die philosophische und die politologisehe Reflexion als eine „regulative Idee“ [Kant] begleitet) geht es nicht — wie bei der Frage nach dem „überleben“ — um Informationen darüber, was „ist“ oder „sein wird", sondern um das, was sein soll, „überleben“ und „gutes Leben“ lassen sich zwar unterscheiden, aber nicht trennen: Wertentscheidungen gehen auch dann in Auswahlkriterien ein, wenn ein Lehrender subjektiv überparteilich sein will oder sein soll.

Zur Verdeutlichung dieses Zusammenhanges kann z. B.der Begriff „Lebensqualität'dienen: „Lebensqualität" herrscht weder im denen Käfig noch für den Freien in der Tome des Diogenes. Schnell zum politischen Schlagwort geworden und dennoch als zeitgemäde Formulierung für „gutes Leben" unentbehrlich, provoziert der Begriff Lebensqualität die Frage nach Kriterien und Indikatoren für ein lebenswertes Leben und problematisiert den Widerspruch von gelösten technischen und ungelösten menschlich-gesellschaftlichen Aufgaben. Auch die Begriffe, in die hier „Chancen'und „Gefahren" aufgefaltet werden, sind durch Vorentscheidungen mitbestimmt: Welche Interessen, Normvorstellungen, Wertentschei-düngen den Fragenden leiten, entscheidet mit über Auswahl und Gewichtung von (Lern-) Inhalten.

Aus diesem erkenntnistheoretischen Zusammenhang resultiert der Stellenwert, den die Vorstellungen vom „guten Leben', vom Sein-Sollenden, in der Didaktik einnehmen. In dieser didaktischen Konzeption sind es die drei Optionen: für Sicherung der personalen Grundrechte, für Überwindung sozialer Ungleichheiten und für die Notwendigkeit, Spielraum und Institutionen für politische Alternativen zu erhalten bzw. zu schaffen. 2. Zur Absicht dieses Beitrages Zur Offenlegung und Begründung der Optionen sollen die folgenden Fragestellungen und Elemente skizziert bzw. erörtert werden: — das Problem der Parteilichkeit bzw. Parteinahme im politischen Unterricht;

— Schwierigkeiten, Notwendigkeit und Grenzen eines (Minimal-) Konsens über Nonnentscheidungen und Zielsetzungen;

— historische, politische, psychologische und didaktische Begründungen für die drei Optio nen;

— einige Konsequenzen für eine Konfliktd daktik;

— Hinweise zur Funktion der Optionen; — Unterschiede zwischen den Begriffen , 0p tion“ und „Einsicht";

— Schwierigkeiten und Möglichkeiten eine erkenntnistheoretischen Begründung der tionen in Anlehnung an die Kritische es Schaftstheorie. 3. Zum Problem von Parteilichkeit, Parteinahme und Konsens 1. Parteinahme und Konsens Bis etwa zur Mitte der sechziger Jahre hatte im Nacheinander der dominierenden Konzeptionen ein relativer, unbefragter Konsensus über Ziele des politischen Unterrichts geherrscht: Erziehung „für die Demokratie“, „gegen" die Gefahr des nationalsozialistischen und kommunistischen „Totalitarismus", zur Bejahung des freiheitlichen Rechtsstaates — Formulierungen wie diese finden sich unabhängig von der politischen Zusammensetzung der Landesregierungen in den damaligen Bildungsplänen der Bundesländer und herrschten auch in den meisten Lehrbüchern vor. Es sind u. a. die folgenden, scheinbar unterschiedlichen und doch miteinander verbundenen Erscheinungen und Entwicklungen, die zu einer neuen Grundsatzdiskussion über Ziele des politischen Unterrichts geführt haben:

— die allgemeine politische Entwicklung nach dem „Ende der Nachkriegszeit";

— die neu auflebende Diskussion marxistischer Positionen;

— Untersuchungen über den Stand des politischen Unterrichts;

— die politikwissenschaftliche Auseinandersetzung um den Totalitarismusbegriff, durch die geklärt worden ist, daß er nicht auf Nationalsozialismus und Kommunismus in gleicher Weise angewendet werden kann;

— Differenzen zwischen dem demokratischen Selbstanspruch des Grundgesetzes und der tatsächlichen wie möglichen Teilnahme der Bürger an öffentlichen Angelegenheiten;

— Krisenerscheinungen im Zusammenhang mit der Begrenztheit qualitativen Wachstums und Zweifel an der Tauglichkeit von Gewinn-rationalität als einzigem Kriterium für Entscheidungen über die Produktion;

— Erscheinungen eines neuen Konservatismus 4), verknüpft mit der Flucht in eine „Sicherheit“, die sich an der Aufrechterhaltung des Bestehenden orientiert.

Die neue Grundsatzdiskussion über Ziele des politischen Unterrichts hat zu einer Polarisierung geführt, bis hin zu Erscheinungen einer .semantischen Aporie“, d. h.der Unmöglichkeit, Schlüsselbegriffe wie Demokratie, Emanzipation mit gleichem Inhalt zu gebrauchen: Linksradikale bezeichnen sich selbst als „fortschrittlich“ und alle anderen als „reaktionär“; wirkliche Reaktionäre nennen es z. B. „kommunistisch", wenn ein Autor die Lebensumstände in der DDR sachlich darzustellen versucht usw. Kennzeichnend für die derzeitige Situation scheint mir zu sein, daß es auch zwischen denjenigen Didaktikern Verständigungsschwierigkeiten gibt, die sich über die Notwendigkeit eines Konsensus einig zu sein schienen. So endete kürzlich eine Diskussion zwischen Giesecke und Sutor damit, daß es nicht einmal mehr zu einer begrifflichen Übereinkunft kam. Giesecke meinte, Sutors „Thesen träfen das Problem „nicht", und Sutor replizierte, daß Gieseckes Antwort „seine Position" nicht treffe 2. Zur Definition des Problems und zur Unterscheidung von Parteinahme und ParteilichkeitNicht erst angesichts der derzeitigen Polarisierung der politischen Meinungen, sondern als Folge der Interessengegensätze zwischen den politischen Gruppen (und sogar innerhalb der Parteien) stellt sich für Lehrer (für Lehrplankommissionen, für Lehrbuchautoren) die Frage:

Ist eine Übereinstimmung, ein Konsensus über Zielsetzungen des politischen Unterrichtes überhaupt möglich oder wünschenswert?

Bei Antworten auf diese Frage halte ich es für sinnvoll zu unterscheiden — zwischen einer Parteilichkeit, mit der eine politische Entscheidung absolut gesetzt und für verbindlich erklärt wird, — und einer Parteinahme als der Entscheidung für gewisse Zielsetzungen, die offen bleibt für Infragestellung und Revision und dem Lernenden Gelegenheit gibt zur Uber-Prü-

fung, zum Selbstvollzug, zur Beurteilung der Konsequenzen.

Es geht hier nicht um die beiden Begriffe als solche, sondern darum, daß mit ihrer Hilfe eine grundsätzliche politische Entscheidung verdeutlicht werden kann: „Parteilichkeit" im hier gekennzeichneten Sinne verbietet sich, sofern man grundsätzlich für Koalitions-und Meinungsfreiheit votiert 4. Zu Notwendigkeit, Bedingungen und Möglichkeiten eines Minimalkonsensus Uber politische Grundentscheidungen für den politischen Unterricht 1. Schwierigkeiten für einen Minimalkonsensus Parteipolitische Polarisierung, fundamentale Interessenunterschiede und grundsätzliche Unterschiede der politischen Begründungen scheinen einen Konsensus auszuschließen. So wird nicht selten die Auffassung vertreten, die Curriculumforschung könne in der Bundesrepublik nicht, mit dem Konsensus rechnen, der mit Hilfe der Didaktik dann in ein Curriculum zu übersetzen wäre

Andererseits wird das Problem gesehen: Es müßte möglich sein, einen Konsensus zu formulieren, der den vorgefundenen Dissens nicht ausschließt, sondern thematisiert 2. Argumente für einen Minimalkonsensus Ohne eine, sei es auch noch so minimale, Übereinkunft kämen weder internationale Verhandlungen noch Verfassungen, noch Curricula zustande. Für einen didaktischen Minimalkonsensus sprechen u. a. existentielle, politische und psychologische Argumente: „Unter dem Zwang von Sein oder Nichtsein muß es möglich werden, hier (bei der Schaffung von Wertmaßstäben über Forschung) Übereinstimmungen zu erreichen.“ (Bundespräsident Heinemann in seiner Rede vor der Max-Planck-Gesellschaft, zit. nach DIE ZEIT, 30. 6. 1972). Eine psychologische Begründung gibt G. C. Behrmann: „Eine gewisse Flexibilität der Erwartungen vorausgesetzt, hängen komplexere soziale Systeme mit mannigfachen Wandlungsprozessen und zur Entscheidung gestellten Problemen davon ab, daß der Handelnde einen begrenzten Spielraum des Verhaltens, von gemeinsamen Normen und Werten bei anderen Menschen fraglos einstellen kann."

Ähnlich sprechen sich maßgebende Vertreter der politischen Didaktik für einen Minimalkonsensus aus: „Wer . . . abstreitet, daß jede Gesellschaft eines Minimums gemeinsamer Grundüberzeugungen bedarf, . . . liefert auch sich selbst der Gewalttätigkeit der jeweils Stärkeren aus.“

Nicht immer wird dabei verdeutlicht, daß es sich nur beim ersten Schritt darum handelt, in didaktischer Absicht festzustellen, worin trotz aller Gegensätze schon eine Übereinstimmung besteht; weiterführend ist die Frage, über welche grundsätzlichen Auffassungen und Ziele sich — bei allen Unterschieden in den Verfahrensweisen und Mitteln — eine Übereinstimmung finden bzw. herstellen ließe; es ist also zu fragen: Können die ins Auge gefaßten Zielsetzungen . konsensfähig' werden? 3. Zu Möglichkeiten und Bedingungen für einen Minimalkonsensus Die Gefahr einer „formierenden“ Wirkung des Unterrichtes besteht sowohl dort, wo er „parteilich“ ist wie dort, wo in apolitischer, harmonisierender Unparteilichkeit ein unbefragter Generalkonsensus herrscht. Ein derartiger Generalkonsensus wird von einigen Didaktikern vertreten, z. B. von Christine Möller für „demokratisch geführte Staaten". Daher ist es notwendig, zwischen „Generalkonsensus“ und „Minimalkonsensus“ (bzw. Grundkonsensus, wie der Vf. schon 1967 sagte zu unterscheiden.

Das kann u. a. mit Hilfe folgender Schlüssel-fragen geschehen:

— Wieviel Übereinstimmung und Übereinkunft werden durch die jeweilige historische Situation notwendig?

