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Die Dritte Gewalt in der zweiten Republik | APuZ 39/1975 | bpb.de

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APuZ 39/1975 Die Dritte Gewalt in der zweiten Republik Geschichtsunterricht und Identität Die Schlacht im falschen Saal oder der unübersehbare Widerspruch zwischen Machtkontrolle und Partizipation. Eine Erwiderung auf Fritz Vilmars Demokratisierungskonzept

Die Dritte Gewalt in der zweiten Republik

Theo Rasehorn

/ 36 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Beamtentradition und kleinbürgerliche Herkunft ließen die deutschen Richter nicht in gleicher Weise wie die englischen und französischen zu einer Elite der Gesellschaft werden. Sie bildeten den harten Kern der bürgerlichen Mittelschicht und teilten deren unpolitisch-konservative Einstellung in den verschiedenen „Reichen" von 1850 bis 1945. Das Grundgesetz brach mit dieser Beamtentradition, verstärkte andererseits mit der Einführung des unbeschränkten Rechtswegs gegenüber Verletzungen durch die öffentliche Gewalt und mit der Errichtung eines Bundesverfassungsgerichts die Position der Dritten Gewalt. Das hob das Selbstbewußtsein der Richter und führte zunächst zu einer fortschrittlichen Rechtsprechung. Es fehlte aber die gesellschaftspolitische Umsetzung im Selbstverständnis der Richter, woraufhin bei ihnen seit Mitte der fünfziger Jahre tiefe Resignation eintrat, zumal die NS-Verstrickung vieler Richter aufgedeckt wurde. 1966 gelang es überraschend einem kleinen Kreis progressiver Richter auf dem Hintergrund der studentischen Protestbewegung, die Justiz für wenige Jahre auf einen Reformkurs zu bringen. Doch nach der Regierungsübernahme durch die sozial-liberale Koalition artikulierte sich bei der Dritten Gewalt die schweigende konservative Mehrheit weit stärker als in der Gesellschaft, was dazu führte, daß die Richterschaft nach einer Unterbrechung von zwanzig Jahren wieder in die Front des unpolitisch-konservativen Bürgertums einschwenkte. Gleichwohl dürfte abermals ein Wandel zu erwarten sein, weil sich als Probleme der Rechtsreform nicht so sehr freiheitlich-individualistische als vielmehr soziale Fragen aufdrängen.

Die große Bilanz über 25 Jahre Bundesrepublik Deutschland, das fast tausendseitige Werk „Die zweite Republik" — herausgegeben von Richard Löwenthal und Hans-Peter Schwarz — enthält über dreißig Beiträge, von „Technik und Gesellschaft" über „Die Kirchen" bis zur „Sozialen Sicherheit". Natürlich ist der „institutionelle Rahmen" gebührend berücksichtigt. Mit der ersten Gewalt befaßt sich der Beitrag über „Die Rolle des Parlaments und die Parteiendemokratie"; der Zweiten Gewalt sind sogar zwei Beiträge zugeordnet: „Die Kanzlerdemokratie" und „Der bürokratische Rückhalt" — die Dritte Gewalt, die Justiz, existiert für diese Bilanz nicht.

Bedenkt man, daß dieses Werk zu einer Zeit erschienen ist, als die Begriffe „Rechtsstaat“ und „Recht und Sicherheit" wie nie zuvor nach dem Zweiten Weltkrieg zum allgemeinen Wortschatz gehörten, bedenkt man ferner, daß keine andere Staatsgewalt so wesentliche Verfassungsänderungen in der zweiten Republik gegenüber der ersten, der Weimarer, erfahren hat wie die Dritte Gewalt — die Zulassung des unbeschränkten Rechts-wegs gegenüber der Verletzung durch die öffentliche Gewalt in Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz, die Institutionalisierung eines Bundesverfassungsgerichts in Art. 99 und die „Entbeamtung" des Richters in Art. 98 — so ist das Schweigen über die Justiz in dem genannten Werk nicht zu verstehen. Zu verstehen ist es aber wohl als Symptom dafür, daß es der Dritten Gewalt noch nicht gelungen ist, sich in der Öffentlichkeit als gleichwertig gegenüber der Legislative und Exekutive darzustellen. „Die Justiz als die unverstandene Frau unserer öffentlichen Ordnung", so hat sich Mitte der fünfziger Jahre der frühverstorbene Präsident des Bundesverwaltungsgerichts, Werner, zum Sprachrohr der weit überwiegenden Mehrheit der Richter gemacht. über die Ursachen für diese Unverstandenheit gibt es wohl keine einheitliche Meinung mehr, und so mag das, was hier zur Analyse aus der Geschichte der Justiz in der Neuzeit und der neuesten Zeit vorgetragen wird, bei vielen Richtern keine Zustimmung finden.

Zur Präformierung des Bewußtseins der Richterschaft

Am Anfang der neuzeitlichen Justiz stand das Ende, das Ende einer hohen Rechtskultur. Das deutsche Rechtswesen im Mittelalter war wie dasjenige in England und Frankreich von der germanischen Rechtstradition geprägt und war an europäischem Einfluß, insbesondere zum Osten hin, den westlichen Ländern überlegen. Nahm hier die Entwicklung einen organischen Verlauf, so zerstörten die Territorial-herren in Deutschland mit Hilfe der Rezeption des römischen Rechts die Kontinuität. Der Fürst wurde auch in der Rechtspflege absolut; er selbst sprach Recht und bediente sich dahei „gemieteter doctores", die später Höflinge wurden. Mit der aufkommenden Verwaltungs-Organisation wurde die Justiz zu einem Hilfszweig, zum „Train" unter Assoziation zu der für den Spätabsolutismus maßgeblichen Heeresorganisation. „Die dummen Deuffels unter den Juristen sollten zur Justiz abkommandiert werden," schrieb der Soldatenkönig einmal an den Rand einer Akte Fast zwei Jahrhunderte später, vor dem Ersten Weltkrieg, scherzte man in der Justiz bitter, der Oberlandesgerichtspräsident sei größenwahnsinnig geworden, habe er doch geträumt, man habe ihn zum Regierungsreferendar ernannt. Das gibt nur Hinweise, aber noch keine Antwort auf die Frage, wie es kommt, daß noch heute, dreihundert Jahre nach dem Beginn der modernen Justiz, die Rechtspflege in der Öffentlichkeit so wenig zählt, trotz der Hilfen durch das Grundgesetz und trotz der betont legalistischen Einstellung unserer Bevölke-rung Meine Antwort ist — die Wertung, aber nicht die mitgeteilten Tatsachen mögen Widerspruch finden —: die Justiz hat sich stets geweigert und weigert sich noch, ihr Verhältnis zur Politik und zur Macht zu reflektieren, sich bewußt zu machen, daß die Justiz die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist, wie es der Altmeister der Justizkritik, der frühere Stuttgarter Oberlandesgerichtspräsident Richard Schmid, ganz unbefangen ausgesprochen hat

Politik und Recht werden simpel als Gegen-pole empfunden, von der Justiz wird eine unpolitische Haltung gefordert. Die Politik erscheint dann schließlich als der Feind, was noch heute in der Richterschaft an Friedrich dem Großen exemplifiziert wird, der die nicht gefügigen Kammergerichtsräte in Spandau einsperren ließ. Diese Richter wiederum sind noch heute immer wieder beschworene Vorbilder; vergessen ist aber der richterliche Beitrag an der uns um ein Jahrhundert näheren Revolution von 1848. Das Frankfurter Pauls-kirchen-Parlament war nicht nur ein Professoren-, wie jeder weiß, sondern auch ein Richterparlament. Die Richter v. Twesten, Waldeck, Truchseß, v. Kirchmann zählten zu den bekanntesten Politikern. Welcher Richter kennt diese Namen? Wohl noch den v. Kirchmann; aber dieser erwarb eher einen skandal-behafteten Ruhm wegen seines Vortrags von 1847 über „Die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft" — mit jenem noch heute immer wieder zitierten Ausspruch: „Ein Federstrich des Gesetzgebers läßt ganze Bibliotheken zur Makulatur werden" —; aber nichts weiß man von seinem politischen Bemühen und Geschick. Er kämpfte nicht nur für die liberale, sondern auch schon für die soziale Demokratie. Sein Vortrag von 1867 vor dem Arbeiterverein in Berlin — einem Vorläufer der SPD — über den „Kommunismus in der Natur" führte zu seiner Amtsenthebung und dem Verlust der Pension

