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Die Bundeswehr als Objekt von Meinungen und Einstellungen | APuZ 37/1975 | bpb.de

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APuZ 37/1975 Der Wehrbeauftragte muß sich etwas einfallen lassen! Bemerkungen zum Verhältnis von Wehrbeauftragtem und Parlament Die Bundeswehr als Objekt von Meinungen und Einstellungen

Die Bundeswehr als Objekt von Meinungen und Einstellungen

Ekkehard Lippert und Klaus Puzicha

/ 34 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

In diesem Beitrag werden einige Forschungsergebnisse der empirischen Sozialwissenschaften aus den letzten Jahren zu den Themen „Integration der Streitkräfte in die sie umgebende Gesellschaft“ und „Sozialisationsfunktion der Bundeswehr" vorgestellt. Eine eher theoretische Diskussion bezieht sich auf die sozialwissenschaftlichen Konzepte der „Meinung" und der „Einstellung". Damit wird gleichzeitig der Interpretationsrahmen für alle empirischen Befunde angegeben. Im einzelnen werden Probleme der Wehrbereitschaft junger Männer, der sog. Gammelei, der Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen, des Einflusses der Wehrdienstzeit auf wehrpflichtige Soldaten, der eigenmächtigen Abwesenheit/Fahnenflucht sowie des Drogenmißbrauchs von Soldaten angesprochen.

I.

Abbildung 1

Das Verhältnis von Militär und Gesellschaft als ein Gegenstand empirischer Sozialforschung läßt sich modellhaft vereinfachend in vier mögliche Problembereiche gliedern:

Diese sind der Verteidigungshaushalt, die Rüstung, die Planung und das Personal. Dabei ist aber der Begriff Sozialforschung sehr weit gefaßt. Eine sozialpsychologische Betrachtung, wie sie hier beabsichtigt ist, muß sich auf den Bereich Personal und Personalaufkommen beschränken. Diese Strukturvariable „Personal" kann zur besseren Überschaubarkeit in vier ineinander verschränkte sogenannte Prozeßvariable untergliedert werden — die Attraktivität des Soldatenberufs — die Integration der Bundeswehr in die sie umgebende zivile Gesellschaft — die Sozialisationsleistung der Bundeswehr, das bedeutet die Übernahme der für die soldatische Rolle wesentlichen Kenntnisse, Fähigkeiten, Einstellungen und Werthaltungen durch den Soldaten — die Moral der Truppe; gemeint ist z. B. das Vertrauen der Soldaten in die militärische und politische Führung, in die Wirksamkeit der eigenen Waffen und die Einstellung zu den Verbündeten und zum potentiellen Gegner.

Inhaltlich wird dieses Modell durch zwei übergreifende Bezugsvariable bestimmt. Die eine ist dabei der Auftrag der Bundeswehr mit seiner vielfältigen gesellschaftlichen und politischen Einbindung. Die andere Bezugs-größe ist das Individuum mit seinen Verhaltensweisen, Meinungen, Einstellungen und Persönlichkeitsstrukturen und, da hier vor allem sozialpsychologische Aspekte berücksichtigt werden sollen, seine gesellschaftliche Bedingtheit.

In unserem Bericht werden wir besonders auf die Problembereiche der Integration und der Sozialisation eingehen Aber auch für die Probleme der Desintegration von Bundeswehr und Gesellschaft besteht ein starkes öffentliches Interesse, weil der Soldat nicht nur in seinen verschiedenen Rollen innerhalb des Militärs begriffen werden kann. Es gibt eine Reihe systemimmanenter, die Integration hemmender Faktoren: z. B. aufgrund dienstlich notwendiger Versetzungen wohnen Soldaten nur relativ kurz an einem Ort. Häufig wohnen sie in sogenannten Bundeswehr-Gettos. Für Ehefrauen von Soldaten sind die Beschäftigungsmöglichkeiten zum Teil begrenzt, besonders in sog. Einöd-oder Kleingarnisonen. Die Bundeswehrfreiwilligen rekrutieren sich bislang aus überwiegend denselben Bevölkerungsgruppen (Offiziere kommen zu einem relevanten Prozentsatz aus Familien, bei denen der Haushaltsvorstand dem öffentlichen Dienst angehört, Mannschaften und Unteroffiziere vorwiegend aus ländlich/handwerklichen Familien). Für eine sich verbessernde Integration sprechen allerdings die Reformbestrebungen der Bundeswehr im Bereich der Bildung und Ausbildung. Gerade diese Bestrebungen sind es, die auf eine Verbesserung der Integration von Militär und Gesellschaft in der Bundesrepublik hoffen lassen. So bestehen wohl seit einiger Zeit deutliche gesellschaftliche Bedürfnisse nach einem Wandel der überkommenen Lehr-und Lerninhalte sowie der -methoden. Früher als zivile Institutionen war die Bundeswehr bemüht, ihr Bildungssystem an künftigen Bedürfnissen auszurichten. Sie versucht dabei, das militärische an die Zielsetzungen des gesellschaftlichen Bildungssystems anzupassen und damit die Einheit des Bildungssystems zu gewährleisten. Das Prinzip der Durchlässigkeit von Bildungsgängen, damit eine gute soziale Aufstiegsmöglichkeit für jeden, ist in der Bundeswehr fast verwirklicht. Allerdings muß man sagen, daß die organisatorischen Möglichkeiten, besonders die relative Überschaubarkeit der Bundeswehr, es im Gegensatz zum zivilen Bereich wesentlich erleichtern, die Durchführung der Bildungsreform in Angriff zu nehmen.

Der zweite Schwerpunkt dieser Arbeit soll die Sozialisationsfunktion der Bundeswehr sein. Streitkräfte als Institutionen nehmen, wie vorher schon Elternhaus und Schule, unbestrittenermaßen Einfluß auf die Sozialisation der Rekruten. Diese Funktion besteht als „sekundäre Sozialisation" darin, dem Rekruten bei dem Erwerb von Kenntnissen, Fertigkeiten, Fähigkeiten, Einstellungen und Wertvorstellungen, die für die Ausführung der Rolle eines Soldaten erforderlich sind, zu helfen. Äußert sich eine nicht gelungene sekundäre Sozialisation bei Länger-Dienenden oder Berufssoldaten z. B. in Arbeitsunzufriedenheit und mangelnder Weiterverpflichtungsbereitschaft, so manifestiert sie sich bei den wehrpflichtigen Mannschaften besonders drastisch. In den vergangenen Jahren häuften sich die Fälle des abweichenden Verhaltens von Soldaten.

Unter den Straftaten gegen die Pflicht zur militärischen Dienstleistung nahm das Delikt der eigenmächtigen Abwesenheit bzw. Fahnenflucht erschreckend zu und erreichte 1972/73 einen Anteil von gut zwei Drittel aller „besonderen Vorkommnisse". Demgegenüber bleiben Fälle von Dienstentziehung durch Täuschung oder Selbstverstümmelung dem Umfang nach unbedeutend. Eine Belastung der Truppe vor einigen Jahren durch Verhaltensweisen, die im Zusammenhang mit der Haar-und Barttracht standen, ist heute kaum noch problematisch. Ein für den Zusammenhalt militärischer Einheiten großes Problem sind die Anträge auf Anerkennung als Wehrdienstverweigerer aus der Truppe heraus. — Truppen-führer, Truppenarzt und Rechtsberater stehen auch heute noch einem neuen Jugendlichen-problem ziemlich ratlos gegenüber: dem ansteigenden Drogenkonsum, wobei es sinnvoll erscheint — wir werden später noch eingehender darüber berichten — in diesem Problem außer den sogenannten Modedrogen auch die eher traditionellen Drogen, hier besonders den Alkohol, zu berücksichtigen.

Es ist inzwischen eine ganze Reihe von Faktoren bekannt, die einer Sozialisation durch die Bundeswehr entgegenwirken. Eine von Fleckenstein und Schössler sogenannte „zivil-militärische Konfrontationsthese", gestützt durch empirische Untersuchungsergebnisse, besagt, daß die von den wehrpflichtigen Soldaten aus dem zivilen Bereich mitgebrachten Verhaltensweisen häufig den militärischen Normen widersprechen: Es sind dies: zivile Einstellungssysteme zu häufigem Arbeitsplatzwechsel, Krankfeiern, Blaumachen, Konsumgier, sich wandelnde Einstellungen gegenüber Autoritäten und Institutionen. Ein weiterer, die Sozialisation eher hemmender Faktor ist darin zu sehen, daß sich in der Vergangenheit erhebliche Schwierigkeiten bei der Ausführung der Reform der Inneren Führung gezeigt haben, weil dieses Konzept nicht allseits überzeugend formuliert werden konnte und ihm von den sog. Traditionalisten permanent Widerstand entgegengesetzt worden ist. Ob durch neue Dienstvorschriften diese Schwierigkeiten behoben werden können, ist noch nicht abzusehen. Im Zusammenhang da-mit stehen die Diskussionen innerhalb der Bundeswehr über tradierte Normen des Soldatentums (etwa des Prinzips von Befehl und Gehorsam oder der Notwendigkeit von Disziplin) und bewirken insbesondere bei unzureichend ausgebildeten militärischen Führern und Unterführern Unsicherheit im Führungsverhalten.