— Wo werden durch die Übereinkunft fundamentale Gegensätze überdeckt?

— Wo beginnt sich der Konsensus hinderlich für eine Vertretung von Interessen duszuwir ken? In der alten angelsächsischen Formel geht es um die Definition des „agree" und des „agree to disagree“.

Die meisten Richtlinien berufen sich (auch wenn sie nicht von einem Minimalkonsensus sprechen) auf das Grundgesetz. Nur selten wird dabei beachtet, daß der Grundgesetz-Kompromiß keine eindeutige Entscheidung darüber zuläßt, ob das Grundgesetz primär formaldemokratisch zu verstehen ist, oder ob darüber hinaus als Auftrag, den de-mokratischen und sozialen Staat zu verwirklichen. Im ersteren Falle beschränkte sich der Konsensus auf die Regeln der Auseinandersetzung, im zweiten Falle schließt er eine Richtung des politischen Prozesses ein 13). Im folgenden soll die zweite Möglichkeit näher begründet werden. Dabei wird davon ausgegangen, daß politische Pädagogik — im Unterschied zur Politik selbst — ohne die Perspektive einer freieren, gerechteren, sozialeren Gesellschaft junge Menschen in einer Zeit universalen Wandels auf eine gewaltsame Veränderung verweisen oder in die Resignation treiben müßte.

Ein formaler und materialer Minimalkonsensus ist kein politisches Programm, sondern eine didaktische Plattform. Die Parteinahme für Demokratie, soziale Gerechtigkeit und Überwindung struktureller Ungleichheit ist gewissermaßen die politische Ausprägung einer Wertentscheidung für humanitas, die politische Ausprägung der Parteinahme „für das Kind", wie sie — freilich ohne Bedenken politischer Voraussetzungen! — Ausgangspunkt der traditionellen Pädagogik war.

Ein Minimalkonsensus muß überdies die folgenden Bedingungen erfüllen: — Er muß offengelegt werden (das gilt sogar für Unterrichtsmaterialien);

— seine Inhalte müssen politisch, politikwissenschaftlich, und, soweit möglich, didaktisch-psychologisch begründet werden; dazu gehört auch die Frage nach einer wissenschaftstheoretischen Begründbarkeit;

— er muß der Befragung und Widerlegung ausgesetzt werden; — er muß, soweit möglich, den Bedingungen (Widerspruchsfreiheit, Berücksichtigung erwiesener Fakten, Bezugnahme auf andere mheorien) Rechnung tragen, die ganz allge-mein für die Theoriebildung gelten. 5. Drei Optionen als Kategorien für einen Minimalkonsensus 1. Die politischen Grundentscheidungen für einen (am Grundgesetz orientierten) formalen und materialen Minimalkonsensus werden in didaktischer Absicht in den folgenden drei Optionen zusammengefaßt:

— für Sicherung der Personalen Grundrechte (liberal-konservative Komponente der Menschenwürde) ;

— für Herstellung der politischen Voraussetzungen für die freie Entfaltung der Persönlichkeit aller und für die Überwindung sozialer Ungleichheiten, für Chancengleichheit, Selbstbestimmung und Mitbestimmung (Emanzipation (soziale Komponente der Menschenwürde) ;

— für die Notwendigkeit, Spielraum und Institutionen für politische Alternativen zu erhalten, zu verbessern, neu zu schaffen.

Mit diesen Optionen wird versucht, die mehr oder weniger umfangreichen Kataloge von Einsichten oder Lernzielen im emotional-evaluativen Bereich auf wenige, überschaubare „essentials" (wesentliche Forderungen) zu reduzieren. Diese sollen damit praktikabler und wirksamer gemacht werden und der Absicht eines Minimalkonsensus besser entsprechen. 2. Zu den Begründungen für die Optionen in diesem Kapitel Die in den Optionen formulierten „essentials“ lassen sich nicht fraglos ableiten oder bestimmen. Bei einer Begründung sind u. a. vier Dimensionen zu bedenken:

— die historisch-politische, auch politikwissenschaftliche (Entwicklung, theoretische und normative Begründung, Interessenzusammenhang) ;

— die didaktische (Warum diese drei? Unter welchen soziokulturellen und psychologischen Gegebenheiten und Begründungen, unter welchen Bedingungen sind sie zu verwirklichen?); — die pragmatische, auch in bezug auf die Aussichten einer tatsächlichen Zustim-mung; * — die wissenschaitstheoretische unter Berücksichtigung der verschiedenen Positionen.

Im folgenden können längst nicht alle Argumente aufgeführt werden. Die Belege und Informationen enthalten teilweise inhaltlich nicht sehr viel Neues; anderseits werden (Wie z. B. bei der dritten Option unter IV, 3. neuere Konfliktheorien berücksichtigt. Insgesamt sollen die Informationen auch eine Selbstreflexion anbahnen, ohne die ein Vollzug der Optionen kaum möglich ist.

II. Zur Option „Menschenwürde"

Menschenwürde (vgl. Art. 1, 1 GG) wird in der ersten Option als Bejahung des Anspruches auf die unbedingte Geltung personaler Menschenrechte verstanden, die, im Vollzug freilich teilweise eingeschränkt auf Schichten oder Klassen, Ergebnis der bürgerlichen Revolution sind. 1. Historische Begründung:

Vorbereitet wurde unsere Auffassung von Menschenwürde durch die antike Philosophie; durch römische Rechtssatzungen; in „der Unverlierbarkeit des gleichen Substanz-wertes jeder Einzelperson durch das Christentum in die Menschheitserkenntnis eingebracht“ (wenngleich nicht politisch durchgesetzt); am kürzesten in der Formel „Habeas Corpus“ (1679) und am klarsten in der Aussage Kants begriffen, daß der Mensch „als Zweck an sich selbst“ zu betrachten und „über jeden Zweck erhaben ist". So bezieht sich die erste Option im wesentlichen auf die „defensive“ Dimension der Menschenrechte: als Barriere für die Eingriffe des Staates und der Gesellschaft gegenüber dem Individuum. 2. Politische Begründung:

Die Unverletzlichkeit der Person wird heute von keinem Regierungssystem bzw. gesellschaftlichen System grundsätzlich infrage gestellt. In faschistischen Systemen freilich und auch noch in manchen östlichen, z. B. bei Schriftstellerprozessen oder bei „Säuberungen“, wird sie gegenüber kollektiven Zielen hintangesetzt. Bei letzteren steht das im Widerspruch zur Marxschen Theorie, wie es Marxisten immer wieder betonten: „Dazu eben war Würde des Individuums (worin, wie Kant sagte, die Menschheit zu ehren sei) mindestens nicht hauptsächlich marxistische Emanzipationsparole; ...der Antritt dieses Erbes, als dem der nicht mehr bürgerlichen der sozialistisch eingeschriebenen Emanzipation wird künftig über das Freiheitsgesicht des Kommunismus entscheiden.“ (Emst Bloch in seiner Rede zur 150-Jahrfeier des Geburtstages von Karl Marx 1968 in Trier).

3. Didaktische Begründung:

Im liberalen Rechtsstaat kann sich die erste Option auf einen so breiten Konsensus stützen, daß ihre didaktisch-pädagogische Notwendigkeit eigens bedacht werden muß:

— Angesichts der fraglosen Gültigkeit einerseits und der Mißstände, Ungerechtigkeiten, Grausamkeiten in der Welt andererseits wird die Bedeutung der liberalen Menschenrechtein der jüngeren Generation, die keine eigenen Erfahrungen in einem Staat ohne Menschenrechte gewonnen hat, unterschätzt;

— daß die Menschenrechte unbedingt gelten sollen, wird in Grenzfällen sowohl von rechtsradikalen wie von linksradikalen Gruppen, freilich bei durchaus unterschiedlichen Anlässen und mit kontroversen Zielsetzungen, infrage gestellt: von rechtsradikalen, Wo mit den Schlagwörtern „Ruhe und Ordnung (gelegentlich unter Zustimmung breiter Teile der Bevölkerung, die sich an autoritären Verhaltensmustern orientieren) Randgruppen oder „Veränderer“ diszipliniert werden sollen; von linksextremen, wo „das sogenannte Gute" mit allen Mitteln, auch denen des Terrors, durchgesetzt werden soll;

— Planungsaufgaben aller Art, auch die Schaffung von Bedingungen für mehr so 2de Gerechtigkeit (also die Forderungen, die sic aus der zweiten Option ergeben), verlangen die Frage, wo die Grenze für planende m griffe liegt: was man, um notwendige Ziele zu erreichen, mit dem einzelnen anstellen dar Ob jemand in Grenzfällen als Einzelperson und als politisches Wesen tatsächlich ur Wahrung der Würde aller anderen Mens, optiert, hängt vermutlich in weit ho Maße als bei anderen politischen Entscheidungen von Bedingungen der Primärsozialisation und der schulischen Sozialisation ab, kurz: davon, ob er sinnfällig und hautnah erlebt hat, daß er selbst Würde besitzt. Das aber schließt nicht aus, daß die Option auch kognitiv, durch rationale Argumentation im Unterricht angezielt werden muß. Der Unterricht muß z. B. Gelegenheit zur Vorwegnahme der Konsequenzen geben, die eintreten müssen, wenn personale Menschenrechte nicht mehr politisch durchgesetzt werden können.

III. Zur Option: Überwindung sozialer Ungleichheit

Die zweite Option meint die soziale und politische Dimension der Menschenwürde, wie sie besonders aus Art. 2, (1) GG (Entfaltung der Person), Art. 3, (3) GG (keine Benachteiligung durch Herkunft usw.), Art. 14, (2) GG (soziale Bindung des Eigentums) und 20, (1) GG (demokratischer und sozialer Bundesstaat) herzuleiten ist. Es wird optiert: Die gesellschaftliche Wirklichkeit soll den proklamierten Rechten entsprechen; Staat und Gesellschaft sollen die Bedingungen dafür schaffen, daß soziale Ungleichheit überwunden wird, daß die Barrieren, die einem mündigen Urteil und dem Anspruch auf Entfaltung entgegenstehen, abgebaut werden; daß Individuation, Selbstbestimmung und Mitbestimmung — in ihrem Spannungsverhältnis — für alle ermöglicht werden.