In dem Gedächtnis der Richterschaft sind also die unpolitischen Tugenden der Berliner Kammerrichter haften geblieben, ihr Gehorsam, allerdings gegenüber dem Gesetz und nicht — wie damals üblich — gegenüber dem Landes-herren; verbunden fühlte man sich mit denen, die passiv Unrecht erduldeten, aber weniger mit jenen, die 1848 politisch aktiv für eine demokratische Gesellschaft, für eine demokratische Justiz in Deutschland eintraten. Das Mißlingen der liberalen Revolution von 1848 zeigt sich symptomatisch in dem Schicksal und der Position der Justiz. Bismarck, der die liberalen „Kreisrichter" zeit seines Lebens gehaßt hatte, brachte sie so sehr zur Räson, daß eine Generation nach 1848 die Richterschaft kaisertreu war bis in die Knochen und ihr Sozialprestige darum nicht so sehr in der Funktion des Richters, sondern im Besitz des Ranges eines Leutnants d. R. gewährleistet sah

Die Justiz, die Richterschaft, hatte sich nunmehr das Selbstverständnis des konservativen Bürgertums zu eigen gemacht, was auch im folgenden Jahrhundert bestimmend war. Das bedeutete in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg eine Ablehnung der ersten Republik, belegt durch viele Äußerungen der Standesorganisation. Eine kleine Gruppe spaltete sich zwar ab, stellte sich als Republikanischer Richterbund fest auf den Boden der Demokratie und wurde deshalb von der Mehrheit der Richterschaft bekämpft. Die Mentalität der Richter wirkte sich natürlich auf die Rechtsprechung aus. Aus umfassenden Urteilsvergleichen geht hervor, wie mild Rechtsradikale und wie hart Linksradikale bestraft wurden. Das Urteil eines Magdeburger Gerichts wird auch noch heute zitiert, in dem Reichspräsident Ebert Landesverrat im „objektiven Sinn" vorgeworfen wurde. Der mehrmalige Reichs-kanzler Marx, ein bürgerlicher Zentrumsmann und ehemaliger Richter, erklärte im Hinblick auf die demokratiefeindliche Einstellung der Richter seinen Verzicht, in Beleidigungsfällen zu klagen

Mit der Oppositionsstellung der Justiz war es indes vorbei, als Hitler kam. Die Hinwendung zur Autorität, die Überzeugung, Gesetz wie Führerbefehl seien gleiches Recht sowie der Mangel an Zivilcourage haben weite Kreise der Richterschaft — auch hier mit dem Verhalten des Bürgertums vergleichbar — zum Komplizen Hitlers gemacht, wenn auch sicher nit halbem Herzen, weil Hitler aus seiner Verachtung für den Juristenstand keinen Jehl machte. Dabei soll nicht vergessen wer-len, daß es Richter gab, die mannhaft widerstanden oder die versuchten — und das war n Strafverfahren für NS-Gegner noch besser — nationalsozialistische Willkür-Anordnungen zu unterlaufen.

Unter diesen Voraussetzungen und Belastungen konnte nach der totalen Kapitulation mit der zweiten Republik nicht die Stunde Null für die Justiz beginnen. Gleichwohl zeigen die verflossenen 30 Jahre, daß die Entwicklung der Justiz durch die Vergangenheit nicht so eindeutig vorgezeichnet war und nicht so gradlinig verlief wie in den 70 Jahren zuvor, was bedeutet, daß in dieser Nachkriegszeit das Selbstverständnis des konservativen Bürgertums nicht ohne weiteres für das SelbstVerständnis der Justiz verbindlich war.

Hier handelt es sich um einen komplizierten, ja komplexen Vorgang; denn die Richter-schaff gehörte auch weiterhin nach Herkunft, Erziehung und Ausbildung zum harten Kern der bürgerlichen Mittelschicht:

Bevölkerung Richterschaft Oberschicht 1 % 1 46 ®/o obere Mittelschicht 4% J untere Mittelschicht 40 °/o 45 0/0 obere Unterschicht 150/0 5% untere Unterschicht 40 0/0 1 0/0 5% der Bevölkerung stellen also fast 50 °/o der Richter; 55 % der Bevölkerung wiederum — Unterschicht — stellen nur 6 % der Richter; einen Hilfsarbeiter (untere Unterschicht) zum Vater hat von der Richterschaft nur 1 °/o; dagegen von der Bevölkerung 40 °/o. Bedenkt man, daß diese Schicht sogar zu über 90 °/o in Strafverfahren vertreten ist, so wird der Ausspruch von Dahrendorf verständlich, bei uns sitze eine Schicht über die andere zu Gericht. Allerdings müssen diese Zahlen relativiert, d. h. im Zusammenhang mit der Schichtzusammensetzung anderer Akademikerberufe gesehen werden. Dann kommt heraus, daß der Anteil an Ober-und oberer Mittelschicht bei den Ärzten noch höher ist, niedriger ist er bei den Philologen und erheblich niedriger bei den Ingenieuren. Bei allen diesen Berufen ist aber die Unterschicht weit unterrepräsentiert.

Die einseitige Schichtzusammensetzung ist bei Richtern wohl problematischer als bei anderen akademischen Berufen. Der Arzt hat es — natürlich auch hier wieder mit erheblichen Einschränkungen wegen der psychischen Komponente bei Krankheiten — mit der für alle Schichten gleichen Gattung Mensch zu tun. Der Philologe als Studienrat bewegt sich nicht nur im Kollegenkreis, sondern auch in beziehung auf die Lernenden innerhalb der Schicht, aus der er stammt; denn selbst heute machen weniger als 10 °/o aus der Unter-schicht das Abitur. Der Richter hingegen muß sich mit der Verhaltensweise verschiedener Schichten auseinandersetzen, sie beurteilen und einordnen. Sein Beruf ist wohl nächst dem des Sozialarbeiters derjenige, der sich am stärksten mit dem sozialen Verhalten der Unterschicht befassen muß, vor allem im Strafverfahren und bei Ehescheidungen, mit einer, wie die moderne Arbeiterforschung zeigt, von der Mittelschicht erheblich abweichenden Kultur und Mentalität.

Allerdings sind dies Probleme, die erst in den letzten Jahren publik geworden sind, mit denen sich zur Stunde Null kaum jemand beschäftigte, weshalb die Auswirkungen an einer anderen Stelle zu registrieren sind. Auszurichten ist diese Untersuchung zunächst an der These, daß die Bewußtseinsgeschichte der Richterschaft in der Nachkriegszeit nicht mit der des Bürgertums identisch ist. Darum können auch hier nicht die gleichen Zäsuren wie bei der Geschichte des Bürgertums gemacht werden, die wohl wiederum mit den Zäsuren in der Herrschaft der bürgerlichen Partei, der CDU/CSU, gleichzusetzen sind.

I. 1945 bis 1957: Die Zeit des Selbstbewußtseins der Justiz

Über die Jahre des Schuttwegräumens nach 1945, des Wegräumens äußeren und inneren Schutts, kann schnell hinweggegangen wer-den. Es gab hier die gleichen Probleme wie bei anderen öffentlichen Institutionen auch. Jedoch eine Besonderheit: Weil die Justiz im Hintergrund gestanden hatte, wurde hier nicht so sehr wie bei anderen Behörden darauf geachtet, in welchem Ausmaß mit den Nazis kollaboriert worden war — ein Versäumnis, das sich wenige Jahre später verhängnisvoll auswirken sollte. Wie und weshalb es aber 1949 dazu kam, daß die Justiz von den Vätern des Grundgesetzes so sehr nach vorn geholt und ihr eine derart herausragende verfassungsrechtliche Stellung eingeräumt wurde wie mit Ausnahme der USA in keiner anderen Verfassung, harrt noch der Untersuchung. Den absoluten Rechtsschutz gegen eine Rechtsverletzung durch die öffentliche Gewalt gibt es in keinem anderen Land (Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz). Das zum ersten Mal in der deutschen Rechtsgeschichte konstituierte Verfassungsgericht läßt sich nur mit dem amerikanischen Supreme Court vergleichen. Zugleich wurde der historische Beamtenpferdefuß in der dienstrechtlichen Stellung des deutschen Richters wegoperiert.