II.

Bedeutung der Bundeswehr nach Altersgruppen 1974

Bevor nun auf die Präsentation empirischer Befunde zum Thema eingegangen wird, sollen noch zwei Bemerkungen vorangestellt werden.

Die erste bezieht sich auf den Stellenwert empirischer Sozialforschung generell, die zweite versucht in der gebotenen Kürze die für eine Behandlung des Themas zentralen Begriffe \ „Meinung" und „Einstellung" gegeneinander abzugrenzen.

Der empirischen Sozialforschung wird häufig der Vorwurf gemacht, in ihren Ergebnissen sei nichts enthalten, was nicht schon man vorher gewußt hätte, sie leiste nur eine Evaluation des Banalen. Obgleich in diesem Anwurf eine Vereinfachung enthalten ist, hat er dennoch einen richtigen Kern. Umwälzend neue Erkenntnisse kann die empirische Sozialforschung nicht erbringen. Das erklärt sich aus der Einbindung des Forschers wie des Adressaten der Förschung in den Gegenstand des Interesses: die Gesellschaft und ihre Strukturen. Aus dieser Verschränkung hat jeder Beteiligte zumindest im Sinne der Anmutung ein Vorwissen vom jeweiligen Forschungsgegenstand. Daraus ergibt sich gleichzeitig der Neuigkeitswert der Ergebnisse.

Denn das individuelle Vorwissen über das Erkenntnisobjekt ist in der Regel qualitativ.

Wie viele Individuen in einer Gesellschaft oder einer ihrer Untergruppen z. B. Merkmalsträger sind, auch wie die strukturellen Zusammenhänge beschaffen sind, kann aus der Anmutung heraus nur geschätzt werden. In-dem die empirische Sozialforschung darüber konkrete Auskünfte gibt, leistet sie ihren Beitrag zur Überschaubarkeit gesellschaftlicher Strukturen.

Einstellungen oder Attitüden werden als „hypothetische Konstrukte" verstanden, da sie der direkten Beobachtung nicht zugänglich sind. Verhaltensweisen, Reaktionen, Handlungen und Aussagen, die über ein ge-meinsames Objekt zueinander in Beziehung stehen, können als Indikatoren ihrer Existenz gelten. Der Begriff „Objekt" ist dabei weit zu fassen. Bezugsobjekte können demnach z. B. einzelne Individuen, Ereignisse, aber auch Organisationen und soziale oder politische Institutionen sein

In der Binnenstruktur einer Einstellung werden drei verschiedene, miteinander verschränkte Komponenten unterschieden

— eine kognitive Komponente — eine affektive Komponente — eine Verhaltenskomponente.

Die kognitive Komponente besteht aus den Denkkategorien und Bewertungsmaßstäben, die einem Individuum zur Beurteilung eines Attitüdenobjektes zur Verfügung stehen. Die-se Kategorien werden als Ergebnisse von Lernprozessen über die Sprache vermittelt. Deshalb kommt der Sprache und der Begriffsbildung bzw.der Sozialisation für diese Attitüdenkomponente eine wichtige Funktion zu. Die affektive Komponente wurde vor allem in der älteren Attitüdenforschung betont. Dort ist eine Attitüde der Grad bzw. die Intensität des positiven oder negativen Gefühls, das mit einem psychologischen Objekt verknüpft ist Die Objekte, die ein Individuum einem angestrebten Ziel ein Stück näherbringen, erzeugen dabei positive Gefühle; negative Gefühle entstehen mit der Erschwerung oder Verhinderung einer Zielerreichung

Die Verhaltenskomponente umfaßt die Handlungen bzw. Aktionen, die sich auf das Objekt der Einstellung beziehen. Da das aktuelle Verhalten eines Individuums auch durch die Situation, in der es sich jeweils befindet, betroffen ist, ergibt sich eine relativ große Variabilität des Verhaltens.

Die einzelnen Einstellungen eines Individuums sind nicht unabhängig voneinander. Wie die Verschränkung der drei Komponenten, so hat auch die Gesamtheit der verschiedenen Einstellungen innerhalb einer Persönlichkeit Systemcharakter Entsprechend wird z. B. eine konservative Grundhaltung eines Menschen nur selten mit einer negativen Attitüde zur militärischen Tradition korrespondieren.

Die Funktion der Einstellungen liegt in der Bewältigung der komplexen Umwelt durch das Individuum. Wegen der Attitüden haben die einzelnen Objekte eine unterschiedliche Wertigkeit. Das menschliche Verhalten in den verschiedensten Situationen gewinnt dadurch an Sicherheit. Gleichzeitig reduziert sich so aber das Spektrum der möglichen Denkens-, Verhaltens-und Erlebnisweisen. Anders betrachtet wirken die Einstellungen dann auch als Wahrnehmungsfilter. Das Individuum wird mit größerer Wahrscheinlichkeit die Wahrnehmungsinhalte aufnehmen, die besonders stimmig zu seinem Attitüdenmuster sind. Konkret wird sich dann z. B. eine negative Voreinstellung eines Wehrpflichtigen zur Bundeswehr während seiner Dienstzeit weitgehend bestätigen und eventuell sogar verstärken. Die Genese der Einstellungen liegt im sozialen Lernen bzw. in der Sozialisation. Elternhaus, Schule, Massenmedien und andere Sozialisationsinstanzen wie die Bundeswehr können In-halt und Festigkeit der Attitüden eines Individuums prägen. Hier kann davon ausgegangen werden, daß die Festigkeit einer Einstellung und damit auch ihre Intensität eine Funktion des Zeitpunktes des Erwerbs und der zu diesem Zeitpunkt vorhandenen sozialen Umgebung ist.

Von den Einstellungen muß das Konzept „Meinung" unterschieden werden. Dabei ergibt sich die Schwierigkeit, daß diesem Be-griff unterschiedliche Bedeutungen zugewiesen werden. Betrachtet man hier nur die Ansätze der Sozialpsychologie, so läßt sich zunächst festhalten, daß die Meinung eine Stellungnahme zu einem Sachverhalt ist. Das Zustandekommen dieser Stellungnahme und ihre inhaltliche Ausformung liegt dabei jenseits der Tragfähigkeit und Perspektive des Meinungsbegriffs. Vier Momente kennzeichnen eine Meinung:

— „Eine Meinung ist im wesentlichen durch einen kognitiven Faktor bestimmt sowie durch das Bewußtsein der Subjektivität" Das kann sich z. B. darin äußern, daß man auch andere Meinungen neben der eigenen gelten läßt. Die bei der Einstellung wichtige affektive Komponente ist entweder nicht vorhanden oder nur wenig ausgebildet. Eine Meinung kann aber durchaus mit der kognitiven Komponente einer Attitüde korrespondieren

— Eine Meinung ist im Vergleich zur Attitüde sehr viel leichter veränderlich. Neue Information über einen Sachverhalt können eine Meinung dazu modifizieren. Entsprechend schnell kommt es auch zu einer Meinungsbildung.

— Zu einem Sachverhalt können bei einem Individuum mehrere, auch zueinander widersprüchliche Meinungen nebeneinanderher existieren. Sie sind zueinander nicht stimmig und haben keinen Systemcharakter.

— Eine Meinung hat nur eine geringe Konsequenz für das Verhalten. Weder wirken sich die Meinungen als Verhaltensdispositionen aus noch wird aktuelles Verhalten davon beeinflußt.

Aus alledem könnte geschlossen werden, daß die eher oberflächlichen und flüchtigen Meinungen zur Analyse des sozialen Verhaltens zunächst wenig hergeben. Auf der anderen Seite sind mit den üblichen Erhebungsmethoden der Demoskopie nur Meinungen erfaßbar. Das hat zur praktischen Konsequenz, daß bei der Interpretation von Meinungsfragen als Indikatoren für Attitüden das Verhältnis von Einstellung und Meinung als relativierendes Moment berücksichtigt werden muß. Es ist also nicht zulässig, aus der Reaktionsverteilung zu einer einzigen Meinungsfrage direkt auf die Einstellungen zu schließen. Weiterhin empfiehlt es sich dann, Aussagen über Einstellungen auf eine möglichst breite Basis, also auf die simultane Betrachtung möglichst vieler Meinungsfragen und eine entsprechende statistische Aufbereitung zu stützen. * Eine Meinungsfrage, seit 1970 alljährlich im Auftrage der Bundeswehr einer repräsentat-ven Auswahl von Bundesbürgern Jahren vorgelegt, lautet:

„Halten Sie die Bundeswehr in der heutigen Zeit und bei der heutigen Weltlage für sehr wichtig, wichtig, nicht so wichtig, unwichtig, überflüssig, schädlich oder gefährlich.