1. Historische Begründungen:

Ein »materiales Naturrecht', d. h. verbindliche Ansprüche auf soziale Grundrechte — obwohl in Vorstellungen vom „guten Leben“ schon in der Antike, in den Sozialutopien des Mittelalters, in der Formel „pursuit of happiness“ der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung tendenziell nachweisbar —, sind erst durch die sozialen Bewegungen des vorigen Jahrhunderts politische Zielvorstellungen geworden. Es sind u. a. die folgenden Entwicklungen und Erkenntnisse, durch die die soziale Option heute mit einem relativ breiten Konsensus rechnen können müßte. — Individuation, Personalisation, Selbstverwirklichung hängen in der wissenschaftlich-technischen Gesellschaft in hohem Maße Von den Sozialisationsbedingungen, d. h. von gesellschaftlichen, besonders ökonomischen Voraussetzungen ab;

-Benachteiligungeneiner sozialen Gruppe sind nicht nur ein Verstoß gegen die Forde-rng nach sozialer Gerechtigkeit; sie sind ein rukturfehler des sozialen Ganzen;

di« Entwicklung der Produktivkräfte durch Wissenschaft und Technik hat es grundsätzlich ermöglicht, „Güter für alle“ zu schaffen;

— wo zu wenig Anstrengungen unternommen werden, mehr soziale Gleichheit herzustellen, vergrößert sich aufgrund der bestehenden Macht-und Eigentumsverhältnisse die vorhandene soziale Ungleichheit (wie sich z. B. an den Statistiken über das Eigentum an Produktionsmitteln und an der Sparrate seit 1949 in der Bundesrepublik nachweisen läßt);

— Investitionen für Gemeinschaftsaufgaben (Infrastruktur) kommen zu kurz —• mit irreversiblen Folgen für das, was man heute „Lebensqualität" nennt;

— wo zu wenig Gelegenheit zur Partizipation (im weitesten Sinne) besteht, werden immer mehr Bereiche des gesellschaftlichen Lebens einer öffentlichen Kontrolle entzogen.

Kurz: Die in der bisherigen Geschichte fast überall nachweisbaren Formen von überflüssiger Herrschaft sind nicht nur nicht denknotwendig; sie können heute zu einer Gefahr für die in den vortechnischen Gesellschaften erkämpften bürgerlichen Freiheiten und zu einer Gefahr für den Weltfrieden werden. 2. Politische Begründungen:

Obwohl die politische und politologische Auffassung vom „Auftrag des Grundgesetzes zur Herstellung bzw. Verwirklichung des demokratischen und sozialen Staates" nicht unumstritten ist, gibt es in der Bundesrepublik, besonders bei den Parteien des Bundestages, kaum politische Kräfte, die sich nicht für „soziale Gerechtigkeit" aussprechen. Programmatische Äußerungen, zumal wenn auch von den notwendigen Veränderungen die Rede ist, können als aktuelles Material für die Begründung der Option herangezogen werden. Im Wahlkampf 1972 forderte z. B. Echternach (CDU), „die Gesellschaft so zu verändern, daß mehr Freiheit und soziale Gerechtigkeit herrscht". W. Maihofer (FDP) spricht von „Abschaffung aller Verhältnisse, auch von solchen In der außerstaatlichen Sphäre, welche die Menschenwürde zu beeinträchtigen geeignet sind". Der Didaktiker muß derartige Belege zur Hand haben, damit die Option für mehr soziale Gleichheit nicht als eine parteiliche denunziert werden kann.

Eine Option im Rahmen eines Minimalkonsensus kann (vor allem unter Berücksichtigung der dritten Option „Alternative") nur die grundsätzliche Entscheidung für die Tendenz einer Politik enthalten, durch die soziale Ungleichheit abgebaut wird Aber auch diese ermöglicht es, Lippenbekenntnisse an der politischen Praxis zu messen und durch konsequentes Aufdecken der Ursachen und Erscheinungsformen sozialer Ungleichheiten für ihre Überwindung zu qualifizieren. Konkreter formuliert: Politischer Unterricht ist immer zugleich Systemkritik. Die zweite Option führt zur Kritik am kapitalistischen System — so wie die erste (und auch die dritte) die Kritik von Systemen herausfordert, in denen personale Menschenrechte und das Recht auf Opposition nicht gelten

Formen, Mittel, Wege, Programme zur Herstellung von mehr sozialer Gleichheit und mehr Mitbestimmung — ob z. B. Mitbestimmung durch mehr institutioneile Kontrolle oder durch mehr direkte Einwirkung der Basis besser verwirklicht wird — liegen außerhalb des Minimalkonsensus und bleiben der politischen Auseinandersetzung überlassen; bessere Lösungen erwachsen aus der Möglichkeit, unterschiedliche Entwürfe zu erproben. Auch in sozialistischen Systemen und bei marxistischen Theoretikern sind z. B. die Fragen nach dem Ausmaß der Gleichheit und dem Ausmaß der Bindung an Beschlüsse der Basis durchaus umstritten. Die Entscheidung verlangt im konkreten Einzelfall eine rationale Überprüfung der Konsequenzen. Bei jeder Entscheidung muß bedacht werden, was „möglich" ist. Das Mögliche hat zwei Dimensionen: Es bedeutet eine Einschränkung, wenn sich dem Gewollten Schwierigkeiten entgegenstellen, die — noch — nicht überwindbar sind; in diesem Sinne spricht man von Politik als der „Kunst des Möglichen“. Anderseits bedeutet Möglichkeit etwas über die Grenzen des Bestehenden Hinausreichendes: das, was heute im Unterschied zu gestern durch Wissenschaft und Technik erreichbar geworden ist. 3. Zum Spannungsverhältnis zwischen erster und zweiter Option Erste und zweite Option, personale und soziale/politische Dimension der Menschenwürde, bedingen einander und können zugleich in konkreten Einzelfall kontrovers sein: Die ängstliche Erhaltung aller verbrieften Rechte verhindert Gerechtigkeit; die Verwirklichung materialen Naturrechts erfordert Eingriffe, die ihre Grenze an personalen Rechten finden müssen. Dieses Spannungsverhältnis ist eine der Begründungen für die dritte Option.

4. Didaktische Begründung:

Bei den Möglichkeifen eines Vollzuges der zweiten Option sind die durchaus verschiedenen Voraussetzungen bei den Heranwachsenden zu berücksichtigen: Die politisch Engagierten und Wachen, die eine Veränderung in Richtung auf soziale Gleichheit mit Nachdruck vertreten, werden den relativ offenen Gehalt der Option als eher zu schwach empfinden. Sie können wohl überhaupt nur für einen Minimalkonsensus gewonnen werden, zu dem auch die zweite Option gehört.

Bei der durch Konsum-und Statusdenken geprägten Mehrheit sind soziale Appelle wenig wirksam Sie verschieben das Problem der Ungleichheit darüber hinaus oft auf caritatte Lösungen. So geht es um Aufklärung über 1 unausweichlichen Folgen einer Aufrechter haltung oder Verstärkung der bestehenden Ungleichheiten. Das ist einer der wichtigs en Gründe dafür, daß der Vf. für ein Uberge wicht gesellschaftskritischer Inhalte im P° 11 sehen Unterricht eintritt.

IV. Zur dritten Option „Alternative"

Die dritte Option erfordert eine eingehendere Begründung. Sie steht im Zusammenhang mit der Erziehung zur Konfliktfähigkeit, die kontrovers beurteilt wird: Sie wird von den einen nicht nur bejaht, sondern häufig auch mit dem Hinweis auf unüberbrückbare gesellschaftliche Widersprüche absolut gesetzt; von den anderen wird sie als Anleitung zur Zerstörung verteufelt. Darüber hinaus sind die bisher von „Konfliktdidaktikern" gegebenen Begründungen als unzureichend anzusehen.

Die Option für die Notwendigkeit, Spielraum und Institutionen für Alternativen zu erhalten, zu verbessern und zu schaffen, meint zunächst die im Grundgesetz (z. B. mit Art. 5 und 9) grundsätzlich gegebene Möglichkeit, die den politischen Interessen entsprechenden Alternativen zu vertreten. Damit ist sie vergleichbar der politischen Entscheidung, die auch der Konfliktdidaktik zugrundeliegt. Sie erstreckt sich aber auch auf die Herstellung gleicher Chancen für die Durchsetzung von Alternativen, und zwar auch durch neue institutioneile Regelungen.

Es wird optiert, daß (mehr im Sinne der ersten Option) grundsätzliche, formale Meinungsfreiheit bestehen muß; Alternativen müssen überhaupt „Agenten“ haben, die eine Offenlegung kontroverser Interessen und eine Auseinandersetzung darüber ermöglichen; ferner daß (mehr im Sinne der zweiten Option) Institutionen und Strukturen zu überprüfen, zu verändern, neu zu schaffen sind, wenn Konflikte durch bestehende Regelungen oder Machtstrukturen schon vorentschieden sind. Negativ ausgedrückt: Es wird gegen jedes Denk-und Frageverbot und gegen die Absolutsetzung einer Lösungsalternative, aber auch gegen die unbefragte Hinnahme der bestehenden Formen der Konfliktregelung optiert.

Die didaktischen Konflikttheorien beschränken sich in der Regel auf die Entwicklung von Methoden für die Analyse von konkreten oder auch strukturellen Konflikten, begründen aber ihre Option für eine Konfliktdidaktik nicht ausdrücklich durch eine Auseinandersetzung mit politologischen und soziologischen Konflikttheorien; und sie befassen sich auch nicht ausdrücklich mit einer Erziehung zur Konfliktfähigkeit 19).

Aus folgenden Gründen wird hier die Option „Alternative" anstelle der (bis 1969 auch vom Vf. gebrauchten) Option „Konflikt“ gewählt: Es geht nicht primär und nicht allein darum, Konflikte als Motor für Problemlösungen zu bejahen; es geht um die grundsätzliche Möglichkeit und um die reale Chance für Pro-blemlösungsalternativen, durch die auch konkrete Ursachen und Folgen von Konflikten in einer — zu regelnden — Art und Weise abgebaut oder beseitigt werden können. Dies freilich ist auch Gegenstand 4er sozialwissenschaftlichen Konflikttheorien.

Eine eingehendere Beschäftigung mit dem Verhältnis von Konflikt und Harmonie, mit den wichtigsten Konflikttheorien, mit der Kritik daran und mit der rechten und linken Pluralismuskritik, wie sie für einen rational begründeten Vollzug der Option wünschenswert wäre, kann nur angebahnt werden. Im folgenden werden — thesenhaft — die Grundprobleme und die Position skizziert, auf die sich die Option stützt; und es werden einige Argumente und Beispiele zu ihrer Begründung aufgeführt. 1. Harmonie oder Konflikt?