Die Richter profitierten wohl davon, daß die Honoratioren-Verfassungsväter das Drei-Ge-walten-Modell von Montesquieu — Legislative, Exekutive und Judikative — möglichst rein durchsetzen wollten, zumal deutsche Demokraten anders als romanische dazu neigen, in Montesquieu und nicht in Rousseau den Schutzheiligen der Republik zu sehen So konnte man sich auch nicht für Formen unmittelbarer Demokratie wie Volksbegehren und Volksabstimmung und Volkswahl des Staatsoberhaupts erwärmen, zumal hieraus in Weimar die Radikalen Profit gezogen haben. Als Entschädigung für das Volk bot sich daher eine Erweiterung des Rechtswegs an. Ferner ist wiederum darauf zu verweisen, daß damals noch die Justiz wegen Hitlers Juristenhaß als Verfolgte des NS-Regimes erschien. Bekannt waren erst die Morde in den Konzentrationslagern, mit denen Richter nichts zu schaffen hatten. Die Beamtenlobby endlich, die in Weimar das Selbstständigwerden der Richter noch verhindert hatte, war wegen der äußeren und inneren Reorganisation der Verwaltung — die Konstituierung der neuen Bundesländer — noch schwach.

Wie es auch gewesen sein mag — jedenfalls verstand es die Justiz, ihre neue Position in Staat und Gesellschaft nicht nur zum eigenen Nutzen, sondern auch zum allgemeinen Wohl einzusetzen. Das Bundesverfassungsgericht gab klar zu erkennen, daß es kein Ja-Sager zu Regierungsmaßnahmen sein würde. Die Verwaltungsgerichte wandten sich gegen obrigkeitliches Denken und setzten Ansprüche des Bürgers gegen die Staatsgewalt im Fürsorge-und Gewerberecht durch. Die Strafgerichte nahmen das Gewissen des Angeklagten ernster als früher und forderten den Nachweis des Bewußtseins der Rechtswidrigkeit, d. h.der Angeklagte muß sich des Unrechts seiner Tat bewußt gewesen sein; es galt nicht mehrder Grundsatz Unkenntnis schützt vor Strafe nicht. Die Zivilgerichte zeigten rechtsschöpferischen Mut, als sie die Gleichberechtigung der Geschlechter durchsetzten, nachdem der Gesetzgeber das entgegenstehende Recht nicht bis 1953 geändert hatte.

In keiner späteren Zeit hat die Justiz so viele Schritte zum demokratischen Rechts-und auch schon zum Sozialstaat getan wie in den ersten Jahren nach dem Grundgesetz. Sie gewann auch in der Öffentlichkeit an selbstverständlichem Vertrauen; die Zeit der Justizkrise in Weimar schien vergessen. Es kam auch die Belohnung — sogar „in klingender Münze": Einstimmig gewährte 1955 der Bundestag den Richtern eine höhere Besoldung als Beamten auf der gleichen Rangstufe.

Zu wenig beachtet wurde in der Justiz wie in der Öffentlichkeit, daß dieser Wandel in der Justiz nicht das Ergebnis eines Reflexionsprozesses oder einer Änderung des Selbstverständnisses war wie auch umgekehrt die fortschrittliche Rechtsprechung nicht auf das Bewußtsein der Richter zurückwirkte. Sie war im wesentlichen darauf zurückzuführen, daß die von der Justiz erstrebte Einflußsteigerung zu dieser Rechtsprechung zwang. In der Binnenstruktur der Justiz hatte sich nichts geändert. Organisation und Klima waren nach 1949 gegenüber den Jahrzehnten zuvor unverändert. Die seit 1871 bestehende Oberlandesgerichtsstruktur bildete das Rückgrat der Justizverwaltung. Diese gibt sich zwar als Dienerin der Rechtspflege; sie stellt den Apparat, das Geschäftsstellen-und Protokollpersonal, so daß sich der Richter um nichts zu kümmern braucht — er darf sich aber auch um nichts kümmern. Er hat keine Organisationsgewalt über seine Gehilfen. Dazu kommt noch, daß der Richter der Dienstaufsicht des Gerichts-präsidenten unterliegt, dieser ihn nach gewissen Zeiträumen zu beurteilen hat und ihn auch disziplinieren kann. Die Disziplinargewalt wurde in den fünfziger Jahren sogar auf die Bundesrichter ausgedehnt, während die Richter des Reichsgerichts selbst unter Hitler formal nur das Strafgesetz über sich hatten.

Zwar wurde schon damals die richterliche Unabhängigkeit wegen der faktischen Übermacht der Justizverwaltung als „verlogene Angelegenheit“ bezeichnet im größeren Rahmen wurde dies aber nicht problematisiert. So konnte ich noch in der Mitte der fünfziger Jahre als Richter in der Bundeshauptstadt erleben, wie Richter in internen Schreiben nach wie vor als „richterliche Beamte" geführt wurden. Als dies schließlich ein Kollege monierte, hieß es in Zukunft richtig „Richter"; nichts änderte sich aber sonst im Dienst-betrieb.

Den fortschrittlich demokratischen Urteilen stand eine gleiche Einstelltnn also nicht gegenüber. Es gab auch bis a das elitäre Präsidium für die Geschäftsvei leilung — schon 1877 — eingeführt — keine richterlichen Partizipationsformen; diese setzten sich erst zwei Jahrzehnte später durch. Das Verhältnis der Richter zur Gesellschaft war von natur-rechtlichen Ideen geprägt, auf der Grundlage der unpolitischen Einstellung einer Honoratiorenelite. Sie träumten von der „Inthronisation der sagenhaften Richterkönige" was im Zusammenhang mit dem Juristentag 1953 u. a. von Ridder mit „entfesselter Justiz" und „Weg zum Justizstaat" (statt Rechtsstaat) und somit als verfassungswidrige Hyperthrophie apostrophiert wurde Die Richter fühlten sich verkannt und waren auch verkannt; denn hinter ihren Utopien stand kein Modell für Staat und Gesellschaft, sondern ein unreflektierter Standesegoismus.

II. 1957 bis 1966: Die Zeit der Resignation

Der Höhepunkt der „Richtermacht“ war eigentlich schon mit den Adenauerwahlen im Herbst 1953 überschritten. Die Richter hatten natürlich nichts gegen Adenauer; die überwiegende Mehrheit wird ihn auch gewählt haben; denn ihre Einstellung gegenüber der Gesellschaft entsprach ja der des Bürgertums. Aber mit der Konsolidierung der Macht Adenauers konsilidierte sich auch die Macht der Verwaltung, die in den Verwaltungsjuristen Adenauer und Globke ihre Protagonisten erblickte und sich nunmehr darum bemühte, die traditionelle Priorität des Verwaltungsjuristen vor dem Richtei wieder herzustellen. Das geschah lautlos, vor allem durch Stellenanhebungen — Oberregierungsräte wurden Ministerialräte, Ministerialräte Ministerialdirektoren — der Besoldungsvorsprung der Richter wurde schnell eingeebnet und in das Gegenteil verkehrt. Diese konnten sich nicht per Haushaltsplan'verbessern, weil ihr Tätigkeitsbereich in einem Gesetz, im Gerichtsverfassungsgesetz, niedergelegt ist. Dem Verwaltungsjuristen liegt ein modernes Denken auch näher als dem Richter; er muß vorausdenken, um Unfälle zu vermeiden; der Richter klärt auf, wie es zu einem Unfall gekommen ist; er arbeitet somit eher die Vergangenheit auf. Jenem liegt ein funktionales, ja technokratisches Denken näher als diesem; er hat Kontakte mit Politik und Wirtschaft. Der Verwaltungsbürokratie kann auch leichter frisches Blut durch Einschleusen der — den Laufbahn-beamten an sich unerwünschten — Außenseiter aus Politik, Wirtschaft und Presse — zumeist aufgeschlossener, unorthodoxer und unbürokratischer Personen — zugeführt werden; der Justiz wird dies durch die starren Voraussetzungen des Gerichtsverfassungsgesetz, das auf den Volljuristen abstellt, unmöglich gemacht. Nicht zuletzt mußte es sich auswirken, daß sich die Richter den utopischen Vorstellungen einer elitären Honoratiorendemokratie hingaben, während die Beamten ganz real von der politischen Macht der Verwaltungsjuristen Adenauer und Globke zu profitieren suchten. Unmittelbar führte aber zum Ansehensverlust der Justiz, daß die fortschrittlich eingestellten Verfolgten des NS-Regimes aus Altersgründen aus den Schlüsselstellungen in der Justiz an höheren Gerichten und in den Justizministerien ausschieden und dafür wieder die „guten Juristen" einrückten, die ihre Ausbildung und entscheidenden rechtlichen Vorstellungen in der NS-Zeit erfahren hatten. Mit dem Schörner-Prozeß 1957 — deshalb bildet dieses Jahr die Zäsur — wurde die Legende von der durch Hitler verfolgten Justiz gewissermaßen mit einem Donnerschlag zerstört. In dem Prozeß gegen den ehemaligen Generalfeldmarschall, angeklagt wegen Mordes an Untergebenen, traten hohe Richter, die* früher im Reichsjustizministerium tätig gewesen waren, als Zeugen auf. Sie wurden wegen Verdachts der Beihilfe zum Mord nicht vereidigt. Als Ministerialbeamte hatten sie sich hergegeben für Hitler rechtswidrige Standgerichtsverordnungen zu entwerfen. Damit wurde die Öffentlichkeit und die Richterschaft — zu spät — mit dem größten Versagen der deutschen Justiz in ihrer Geschichte konfrontiert. Dokumente über Terrorurteile wurden bald aufgefunden, wonach der Diebstahl von Kleinigkeiten, ja sogar die Übertretung der Ausgangsbeschränkung in polnischen Gebieten von Richtern, die wieder in der Bundesrepublik amtierten, mit dem Tode bestraft worden war. Gesetzlich war diese Strafe in der Terrorzeit zwar zulässig gewesen; sie war aber oft verhängt worden ohne Notwendigkeit, aus Gesinnungstreue, die Verhängung einer geringeren Strafe hätte keine Folgen für den Richter gezeitigt. Nicht selten wurde sogar eine zu harte Bestrafung selbst von dem NS-Justizminister in den Richterbriefen — ein Instrument, um damals Einfluß auf die Entscheidungsfindung der Richter zu gewinnen — gerügt. Politisch peinlich wurde es vor allem, wenn aus der DDR Dokumente über die NS-Vergangenheit solcher Bundesrichter kamen, die in politischen Strafsachen nach dem KPD-Verbot tätig waren.