Es wird also eine Wichtigkeits-Einschätzung der Bundeswehr in Abhängigkeit von der jeweiligen politischen Lage erfragt. Antworten auf diese Frage sind unter den dargestellten Einschränkungen als ein „Bilanz" -Indikator für die Art der Einstellungen und damit für die Integration der Bundeswehr zu interpretieren. In dem folgenden Diagramm sind die Antwortverteilungen zu der genannten Frage etwas zusammengefaßt. Man sieht die Ergebnisse der jährlichen Befragungen von 1970 bis 1974. Im Jahre 1973 wurden insgesamt zwei Befragungen durchgeführt, die erste im Frühjahr, die zweite im Spätherbst, auf dem Höhepunkt der sogenannten Nahost-Krise. Die Ergebnisse lassen folgende Aussagen zu: zu allen Befragungszeitpunkten war eine deutliche Mehrheit der Menschen in der Bundesrepublik Deutschland bereit, ihre Streitkräfte als wichtig oder sogar sehr wichtig einzustufen.

Nur numerisch sehr kleine Minderheiten (maximal 11 Prozent) artikulieren sich in der Art eines militanten" Pazifismus; sie halten die Bundeswehr für überflüssig, für schädlich und gefährlich. Wenn in der vorliegenden Grafik — durch Pfeile kenntlich gemacht — gewisse herausragende politische Ereignisse in ihrem möglichen Zusammenhang zu den Umfrageergebnissen angesprochen werden, so handelt es sich nur um Hypothesen, also nicht um gesicherte Zusammenhänge. Kriegerische Auseinandersetzungen in unserer Welt sind sicherlich Mit-Determinanten für die Einstellung der Gesellschaft zur Bundeswehr, hinzu kommen aber (in ihrer Wichtigkeit schlecht einschätzbare) Entwicklungstendenzen von Ideologien unabhängig von der allgemeinen Weltlage. — Zwei beinahe dramatische Trendumkehrungen lassen sich interpretativ sehr klar mit wichtigen, teilweise auch für uns in der Bundesrepublik recht „hautnahen" Ereignissen in Verbindung bringen. Die Bedeutung der Bundeswehr sank in der Einschätzung der Bevölkerung genau in dem Augenblick, als die Ostpolitik der Bundesregierung im langjährigen Feindbild zur UdSSR eine deutliche Entstereotypisierung brachte, der damalige Bundeskanzler Brandt den Friedensnobelpreis erhielt, die gewohnten, beinahe alltäglichen Kriegsberichte aus Vietnam nach dessen vorläufiger Beendigung aufhörten. Ein Meinungswandel in entgegengesetzter Richtung trat genau dann auf, als im Verlaufe des sog. Yom-Kippur-Krieges von arabischer Seite die Energiequelle öl als Waffe entdeckt und bei uns Benzin und Heizöl knapp wurden.

Die aktuellsten Daten vom Juli 1975: 74 Prozent der Befragten halten die Bundeswehr für wichtig oder sehr wichtig, 16 Prozent für nicht so wichtig oder unwichtig, drei Prozent für überflüssig oder schädlich

Will man die Frage nach der Bedeutung der Bundeswehr etwas eingehender analysieren, so empfiehlt sich eine Betrachtung von Sub-Gruppen innerhalb der Gesellschaft. Da die Jugendlichen von der Bundeswehr besonders betroffen sind, soll diese Altersgruppe besondere Aufmerksamkeit erfahren. Deshalb als erstes also ein Vergleich verschiedener Altersgruppen. Die Zahlen, aus der die obige Grafik (3) entwickelt wurde, stammen aus einer Befragung von 1974. Wie man sieht, mißt die Gruppe der 20-bis 29jährigen der Bundeswehr relativ die geringste Bedeutung zu (50 Prozent). Die Einschätzung der Wichtigkeit steigt dann stetig mit höherem Alter.

Eine andere Frage lautete:

„Wenn Sie im Zuge der Wehrpflicht zu Militärdiensten oder zu militärischen Übungen einberufen würden, würden Sie dann gerne Soldat werden, würden Sie es als notwendige Pflicht ansehen oder würden Sie nur sehr ungern bzw. gar nicht Soldat werden wollen?"

Auch diese Frage wurde im Jahresturnus jeweils repräsentativen Bevölkerungsgruppen vorgelegt. Die Grafik 4 (S. 18 unten) macht Ergebnisse in letzten Jahren die den drei deutlich. Sia vergleicht die Altersgruppe der 16-bis 19jährigen mit derjenigen der 20-bis 29jährigen. Ein erstes Ergebnis, gewonnen aus einem relativ groben Überblick: in beiden Altersgruppen variiert der Prozentsatz derjenigen Männer, die gerne Soldat werden oder den Wehrdienst wenigstens als notwendige Pflicht ansehen um 50 Prozent. Aus der Zeichnung nicht ersichtlich, aber aus dieser Angabe leicht erschließbar ist die Zahl derer, die sehr ungerne oder gar nicht Soldat werden wollen, nämlich ebenfalls ca. 50 Prozent. Interessant ist trotzdem eine etwas eingehendere Betrachtung der Schwankungen, wie sie in der Zeichnung sichtbar wird. 1973 (in der Frühjahrsbefragung) zeigt sich in der Gruppe 16-bis 19jährigen gegenüber 1972 eine deutliche Abnahme der verbalen Wehrbereitschaft, die in diesem Ausmaß bei der älteren Gruppe nicht beobachtet werden konnte. Ganz offensichtlich reagierten die Jüngeren erheblich sensibler auf Einflußgrößen aus dem Bereich der Politik. Die „Wehrbereitschaft" der „Twens" dagegen scheint in der Tendenz der letzten drei Jahre langsam, aber stetig abzunehmen. „Wehrbereitschaft" in Abhängigkeit von der Schulbildung, verglichen für die beiden letzten Jahre, ist Inhalt der nebenstehenden Grafik (5).

Wenn auch nicht so ausgeprägt, so ist hier die gleiche Tendenz wie bei der Analyse der Frage nach der Wichtigkeit der Bundeswehr zu erkennen. Abiturientep sind deutlich weniger wehrfreudig als Volksschüler und Befragungspersonen mit Mittlerer Reife.

Hinsichtlich der Analyse von Meinungen zur Bundeswehr kann man zusammenfassen:

1. Eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung hält die Bundeswehr für wichtig.

2. Das Ausmaß der positiven Aussagen gegenüber den Streitkräften hängt ab von:

— der politischen „Großwetterlage“ — vom Alter der Befragten (je älter jemand ist, desto eher ist er geneigt, die Bundeswehr positiv einzuschätzen — die Gruppe mit den negativsten Äußerungen ist die der 20-bis 29jährigen). 3. Hälfte Männer Ungefähr die aller jungen akzeptieren den Wehrdienst ohne viel Einschränkungen. 4. Das Ausmaß der Wehrbereitschaft hängt wesentlich von der Schulbildung ab: je höher diese ist, desto größer ist im allgemeinen auch die Wehrunwilligkeit. 5. Der Beginn einer deutlichen Tendenz zu positiven Meinungsäußerungen gegenüber der Bundeswehr scheint das Jahr 1973/74 zu sein.

IV.

Abbildung 3

Die dargestellte Einschätzung der Wichtigkeit der Bundeswehr, bezogen auf die psychische Struktur des Individuums, ist, wie gesagt, eher auf der Meinungsebene angesiedelt. Ein verläßlicher Schluß von dieser subjektiven Bewertung auf die latenten Einstellungen der Bevölkerung zur Bundeswehr ist von den Prozentwerten aus den geschilderten Gründen nicht möglich. Die berichteten reaktiven Ausschläge der Zeitreihe der der Bundeswehr -ge genüber freundlichen Bewertungen in der Nachfolge politischer bedeutsamer Ereignisse lassen aber eine erste Annahme über die Struktur der hinter den Meinungen stehenden Einstellungen zu. Es ist zu berücksichtigen, daß und Festigkeit einer die die Intensität Attitüde davon abhängen, inwieweit eine Person von der Richtigkeit ihrer Bewertung des Attitüdenobjekts überzeugt ist. Darauf bezogen, läßt der Verlauf der Zustimmungskurve eine indifferente oder gleichgültige Haltung zur Bundeswehr bei einem Großteil der Bevölkerung vermuten: Je nach politischer Bedrohungssituation und individueller Betroffenheit verändert sich die Einschätzung der Wichtigkeit der Bundeswehr. Daraus kann auch geschlossen werden, daß die Bundeswehr in den Augen der breiten Öffentlichkeit eine Selbstverständlichkeit darstellt. Genauso wie etwa die Bundesbahn besonders dann in das allgemeine Bewußtsein rückt, wenn einer ihrer Dienste versagt, man denke etwa an eine Eisenbahnkatastrophe, genauso kommt der Bundeswehr jedesmal dann besondere Aufmerksamkeit zu, wenn ihre Schutzbzw. Abwehrfunktion, die Produktion von Sicherheit, durch politische Umstände aktualisiert wird So betrachtet, haben dann die Streitkräfte in der subjektiven Bewertung des Individuums eine eher instrumentelle Funktion. Sie sichern die Erreichung bzw. die weitere Verfolgung individueller Ziele sind aber bei der Mehrheit der Bevölkerung kein Objekt besonders ausgeprägter positiver oder negativer Attitüden.