Die Frage, ob Gesellschaften durch einen auf gemeinsame Interessen gegründeten Generalkonsensus besser zusammengehalten und gefördert werden oder durch einen Minimalkonsensus über den geregelten Austrag von Konflikten, ist in den neuzeitlichen Staatstheorien und Demokratietheorien verschieden beantwortet worden. Die heute vorherrschende relative Übereinstimmung der Sozialwissenschaften darüber, daß Konflikte nicht „dysfunktional" wirken, sondern daß ein „Gegeneinander und Miteinander" (Eschenburg) in demokratischen Gesellschaften ein normaler Zustand und daß der Konflikt ein Instrument sozialen Wandels ist, wird nur noch von extremen Positionen aus grundsätzlich infrage gestellt. Kontrovers aber werden in den Sozialwissenschaften zwei Fragen beantwortet: die nach den Ursachen von Konflikten und die nach der Eignung der bestehenden Institutionen für eine Regelung und Lösung von Konflikten.

Zur grundsätzlichen Infragestellung der Konflikttheorien: von rechts: Konflikte gefährden Einigkeit und Gemeinwohl, Ruhe und Ordnung und die Uber-und Unterordnungsverhältnisse, die als natürlich angesehen werden; von der extremen Linken: „Die bürgerlichen soziologischen Konflikttheorien sind Versuche, die antagonistischen Widersprüche und den Klassenkampf zu verwischen."

Die Auffassung, daß mit der Beseitigung des „Antagonismus“ alle Voraussetzungen für eine Identität von Eigeninteresse und gesellschaftlichem Interesse gegeben seien, wird allerdings nicht mehr von allen marxistischen Theoretikern vertreten; es hat sich als möglich erwiesen, „im Interesse der Sache“ (Solschenizyn) handfeste Partikularinteressen auch dort, und zwar unkontrolliert, durchzusetzen, wo es kein Privateigentum an Produktionsmitteln mehr gibt.

Besonders aus zwei Gründen werden in den Sozialwissenschaften aber auch Konflikttheorien kritisiert, die im Konflikt „die Chance der Freiheit“ und „den schöpferischen Kern aller Gesellschaft“ erblicken, eine „Beseitigung von Gegensätzen von der Wurzel her'jedoch als „immer irregeleitet" erklären Sie verhindern die Veränderung von Strukturen, die Ursachen von Konflikten sind; sie geben ferner keine Antwort auf die Frage, wie ein erkanntes gemeinsames Interesse bei den bestehenden Machtstrukturen durchgesetzt werden könne. Neuere Theorien beantworten diese Kritik. 2. Zur Ursache von Konflikten Problematisierung: Gibt es eine zentrale Ursache für Konflikte innerhalb wie außerhalb von Gesellschaftssystemen — oder gibt es zahlreiche strukturelle und andere Ursachen für Gegensätze von Interessen und für Konflikte? Auf diese Frage läßt sich die Kontroverse zwischen Habermas und Luhmann reduzieren: Habermas geht unter Berufung auf Marx davon aus, daß der Widerspruch zwischen Produktionsverhältnissen (als Herrschaftsverhältnissen) und Entwicklungsmöglichkeiten die Hauptursache von Konflikten sei. Luhmann erblickt die Ursache von Konflikten in den Unterschieden zwischen einfachen Systemen und komplexeren Systemen, zwischen wissenschaftlicher Planung und ökonomischen Bedürfnissen usw.

Bei einer einseitigen Entscheidung für die Position Luhmanns, d. h. mit der Beschränkung auf die Lösung und Regelung von Konflikten mit den Mitteln des jeweiligen Systems, entsteht die Gefahr, die Ursachen außer acht zu lassen, die in den mit sozialer Ungleichheit verknüpften Herrschaftsverhältnissen liegen. Mit einer einseitigen Entscheidung für die Position von Habermas kann hingegen die Gefahr verknüpft sein, mit dem Blick auf die Herrschaftsverhältnisse andere Konfliktursachen zu übersehen, z. B. auch den Sachverhalt, daß die Emanzipation Mittel verlangt, durch die das Ziel infrage gestellt werden kann.

Die Kontroverse läßt die Frage unentschieden, ob zentrale Konflikte (Antagonismen), deren Lösung das System verändern würde, ebenso wie die anderen strukturellen Konflikte auch innerhalb eines Systems geregelt werden können. In der Unentschiedenheit (vermutlich: empirischen Unentscheidbarkeit) dieser beiden theoretischen Positionen liegt aber eine wesentliche Begründung für die didaktische Option „Alternative“:

These:

Was in der Theorie kontrovers ist, kann didaktisch nicht entschieden werden — besonders dann nicht, wenn ein Minimalkonsensus angestrebt wird. Jede der beiden Theorien muß bezüglich ihrer Begründungen und Konsequenzen reflektiert und diskutiert werden, zumal sich die je durchaus verschiedenen Konsequenzen politisch nicht ausschließen: Gesetze für die Regelung regionaler Disparitäten (Beispiel: Finanzausgleich) schließen Mitbestimmungsgesetze nicht aus, die langfristig eine andere Struktur der Herrschaftsverhältnisse herbeiführen können.

Mit dieser Offenheit wird nicht etwa eine brisante theoretische Diskussion auf die didaktische Ebene hinuntergeschraubt; komplementäre Verhältnisse entsprechen durchaus dem Stand der wissenschaftstheoretischen Diskussion. Ein derartiges komplementäres Verhältnis schließt jedoch hier die zweite Option für die Überwindung struktureller Konfliktursachen ein. 3. Zu Bedingungen und Möglichkeiten adäquater Konfliktregelungen und -lösungen Vorbemerkung: Die nachstehenden Begriffe haben sich zwar in der didaktischen Dis cs sion noch nicht durchgesetzt; in Heft 4 7 2 Zeitschrift „Politische Bildung“ unter 6 Thema: »Politisches Lernen am Konflikt" werden sie z. B. noch nicht erwähnt. Sie haben jedoch eine erhellende Funktion für die hier vertretene Didaktik des Konflikts.

Eine neuere Konfliktsoziologie 23), die sich an der kritischen Theorie orientiert, aber auch Elemente der Luhmannschen Systemtheorie berücksichtigt, begreift das im vorstehenden Teilkapitel skizzierte Problem mit der Unterscheidung von „äquivalenten“ und „adäquaten“ Regelungen und Lösungen von Konflikten.

Begriftserklärung: Diese Begriffe, mit denen das demokratische Prinzip der grundsätzlichen Gleichwertigkeit aller Interessen auf die Konfliktregelung angewendet wird, lassen sich kurz (aber in noch zulässiger Weise vereinfacht) so beschreiben:

Von Äquivalenz, von äquivalenten Regelungen und Lösungen von Konflikten wird gesprochen, wo Gruppen (Schichten, Klassen), die einen Informationsvorsprung, Eigentum, Macht besitzen, sich bei der Lösung von Uber-lebensproblemen ohne Nachteile für sich selbst und auf Kosten anderer, schwächerer, beherrschter Gruppen durchsetzen können; von Adäquanz, von adäquaten Regelungen und Lösungen wird gesprochen, wo alle Beteiligten ihre Interessen erkennen; wo keine Gruppe (Schicht, Klasse) darauf angewiesen ist, ihre ganze Kraft allein auf „überleben" zu verwenden; wo keine Gruppe Mittel in der Hand hat, Regelungen und Lösungen anzubieten und durchzusetzen, die ihr selbst nichts abfordern.

These: Die zweite und die dritte Option zielen auf adäquate Konfliktregelung ab: Studium und Unterricht sollen durch Aufklärung über Interessen, Möglichkeiten und Bedingungen der Interessenvertretung für immer mehr adäquate Problemlösungen und Konfliktregelungen qualifizieren: nicht „Vorschriften“ von „oben", sondern rationale Entscheidungen, nicht „vorschreibende", sondern »kognitive Erwartungen" sollen vorherrschen 24).

Andererseits: Auch adäquate Regelungen beseitigen nicht alle Ursachen für Konflikte, enn bei Regelungen und Lösungen von Konikten, bei allen Veränderungen, durch alle ormen sozialen Wandels, werden die Interessen der Beteiligten unterschiedlich tangiert. 4. Zur Antinomie der Institutionalisierung Begriffserklärung: Antinomie, philosophisch der Widerspruch eines Satzes in sich oder zweier Sätze, von denen jeder Richtigkeit beanspruchen kann; hier: widersprüchliche, jedoch zutreffende Begründungen und Konsequenzen für und von Institutionen; im folgenden Teilkapitel: widersprüchliche Konsequenzen bei der Absicht, die politischen Voraussetzungen für „Emanzipation" zu schaffen. Die Option, Institutionen zu schaffen, mit deren Hilfe Konflikte in geregelter Form ausgetragen werden können, kann als unvereinbar mit Adäquanz angesehen werden, solange die Antinomie der Institutionalisierung unbeachtet bleibt.

Einerseits: Institutionen sind in Gesellschaften mit sozialer Ungleichheit — d. h. bis heute in allen uns bekannten zivilisierten Gesellschaften — Instrumente, mit deren Hilfe „Adäquanz" gehindert oder gar verhindert werden kann: „Die Institutionen ermöglichen zwar einen bestimmten Stand des Fortschritts, fixieren ihn aber auch und versperren ihn der weiteren Entwicklung.“ „Die Organisationsvoraussetzungen, die wir fortwährend und notwendigerweise schaffen, gefährden die Autonomie und damit die Souveränität elementar."

Andererseits: Institutionen ersetzen Willkür und Gewalt. „Wo die Regelungen fehlen, sich als brüchig erweisen, muß der Kampf brutal und inhuman werden; wer alle Regeln verwirft, weil er sie für „repressiv" und von hinterhältigen Interessen diktiert hält, entscheidet sich schon für die Gewalt, für das Freund-Feind-Klischee."

Der Willkür abgetrotzt, sind Institutionen oft auch Ergebnis voraufgegangener historischer Emanzipationsprozesse und eines Interessenausgleichs in einer bestimmten Situation.

Beispiele: Wahlrecht; Verfassungen; bei der Montan-Mitbestimmung kam es 1950 durch die starke Stellung der Gewerkschaften fast zu einem Interessenausgleich, wie er 1971 beim Betriebsverfassungsgesetz noch nicht wieder erreicht wurde.Daher die Option für neue Institutionen (zur Regelung von Konflikten, für die Erfüllung neuer Aufgaben...), mit der zugleich gegen Gewalt optiert wird, wo und solange geregelte Veränderung grundsätzlich möglich ist: „Finden und Erfinden von Gewaltäquivalenten, von alternativen Problemlösungsmöglichkeiten und von Bedingungen zur Erreichung neuer innerer und äußerer Strukturen, ist die nächste große Aufgabe sowohl der Politik wie der Wissenschaft.“

Zur Analyse von Institutionen und zum Nachweis der Notwendigkeit für neue Institutionen können in 'didaktischer Absicht u. a. die folgenden Schlüsselfragen dienen:

Von bestehenden Institutionen aus gefragt: Welches historische Kräfteverhältnis bildet sich in der Institution ab? Welchen Interessen trägt sie mehr, weniger Rechnung? Wieviel Adäquanz setzt sie durch — wieviel nicht?