Dieser Situation erwies sich die unpolitische und daher auch im politischen Taktieren ungeschickte Richterschaft nicht gewachsen. Ihre Standesorganisation reagierte wie ein typischer Interessenverband mit Beschwichtigung, Bagatellisierung, Gegenbeschuldigung nach außen und nach innen mit Totschweigen oder Verfolgen anderer Meinungen in den eigenen Reihen. Als schließlich auf Grund von Dokumenten und Ermittlungen nichts mehr totzuschweigen war — mehrere hundert Richter und Staatsanwälte, wahrscheinlich sogar an die tausend, die in der NS-Zeit an äußerst bedenklichen Entscheidungen mitgewirkt hatten, waren nach 1945 wieder eingestellt worden — stellte man sich um und war auch bereit, mit § 116 Deutsches Richtergesetz eine Bestimmung zu übernehmen, die zum Ausscheiden der NS-belasteten Richter und Staatsanwälte führen konnte.

Aber es dauerte Jahre, bis die Wunde heilte. Zuvor mußte die Richterschaft mit dem neuen Richtergesetz von 1961 eine Niederlage hinnehmen; denn dieses Gesetz, das dem Verfassungsauftrag nachkommen sollte, die Stellung der Richter neu zu regeln, brachte nur eine Minimallösung für die Mitwirkungsrechte. Dabei hatten einige Bundesländer, vor allem Nordrhein-Westfalen, in Personalvertfetungs-gesetzen dem öffentlichen Dienst im allgemeinen mehr Partizipation eingeräumt. Aus Resignation und falschem Stolz beteiligten sich nicht die Richter — wohl aber die Staatsanwälte — an diesen Vertretungsorganen. Bedenkt man ferner, daß die Justiz bei einigen spektakulären Prozessen — Rohrbach in Münster, Brühne in München, Dohrn in Hannover oder im Spiegel-Verfahren — heftige Kritik in der Öffentlichkeit erntete, so wird verständlich, daß sie gerade in diesen optimistischen Jahren des Wirtschaftswunders der Zukunft nicht mehr traute und sich in den Schmollwinkel zurückzog, also nach dem Zitat von Werner sich als unverstandene Frau in der Öffentlichkeit verstand.

III. 1966 bis 1970: Richter als Progressive

Dennoch wechselte die Szene wieder schnell, wenn auch nicht von einem Tag auf den anderen, so doch von einem Jahr auf das andere, viel schneller als der Wechsel 1957 geschah. Der beste Kommentator dieses Vorgangs ist der CSU-Bundesjustizminister Jaeger, der bei seiner Rede zur Eröffnung des Deutschen Juristentags im Herbst 1966 in Essen drei Vorgänge dieses Jahres hervorhob: die Gründung einer sozialwissenschaftlichen (und keiner juristischen) Fakultät an der neuen Universität Konstanz, die Klage Frankfurter Amtsrichter gegen ihren Dienstherrn auf eine verfassungsgemäße Besoldung und das Erscheinen der Streitschrift „Im Paragraphen-turm" von Berra. Natürlich wertete er dies nicht als positiv, sondern als Verfallserscheinungen. Tatsächlich kündete sich aber hier an, was noch heute — ein Jahrzehnt später — das Programm für die fortschrittlichen Kräfte im Rechtswesen bildet: Die Einbeziehung der So-zialwissenschaften in die Juristenausbildung, die Mitbestimmung von Richtern in der Justiz und die Selbstkritik der Justiz. Für die drei Reformzweige wurden in dem 1968 von Richtern aller politischen Richtungen, nicht nur progressiver, gegründeten „Aktionskomitee Justizreform" ein Aktionsprogramm aufgestellt ein Verdienst vor allem von Rudolf Wassermann, der bis heute als Theoretiker und Praktiker der Justizreform selbst im konservativen Lager keinen Konkurrenten hat.

In diesem Komitee wurde nicht nur rechtspolitisch, sondern auch — wohl zum ersten Mal im Justizbereich — gesellschaftspolitisch argumentiert. Es wurden Reformen auf dem Strafsektor, ein anderer Verhandlungsstil der Gerichte, die Mitwirkung von Parlamentariern bei der Richterernennung und eine innere Demokratie der Justiz gefordert und Vorschläge ausgearbeitet. Dabei wurde an die Tradition demokratischer Juristen in der Weimarer Zeit angeknüpft. Ein Unterschied ist hervorzuheben: Die Juristen jener Zeit — zu nennen sind Bendix, Berard, Fränkel, Fuchs, Sinzheimer — waren von Beruf Rechtsanwälte, von denen nach dem Kriege — sieht man von Arndt und Heinemann ab, bei denen aber der Politiker den Anwalt verdeckte — kaum noch Reformbeiträge kamen. Sie befaßten sich jetzt im wesentlichen mit wirtschaftlichen und standespolitischen Fragen, soweit nicht die späteren Baader-Meinhof-Anwälte Revolution statt Reform proklamierten, allerdings auch hier ohne fundiertes theoretisches Konzept.

Daß gerade Richter nicht mehr wie in der jüngeren deutschen Geschichte üblich die Bremser bildeten, sondern zur Avantgarde aufrückten, wurde in der Öffentlichkeit begrüßt und fand viel Resonanz. So sollten dann auch mit der ersten Regierungserklärung der sozialliberalen Koalition 1969 die Forderung »Mehr Demokratie wagen" besonders über Rechts-und Justizreformen durchgesetzt werden. Wie es zu dieser sehr fortschrittlichen Episode — es wird auf absehbare Zeit, das läßt sich mit Sicherheit sagen, eine Episode bleiben — in einer gesellschaftlich rückständigen, immobilen und verunsicherten Justiz kam, das bedarf der Erklärung. Sie ist wohl gerade in dieser politischen Tabula-rasa-Situation zu finden. 1966 gab es in der Justiz keine Kräfte, die fähig waren, gesellschafts-und auch justizpolitisch zu agieren. Die Justiz wurde von einem starken Apparat verwaltet, bis in die Standesvertretungen hinein. Die Vorsitzenden der Richterbundorganisationen waren zumeist die Behördenleiter, die sich natürlich weder standespolitisch engagieren wollten noch konnten. Sie traten zwar nach außen als Bannerträger richterlicher Unabhängigkeit auf, nach innen aber, gegenüber ihren Richtern, als sture preußische Dienst-chefs. Darum tat es auch den meisten Richtern, wenn sie auch der Gehaltsklage hessischer Richter oder dem „Paragraphenturm" nicht zustimmten, weil hier gegen Form und Tradition verstoßen wurde, ganz gut, daß das Justizestablishment attackiert wurde. Dieses selbst zeigte sich gegenüber dieser neuen Form einer letztlich politischen Herausforderung hilflos. Dazu kam die allgemeine Verunsicherung konservativer Kräfte durch die studentische Protestbewegung, wobei ein zeitlicher, aber kein innerer Zusammenhang bestand.