Folgt man beim Versuch der weiteren Untermauerung dieser Annahme dem oben vorgestellten Attitüdenbegriff, so ist besonders die Frage nach der Rolle der Streitkräfte in der Sozialisation aufzuwerfen. Denn dort entste-hen die Einstellungen und werden inhaltlich ausgeformt. Da nun nicht die Vielfalt der einzelnen sozialen Lernprozesse betrachtet werden kann, wird in Vergröberung und unter Außerachtlassung der wechselseitigen Verschränkung nur auf das Elternhaus, die Schule und die Massenmedien als die wichtigsten Erziehungsinstanzen kurz eingegangen.

Für das Elternhaus läßt sich unter dieser Betrachtung vorweg zusammenfassend sagen, daß hier empirische Untersuchungen zum Thema höchst selten sind. Inwieweit Form in und welcher beispielsweise die psychische Verarbeitung der jüngeren Vergangenheit, etwa des Zweiten Weltkrieges, in den Erziehungsprozeß einfließt und ob bzw. wie daraus bewußt oder unbewußt die Streitkräfte thematisiert werden, kann daher weitgehend nur vermutet werden. Es läßt sich hier allenfalls ein vages inhaltliches Kontinuum angeben, das vom Phänomen der guten al-ten Zeit über ein facettenreiches Verdrängungsfeld, das sich z. B. in Schweigen und Interesselosigkeit niederschlägt und weitere Zwischenpositionen im Sinne einer indifferenten oder gleichgültigen Haltung bis zur bedingungslosen Negation des Militärischen reicht. Für den Erziehungsprozeß würde dies zunächst eine pluralistische Vielfalt von Positionen bedeuten, die sich inhaltlich vergröbernd im Bereich Pro und Contra ansiedeln lassen, und dabei in der Mehrzahl weder als ausgeprägt positive noch negative Stellungnahmen erscheinen. Die beschriebenen Ergebnisse der Meinungsumfragen weisen in diese Richtung.

Hebt man die Sozialisation vom Individuum ab und begreift sie als den Prozeß, der den Fortbestand einer Gesellschaft gewährleitet, so läßt sich auch von hier aus keine gültige Beschreibung der Einstellung(en) zur Bundeswehr liefern. Denn hier stellt sich sofort die nicht erst seit der Aufstellung der Bundeswehr immer wieder aufgeworfene Frage nach dem wechselseitigen Verhältnis von Militär und Gesellschaft in der Bundesrepublik. Die hierzu in der umfangreichen Literatur vorfindbaren Aussagen differieren aber notwendig nach dem politisch-ideologischen Standpunkt des jeweiligen Verfassers Interpre-tationen, die aus diesen Positionen an Umfra-geergebnisse herangetragen werden, sind dann primär erst einmal als Äußerungen der Attitüden des Autors und erst in sekundärer Linie als Analysen der Einstellungen der Bevölkerung zur Bundeswehr zu werten.

Die Institution Schule als nächste zu betrachtende Sozialisationsinstanz trägt zur Bildung bzw. Formung von Attitüden zum Objekt Bundeswehr nichts bei. Weder gibt es eine „Wehrkunde" noch eine „Wehrerziehung" als Inhalte der Lehrerausbildung, noch befassen sich die Geschichtslehrbücher, auch wenn sie die jüngere Vergangenheit mit Einschluß der Geschichte der Bundesrepublik behandeln, mit den Streitkräften Auch in den Sozialkundelehrbüchern ist das Thema „Bundeswehr" weitgehend ausgespart die Bundeswehr ist offenkundig in den schulischen Lehrplänen unterrepräsentiert. Das Wissen der Schüler über die Aufgabe und die Struktur der Bundeswehr kommt somit eher zufällig zustande und wird in aller Regel eher dürftig sein. Somit nehmen die informellen Kommunikationen, also z. B. Diskussionen über das Thema Bundeswehr innerhalb der Schülerschaft oder zwischen Lehrern und Schülern an Gewicht für die Attitüdenbildung zu. Einen Hinweis auf die inhaltliche Struktur dieser Kommunikationsprozesse gibt die Wehrstrukturkommission „Wer länger auf der Schulbank sitzt, ... empfindet den Nachteil einer Unterbrechung von Berufsausbildung und Berufsausübung durch den Wehrdienst schärfer." Die Wehrdienstzeit verzögert das Erreichen einer in der Konsumgesellschaft hoch bewerteten Norm, dem Geldverdienen, und verlängert besonders bei der Gruppe mit der längsten Schulausbildung die Zeit der finanziellen Abhängigkeit. Entsprechend werden gerade die Schüler wie die Absolventen Höherer Schulen sich zumeist negativ über die Bundeswehr äußern und unfreundliche Attitüden zeigen. Dabei ist die gerade in diesen Bevölkerungsgruppen intensive politische Auseinandersetzung über Sinn und Zweck von Streitkräften, die mit schwärmerischem Engagement und der in der Adoleszenz besonders ausgebildeten Emotionalität gepaart ist, noch ausgeblendet. Die negativen Einstellungen können auch so zustande kommen bzw. verstärkt werden.

Für die Betrachtung des Stellenwertes der Bundeswehr in der über die Massenmedien vermittelten Sozialisation läßt sich hier das Verhältnis zwischen der Bundeswehr und der demokratischen Öffentlichkeit nicht in toto diskutieren, obgleich dadurch der Bezugsrahmen abgesteckt wird. Da eine ausführliche Auseinandersetzung erst an anderer Stelle geschehen ist sollen für die Betrachtung der Attitüdenbildung nur zwei Momente aus diesem Zusammenhang herausgegriffen werden. Zum einen läßt sich feststellen, daß es, von wenigen Ausnahmen in der überregionalen Presse abgesehen, in den Medien keine kontinuierliche Berichterstattung über die Entwicklung der internen Struktur über Probleme der gesellschaftlichen Integration oder die wirtschaftliche Bedeutung der Bundeswehr gibt. Zwar taucht die Bundeswehr häufig in der Berichterstattung auf, doch handelt es sich dabei in der Regel um Ereignisse, Affären oder Anekdoten, die lediglich nachrichtlichen Wert besitzen oder nachrichtlich dargestellt werden. Die Öffentlichkeit bleibt auf diese Art der Information angewiesen. Von dem Teil des Publikums, der sich für die Bundeswehr nicht sonderlich interessiert, aus welchen Gründen auch immer, werden diese Informationen nicht aufgenommen. Dabei stellt sich sofort die Frage nach Ursache und Wirkung: Zeigt das Publikum wenig Interesse, weil das Angebot quantitativ und qualitativ unzulänglich ist oder wird wenig berichtet, weil die Öffentlichkeit sich dafür wenig aufnahmebereit zeigt? Eine klare Antwort ist hier nicht möglich. Einiges weist aber darauf hin, daß hier beide Alternativen teilweise richtig sind.

Zur Begründung muß zunächst auf das Bild des Lesers, Hörers oder Zuschauers beim Kommunikator verwiesen werden. An diesem Fremdbild orientiert sich die Auswahl des Inhaltes und die Gestaltung des Mediums. Kon-kret formuliert: Weil die Streitkräfte keine Aufmerksamkeit beim Journalisten finden oder weil er meint, die Adressaten seien gleichgültig oder negativ gegen die Bundeswehr eingestellt, wird sie dem Rezipienten nicht vermittelt. Eine Tabuisierung aus politisch-ideologischen oder wirtschaftlichen Gründen ist dabei noch außer Betracht. Sie kann zusätzlich oder bedingend hier wirksam sein. Zudem läßt sich dabei noch beobachten, daß gelegentlich nicht -die Bundeswehr im en geren Sinne Objekt der journalistischen Vermittlung ist, sondern daß sie als Auslöser bzw. als Vehikel für originär politische Auseinandersetzungen muß. Thematisch nicht geht es dann mehr um die Streitkräfte, sondern Bundeswehr ist nur der die Anlaß oder der Bezugsrahmen für politische Kontroversen.

Ein weiterer Grund könnte, dies ebenfalls als Vermutung, in Abwandlung eines Wortes von Horowitz in der Befürchtung des Journalisten liegen, es könnte aus seiner Beschäftigung mit dem Militär auf Affinität zum Militär geschlossen werden. Wenn dem so ist, dann würde dies bedeuten, daß die professionelle Beschäftigung mit dem Militär in der Berufsgruppe der Journalisten keine Tätigkeit mit hohem sozialen Ansehen ist. Das bislang geringe Sozialprestige des Soldatenberufes in der Gesellschaft würde hier auf den Kommunikationspraktiker abfärben. Sicherlich wird dann im inhaltlichen Zusammenhang die Erinnerung an die Entartung des Pressewesens während der Zeit des Dritten Reiches mit der Glorifizierung des Militärs ihren Teil zu dem Phänomen beitragen, indem in extremer Reaktion darauf nur spärlich Nachrichten in das Medium aufgenommen werden. Schließlich ist als ein weiterer möglicher Erklärungshinweis die offizielle bzw. offiziöse Öffentlichkeitsarbeit der Bundeswehr selbst zu nennen. Christian Potyka weist dieser Arbeit drei Dimensionen zu: Eine strategisch-politische, eine gesellschaftspolitische und eine Werbe-Dimension. Für die Sozialisation von Attitüden kann die strategisch-politische Dimension wegen ihrer hohen Abstraktheit wie auch der Werbeaspekt wegen der bis vor kurzem notwendigen Zentrierung auf die Nachwuchs-werbung, weitgehend außer Acht gelassen werden. Für die relevantere gesellschaftspolitische Dimension zeichnet sich neben der un-genügenden Mittelzuweisung ein weiteres grundsätzliches Dilemma ab. Vordringlich geht es hier um die Verständlichmachung des Auftrages der Bundeswehr und um Information über die Streitkräfte. Aber wie kann die Bundeswehr ihren Auftrag verdeutlichen, wenn ein Leitthema der Politik die Entspannung zwischen den beiden politischen Blökken beinhaltet?