Von Konflikten her gefragt: Haben in diesem Konflikt alle Gruppen geregelte, adäquate Möglichkeiten, ihre Interessen laut werden zu lassen und zu vertreten? Welche neuen Regelungen können mit Hilfe bestehender Organisationen durchgesetzt werden? Welche bedürfen neuer Ansätze? Welche Modelle gibt es schon dafür?

Mit einer derartigen Analyse von Institutionen wird eine Institutionenkunde — als Lehre davon, /wie sie funktionieren — verhütet bzw. auf den Platz einer Information verwiesen, die man heranzieht, aber nicht „lernt". Worauf es ankommt, ist zu erkennen, welche Funktion die Institutionen erfüllen — und welche sie nicht erfüllen.

5. Zu den „Antinomien emanzipatorischer Prozesse"

„Auf der einen Seite erfordern Aufgaben wie die Erschließung und Industrialisierung der Entwicklungsländer, die Potenzierung und Rationalisierung der Agrarproduktion, die Regulierung des Weltwasserhaushaltes und die Weltenergieversorgung monopolitischer Konzentrationen von Macht, wie es sie in der Geschichte der Menschen noch nicht gegeben hat. Auf der anderen Seite stehen alle überlieferten Formen der monopolistischen Organisation von Macht im Widerspruch zu der Entfaltung jener Freiheit, ohne die kollektive Vernunft nicht zur Ausbildung gelangen kann. Für die Gesellschaft der technischen Welt wird aber beides, die Konzentration von riesigen Machtkomplexen wie die Entfaltung von Vernunft und Freiheit, zur Lebensbedin gung. Es stellt sich, deshalb in internationalen Dimensionen auf völlig neue Weise das Grundproblem der klassischen Staatstheorie: wie Macht und Freiheit sich vereinigen lassen.“

Zum dialektisch-antinomischen Verhältnis zwischen erster und zweiter Option: „Die bestehenden dialektischen Spannungen zwischen liberalen und ... sozialen Grundrechten, zwischen Freiheit und Gleichheit, enthebt uns nicht der Verpflichtung, in Freiheit einen Ausgleich zwischen den ... sozialen Grand-rechten und den liberalen Grundrechten zu suchen.“

Beispiele:

Antinomisch können sogar sein die beiden mit der zweiten Option gemeinten Ziele „Glück“ (d. h. nach Bloch „mindestens die Abschaffung der Not") und „Würde“ als . Kategorie des humanen Stolzes": — die Entscheidungen für mehr Bedürfnisbefriedigung oder für mehr Muße und Entfaltung Ein Spannungsverhältnis besteht auch zwischen Selbstbestimmung und Mitbestimmung: Totale Mitbestimmung aller über alles, was jeden betrifft, müßte Selbstbestimmung ausschließen; absolutgesetzte Selbstbestimmung schlösse verbindliche Regelungen durch Mitbestimmung aus. Wird dieses Spannungsverhältnis nicht thematisiert, dann können die Begriffe Formeln bleiben, die sich beliebig individualistisch oder kollektivistisch ausfüllen lassen.

Weitere Antinomien: „Wohlstand“ (Arbeitsplätze, Gewerbesteuer für Industrieansiedlungen — „Wohlergehen“ (reine Luft, sauberes Wasser); Bindung aller Beschlüsse an die Basis — Funktionsfähigkeit; Planungsnotwendigkeit — Möglichkeiten zur Revision der Planung; Steigerung der Produktion — Erht tung der natürlichen Reserven.

These:

Konflikte, die aus Antinomien erwachsen dürfen zentrale Ursachen für Konflikte nt verdrängen. Sie zeigen aber, daß die °Pti „Alternative“ auch dort notwendig ist, w mehr »Adäquanz* schon verwirklicht ist; sie schärfen den Blick dafür, welche unterschiedlichen Konsequenzen sich für die je Betroffenen aus Schritten auf dem Wege zur Emanzipation ergeben. 6. Zu weiteren Begründungen für die Option »Alternative“ 1. Präferenzen sind Inkonsistent (d. h.der Vorrang verschiedener Aufgaben läßt sich nicht bzw. nur schwer in Übereinstimmung bringen). Die Dringlichkeit von Aufgaben, die als solche allgemein als notwendig anerkannt werden, kann nur dort adäquat entschieden werden, wo Alternativen möglich sind, z. B. bei: Bildung oder Gesundheit? Umweltschutz oder Renten? Straßen oder Schwimmbäder? 2. Wandel ruft neue Konflikte hervor »Denn das grundlegende Problem im Zeitalter progressiver Fundamentalpolitisierung, der stets erweiterten Machbarkeit, Veränderbarkeit alles Bestehenden liegt ... darin, daß, je mehr verändert werden kann, desto mehr auch umstritten und umkämpft wird, desto mehr eben in die Zone des Konflikts gerät.“

Beispiele:

Bei jedem ökonomischen Zuwachs ergibt sich — auch abgesehen vom Problem des Profits — der Konflikt über das Verhältnis von Verbrauch, Investitionen und Abgaben für gesamtgesellschaftliche Aufgaben. Ein für Veränderungen typischer Konflikt entsteht z. B. bei der durch den Strukturwandel der Wirtschaft bedingten, unabhängig vom Gesellschaftssystem notwendigen Stillegung von Betrieben. Sie zwingt zum Wechsel von Arbeitsplätzen und zum Berufswechsel. An diesem Problem läßt sich aufzeigen:

— die Wirkung grundsätzlicher institutioneller Konfliktlösungen (Arbeitslosenversicherung, Recht auf Arbeit);

— die Auswirkung von Institutionen auf neue Institutionalisierungen (z. B. das Rationalisierungsschutzabkommen in der Metallindustrie von 1968). 3 Die Entscheidung zwischen Alternativen: eine . Existentialqualität“ des Menschen (eine Eigenschaft, die zur menschlichen Existenz gehört)

Menschliches Handeln ist nicht zu verstehen als bloßes Reagieren auf Umwelteinflüsse oder „Feinddruck" Es ist vielmehr ein planendes, d. h. vorausschauendes Handeln, das auf einer Vor-wegnahme möglicher Folgen des Handelns beruht. Aristoteles definiert Handeln als „Alternativen haben“; in vergleichbarer Weise spricht Marx von der Fähigkeit des Menschen, Zukunft planend vorwegzunehmen. Die „Antizipation der Konsequenzen von Alternativen“ ist daher die allgemeinste und zugleich eine der wichtigsten Qualifikationen, die der politische Unterricht erreichen soll. Sie schließt die Anerkennung eines historischen Humanisierungsprozesses ein: Anstelle des unmittelbaren (in der Geschichte häufig: vorgeblichen) Feinddrucks anstelle unmittelbarer Not, wird Problemdruck als Motiv für Handeln erkannt: durch Aufklärung ist es möglich, „Gefahren“ und „Chancen" vorwegzunehmen.

7. Zur „Konflikterziehung* Für einen Vollzug der dritten Option bestehen in der Bundesrepublik (im Unterschied zu den „alten“ Demokratien) keine sehr günstigen Voraussetzungen: Es sprechen sich zwar 89 °/o der Befragten für die Notwendigkeit einer Opposition aus; 68 % erblicken jedoch ihre Aufgabe in der Unterstützung der Regierung; 67 °/o lehnen Auseinandersetzungen als schädlich ab

Es kann angenommen werden, daß sich die Ablehnung von Alternativen und Konflikten aus drei unterscheidbaren, aber doch miteinander in Verbindung zu bringenden Strängen speist:

— aus der traditionellen Vorliebe für Einigkeit und eindeutige Lösungen;

— aus Versäumnissen in der Grundschule, in der — sei es aus jener Tradition,, sei es in Unkenntnis der kindlichen Denkmöglichkeiten — keine Gelegenheit zu einem Denken in Alternativen gegeben wird — aus der — wie immer ungeduldigen — Resignation zumal der Jugend über die zu geringe Fälligkeit einer Gesellschaft, in der Alternativen grundsätzlich möglich sind, strukturelle Ursachen für Konflikte zu erkennen und abzubauen.

Von den beiden Aufgaben, alternatives Denken einzuüben und eine Entscheidung für politische Alternativen zur Gewalt zu verinnerlichen, kann wohl nur die erste vorwiegend durch Unterricht und Aufklärung, durch Gewöhnung an „kontroverses Denken" angegangen werden. Die großen Möglichkeiten, durch einen entsprechenden Kommunikationsstil die kognitiven Voraussetzungen für den Vollzug der Option Alternative zu schaffen, werden freilich, wie hier nur angedeutet werden kann, noch wenig genutzt: Die „Lust am Anderssein des anderen", die Förderung von Gelegenheiten, bei denen abweichende Meinungen in ihrer Funktion für bessere Problemlösungen erkannt werden können, ist im Unterricht weitaus seltener als das Abwiegeln der Abweichung.

Inwieweit die Fähigkeit einer Entscheidung für Alternativen verinnerlicht wird, hängt in hohem Maße davon ab, ob in der vorschulischen Familienerziehung eine „ambivalente Objektbeziehung“ grundgelegt wird: die Fähigkeit, zu einer Person/Sache sowohl ja wie nein sagen zu können; emotionale Zuneigung zu einer Person z. B. mit kognitiver Distanz verbinden zu können. Nach tiefenpsychologischen Erkenntnissen ist diese Fähigkeit aber zugleich Grundlage für eine Individuation (für die Fähigkeit, ein Individuum zu sein); und sie ist Grundlage für eine Ich-Stärke, die ihrerseits wieder ein Denken in Alternativen ermöglicht

Auch von tiefenpsychologischen Erkenntnissen aus läßt sich so die Option Alternative begründen. 8. Zusammenfassende Thesen zur Konflikt-didaktik Eine Didaktik des Konfliktes steht vor der Schwierigkeit, unterschiedliche Konflikttheorien berücksichtigen zu müssen. Was in der Theorie kontrovers ist, muß thematisiert werden. Zugleich ist zu prüfen, worin unterschiedliche Theorien übereinstimmen. In diesem Sinne ist die Aussage erlaubt, daß Auffassungen von einem harmonischen Zustand der Gesellschaft ebensowenig mit dem Stand der Diskussion zu vereinbaren sind wie Erklärungsmuster, die sich auf ein monokausales antagonistisches Modell berufen.