Bei dieser allgemeinen Machtparalyse in der Justiz konnten sich sogar wenige politisch engagierte Richter einen erheblichen Einfluß verschaffen. Daraus läßt sich wohl das fortschrittliche Klima in der Justiz erklären und nicht in einem Bewußtseinswandel weiter Kreise der Richterschaft. Darüber täuschten sich auch die Angehörigen des Aktionskomitees Justizreform nicht. So schrieb ich in dem Band „Justizreform": „Die progressiven Richter ... verspüren keinen Triumph. Denn sie befürchten das progressive Alibi einer reaktionären Justiz zu werden ... Was die Kritiker schreiben, wird „oben" zur Not gelesen, aber nicht ernst genommen. Die Freiheit, die heute Justizkritiker in der Justiz besitzen, ist eine Narrenfreiheit" (S. 35).

IV. Ab 1970: Rückkehr der Richterschaft in das konservative Lager

Allerdings überschätzten die progressiven Richter — wie viele in diesen Jahren des Aufbruchs — die Automatik von Partizipationsstrukturen; sie erwarteten also, fortschrittlich demokratische Institutionen würden auch ein gleiches Bewußtsein schaffen; sie überschätzten auch die Bereitschaft sozialliberaler Politiker, sich für personelle Strukturreformen in der Justiz, auch gegen den Widerstand der Mehrheit der Richter, zu engagieren. Schon als der Band des Aktionskomitees Justizreform im Frühjahr 1970 erschien, war Justizkritik nicht mehr sehr gefragt. Die Polarisierung in der Gesellschaft, die mit der Machtübernahme durch die sozialliberale Koalition einsetzte, hatte auch eine Polarisierung in der Justiz zur Folge. Das ist eigentlich eine euphemistische Formel; denn schon bei den ersten Stimmen aus der schweigenden konservativen Mehrheit zeigte sich, daß es in der Justiz anders als in der Gesellschaft nur eine verschwindend geringe Zahl von Linken gibt, wobei hier nicht an die Befürworter radikaler Positionen, sondern an solche gedacht, wird, die in der Gesellschaft auf dem linken Flügel der FDP oder in der Mitte der SPD einzuordnen sind. Zwar haben diese linken Richter nach außen, publizistisch, eine gewisse Bedeutung; ihr Einfluß nach innen ist jedoch minimal.

Wenn hier links und rechts oder progressiv und konservativ gegenübergestellt wird, so darf dies nicht mit einem Ja oder Nein zu Justizreformen korreliert werden. Mehr oder weniger ist jeder Richter für Justizreformen wie ja auch beide Lager in der Gesellschaft für Gesellschaftsreformen sind. Um hier zu scheiden, muß ein anderer Inidikator gefunden werden. Für die Gesellschaft ist dies die Frage, ob die Demokratie eine Wesensform des Staates oder auch der Gesellschaft ist (Auseinandersetzung 1969 zwischen Brandt und Heck); für den Wirtschaftsbereich die Diskussion um die paritätische Mitbestimmung, für die Erziehung ist es das Problem der Gesamtschulen (weniger das der Rahmen-richtlinien, das lediglich aus politischen Gründen in den Vordergrund gerückt war) und für die Justiz ist es die Auseinandersetzung um den „politischen Richter“.

Schon 1956 hatte sich Adolf Arndt gegen die Antithese vom Richter, der jenseits der Pol; tik stehe, zum Politiker gewandt und ausge führt, wieviel Politik doch bei der Recht sprechung im Spiele sei Richard Schmi hat 1969 ganz unbefangen ausgeführt, die Ju stiz sei die Fortsetzung der Politik mit ande ren Mitteln Zum Theoretiker und Praktike des politischen Richters wurde vor allem Ru dolf Wassermann, der in seinem 1971 erschie nenen Buch dargetan hat, es gehe gar nicht darum, ob man den politischen Richter wolle oder nicht, man habe ihn bereits; denn jed Justiz sei politisch, ob man es zugebe ode nicht; es komme aber darauf an, daß de Richter sein Bewußtsein am System der Demokratie ausrichte, nicht private Vorlieben oder schichtspezifischen Präferenzen folge und an der Verwirklichung des sozialen Rechtsstaats mitwirke Auf der Gegenseit wird die Neutralität des Richters postuliert er habe nicht die soziale Gerechtigkeit zu "verwirklichen", sondern nur Entscheidungen des demokratischen Gesetzgebers auszufüh ren, wobei eine solche politische Neutralität als möglich angesehen wird Dies bedeutet gesellschaftlich die Entscheidung für eir Harmoniemodell, dem also die Konflikttheorie gegenübersteht.

Wie bei der Diskussion um die Rahmenrichtlinien wird in der Praxis heftig diffamiert. So wurde schon 1970 in einem Kommentar desDeutschen Richterzeitung der politische Richter als Justizideologe hingestellt, für den der Grundsatz der Gewaltenteilung eine Fassade sei, die niedergerissen werden müsse; der „der Richter als „politischer Kommissar". Interessant ist — und insoweit war die Entwicklung in der Justiz der in der Gesellschaft um zwei Jahre voraus —, daß hinter diesem Kommen-eines unbekannten Richters eine ebenfalls gekannte „Gesellschaft zur Förderung öftlicher Verantwortung" stand; hinter dieser aber ein bei der äußersten Rechten bekannter Nachrichten-und Geldsammler (Lohrisch)

Es ist natürlich nichts dagegen einzuwenden, wenn der Hessische Landesverband des Deutschen Richterbundes 1973 Kritik an den dortigen Rahmenrichtlinien übte; bedenklich wird es aber, wenn versucht wird, zu Gesellschaftsvorgängen Parallelen in der Justiz zu konstruieren. In der Richterschaft gibt es nämlich nicht die Schattierungen der Linken — von der terroristischen Linken über die verschiedenen kommunistischen Gruppen und weiter über die Jusos bis zur linken Mitte der SPD — es gibt hier nur eine Linke, die auf der Basis der SPD von der mittleren Rechten bis zur linken Mitte einzuordnen ist. In Vorträgen und Schriften wird aber der Popanz eines Richters aufgebaut, selbst vom SPD-Establishment, der als politischer Gesellschaftsveranderer Recht spreche. Namen werden allerdings nicht genannt und können auch nicht genannt werden, weil solche Richter bislang nicht in Erscheinung getreten sind; Richtern als Hörern und Lesern fallen aber dann schnell Namen ein und assoziieren mit diesen „politischen Kommissaren" z. B. Wassermann und Rasehorn

Die Justiz, die große Mehrheit der Richterschaft, hat ihrem politischen oder auch unpolitischen Selbstverständnis und ihrer Einstellung zum Staat und zum Recht nach die gleiche Schwenkung wie ein Jahrhundert zuvor nach der mißglückten Revolution von 1848 gemacht, die Schwenkung in das konservative bürgerliche Lager. Festzuhalten bleibt aber, daß sich die Richter zwischen 1945 und 1970 nicht wie diejenigen von 1848 im progressiven Lager befunden hatten. Aufgrund Herkunft, Ausbildung und Umgebung werden sie auch in der Zwischenzeit ihrer Staatsbürgertradition gefolgt sein und bevorzugt CDU/CSU gewählt haben; aber ihre neue — ohne ihr Dazutun zugefallene — verfassungsrechtliche Rolle hatte sie zu einer gewissen Distanz zum eigenen weltanschaulichen Lager gebracht. Dabei spielte mit, daß sie diese Rolle nach dem Leitbild der Honoratiorendemokratie auszufüllen gedachten und nicht nach dem einer Massendemokratie, wozu auch die CDU — wenn auch mit gewissen Vorbehalten — schon ab 1949 neigte. Endlich mußten alle Positionskämpfe um die Erfüllung des Grundgesetzes zugunsten der Dritten Gewalt auf den Widerstand der der CDU nahestehenden Kräfte stoßen, sei es in Gestalt der den Richtern wenig gewogenen Beamtenführung — Adenauer/Globke — sei es auch in der der Justizminister, die ihre Macht nicht aufgeben wollten. Jetzt war der Zwiespalt bei der Richterschaft zwischen Pflicht und Neigung behoben. Es waren ja auch neben dem Bundesjustizministerium viele Länderjustizministerien von der SPD besetzt, während in den fünfziger und sechziger Jahren oft selbst unter einem SPD-Landesministerpräsidenten ein Justizminister der damals konservativen FDP amtierte. Der Vorwurf mangelnder Wahrung der Belange der Dritten Gewalt konnte sich wieder an die richtige Adresse richten.