Ein weiteres grundsätzliches Problem zur -At titüdenbildung zum Objekt Bundeswehr ist bereits angedeutet worden. Es geht hier um die Filterfunktion von Attitüden. Wenn das Individuum nur die Wahrnehmungsinhalte aufnimmt, die zu seinen Attitüden passen, dann können die Massenmedien beim Individuum nur die vorhandenen Einstellungen verstärken Das bedeutet, daß man die Einwirkung der Medien auf die Bildung und Formung von Attitüden zur Bundeswehr nicht sehr hoch einschätzen kann. Der Schwerpunkt der Einstellungsbildung liegt somit eher im Elternhaus und der Schule. Dabei ist vorausgesetzt, daß dort überhaupt Einstellungen gebildet werden. Hier aber ist nach dem Gesagten zumindest ein Fragezeichen zu setzen. Denn das Resümee der bisherigen Überlegungen kann nur lauten, daß zumindest eine systematische Setzung oder Stiftung von Einstellungen nicht geschieht.

Wenn bei der Mehrheit der Bevölkerung dennoch Einstellungen vorhanden sind, dann dürften sich diese als Erwartung an das Funktionieren der Streitkräfte artikulieren. Sie sind dann keine Einstellungen zur Bundeswehr direkt, sondern zu ihrer Funktion und ihren Aufgaben. Im Endeffekt wird sich daraus wohlwollende Gleichgültigkeit bei den Meinungsumfragen niederschlagen.

Diese Überlegungen zur Bundeswehr als Einstellungsobjekt haben, das muß betont werden, weitgehend theoretischen Charakter. Empirische Untersuchungen liegen dazu noch nicht vor. Die Untersuchungen auf Meinungsebene bei repräsentativen Bevölkerungsstichproben taugen nur bedingt zur Verifikation der angenommenen Einstellungsstrukturen. Auf der anderen Seite scheint es ebenfalls nicht zulässig, aus den Prozentzahlen der Wichtigkeitseinschätzung oder anderer Daten direkt auf das Vorhandensein posi-tiver oder negativer Einstellungen zu schließen. Der Grund liegt im Verhältnis der zwei innerpsychischen Ebenen der Einstellungen und der Meinungen.

Etwas anderes ist der Erkenntnisstand bezogen auf eine spezielle Bevölkerungsgruppe, die wehrpflichtigen Soldaten. Allerdings lassen sich Ergebnisse, die dort gewonnen werden, nicht verallgemeinern. Weder ist ein Schluß auf die Gruppe der männlichen gleichaltrigen Jugendlichen möglich, da bei den wehrpflichtigen Soldaten die Gruppe mit der höchsten formalen Schuldbildung wegen ihrer hohen Verweigerungsrate unterrepräsentiert ist, noch läßt eine solche Untersuchung eine Aussage auf Attitüden in der Gesamtbevölkerung zu, da die Wehrpflichtigen von der Bundeswehr im Moment der Ableistung ihrer Wehrpflicht besonders betroffen sind. Wenn jedoch bei dieser Gruppe eventuell vorfindbare Einstellungen nicht durchstrukturiert oder in sich stimmig sind, dann sollte das als ein erster wichtiger Hinweis auf die Einstellungsstruktur der Bevölkerung gelten können.

Im Rahmen einer empirischen Studie zur Sozialisationsleistung der Bundeswehr wurde versucht, durch verschiedene Vorstudien die Frage der Existenz von bundeswehrbezogenen Attitüden zu klären. Ausgangsmateralien waren dabei Aussagen von Wehrpflichtigen über die Bundeswehr, die sie in Gesprächen äußerten, Zitate aus dem offiziellen und offiziösen Schrifttum und Hinweise von Offizieren und Unteroffizieren. Daraus wurde eine Fülle von Meinungsfragen formuliert und in der Form eines Fragebogens Wehrpflichtigen vorgelegt. Um die hinter den Meinungsäußerungen stehenden Einstellungsstrukturen ans Licht zu bringen, wurde die Vielfalt der erhaltenen Daten einem mathematisch-statistischen Gruppierungsverfahren unterzogen. Es ergaben sich drei durchgängige Reaktionsmuster in der Beantwortung, die als Einstellungsdimensionen gelten können.

Die erste, gewichtigste Dimension stellt sich zusammenfassend als eine Absage an eine ideologische Überhöhung des Soldatischen dar. Hier hat in den Augen der Wehrpflichtigen weder der Soldat eine aus dem Volke herausragende Stellung inne, noch werden ihm besondere Eigenschaften zugewiesen. Der Primat der Politik wird von den Wehrpflichtigen bestätigt und ein stärkerer Einfluß der Bundeswehr auf Staat und Gesellschaft abgelehnt. Auch eine Betonung militärischer Tradition sehr skeptisch gesehen.

Die zweite Einstellungsdimension läßt sich . beschreiben als eine diffuse, nicht konkrete Ablehnung des Militärs. Dem Berufssoldat wird dabei geringes soziales Ansehen zugewiesen, Kritik an militärischen Investitionen geübt, dem Beruf des Soldaten eine spezifische Qualifikation aberkannt und das Hierarchieprinzip in Frage gestellt. Schließlich werden die beim Militär erworbenen Kenntnisse negativ hinsichtlich ihrer zivilen Verwendbarkeit bewertet.

Die dritte Einstellung schließlich hat das Verhältnis der Bundeswehr und der Öffentlichkeit zum Objekt. Die Wehrpflichtigen weisen, sicher aus dem unmittelbaren Erleben des Wehrdienstes, auf ein geringes Ansehen des Soldaten in der Öffentlichkeit hin und machen auf das Informationsdefizit zum Thema Bundeswehr aufmerksam.

Insgesamt muß hier angemerkt werden, daß die drei Dimensionen bei genauer Betrachtung der statistischen Kennwerte sich nicht so klar und eindeutig präsentieren, wie es sich aus der gerafften Darstellung ergeben könnte.

Es ist sicherlich gelungen, in diesen Erkundungsstudien alle Facetten dieser drei Einstellungen und weiterer möglicher vollständig zu erfassen. Weitere Arbeit ist hier vonnöten. Für die diskutierte Thematik zeichnet sich jedoch eines ab: Die Bundeswehr selbst ist kein unmittelbares Einstellungsobjekt für die Mehrheit der Wehrpflichtigen. Die empirisch gefundenen Dimensionen beziehen sich auf den Stellenwert der Streitkräfte in der Gesellschaft, auf das „Militärische“ und das Verhältnis zwischen Bundeswehr und Öffentlichkeit, wobei der Schwerpunkt auf letzterer liegt. Alle drei Einstellungen lassen sich zwar auf die Bundeswehr beziehen, aber sie berühren sich nicht direkt.

Wenn nun bei den von der Bundeswehr unmittelbar Betroffenen, der Masse der Wehrpflichtigen keine ausdifferenzierte Einstellung beobachtet werden kann, dann ist sicher der Schluß gerechtfertigt, daß sich in der Gesamtbevölkerung auch keine statistisch relevanten strukturierten Einstellungen zur Bundeswehr selbst vorfinden lassen. Die Existenz von Attitüden, die sich auf die Funktion der Streit-23 kräfte oder militärischen Situationen bezieht, bleibt davon unberührt. Vieles aus den Ergebnissen der Meinungsforschung, auch besonders die Abhängigkeit der Reaktionsvertei-lungen vom Alter der Befragten, deutet unter Voranstellung der geäußerten Vermutungen und den gemachten Vorbehalten in diese Richtung.

V.

Wehrbereitschaft nach Schulbildung

Vor dem Hintergrund der Einstellungs-und Meinungsstrukturen soll nun ein berühmt-berüchtigtes Phänomen herausgestellt werden, die sogenannte Gammelei. Es ist hier gleichermaßen als ein Aspekt von Sozialisation als auch als eine Folgeerscheinung der Attitüden zu bewerten.