Eine Didaktik des Konfliktes muß vielmehr — einerseits die Gefahr vermeiden, allein von einer rationalen Nutzung vorhandener institutioneller Regelungen schon Lösungen in Richtung auf eine gerechtere und freiere Gesellschaft zu erwarten; konkreter und negativ ausgedrückt: Die Beschränkung auf vorhandene Regelungen läuft Gefahr, strukturelle Konflikte zu vermeiden (vgl. hierzu, was zur Antinomie der Institutionen gesagt wird);

— sie darf anderseits nicht durch ausschließliche Berücksichtigung struktureller Konflikt-ursachen die Komplexität der Ursachen und die Möglichkeiten zur Nutzung gegebener institutioneller Regelungen verbauen; anders formuliert: sie muß im Blick auf überlebens-fragen auch für vorläufige Regelungen qualifizieren;

— eine Einstellung für „adäquate“ Regelungen und Lösungen ist vor allem dadurch zu ermöglichen, daß Lernende in den Stand gesetzt werden, wohlverstandene Interessen — Gruppeninteressen wie verallgemeinerungsfähige Interessen — zu erkennen und wahrzunehmen;

— hierzu sind Konfliktsituationen besonders geeignet, an denen sich nicht nur die primäre und subjektive Betroffenheit, sondern auch die sekundäre, objektive exemplifizieren läßt.

Die vom Vf. vertretene Auffassung von Konfliktdidaktik hängt eng mit den Optionen zusammen. Dabei steht die Option „Alternative'für die grundsätzliche Bedeutung von Konflikten und die Notwendigkeit, neue institutionelle Regelungen durchzusetzen, wo die bestehenden Regelungen soziale Gruppen bevor-teilen. Die Option für „Überwindung sozialer Ungleichheit“ drückt sich aus in der Forderung nach adäquaten Konfliktregelungen und r 0 sungen d. h. solchen, bei denen alle Beteiligten ihre (wohlverstandenen) Interessen erkennen und bei denen die Lösung nicht schon durch Machtverhältnisse vorentschieden ist Die Option „Wahrung personaler Grundrechte" steht für die je im Konflikt anzuwendenden Mittel. Für die Anwendung von Konflikt theorien bedeutet das:

1. Das Erkennen von sozialen Konflikten und die Qualifikation zu ihrer Bewältigung wir als notwendiger Bestandteil des politischen Unterrichts angesehen. Dazu gehört auch die Thematisierung des Verhältnisses von Kon flikt und Konsens. 2. Die Frage nach den Ursachen wird nicht alternativ entschieden: Strukturelle Ursachen für soziale Konflikte sind zwar je aufzudekken, aber nicht nach monokausalen Mustern, Auch Antinomien und Disparitäten sind zu thematisieren.

3. Es geht sowohl darum, zur Regelung wie zur Lösung (konkreter!) Konflikte zu qualifizieren. Das Verhältnis beider ist didaktisch nicht einseitig lösbar: Konfliktvermeidung verhindert Verbesserung, die Utopie der konfliktfreien Gesellschaft bedeutet nicht endenden Zwang. 4. Mittel der Konfliktaustragung sind historisch zu beurteilen: Wo grundsätzlich Möglichkeiten für freie Entscheidung gegeben sind, ist die Skala gewaltloser Mittel auszuschöpfen, zu denen auch gesetzlicher Zwang gehören kann.

Unter den Bedingungen kolonialer Herrschaft oder einer Diktatur kann revolutionäre Gewalt nicht ausgeschlossen werden. Anderseits gilt für die Situation unserer Zeit die Forderung nach dem „Finden und Erfinden von Gewaltäquivalenten" 39).

V. Zusammenfassende Bemerkungen zu Intention, Funktion und Begründung der Optionen

Übersicht 1. Die Optionen definieren einen am Grundgesetz orientierten formalen und materialen Minimalkonsensus, als politische Entscheidung für den politischen Unterricht.

2. Durch Oiienlegung der Grundentscheidung tragen sie der Forderung nach Transparenz und Kritisierbarkeit Rechnung. Dies ist zugleich eine Bedingung für ihre Funktion.

3. Die Optionen sind der Versuch, Norm-entscheidungen konsensfähig zu machen. Es geht darum, die „verborgene Gemeinsamkeit“ bewußtzumachen (wie es in der idealistischen Sprache des Deutschen Ausschusses für das Erziehungsund Bildungswesen 1955 einmal formuliert worden war) — ohne jedoch strukturelle Ungleichheiten zu verwischen (die dort zu wenig beachtet worden waren). Die Optionen tragen somit dem Grundsatz eines „Überwältigungsverbotes“ Rechnung, das gemäß dem Grundgesetz für Richtlinien zu gelten hat.

4. Sie sollen zugleich sein: „oberste Lemziele“ im affektiv-evaluativen Bereich und Kriterien für die Auswahl und Gewichtung (Validierung) von Studien-und Unterrichtsinhalten. 5 Optionen stimmen inhaltlich in gewissem Grade mit neueren Vorschlägen für „grundlegende Einsichten" und mit „allgemeinen Richtzielen" für neuere Curricula überein, betonen jedoch stärker den Vorgang einer Entscheidung sowie die Begründungszusammen-hänge. 6-Die Optionen sind je nach der erkenntnistheoretischen Methode entweder „vorwissen-schaftliche“, wenngleich politisch, politologisch, historisch und psychologisch begründbare Entscheidungen, oder „erkenntnisleitende Interessen" im Sinne eines „emanzipatorischen Erkenntnisinteresses". 1. Zum formalen und materialen Gehalt der Optionen Durch die zweite Option wird in den Minimalkonsensus die Entscheidung für die Richtung des politischen Prozesses einbezogen: eine Parteinahme für fortschreitende Humanisierung. Damit ist im Zusammenhang mit der ersten und dritten Option zugleich etwas über das Verhältnis von Bewahrung und Veränderung, von Bejahung und Kritik des politischen Systems der Bundesrepublik gesagt: Soviel für das Bestehende, daß Gesellschaft und Staat nicht hinter das bisher erreichte Maß an Rechtsstaatlichkeit, Sozialstaatlichkeit und Partizipationsmöglichkeiten zurückfallen; und soviel für eine Veränderung, daß Lernende zur Teilnahme an der Herstellung der Voraussetzungen für mehr Selbstbestimmung und Mitbestimmung und mehr soziale Gerechtigkeit qualifiziert werden, und ohne daß die Wege für eine Veränderung durch ein Denkoder Frageverbot oder -gebot oder durch einen Alternativen einengenden Entscheidungsdruck festgelegt werden. Anders formuliert: Es wird für eine Möglichkeit der Veränderung optiert, die zugleich die Revision der Veränderung sicherstellt. Dabei ist die allgemeine Richtung notwendiger Veränderungen durch die zweite Option (Über-windung struktureller Ungleichheit) und die Grenze der Veränderung durch die erste Op-30 tion (Erhaltung personaler Grundrechte) gegeben. Dieser Wechselbeziehung vergleichbar ist das Ergebnis, zu dem Ellwein in seiner Analyse des Regierungssystems der Bundesrepublik gelangt: „Unser Ergebnis läuft mithin auf ein , Sowohl-Als-auch'hinaus, auf ein Nebeneinander von . verbesserungsbedürftig', aber auch . verbesserungsfähig'— und damit auf etwas, was die , Entschiedenen'aller Lager ablehnen.. 2. Zu Funktion der Offenlegung von Norm-entscheidungen Normentscheidungen für Curricula sind offen-zulegen und zu thematisieren. Offenlegung trägt dazu bei, eigene Entscheidungen reflektiert zu treffen. Das gilt auch gegenüber Schülern. In meinem Unterrichtswerk werden Optionen unter der Überschrift „Worauf es den Autoren dieses Buches ankommt" in folgender Weise offengelegt: „Die Autoren müssen also sagen, nach welchen Gesichtspunkten sie die Situationen und Informationen ausgewählt, in welcher Absicht sie ihre Fragen gestellt haben, und warum sie die herausgearbeiteten Probleme für grundlegend halten. Nur dann kann der Leser überprüfen, ob es sich dabei wirklich um lebenswichtige Probleme handelt; nur dann hat er aber auch die Möglichkeit, sich gegen die in der Absicht der Autoren steckende politische Grundentscheidung zur Wehr zu setzen.

Wenn man nur dies oder jenes zu veranlassen brauchte, um die gewünschte Lösung herbeizuführen, ist dann aber auch an die Folgen gedacht?

So wird gefragt: Was bedeutet dieser oder jener Lösungsvorschlag:

— für die Würde des Menschen, wie sie in den Menschen-und Grundrechten niedergelegt ist? Wird die Lösung zwar verhältnismäßig perfekt sein — aber um den Preis der Einschränkung schon bestehender und im Laufe der Geschichte erkämpfter Rechte?

— für die Würde des Menschen im Sinne der Emanzipation, also der Entwicklung zur Selbstbestimmung, d. h. für die Chancen, die Bedingungen dieser Würde zu verbessern (im Bildungswesen, am Arbeitsplatz, an der Universität usw.); oder wird diese Lösung die Chancen auf mehr Mitbestimmung im öffentlichen Bereich verringern oder gar verhindern? — für die Gleichheits-Chancen der Bürger? — oder wird diese Lösung nur einer einflußreichen Gruppe zugute kommen, während die Chancen der anderen eingeschränkt werden? — für das Recht, nicht nur die Konsequenzen einer Lösung zu diskutieren und Gegenvorschläge (Alternativvorschläge) zu machen, sondern auch sich zu organisieren, um solche Alternativen im politischen Kampf zur Wirkung zu bringen? Bleibt dieses Recht etwa einer Gruppe vorbehalten?

Solche Fragen stellen heißt natürlich noch nicht, sie auch beantworten. Wer sie stellt, hat eine politische Grundentscheidung vollzogen — die für Menschenwürde, Emanzipation, Chancengleichheit und die Möglichkeit der Alternative.“ 3. Zur Doppelfunktion der Optionen Die Optionen zielen zunächst auf Verhalten ab: Der Option der Lehrenden soll die der Lernenden folgen. Eine Veränderung von Einstellungen kann nicht allein durch Unterricht erreicht werden; sie ist aber ohne Information nicht möglich. Politische Vorentscheidungen wirken sich auf Inhalte und Auswahl aus: so sind die Optionen ebenso Kriterien für die Gewichtung der Inhalte.

Die Doppelfunktion weist darauf hin, daß Lernziele im emotional-evaluativen Bereich von Lernzielen im kognitiven Bereich nicht säuberlich zu trennen sind: Die durch Inhalte vermittelten Begriffsstrukturen wirken als Selektionskriterium, gleichsam als Sieb, durch das solche neuen Informationen aufgenommen und, sich verstärkend, angehäuft werden, durch die schon vorhandene Informationen und Einstellungen bestätigt oder verstärkt werden.