Die neue Stagnation Es ist verständlich, daß sich die konservativen Richter nicht für gesellschaftliche Reformen in der Justiz erwärmen können; aber auch die der SPD — als Reformpartei — angehörenden Justizminister treten auf der Stelle. So ist ihr Verhältnis zu den ihnen politisch nahestehenden wenigen Linken in der Justiz nicht ungetrübt. Der mit der ersten Regierungserklärung von Brandt angekündigte Wille zu Rechtsreformen, die im Mittelpunkt des Reformprogramm standen, ließ bald nach; äußerlich zeigte sich dies schon darin, daß die Rechtspolitik in der zweiten Regierungserklärung an den Rand gerückt war und in der Regierungserklärung von Schmidt überhaupt nicht mehr vorkam.

Ohnehin hat die traditionsreiche SPD ein distanziertes Verhältnis zur Justiz, wobei die Erfahrungen mit den Sozialistengesetzen wie auch die Unterstützung der Rechtsopposition in der Weimarer Zeit unterschwellig mitwirken. Adolf Arndt und Zinn, der langjährige hessische Ministerpräsident, konnten hier auflockern. Beide fanden keine einflußreichen Nachfolger, zumal sich das Interesse der SPD-Bundestagsfraktion immer stärker — und zu Recht — sozialpolitischen Fragen zuwandte. Daß Rechtsfragen auch Sozialfragen sind, was gerade die progressiven Richter herausstellen, wurde nicht angenommen. So wußten die SPD-Politiker auch nichts mit dem „Personalschatz" anzufangen, der sich daraus gebildet hatte, daß die Reformtheoretiker in der Justiz wie auch in der der neuen Experimental-Juristenausbildung im eigenen Lager stehen. Symptomatisch hierfür ist, wie wenig bislang die zugleich theoretischen wie politisch praktischen Fähigkeiten von Wassermann genutzt werden. So ist es dazu gekommen, daß sich die SPD-Justizminister zumeist pragmatisch verhalten — sie stehen ja auch konservativen Apparaten gegenüber — und immer wieder Kompromisse mit der ihnen politisch nicht nahestehenden Mehrheit der Richterschaft suchen.

Dabei darf nicht verkannt werden, daß auch die Politiker Gründe genug hatten; von den Reformen enttäuscht zu sein. Aufgrund der progressiven Ära, in der Justiz zwischen 1966 und 1970 hatten sie erwartet, hinter den Reformern stünden nicht unerhebliche Truppen; sie gingen also davon aus, daß wie in der Gesellschaft so auch in der Justiz der linke Flügel dem rechten die Waage halten würde. Wie ganz anders hier die Situation ist, stellte sich ihnen vor allem dar, als sie durchaus mit Engagement die Beförderung von Reformern wie Wassermann 1970 und Rasehorn 1972 betrieben. Vor allem der Wirbel um die Beförderung des letzteren in die verhältnismäßig unbedeutende Position eines Vorsitzenden Richters am Oberlandesgericht — Richter in der gleichen oder höheren Position gibt es allein in Hessen 30 und in der Bundesrepublik über 500 — mußte natürlich sozialliberale Rechtspolitiker an der Möglichkeit zweifeln lassen, Personal und Struktur der Justiz maßgeblich zu reformieren.

Die Vorgänge um Wassermann und Rasehorn zeigten aber auch, daß die Richterschaft nicht mehr wie diejenige in den fünfziger Jahren politisch hilflos war, sondern es verstand, CDU-Politiker — als Opposition — und die Presse für die eigenen Interessen einzuspannen. Sie war auch nicht mehr obrigkeitstreu, wobei sie sich aber, anders als in Weimar, mit dieser Republik identifizierte. Sie nahm auch ihre Chancen bei der Mitverwaltung der Justiz wahr. 1971 war es endlich zu maßgeblichen Änderungen der Gerichtsverfassung über die Mitwirkung der " Richter an der Gerichtsorganisation gekommen, Änderungen, die das Grundgesetz nahelegte, die gleichwohl 1961 im Deutschen Richtergesetz ausgeblieben waren, Änderungen, die gerade die Reformer des Aktionskomitees Justizreform gefordert hatten. Aus dem aus den Vorsitzenden gebildeten Seniorenrat als Präsidium für die Geschäftsverteilung der Gerichte wurde nunmehr ein von Richtern gewähltes Gremium und es fielen die aus der Beamtenzeit stammenden Dienstbezeichnungen der Räte, Direktoren und Präsidenten bei den Richtern fort. Konservativen Kräften war aber schon eine Verwässerung der Reform gelungen. Sie enthielt eine Vorsitzenden-Schutzklausel: die Präsidien mußten zur Hälfte aus, allerdings gewählten, Vorsitzenden bestehen und weiterhin unterschieden sich die beförderten Richter in der Dienstbezeichnung von den „gewöhnlichen“. Von parlamentarischen Richter-wahlausschüssen sprach auch niemand mehr. Es zeigte sich alsbald, wie illusionär die Hoffnung der Progressiven war, demokratische Institutionen würden auch zu einem fortschrittlichen Bewußtsein in der Richterschaft führen. In die Mitbestimmungsorgane — neben dem Präsidium gibt es noch Präsidialräte für die Beteiligung an der Beförderung eines Richters und Richterräte für die Beteiligung an allgemeinen und sozialen Angelegenheiten — zogen nämlich konservative Richter ein, von der konservativen Mehrheit gewählt. Diese reden nunmehr mit bei der Personalpolitik und auch bei der richterlichen Fortbildung, bis dahin eine Domäne progressiver Richter. So arrangierten sich die ehemals aufsässigen, im Grunde aber konservativen Amtsrichter über die verschiedenen Richter-gremien mit dem obrigkeitlich ausgerichteten Justizapparat. Dabei gibt es Ansätze zu einer Doppelstrategie. Die den eigenen Interessen entgegenlaufenden Vorhaben des SPD-Justizministers werden, intern in den Mitbestimmungsorganen abzublocken versucht und von außen wird gegen sie die konservative Presse und die CDU-Opposition mobilisiert. So verstanden sie es im Frühjahr 1975 selbst für drittrangige Personalentscheidungen — es ging um den Amtsgerichtspräsidenten in Hamburg und den Vizepräsidenten des Landgerichts Hannover — überregionale konservative Zeitungen wie „Welt" und „Frankfurter Allgemeine" zu interessieren. Das sind sicher legitime Vorgänge; bedenklich wird es aber, wenn intern auf Abgrenzung statt auf Integration gesetzt wird. Bis auf Wassermann, an dem man natürlich nicht vorbeikommt, wird der linke Flügel in der Richterschaft ins Abseits gestellt und in den Ruch des Verfassungswidrigen gebracht Er wird selbst bei der Richterfortbildung über die Sozialwissenschaften ausgeschaltet, obgleich er gerade hier die Experten stellt. Diese sind damit natürlich nicht zum Schweigen verurteilt. Sie publizieren in außerjuristischen Zeitschriften, vor allem in den „Vorgängen". In den Medien kommen sie sogar eher zu Wort als konservative Richter, zumal es unter diesen nur wenige an theoretischen Fragen Interessierte gibt. Uber die Medien und über sozialwissenschaftliche Professoren bei der Richterfortbildung, die dann statt der Kräfte aus den eigenen Reihen eingeladen werden, hört dann auch der Durchschnittsrichter, was sich im Lager der Justiz alles tut — ein problematischer Umweg. Problematisch auch das Defizit an konservativer Theorie in der Justiz, nachdem sich Dinsläge zurückgezogen hat Man füllt es auf durch justizpolitische Beiträge konservativer Rechtslehrer, an denen allerdings kein Mangel besteht Das spiegelt sich in der Deutschen Richterzeitung, dem Organ des Deutschen Richterbundes wider, das sich allerdings stets mehr als fachliche, denn als recht-politische Zeitschrift verstanden hat und zudem dem Establishment — seit 15 Jahren sind ihre Schriftleiter Bundesrichter — verhaftet ist. Der Ansatz zu rechtspolitischen Diskussionen Ende der sechziger Jahre wurde bald aufgegeben. So geht es dann wieder um juristische Glasperlenspiele und Alltagssorgen von Richtern und Staatsanwälten mit gelegentlichen Ausfällen gegen die „Linken" in Gesellschaft und Justiz.