Nach Gerd Schmückle wird mit dem Begriff „Gammelei" „vorrangig einem allgemeinen Gefühl der Enttäuschung, der Verärgerung, des Unbehagens Ausdruck verliehen"

Bei einer empirischen Untersuchung zu dieser „Unzufriedenheits-Chiffre", die er zusammen mit Walter Deinzer bei annähernd 800 Soldaten durchführte, kommt er zu dem Ergebnis, daß der Vorwurf vom Gammeldienst an die Bundeswehr nicht zu Recht bestehe. Zugrunde liegt diesem Resümee die Bewertung von 14 verschiedenen Dienstarten durch die Soldaten im Hinblick auf Gammelei. Eine Relativierung erfährt diese Untersuchung, wenn man Wehrpflichtige am Ende ihrer Dienstzeit bittet, rückblickend das Ausmaß an erlebter Gammelei, wohlgemerkt nicht Gammeldienst, zu beurteilen. Dies ist im Rahmen der bereits erwähnten Sozialisationsstudie geschehen Dabei wurde, um die Einschätzung zu erleichtern, die bisherige Dienstzeit des Befragten geviertelt. Die konkrete Frage lautete: Welcher Anteil Ihrer bisherigen Dienstzeit war nach Ihrer Meinung „Gammelei"? Von 1 014 Befragten aus den drei Teilstreitkräften hatten 14, 8 Prozent keine Gammelei erlebt, ein Viertel vergammelte Dienstzeit wird von 23, 2 Prozent angegeben. 23, 1 Prozent haben nach eigener Einschätzung die Hälfte der Zeit mit Gammeln verbracht. Drei Viertel der Zeit wurde von 4 Prozent der Befragten als ein solcher Verlauf erlebt und für 11, 5 Prozent war die gesamte Dienstzeit nur Gammelei.

Vergleicht man dieses Ergebnis mit der Aussage Schmückles, so läßt sich vermuten, daß hier offensichtlich eine semantisch weitergreifende Begriffsvariante von „Gammelei" angesprochen wurde. Gestützt und inhaltlich aufgehellt wird diese Annahme durch die strukturelle Analyse. Es zeigt sich:

— Je sinnvoller die Dienstzeit in der eigenen Einschätzung war, desto weniger Gammelei wurde erlebt und je mehr Gammelei erfahren wurde, desto weniger sinnvoll erschien die Dienstzeit (r = . 57) 27). Dies kann zwar nicht kausal interpretiert werden, beinhaltet aber einen wichtigen Hinweis: Je eher in Friedenszeiten dem Soldaten der Sinn und Zweck einer Tätigkeit oder eines Dienstes vermittelt wird, desto weniger wird er ihn als Gammelei empfinden. Das bedeutet dann einmal, daß „Gammeln" sich nicht nur auf die „sonstigen Dienste", die Reinigungs-, Flick-und Putzstunden bezieht und zum zweiten, daß der sorgfältigen pädagogischen Ausbildung besonders der Unterführer großes Gewicht zukommt, denn die Bundeswehr vermittelt sich und ihre Aufgabe dem Wehrpflichtigen gerade über den Unterführer. Ob die Einrichtung des sogenannten wehrpflichtigen Unteroffiziers unter diesen Umständen glücklich war, muß bezweifelt werden.

Denn wie soll ein wehrpflichtiger Unteroffizier nach nur kurzer Ausbildung in der Lage sein, die Aufgabe der Bundeswehr so zu vermitteln, daß der Soldat seine jeweilige Tätigkeit in ein Bezugssystem einordnen kann?

— Abiturienten haben statistisch signifikant mehr Gammelei erlebt als Absolventen von Volksschulen. Wehrpflichtige mit Mittlerer Reife nehmen eine Zwischenposition ein. Dieses nahezu skalare Anwachsen von erlebter Gammelei mit der Schulbildung läßt verschiedene Interpretationen zu. Es könnte hierfür eine mögliche Unterforderung des Abiturienten genannt wer-den, aber auch die Praxisferne des höheren Schülers oder es könnte die für die eigene Karriereplanung als sinnlos empfundene Unterbrechung der Ausbildung verantwortlich sein.

— Wehrpflichtige, die während ihrer Dienstzeit etwas gelernt haben, was nach eigener Einschätzung im Zivilleben verwertbar ist, haben weniger Gammelei erlebt, als die Wehrpflichtigen, die der Meinung sind, nichts zivil Brauchbares gelernt zu haben. Auch in diesem Ergebnis ist ein Fingerzeig auf das Problem der pädagogischen Vermittlung enthalten. Daneben wird im weiteren Sinne die Richtigkeit der Überlegungen bei der Reform der Ausbildungsgänge in der Bundeswehr bestätigt, bei denen die zivil anerkannten Ausbildungsabschlüsse besonderes Gewicht erhielten. — Je höher der erreichte Dienstgrad gegen Ende des Wehrdienstes ist, desto weniger Gammelei wurde während der Bundeswehrzeit erlebt. Nach Ableistung von ca.

14 Monaten Dienstzeit haben vor allem die Soldaten und Gefreiten nach eigener Einschätzung Gammelei erlebt. Dieses Ergebnis ist zunächst trivial. Die dahinterstehende Erklärungsgröße ist das individuelle Engagement, das dann mit Beförderungen gewürdigt wird bzw. gegebenenfalls wirkt sich die Bereitschaft zur Weiterverpflichtung als eine Verringerung der erlebten Gammelei aus.

— Im Ausmaß von erlebter Gammelei unterscheiden sich die Angehörigen der drei Teilstreitkräfte statistisch nicht voneinander. Die Vermutung, das Ausmaß an erlebtem Leerlauf richte sich nach dem unterschiedlichen Technisierungs-bzw. Automatisierungsgrad der einzelnen Teilstreitkräfte, läßt sich bei der untersuchten Wehrpflichtigen-Stichprobe nicht aufrechterhalten. — Je stärker die zweite, oben dargestellte Einstellungsdimension, die eine diffuse Ablehnung der Bundeswehr enthält, ausgeprägt war, desto größer war die erlebte Gammelei. Hier zeigt sich, wie eine Einstellung sich als Prädisposition für das Erleben auswirkt. Ein Wehrpflichtiger, der eine negative Einstellung zur Bundeswehr hat, wird seine gesamte Wehrdienstzeit von da her wahrnehmen.

— Ein letztes Ergebnis macht auf die soziale Einbindung des Gammelns aufmerksam.

Tendenziell, (d. h. gerade noch im statistischen Sinne signifikant) erlebt ein Soldat, der sich sozial isoliert fühlt, mehr Gammelei, als der in die Gemeinschaft sich integriert Fühlende. Dieser Befund könnte als vorsichtiger Hinweis auf die Bedeutung der Kameradschaft für das Erleben und Verarbeiten der Wehrpflichtzeit gelten.

VI.

Entwicklung der Antragszahlen auf Anerkennung

Im folgenden sollen — mit empirisch ermittelten Zahlen und ebenfalls vor dem Erklärungshintergrund der Einstellungsstrukturen — drei weitere Kristallisationspunkte nicht gelungener Sozialisation in der Bundeswehr angesprochen werden. Es sind dies:

— Verstöße gegen die Paragraphen 15 und 16 des Wehrstrafgesetzes, d. h. eigenmächtige Abwesenheit und Fahnenflucht (EA/FF);

— Kriegsdienstverweigerung aus Gewissens-gründen vor der Einberufung und als Soldat (KVD);

— Drogenkonsum in der Bundeswehr.

Zur eigenmächtigen Abwesenheit/Fahnenflucht liegen die Ergebnisse einer Voruntersuchung vor Sowohl bei EA/FF, als auch bei KDV, Phänomenen, die hauptsächlich bei wehrpflichtigen Soldaten beobachtet werden, scheinen die Jahre 1971/72 tendenzielle Umschlagspunkte darzustellen. Die jährlichen Zuwachsraten beider Phänomene steigerten sich von Jahr zu Jahr; die Häufigkeitsverteilungen näherten sich im grafischen Bild sogenannter Exponentionalverteilungen. Die folgenden Zahlen sind im letzten Weißbuch und dem Bericht des Wehrbeauftragten von 1973 entnommen. Neueste Zahlen wurden durch mündliche Informationen gewonnen. Wie auf der folgenden Grafik (6) kenntlich wird, änderte sich für KDV 1972 die Entwicklung der sich jährlich immer vergrößernden Steigerungsraten. Die Steigerung betrug von 1970 auf 1971 43 Prozent; von 1971/72 22 Prozent; von 1972/73 3 Prozent. Von 1973 auf 1974 erfolgte erstmals ein Rückgang der KDV-Anträge um drei Prozent. Für KDV-Anträge aus der Truppe war dieser Trend sogar schon 1972 festzustellen, der sich auch 1973 fortsetzte. Entsprechend verringerte sich der Anteil an der Gesamtheit aller Antragsteller von 1968 (29 0/) auf 8 Prozent im Jahre 1974. Die Belastung der Truppe mit diesem Problem hat also erheblich abgenommen.

Ähnliches gilt, wie schon angedeutet und in der nächsten Zeichnung (7) (S. 27) ersichtlich, für Delinquenz nach den Paragraphen 15, 16 des Wehrstrafgesetzes; einer Zuwachsrate von 43 Prozent 1971/72 folgte ein Rückgang um ein Prozent 1972/73 und sogar um weitere neun Prozent 1973/74.