Als Kriterium für die Gewichtung von Inhalten fungieren die Optionen zweckmäßig mit Hilfe von (heuristischen) Fragen: Welche Situationen, Informationen sind geeignet, Lernende in den Stand zu setzen, die Optionen zu vollziehen? Welche motivieren für die entsprechenden Einstellungen (Dispositionen für das Handeln)? Werden z. B. als Motivation für den Vollzug der zweiten Option Informationen über strukturelle Ungleichheit vermittelt? Wird der Unterschied zwischen gelösten technischen und ungelösten gesellschaftlichenAufgaben thematisiert? Werden Voraussetzungen für die Gültigkeit der liberalen Grundrechte thematisiert? — usw. Von entscheidender Bedeutung ist dabei, daß der Pulsschlag von Abstraktion und Rekonkretisierung planmäßig eingeübt wird.

Die Gewohnheit, die Konsequenzen von Alternativen zu antizipieren — je zu fragen, welche Folgen für welche Gruppen diese oder jene Lösungsmöglichkeit mit sich bringt — mündet immer in Entscheidungen aus, die mit Hilfe der Optionen gewichtet werden können. 4. Zum Unterschied von Optionen und „Einsichten“

1. Zum Begriff „Einsichten'

Der Begriff „Einsicht“, zuerst im Sinne des Erkennens religiöser Wahrheiten gebraucht und von Kant und Goethe ins Weltliche gewendet (vgl. auch den positiven Sinn des Adjektivs „einsichtig"), wird von K. G. Fischer und anderen auf Aussagen — „Einsichten“ genannt — angewendet, die Ergebnisse von Einsicht sein sollen. Daß „grundlegende Einsichten" ... „in immer neuen Zusammenhängen gewonnen werden sollten", wurde (wohl zuerst) vom Vf. 1955 als didaktische Aufgabe der Sozialkunde bezeichnet in den Hessischen Bildungsplänen von 1957 wurden zuerst „wesentliche Einsichten" ausformuliert.

Wallraven und Dietrich kritisieren, daß es den politischen Erziehern nicht gelang, „eine kohärente (zusammenhängende, d. Vf.) Theorie der Einsichten und der Urteilsfähigkeit zu entwickeln, die in sich Momente der kritischen Erkenntnistheorie aufbewahrt hätte". Darüber hinaus argwöhnen sie, daß die Einsichten „tendenziell konservativ, ja restaura-tiv“ seien 44), ohne allerdings selbst den Versuch einer wissenschaftstheoretischen Widerlegung zu unternehmen.

Fischer sieht, daß „die Anerkennung von Einsichten als Bestandteile des politik-und sozialwissenschaftlichen Denkens eine „wissenschaftstheoretische Frage“ ist. Seine wissenschaftstheoretischen Überlegungen und seine Kritik an einem oberflächlichen Gebrauch des Begriffs Dialektik bleibt jedoch ohne einen ausdrücklichen Bezug auf seinen Gebrauch des Begriffes „Einsichten“. Diese seien vielmehr „Evidenzurteile im Sinne der Philosophie", die sich „dennoch nicht pragmatisch beweisen oder widerlegen“ ließen In einem gewissen Zusammenhang damit steht, daß Fischer sich 1972 wissenschaftstheore-tisch auf „Intersubjektivität als Verifikationshorizont" (was wahr sein soll, muß sich „vor dem Gerichtshof der allgemein gedachten Vernunft der Menschen ausweisen") bezieht Ausformulierte Einsichten sind aber nicht ohne weiteres intersubjektiv nachprüfbar; sie sind „evident" nur unter der Voraussetzung, daß eine politische Vorentscheidung (für soziale Gleichheit, für die Gültigkeit des Prinzips intersubjektiver Nachprüfung ...) gefällt worden ist. Diese Vorentscheidung wiederum wird von den Vertretern der wissenschaftstheoretischen Positionen, die auf intersubjektive Nachprüfbarkeit bestehen, als eine vorwissenschaftliche bezeichnet (die lediglich in bezug auf logische Kriterien untersucht werden könne). Kurz: Ausformulierte Einsichten sind einer wissenschaftstheoretischen Begründung kaum (wenn nicht gar nicht) zugänglich. 2. Warum Optionen statt Einsichten?

Es sind neben diesen erkenntnistheoretischen Schwierigkeiten zwei weitere Gründe, die mich veranlaßt haben, Optionen anstelle von ausformulierten Einsichten als zusammenfassende Begriffe für politische Normentscheidungen und für emotional-evaluative Zielsetzungen zu verwenden:

1. Die Reduktion einer größeren Zahl von Einsichten auf wenige, in einem dialektischen Verhältnis zueinander stehende Optionen erleichtert nach Ergebnissen der Lernpsychologie den Aufbau einer emotionalen und kognitiven Struktur.

2. Ausformulierte Einsichten können als „Ist" -Aussagen mißverstanden werden (die, ungünstigsten Falles, dann nur verbal reproduziert werden). Die — inhaltlich weithin der zweiten Option entsprechende — Einsicht „Alle Menschen sind von Natur aus gleich" (K. G. Fischer) drückt zwar aus, was der Lernende am Ende des Unterrichts eingesehen haben soll. Didaktisch und politisch relevanter (und zudem realistischer) aber ist der Nachweis der empirischen Ungleichheit als einer weitgehend gesellschaftlich bedingten und für eine Minderheit förderlichen. Wer nicht unter den Folgen der Ungleichheit leiden will, muß für ihre Überwindung optieren. 5. Zu Schwierigkeiten und Möglichkeiten einer wissenschaftstheoretischen Begründung für die Optionen

Auch die Optionen werden von Vertretern der empirisch-analytischen Wissenschaften als vorwissenschaftliche politische bzw. politisch-philosophische Wertentscheidungen angesehen werden. Zwar wird von Vertretern des Kritischen Rationalismus das, was hier die Option'„Alternative“ genannt wird, als unerläßliche Voraussetzung dafür bezeichnet, daß Wissenschaft überhaupt möglich wird Hypothesen aber,die, wie z. B. die der Gleichheit, wegen ihrer Komplexität keiner Mathematisierbarkeit und keiner experimentellen Überprüfung zugänglich sind, lassen sich mit positivistischen Methoden nicht intersubjektiv als „richtig" oder „falsch“ beweisen. Bis zu einem gewissen Grade nachprüfbar und evident ist nur, daß die . Einsicht in die Gleichheit'wie die . Option für die Gleichheit'mehr oder weniger bestimmte, theoretische und praktische Konsequenzen hat.

Dem steht die Auffassung der Kritischen Gesellschaftstheorie (Frankfurter Schule, Horkheimer, Adorno, Habermas) entgegen, „daß die Wissenschaft in Ansehung der vom Menschen hervorgebrachten Welt nicht ebenso indifferent verfahren darf, wie es in den exakten Naturwissenschaften mit Erfolg geschieht" Die wissenschaftliche Frage nach dem Verhältnis von „Einzelheit" und „Ganzen" unter den jeweiligen historischen Bedingungen ist ausdrücklicher Gegenstand dieser Theorie. Damit fragt sie nach den Ursachen sozialer Ungleichheit und gewinnt Begründungen für deren Überwindung — für die Verwirklichung der zweiten Option.

Auch mit der Kritischen Theorie läßt sich diese Option nicht ohne weiteres „beweisen". Sie hat es, wie hier nur äußerst verkürzt angedeutet werden kann, nicht mit „Richtigkeit" im Sinne der empirisch-analytischen Methoden zu tun, sondern mit wissenschaftlich (hier: hermeneutisch-kritisch unter einem „emanzipatorischen Erkenntnisinteresse") nachvollziehbarer „Wahrheit"; sie bezieht die Übereinkünfte ein, die sich in den philosophischen Traditionen und in der Menschheitsge-schichte eingespielt haben. Von diesen Denkvoraussetzungen aus kann (wie es hier sehr verkürzt und unzureichend skizziert wird) vom „Interesse des einzelnen an Mündigkeit'auf ein je gleiches „objektives" Interesse aller und die Notwendigkeit geschlossen werden, dieses Interesse für sich und alle anderen durchzusetzen — oder es gar nicht durchsetzen zu können.

Weil es die Kritische Theorie ermöglicht, die Optionen in einem „emanzipatorischen Erkenntnisinteresse" der wissenschaftlichen Reflektion zugänglich zu machen, wird ihr eine Leitfunktion zugesprochen. Eine Entscheidung, den Wissenschaftsbegriff der Kritischen Gesellschaftstheorie für die Begründung von Wertentscheidungen zu benutzen, schließt die Verwendung empirisch-analytischer oder hermeneutischer Methoden für alle Probleme, die für diese Methoden zugänglich sind, nicht aus sondern ein.

Der von den drei Theorien grundsätzlich erhobene „Anspruch auf eine kritische und selbstkritische Erkenntnisweise" eröffnet die Möglichkeit eines „komplementären Verhältnisses" zwischen ihnen. So können die je typischen Defizite durch entsprechende Ansätze und Methoden der je anderen aufgewogen werden. Das bedeutet keine Vermischung zu einer „Einheitswissenschaft“ und auch keine Gleichzeitigkeit verschiedener methodischer Ansätze.

Wo eine Fortentwicklung auf mehr Humanität hin gewollt wird, muß Gesellschaft immer auch anders, „besser" als die bestehende gedacht werden; anderseits muß, soll nicht die Wunschvorstellung das Mögliche verfehlen, mitgeteilt werden, was sich mit Sicherheit über die bestehende Gesellschaft sagen läßt: Regulative Ideen oder erkenntnisleitende Interessen werden illusorisch, wenn man sie ohne Rückbezug auf das Erfahrbare und ohne Beurteilung des Möglichen in Handeln umsetzt. Eine Didaktik wiederum, die sich auf das empirisch-analytisch Feststellbare beschränkte, müßte auf rationale Begründungsmöglichkeiten für das Bessere verzichten und dieses der Beliebigkeit unaufgeklärter Interessen überlassen. Ihre Aufgabe, Antworten auf die Sinnfrage zu suchen und anzubieten, bliebe gebunden an „instrumentelle Vernunft“

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. H. v. Hentig, Das Lehren der Wissenschaft, in: Spielraum und Ernstfall, Stuttgart 1969, S. 256 bis 268, bes. 266.

  2. Vgl. das 1975 erscheinende Studienbuch des Vf., bes. Kap. 2. 3. In einer Matrix werden dort Chancen und Gefahren und Optionen aufeinander bezogen.

  3. B. Sutor und H. Giesecke, Zur Parteilichkeit politischer Bildung, in: Materialien zur politischen Bildung, 4/1974, S. 85— 97.