Diese Theoriestagnation wirkt auch auf die Linke zurück. Während bei der „soziologischen" Rechtssoziologie immer neue Gesichter auftauchen — sind die Justizkritiker unter den Richtern — Wassermann, Ostermeyer, Huhn, Kramer, Rasehorn — bis auf Kramer Männer der ersten Stunde; sie sind auch durchweg ein Jahrzehnt älter als die noch zu den Dreißigern gehörenden Protagonisten der Rechtssoziologie: Blankenburg, Lautmann, Kaupen, Rottleuthner. Es findet sich also kein Nachwuchs, der das schwere Geschäft Justiz-kritik betreibt, wenn auch hier oder da ein guter Beitrag erscheint Aber dies ist letztlich nicht erstaunlich; denn in Zeiten eines relativ raschen gesellschaftlichen Fortschritts, in denen wir uns trotz des Nostalgieempfindens bewegen, ziehen Institutionen mit einem betont konservativen Überhang beharrend und nicht fortschrittlich eingestellte Personen besonders an.

Die gesellschaftliche Stellung der Justiz von morgen

Die Fakten im vorausgegangenen Abschnitt werden wohl in der Justiz weithin anerkannt, daraus folgt aber noch nicht die angemessene Bewertung, daß die überwiegende Mehrheit der Richter konservativ eingestellt sei oder rechts stünde. Ohnehin will ja in unserer Ge-Seilschaft fast niemand zu den Konservativen oder Rechten gehören, nein, man steht in der Mitte und zeiht darum die andere Seite, die sich als progressiv oder links bezeichnet, der Überheblichkeit. Dabei gibt es inzwischen ernsthafte konservative theoretische Ansätze, die nicht mehr wie die bisher vulgär-konservativen Positionen die gesellschaftliche Situation simplifizieren Bei der Justiz kommt noch hinzu, daß hier letztlich überhaupt keine politische oder gesellschaftliche Position anerkannt wird, nicht einmal die der Mitte. Dem Selbstverständnis nach gibt es hier nur ein Sachund Leistungsdenken. Als z. B. in Hamburg Anfang 1975 die Amtsrichter darüber abstimmten, wer ihr. Präsident werden sollte, wurde dies nicht als ein Akt der Organisationsautonomie verstanden, als Recht, den Präsidenten selbst wählen zu können wie die Universitäten ihre Präsidenten oder Rektoren, sondern als ein Beurteilungstest; die Richter brachten also lediglich mit ihrer Stimme ihre Erfahrung zur Geltung, wen sie für den Fähigsten hielten. Dieses Erfahrungswissen wird aber okkupiert, denn die sehr individualistische Arbeitsweise gerade beim Amtsgericht erlaubt keinen zutreffenden Einblick in das Dezernat des Kollegen. Erst recht gibt es keine empirischen Untersuchungen zur Bemessung der richterlichen Qualität. Die Hamburger Abstimmung kann daher nur als — insofern unzulässigen — Wahlversuch bezeichnet werden.

Dabei wäre es erwägenswert — und ist auch schon diskutiert worden — der Justiz die gleiche Organisationsautonomie wie den Universitäten einzuräumen. Das würde natürlich für die Beförderungsämter eine Wahl auf Zeit bedeuten, wobei den Gewählten eine Aufwandsentschädigung zugebilligt werden könnte. Damit würde mit der Entbeamtung des Richters ernst gemacht. Aber selbst Richter in der Eingangsstufe verlieren nicht gern die Aussicht auf eine Beförderung auf Lebenszeit, weshalb die Diskussion um die Organisationsautonomie der Justiz eingeschlafen ist.

In dem wichtigen Personalbereich — bei der Anstellung und vor allem bei der Beförderung von Richtern — ist zwar von Sachlichkeit und Rationalität die Rede, Maßstäbe hierfür gibt es aber nicht. Es entscheidet letztlich der persönliche Eindruck des Dienstvorgesetzten, ausgerichtet an den Konventionen eines jahrhundertealten Apparates; der Dienstvorgesetzte hat die Beurteilung vor Augen, die über ihn als jungen Richter vor Jahrzehnten abgegeben worden ist. Konservative Richter beurteilen also konservative Richter mit konservativen Maßstäben — und das Ergebnis ist natürlich: konservative Richter sind die besten! Das übersehen der ideologischen Komponente in der Personalstruktur der Justiz potenziert natürlich die Ideologie. Das führt dann dazu, daß eine Auseinandersetzung mit Richtern, die sich um eine andere Grundeinstellung der Justiz bemühen, garnicht mehr erfolgt, eine Auseinandersetzung, wie sie ja sonst durchaus typisch in unserer Gesellschaft ist. Diese Richter werden ins Abseits gedrängt, natürlich nicht aus ideologischen Gründen, sondern weil ihnen sachfremde Argumentation oder das „Nichterbringen der Leistung" nachgesagt wird. Gerade für die Richterschaft ist aber Toleranz ein wichtiges Gebot und das bedeutet hier Unbefangenheit im Austragen der Gegensätze zwischen rechts und links.

Sicherlich birgt die aus der Gesellschaft kommende Politisierung Gefahren für die Justiz wie umgekehrt das Ausbreiten des Richterrechts (statt Gesetzesrecht) für die Gesellschaft — beides sind aber unabänderliche Prozesse. Die Gefahren aus der Politisierung der Justiz, aus dem „politischen" Richter für die richterliche Unabhängigkeit können nur mit einem politisch wachen Bewußtsein und nicht mit einem unpolitischen Räsonieren gegen „Parteipolitik und Ämterpatronage" bekämpft werden. Zudem machen natürlich die verschiedenen Richtergremien — und nicht nur die Standesvertretung — wacker Politik, nehmen ein „politisches Mandat" für den ganzen Rechtsbereich in Anspruch, das politische Mandat, das die Richter qua Rechtsprechung den Studentenschaften verweigern Sicherlich kann nicht erwartet werden, daß sich die Richterschaft die Theorie vom politischen Richter alsbald zu eigen macht, wohl aber, daß sie akzeptiert, daß Richter und Wissenschaftler aus durchaus achtenswerten Gründen der politischen Einstellung für die Struktur der Justiz und für die Entscheidungsfindung eine erhebliche Bedeutung beimessen.

Allerdings: das Tor, das die linken Reformer für die Justiz aufgeschlossen haben, läßt sich nicht mehr schließen. So ist es heute unbestritten, daß das reine juristische Handwerks-zeug für den Richter nicht mehr ausreicht, weil der größte Teil der Rechtskonflikte zugleich Sozial-und Gesellschaftskonflikte sind. Die Sozialwissenschaften haben in der Juristenausbildung — auch dort, wo nicht mit der Einstufenausbildung (Zusammenziehung von Studium und Referendariat) experimentiert wird — wie auch bei der Richterfortbildung erheblichen Einfluß gewonnen. Allerdings wird bei der Fortbildung, wie schon gesagt, kaum versucht, Richter mit besonderen Erfahrungen auf dem Gebiet der Sozialwissenschaften einzuschalten, sondern man stützt sich auf — politisch nicht selten noch weiter links stehende(!) — Rechtssoziologieprofessoren.

Oft wirken diese auf ihre Zuhörer aus dem Kreis der Richter frustrierend, nicht nur wegen ihrer politischen Einstellung und ihres Soziologenvokabulars, sondern auch weil sie es nicht verstehen und auch nicht verstehen können, den praktischen Nutzen der Sozial-wissenschaften für die Gerichtspraxis aufzuzeigen — ein Ergebnis, das den Justizveranstaltern gar nicht einmal unangenehm sein dürfte; die Richter kehren dann mit noch größeren Vorbehalten gegenüber den Sozialwissenschaften in die Gerichte zurück.