Hier noch einige inhaltliche Ergebnisse der Motivations-und Bedingungsanalyse bei Fäl-30 len der eigenmächtigen Abwesenheit und Fahnenflucht, die aus der genannten Vorstudie des Dezernats Wehrpsychologie zu diesem Problem hervorgehen

Die Anlässe (gleich Auslöser-oder Situationsfaktoren) EA/FF sind in der soldatischen Gesamtsituation und/oder dem privaten Bereich zu sehen. Liegt ein Auslöserbündel vor, so können sich die Situationsfaktoren gegenseitig ergänzen (Komplementärwirkung), summieren (Kumulationswirkung) oder wechselseitig beeinflussen (Wechselwirkung). Als entscheidende Determinante zu EA/FF muß aber die Persönlichkeit des Auffälligen hervorgehoben werden. Die Ausprägung eines Persönlichkeitsmerkmales (z. B. geringe emotionale Integration) oder die Ausprägungen in einer Merkmalskombination liefern bei einem gegebenen Auslöser oder einem Auslöserbündel die EA/FF-fördernden Bedingungen. Dieser Ansatz vermag auch zu klären, warum trotz vorhandener Auslöser (z. B. unangemessenem Vorgesetztenverhalten, finanziellen Schwierigkeiten, Partnerkonflikten usw.)

nicht alle Soldaten mit EA/FF-Verhalten reagieren. Erst im Zusammenwirken von Situationsfaktoren mit Persönlichkeitsfaktoren kommt EA/FF zustande. Das Reservoir der möglichen Situations-und Persönlichkeitsfaktoren ist verhältnismäßig groß. Untersuchungen werden immer nur diejenigen herausstellen können, die in großer Übereinstimmung bei den auffälligen Soldaten zu finden sind. Art und Anzahl der beteiligten Faktoren können interindividuell verschieden sein.

Die Kontrolle des Phänomens EA/FF durch geeignete Maßnahmen wird durch die Art, den Umfang und das Zusammenwirken der Determinanten außerordentlich problematisch. Sie müßte gleichermaßen auf die soldatische Gesamtsituation, den Privatbereich und die Persönlichkeit des einzelnen abzielen. Die „Die Genese des EA/FF-Verhaltens läßt sich nur durch einen multifaktoriellen Ansatz aufklären. Die Voruntersuchung konnte verschiedene Faktoren aus den Bereichen soldatischer Gesamtsituation, Privatleben und Persönlichkeit herausstellen. Sie stimmen im wesentlichen mit den Faktoren überein, die in vergangenen Untersuchungen gefunden wurden. Verwirklichung eines solchen Vorhabens überfordert die Bundeswehr.

Den größten Erfolg bei der Verminderung der Fälle von EA/FF versprechen daher nur Maßnahmen, die auf das Fehlhalten potentieller EA/FF-Soldaten von den Streitkräften hinauslaufen. Diese Maßnahmen erstrecken sich auf den vormilitärischen Raum. Dies könnte durch weitere Modifizierung der Wehrverfassung (z. B. Verzicht auf die Einberufung mehrfach zurückgestellter Personen) und die Anwendung strengerer Maßstäbe bei der psychologischen Eignungs-und Verwendungsprüfung erreicht werden. Es ist allerdings möglich, daß derartige Maßnahmen erneut die Diskussion um die Wehrgerechtigkeit in Gang bringen."

Nach einer vorläufigen Auswertung der Hauptuntersuchung lassen sich weitere Ergebnisse zusammenfassen:

— EA/FF ist durch folgende Merkmale charakterisiert: die meisten Delinquenten (85 Prozent) entscheiden sich spontan zur EA/FF, in den meisten Fällen (51 Prozent)

während eines Wochenendurlaubs. Späte-stens nach drei Wochen sind mindestens die Hälfte von ihnen freiwillig zu ihren Einheiten zurückgekehrt. Während ihrer Abwesenheit verschweigen fast alle das Unerlaubte der Entfernung von der Truppe. Sie sprechen von Urlaub und übernehmen zum Teil (41 Prozent) bezahlte Aushilfsarbeiten. — Statistisch konnten fünf sogenannte Auslöse-Faktoren nachgewiesen werden: ein den Wehrpflichtigen psycho-physisch überfordernder Wehrdienst; enge Bindungen an die Familie oder die Freundin (im Durchschnitt sind delinquente Soldaten älter. Zudem ist der Anteil der Verheirateten größer als bei den Nichtauffälligen);

Schulden; starke Bedürfnisse nach Alkohol und/oder Sex; Wahrnehmung des Vorgesetztenverhaltens als stark restriktiv (besonders die Urlaubsregelungen). — Weiterhin wurden eine Reihe von biografischen und Persönlichkeitsmerkmalen überdurchschnittlich häufig beobachtet:

sogenannte broken-home-Situation (unvollständige Familien, schlechtes Eltern-Kind-Verhältnis, Vater Alkoholiker etc.);

finanzielle Schwierigkeiten der Familie;

Mangel an Selbstkontrolle; fehlende bzw.

mangelhafte Willenskontrolle; höheres Ausmaß an Depressivität.

Die zentralen Indikatoren zur möglichen Prognose von EA/FF sind ein niedriger sozioökonomischer Status, d. h. in der Berufs-und Bildungshierarchie unserer Gesellschaft ein Platz, der sich ziemlich weit unten auf der Leiter findet. Diese Erkenntnis führt etwa dazu, daß Wido Mosen überspitzt formuliert „eigenmächtige Abwesenheit ist die Drückebergerei der materiell und intellektuell zu kurz Gekommenen". Diese Aussage impliziert für den Tatbestand der Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen die auffälligste Beobachtung: Mehr als 50 Prozent aller KDV-Antragsteller sind Schüler, Abiturienten oder Studenten, diese Gruppe macht aber in der Gesamtpopulation der Jugendlichen nur ungefähr 15 Prozent aus.

Ein weiteres Beispiel für nicht gelungene Sozialisation in der Bundeswehr ist das Problem des Drogenkonsums in der Bundeswehr. Bereits 1972 hat der Bundesminister der Verteidigung (P II 4) das Psychologische Institut (II) der Universität Würzburg mit einer Bestandsaufnahme und Trendanalyse des Drogenkonsums in der Bundeswehr beauftragt, wobei ausdrücklich Nikotin-und Alkoholkonsum mit untersucht werden sollten. Zwar liegen noch keine Abschlußberichte zu diesem Forschungsauftrag vor, trotzdem scheint es sinnvoll, einige Zwischenergebnisse darzulegen

Hier die ersten Ergebnisse: 20 Prozent der Wehrpflichtigen beginnen ihren Wehrdienst mit Erfahrungen in Konsum von Cannabis (Haschisch). Die Erfahrungssätze für die anderen sogenannten Modedrogen:

— Halluzinogene: sechs Prozent — Opium: zwei Prozent — Schlafmittel: 13 Prozent — Beruhigungsmittel: 17 Prozent — Weckamine: neun Prozent Die Zahlen für die traditionellen Drogen lie-gen erheblich höher:

— Tabak: 89 Prozent der Wehrpflichtigen ha-ben Tabak-Erfahrungen-59 Prozent waren zur Zeit der Befragung Raucher, 41 Prozent. mit mehr als zehn Zigaretten pro Tag.

—Alkohol: fast 100 Prozent. 71 Prozent der Wehrpflichtigen trinken Bier häufiger als einmal pro Woche; nur 15 Prozent waren noch nie betrunken.

Im Gegensatz zu den Modedrogen werden Nikotin und Alkohol nicht als Droge erkannt (nur 37 Prozent der Wehrpflichtigen halten Alkohol für eine Droge, aber 96 Prozent sprechen bei Cannabis oder Opium von Drogen). Schenk gibt eine Prognose des Einflusses der Dienstzeit auf den Drogenkonsum: „Wollte man aus den bestehenden Verhältnissen eine Prognose für das Verhalten der Rekruten ableiten, so ist dies ohne Schwierigkeit möglich. Wenn sich der Drogenkonsum während der Zugehörigkeit zur Bundeswehr steigert, dann vielleicht beim Zigarettenkonsum, jedoch mit Sicherheit beim Bierkonsum. Bier erfreut sich allgemeiner Wertschätzung, erzeugt, in genügender Menge getrunken, einen Rauschzustand und ist auch für Rekruten gerade noch erschwinglich. Man darf also er-warten, daß die Bundeswehrsituation bestehende Verhaltensweisen verstärkt."

Zusammenfassend kann man feststellen, daß sich Bundeswehr-Rekruten im Konsumverhal-ten sogenannter Modedrogen nicht von vergleichbaren zivilen Jugendlichen unterscheiden. Auf dem Konsum der Traditionsdroge Alkohol jedoch hat der Wehrdienst eine deutlich stimulierende Wirkung.

VII.