  4. Eine rigide Parteilichkeit wird von engagierten Gruppen meist mit dem Hinweis auf Lenin vertreten, insbesondere auf sein Verbot der Fraktionsbildung. Jedoch finden sich auch bei Lenin selbst — und zwar nicht nur im Zusammenhang mit der nur für begrenzte Zeit gedachten Aufhebung der Fraktionsfreiheit - Hinweise für eine Freigabe der Theoriebildung (vgl. z. B.: Werke, Bd. 38, S. 156 und 344). Zur Einstellung von Habermas gegenüber dem oben definierten Parteilichkeitsbegriff vgl. besonders: Theorie und Praxis, Neuausgabe 1971, S. 20 und 40; dort wendet sich Habermas unter Bezugnahme auf Lukäcs gegen dessen Auffassung, eine Unentschiedenheit der gemäß dem Beschluß der Partei geltenden Hypothesen dürfte nicht geduldet werden.

  5. Vgl. J. Zimmer, Curricuiumtorschung: Chance zur Demokratisierung der Lehrpläne, in: Achtenhagen/Meyer, Curriculumrevision, München 1971, S. 188.

  6. Vgl. Zimmer, a. a. O., S. 106 und H. H. Hartwich, Demokratieverständnis und Curriculumrevision, in: Gegenwartskunde 2/1973, S. 152.

  7. G. C. Behrmann, Politische Sozialisation in USA und Politische Bildung in der Bundesrepupt" in: G-S-E, 3/1969, S. 150 f. , . ....

  8. K. G. Fischer, Einführung in die politiscne düng, Stuttgart 1970/73, S. 15; so auch F. MeS Schmidt, in G-S-E, 1/1971, S. 3 f.; ferner E. A. Eonas.

  9. Vgl. auch W. Gagel, Sicherung vor Anpassung didaktik, in: R. Schörken (Hrsg.), Curriculum , tik“. Von der Curriculumtheorie zur Untern“ Praxis (Theorieband zu den NRW-Richtlinien! laden 1974, S. 29. .

  10. Vgl. W. Hilligen, Anmerkungen zu einem Forschungsbericht, in: G-S-E, 4/1967, S. 234 bes. 236.

  11. Den Begriff Emanzipation habe ich an anderer Stelle ausführlich erläutert, zuerst in G-S-E, 3/1972, S. 150; sodann in dem Lexikon „Gesellschaft und Staat“ von Drechsler, Billigen, Neumann, unter dem Stichwort und zuletzt in meinem Studienbuch. Dabei wird jeweils auf die „Antinomien emanzipatorischer Prozesse abgehoben, d. h. eine eindimensionale Interpretation ausdrücklich zurückgewiesen.

  12. Eugen Kogon, Auschwitz und eine menschliche Zukunft, in: Frankfurter Hefte, Heft 12/1964, S. 830 ff,, bes. S. 835.

  13. Die persönliche Option eines jeden Politik Lehrenden wird konkreter sein (der Vf. z. B. „optiert" für eine Reform des Bodenrechts und der Verfügungsgewalt über Schlüsselindustrien). Im Sinne der dritten Option sind jedoch Studierende, Schüler, Bürger dazu zu qualifizieren, in jedem Einzelfall ohne Entscheidungsdruck und unter Bedenken von Interessen und Konsequenzen sich zu entscheiden.

  14. Selbstverständlich handelt es sich dabei nicht nur um eine Forderung für die Didaktik des politischen Unterrichts (die vom Vf.seit langem vertreten wird); ganz allgemein wird sie von C. F. v. Weizsäcker 1974 so formuliert: „In dieser Lage ist die intellektuelle Anstrengung gleichzeitiger Kapitalismuskritik und Sozialismuskritik notwendig. Sie muß wie jede Kritik, die den Namen verdient, die Gefahren und Schwächen eines Systems nicht durch Angst oder Haß hindurch anvisieren, sondern sie muß seine Gefahren und Schwächen gerade aus der Erkenntnis seiner Tugenden und Stärken entwik-keln." (v. Weizsäcker, Kapitalismus und Sozialismus, in: Merkur, Heft 7/1974, S. 609.)

  15. Vgl. H. Müller, Rassen und Völker im Denken der Jugend. Bildungssoziologische Forschungen Stuttgart 1967, bes. S. 129 ff.

  16. Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Soziologie, Köln/Opladen 1969, S. 250.

  17. R. Dahrendorf, Gesellschaft und Freiheit, München 1961, S. 90, S. 235, S. 226.

  18. . 1. Habermas, N. Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie — Was leistet die Systemforschung? Frankfurt 1971, S. 283 f„ S. 374 f. Die Positionen werden hier äußerst verkürzt wiedergegeben. Es wird angeraten, die Texte im Original zu lesen.

  19. H. Plesner, Diskussionsbeitrag, in: Das Nürnberger Gespräch, Freiburg i. Br. 1967, S. 98.

  20. E. Kogon, in: Hess. Hochschulwochen 25/1970, S. 157.

  21. Chr. v. Krockow, Der fehlende Konservatismus — eine Gegenbilanz, in: Grebing /Greiffenhagen /v. Krockow /Müller, Konservatismus — eine deutsche Bilanz, München 1971, S. 111.

  22. Fr. Hacker, in: Bergedorfer Protokoll Nr. 33, Bergedorfer Gesprächskreis, Hamburg-Bergedorf 1961 ff.

  23. Titel eines Aufsatzes von Eugen Kogon, in: Frankfurter Hefte 4/1971.

  24. G. Picht, Prognose, Utopie, Planung, Stuttg 1967, S. 127.

  25. Gerhard Leibholz, Rede zum zehnjaährige Bestehen des Grundgesetzes, 1959.

  26. E. Bloch, Naturrecht und menschliche würde Frankfurt 1972 S. 233.

  27. Chr. V'Krockow, in: Grebing u. a„ a. a. O.,

  28. Auf „Feinddruck" werden gemäß einer neueren Evolutionstheorie Anstöße für die Entwicklung der Arten zurückgeführt.

  29. Die Begeisterung, mit der im Ersten Weltkrieg bei Langemarck Tausende von Studenten in den Tod stürmten, beruhte z. B. auf einem derartigen vorgeblichen Feinddruck, übrigens ist Heraklits Wort vom „Krieg als Vater aller Dinge" ungenau übersetzt. Schon Heraklit meinte mit polemos (vgl. „Polemik") nicht zuerst Krieg, sondern Streit, also auch geistige Auseinandersetzung.

  30. Vgl. Sozialwissenschaftliches Jahrbuch, hrsg. v. R. Wildenmann, Bd. 2, 1971, S. 255 ff.

  31. Vgl. Beck /Grauel /Hillingen /Röhner /Scholz, Politische Bildung ohne Fundament, Neuwied 1973, bes. S. 5f., S. 132 f.

  32. A. u. M. Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern, München 1968, bes. S. 327 f.

  33. Vgl. Th. Hacker, a. a. O., (FN 28).

  34. Th. Ellwein, Das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland, Köln/Opladen 1973, S. 17.

  35. Vgl. v. Vf.: sehen — beurteilen — handeln. t 6se-und Arbeitsbuch zum politischen Untern® das 7. /10. Schuljahr, Frankfurt 19738, S. 3031 „ zitierte Passus wurde in Zusammenarbeit mit Eu und Margarete Engelhardt geschrieben.

  36. W. Fülligen, Plan und Wirklichkeit im sozial-ST?“ Unterricht, Frankfurt 1955, S. 135.

  37. K. G. Fischer, Einführung, a. a. O., S. 31, S. 86 ff., S. 108.

  38. K. G. Fischer, Consensus omnium zwischen Minimum und Staatsgesinnung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 29/72, S. 30.

  39. Die Schwierigkeiten und Möglichkeiten können hier nur angedeutet werden. Für eine ausführliche Begründung wird auf Kap. 1. 2 des Studien-buches verwiesen.

  40. H. Albert, Plädoyer für kritischen Rationalismus, München 1971, S. 96.

  41. J. Habermas, Zur Logik der SozialWissenschaften, Frankfurt 1971, S. 11.

  42. Vgl. J. Habermas, Zur Logik der Sozialwissen schaften, a. a. O., S. 22.

  43. K. -O. Apel, Szientistik, Hermeneutik, Ideologie kritik, in: Hermeneutik und Ideologiekritik, Fran -furt 1971, bes. S. 7— 13; S. 43.

  44. Vgl. M. Horkheimer, Zur Kritik der instrume teilen Vernunft, Frankfurt 1967, bes. S. 15 f S. 33°

Weitere Inhalte

Wolfgang H i 11 i g e n , Professor für Didaktik der Sozialkunde (Gesell-schaftswissenschaften) an der Justus-Liebig-Universität Gießen; geb. 1916 in Großtinz, Kreis Breslau; Studium der Pädagogik, Geschichte/Staatswissensdiaften, Germanistik; danach Lehrer, Realschulrektor, studierender Mitarbeiter am Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung, Oberschulrat; 1966 Berufung an die Universität Gießen. Von 1966 bis zur Fusion mit der „Gegenwartskunde" 1971 zus. mit Felix Messerschmid und Friedrich Minssen Herausgeber der Zeitschrift „Gesellschaft — Staat — Erziehung". Veröffentlichungen u. a.: Plan und Wirklichkeit im sozialkundlichen Unterricht. Untersuchungen, Erfahrungen und Vorschläge, 1955; Didaktische und methodische Handreichungen zur politischen Bildung und Sozialkunde, 1964; Forschung im Bereich Social Studies, in: Handbuch der Unterrichtsforschung, 1967/71; Gesellschaft und Staat, in: Lexikon der Politik (zus. mit H. Drechsler und F. Neumann), 1971 ff.; Unterrichtswerk „sehen — beurteilen — handeln", 1957 ff.; Geschichtliches Unterrichtswerk „Menschen in ihrer Zeit“ (zus. mit Fr. Lucas), 1965ff.; zahlreiche Beiträge zu Fragen des politischen Unterrichts, darunter: Worauf es ankommt, 1961 (Nachdruck: Wiss. Buchgesellschaft, 1975); Beobachtungen zum Erziehungs- und Unterrichtsstil in der Sozialkunde, 1967 (Nachdruck u. a. Wiss. Buchgesellschaft, 1975); Kriterien für die Beurteilung von Lehr-und Lernmitteln für den politischen Unterricht in der Sekundarstufe I nach Anforderungen neuer didaktischer Konzeptionen, 1970 (Nachdruck bei Süssmuth [Hrsg. ], Historisch-politischer Unterricht, 1973); Zu einer Didaktik des Konflikts, 1971; Zum Problem der Ableitung und Operationalisierung von Lernzielen zum Umweltschutz im gesellschaftspolitischen Bereich, 1974; Dreimal Emanzipation, 1973 (Nachdruck bei Ackermann [Hrsg. ], Politische Sozialisation, 1974).