EIGENMÄCHTIGE ABWESENHEIT/FAHNENFLUCHT: Die Entwicklung seit 1968 stellt sich wie folgt dar:

Betrachtet man die in diesem Aufsatz präsentierten Ergebnisse der empirischen Sozialforschung, so kann man feststellen: Die noch vor einigen Jahren zunehmend beschleunigte Entwicklung negativer Vorurteilssysteme von Jugendlichen in der Bundesrepublik Deutschland gegenüber der Bundeswehr scheint gebremst. Die 1970/71 noch verbreitete Verteufelung der deutschen Streitkräfte scheint einer realistischeren Einstellung zu weichen. Die Wehrpflicht wird als notwendiges Übel angesehen. Welche Faktoren für diese Einstellungsänderung entscheidend sind, kann man nur vermuten: Eine seit der Beeendigung des Vietnam-Krieges etwas „eintrocknende" Pazifismus-Ideologie; sich verstärkende konservative Tendenzen auch bei Jugendlichen in der letzten Zeit; Ergebnisse einer sinnvollen Informationspolitik der Bundesregierung über die Bundeswehr könnten die angesprochenen Tendenzen mitbeeinflußt haben. Wir sehen die Zukunft unserer Streitkräfte als Bestandteil der sie umgebenden zivilen Gesellschaft optimistisch: Zwar wird auch in den nächsten Jahren der von der Bundeswehr ausgehende Einfluß auf die sozialen Einstellungen von Wehrpflichtigen gering sein. Negative Einstellungen sind im allgemeinen recht widerstandsfähig gegen Änderungen. Wir sind der Meinung, daß der Bundeswehr die ihr eine Zeit lang drohende Isolierung von der Gesellschaft erspart bleibt; im Gegenteil scheint uns sogar die Chance einer verbesserten Integration möglich. Diese Chance zu nutzen, ist Sache der Bundeswehr, aber auch der Gesellschaft. Eine günstige Möglichkeit, hier Fortschritte zu erzielen, zeichnet sich mit der möglichen Realisierung bei der von der Bundesregierung geplanten Vereinfachung und Liberalisierung des Anerkennungsverfahrens von Wehrdienstverweigerern ab. Wenn sich — wie geplant — ab l. Juli 1976 ungediente Wehrpflichtige keinem Prüfungsverfahren mehr unterwerfen müssen, sollte sich dieses „Entgegenkommen des Staates an den jungen Staatsbürger im Wehrpflichtalter, ein Weniger an Zwang, an Obrigkeit und Reglementierung, dafür ein Mehr an Freiheit und Selbstbestimmung" auch in einem normalen, d. h. entideologisierten und entkrampfteren Verhältnis von Bundeswehr und Gesellschaft niederschlagen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Herbert Feser/Günther Fiebig/Klaus Puzicha, Sozialpsychologische Beurteilung der jetzigen und künftigen Lage der Bundeswehr, in: Wehrkunde 2; 1973; S. 76 ff.

  2. Zum Problembereich der Attraktivität vgl. Klaus Puzicha, Untersuchungen zur Attraktivität des Soldatenberufs — Der Soldat der Bundeswehr als Objekt sozialwissenschaftlicher Forschung, in: Wehrforschung, 1; 1974; S. 1 ff.

  3. Bernhard Fleckenstein/Dietmar Schössler, Jugend und Streitkräfte. Meinungen und Einstellungen der jungen Generation gegenüber Bundeswehr und Wehrdienst in der Bundesrepublik Deutschland, in: Beiträge zur Konfliktforschung, 1973; S. 31 ff.

  4. Zentrale Dienstvorschrift (ZDv) 10/1 „Hilfen für die Innere Führung"; ZDv 12/1 „Politische Bildung in der Bundeswehr".

  5. Vgl. Fritz Süllwold, Theorie und Methodik der Einstellungsmessung, in: C. F. Graumann (Hrsg.), Handbuch der Psychologie, Bd. 7, 1. Haiband, Göttingen 1969.

  6. Vgl. Erwin Roth, Einstellung als Determination individuellen Verhaltens, Göttingen 1967.

  7. Vgl. Fritz Süllwold, a. a. O., Harry C. Triandis, Attitüde and Attitüde Change, New York 1971.

  8. L. L. Thurstone, The measurement of social attitudes, J. abnorm, soc. Psychol. 26, 1931, S. 249— 269.

  9. H. Peak, Attitüde and motivation, in: R. Jones (Hrsg.), Nebraska Symposium on motivation, Lincoln 1955, S. 149 ff.

  10. Vgl. Erwin Roth, a. a. O.

  11. Fritz Süllwold, a. a. O.

  12. Paul F. Secord und Carl W. Backman, Social psychology, New York 1964.

  13. Der Rest (sieben Prozent) gab keine Antwort.

  14. Vgl. dazu Bernhard Fleckenstein/Dietmar Schössler, a. a. O.

  15. Vgl. dazu Dietmar Schössler, Die Bundeswehr als Sozialisationsagentur in: Psychologie heute, H. 2; 1975.

  16. Hier sei nur auf die jeweils unterschiedlichen Ansätze bei Wolf Graf Baudissin, Wilfried von Bredow, Thomas Ellwein, Wido Mosen, Dietmar Schössler und Klaus v. Schubert verwiesen.

  17. Dieter Portner und Georg Schulz, Lernziel: Wehrbereitschaft—Wehrkunde und Wehrerziehung beider deutscher Staaten, in: Wehrkunde H. 2; 1975.

  18. Franz Hermann Huberti; Bundeswehr und Verteidigungspolitik — ihre Darstellung in Schulbüchern für Gymnasien, in: Wehrkunde H. 5, 1972.

  19. Die Wehrstruktur in der Bundesrepublik Deutschland. Analyse und Optionen. Bericht der Wehrstrukturkommission der Bundesregierung vom 28. November 1972; hrsg. von der Wehrstrukturkommission im Einvernehmen mit der Bundesregierung, Bonn 1973.

  20. Vgl. etwa Christian Potyka, Bundeswehr und Öffentlichkeit. Zur Diskussion gesellschaftspolitisch orientierter Militärfragen in der Presse in: Sicherheitspolitik heute; H. 1, 1975; Wilfried v. Bredow, Der Primat militärischen Denkens. Die Bundeswehr und das Problem der okkupierten Öffentlichkeit, Köln 1969.

  21. Irving Louis Horowitz, The War Game. Studies of the New Civilian Militarists, New York 1963.

  22. Christian Potyka, a. a. O.

  23. Dazu etwa Gerhard Maletzke, Massenkommunikation, in: C. F. Graumann (Hrsg.), Sozialpsychologie, Bd. 7/2 des Handbuches der Psychologie, Göttingen 1972.

  24. Einige wesentliche Ergebnisse dieser Untersuchung sind abgedruckt in: SOWI-Informations-Schrift 1 des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr, München 1974, S. 10 f.

  25. Gerd Schnückle, Kommiß a. d., Stuttgart 19723.

  26. Sozialwissenschaftliches Institut der Bundeswehr a. a. O.

  27. Produkt-Moment-Korrelation. Der Koeffizient ist ein Maß für den Zusammenhang zweier Variablen; Vgl. Hermann Gaensslen und Werner Schubö, Einfache und komplexe statistische Analysen, München/Basel 1973, S. 13 ff.

  28. Hermann Flach, Erkundungsstudie zum Problem Eigenmächtige Abwesenheit/Fahnenflucht, Nr. S. 137 der Berichte des Dezernats Wehrpsychologie, Bonn-Bad Godesberg, 1973.

  29. Presse-und Informationsamt der Bundesregierung, Weißbuch 1973/74, Zur Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und zur Entwicklung der Bundeswehr, Bonn 1974.

  30. Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages, ---------------Jahresbericht 1973, Die Bundeswehr in Staat und Gesellschaft, Bonn 1974.

  31. Hermann Flach, a. a. O., S. 10 ff.

  32. Zur Zeit in Vorbereitung: Hermann Flach, Bedingungsanalyse von eigenmächtiger Abwesenheit/Fahnenflucht, in: BMVg (Hrsg.), Wehrpsychologische Untersuchungen, 3/1975.

  33. Teilberichte finden sich in: BMVg, P II 4 (Hrsg.), Wehrpsychologische Untersuchungen 3/1973, 4/1973, 1/1974, 3/1974, 5/1974.

  34. Josef Schenk, Drogenkonsum und die Beurteilung von Drogen und Drogenkonsumenten bei frisch eingezogenen Bundeswehr-Rekruten, in; BMVg, P II 4 (Hrsg.) Wehrpsychologische Untersuchungen, 5/1974, S. 90.

  35. Bernhard Fleckenstein, Jugend und Militärdienst. Einstellungs-und verhaltenswichtige Faktoren gegenüber dem Dienst in der Bundeswehr, in: Sicherheitspolitik heute, H. 2, 1975.

Weitere Inhalte

Klaus Puzicha, Dr. phil., geb. 1940. Diplompsychologe beim Dezernat Wehrpsychologie im Streitkräfteamt, Abt. I, Bonn-Bad Godesberg, Lehrbeauftragter für Sozialpsychologie an der Gesamthochschule Siegen. Veröffentlichungen in den Bereichen: Psychologische Methoden; Berufsbezogene und Politische Einstellungen; Abweichendes Verhalten; Politische Bildung; Organisationspsychologie.