Festzuhalten ist allerdings, daß die neue Rechtssoziologie, deren Vertreter also von der Soziologie herkommen und nicht mehr wie früher als Rechtsphilosophen dieseS Fach nebenher betreiben, sich besonders für die Justiz interessieren. Ihre Untersuchungen be-stätigten das Erfahrungswissen der Justizkritiker von einer autoritären, gesellschaftsdistanzierten Justiz. Mit einer Podiumsdiskussion auf dem 49. Deutschen Juristentag in Düsseldorf 1972 wurde der neue Forschungszweig „Justizforschung" legitimiert Auch die Psychoanalyse beschäftigt sich dank Helmut Ostermeyer seit einiger Zeit mit den Problemen der Justiz und des Strafrechts

Die Rechtssoziologen, die vorwiegend von der empirischen Soziologie herkamen, fanden bei den Vorarbeiten zur Großen Justizreform ein wichtiges Betätigungsfeld. Unter Verwirklichung von Vorstellungen aus der Zeit um die Jahrhundertwende, vor allem von Adikkes, sollten kleine Amtsgerichte aufgelöst werden (was auch schon auf breiter Ebene realisiert worden ist), die beiden erstinstanzlichen Gerichtszüge — Amts-und Landgericht — zusammengefaßt und auch der Prozeßweg reformiert werden. Die Justiz söllte damit gestrafft, wirksamer und für den Bürger überschaubarer werden.

Während bei den in der Amtszeit von Justizminister Jahn besonders tatkräftig betriebenen Vorarbeiten die Juristen bis zum Referentenentwurf in gewohnter Weise unter sich waren, wurden später doch noch empirische Untersuchungen in Auftrag gegeben. Die bisherigen gewonnenen Ergebnisse sind teilweise überraschend, sowohl für den Auftraggeber wie auch für die Untersuchenden. Was als betriebswissenschaftliche Untersuchung zur Effizienz der Justiz in Angriff genommen worden war, weitete sich zu Überlegungen über die Bedeutung der Justiz in einer hoch-entwickelten Industriegesellschaft aus.

Es zeigte sich nämlich — vor allem bei einer Untersuchung des Arbeitskreises für Rechts-soziologie in Hannover — daß wider Erwarten und trotz der wachsenden Kompliziertheit des modernen Lebens und der ständigen sozialen Reibung in einer hochentwickelten Industriegesellschaft weder in Zivil-, noch in Strafsachen eine erhöhte Inanspruchnahme der Gerichte folgt, sondern daß diese eher abhängig ist von einer „frühkapitalistischen Wirtschaftsstruktur", von einem starken Wett-bewerb kleiner und mittlerer Unternehmer. Bestätigt wurde damit auch eine Untersuchung von Blankenburg, fußend auf Akten und Intensivinterviews von Prozeß-Parteien (unter 40 repräsentativ ausgewählten Befragten befand sich übrigens kein Arbeiter!), der konstatierte, daß die Ziviljustiz ein „Dienstleistungsunternehmen für die mittlere Geschäfts-weit" sei

Dieser Trend, so läßt sich aus den Untersuchungen schließen, wird sich bei der Auflösung bürgernaher Gerichte, der kleinen Amtsgerichte, bei der Bildung von Großgerichten oder auch bei solchen rein technischen Maßnahmen wie der Computerisierung des Mahnverfahrens verstärken, und zwar zu Lasten des „Verbrauchers", vor allem des geschäftsungewandten Rechtssuchenden aus der Arbeiterschicht. Die durch diese Maßnahmen erwartete größere Effizienz der Justiz wird zudem ausbleiben.

Hier erfolgt der Anschluß an das Betätigungsfeld der Justizreformer, die von ihrer gesellschaftspolitischen Sicht aus fragen, wie sozial die Justiz sei. Bislang hatten auch die Reformen das soziale Verständnis der Richter nicht angezweifelt, zumal diese in der Regel Sympathie für den „kleinen Mann" haben, wenn der Prozeßgegner Millionär ist. Aber zu einer derartigen Konfrontation kommt es in seltenen Fällen, weil in Zivilprozessen wohl der Millionär, kaum aber der Arbeiter (abgesehen von Ehescheidungsund Unterhaltsverfahren), auftritt. Dafür ist er es, der in über 90 % der Fälle den Strafrichter beschäftigt, nur ist der kleine Mann dann dem Richter nicht mehr sympathisch; er ist dann jemand, der keinen Arbeitsethos besitzt, aber nach den gleichen Konsumgütern trachtet wie die besser Verdienenden und sich dabei in Schulden stürzt.

Derartige, in der Unterschicht häufige Verhaltensweisen sind dem Richter fremd, und die Strafe ist dann oft härter als bei einem Angeklagten aus der Mittelschicht: „Weil du arm bist, bekommst du weniger Recht!" So stießen -dann die Reformer auf die gleiche „Klassenju-stiz", über die schon 1907 Karl Liebknech ausgeführt hatte, Richter behandelten bessei gekleidete Leute bevorzugt, störten sich ar den Ungeschicklichkeiten der Leute aus der unteren Klassen, ihrem Mangel an Bildung sie seien sozial und politisch befangen unc könnten mit proletarischen Prozeßbeteiligter nicht mitempfinden.

Dieses Wissen — verdrängt durch die unruhigen drei Jahrzehnte zwischen 1914 und 1945, durch die Sorge um den immer wieder bedrohten Frieden und anschließend durch die Zeit des Wirtschaftswunders, an der auch sozial schlechter Gestellte partizipierten — wurde wieder ins Bewußtsein gerufen. Die Schichtsoziologie lieferte die wissenschaftlichen Grundlagen. So konnte mit dem Vorgän-ge-Heft 1/1973 „Klassenjustiz heute?" ein Durchbruch erzielt werden, dem die Bücher von Rasehorn, „Recht und Klassen" und Wassermann, „Justiz im sozialen Rechtsstaat" folgten.

Es ist zu erwarten, daß sich diese Erkenntnisse in den nächsten Jahren auch in den Gesetzen niederschlagen werden, dabei erweist sich als Glück, daß die großen technokratischen Vorhaben bei der Justiz — die große Justizreform und eine weitgehende Umstellung auf EDV — schon allein aus technischen und wirtschaftlichen Gründen ohne daß es auf die Bedenken der Rechtssoziologie ankommt, zurückgestellt werden müssen. Inzwischen beginnt auch die Öffentlichkeit darüber nachzudenken, weshalb einfache Leute mit ihren Rechtsproblemen nicht zum Richter kommen, daß hier also eine Schwellenangst vor Richtern und Rechtsanwälten bestehen könnte. So ist es zu gesetzlichen Regelungen für eine öffentliche Rechtsberatung gekommen Reformen des Armen-und Kosten-rechts werden erwogen und überdies auch die Frage gestellt, ob der Grundsatz der Waffen-gleichheit im Zivilprozeß über die bisher vom Richter betonte Neutralität hinaus nicht einen aktiven Einsatz verlangt, um den Rückstand an Intelligenz und Gewandtheit beim Mann aus dem Volk auszugleichen.

Diese Probleme und Überlegungen werden aber in der Justiz noch nicht diskutiert. Er-staunlich ist das allerdings nicht, denn die Diskussion in der Öffentlichkeit ist erst seit 2 Jahren angelaufen, zu kurz für die Justiz, die ja — mit Ausnahme der Zeit zwischen 1966 und 1970 — nicht zur Avantgarde der Gesellschaft gehört. Zeigt die Justiz aber auf längere Zeit keine Resonanz, so wird ihr Bedeutungsverlust in der Öffentlichkeit — angezeigt in ihrem schrumpfenden Stellenwert in den Regierungserklärungen und in den Medien sowie in der Fehlanzeige in der Jubiläums-bilanz im Werk über die zweite Republik — noch stärker werden. Es ist zu hoffen, daß die Justiz sich dem Druck von außen, von der Gesellschaft her, nicht verschließen wird.

Schwerlich wird die Justiz dann an ihre progressive Zeit in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre anschließen, zu hoffen ist aber, daß die Entwicklung der Justiz, die noch in ihrer Bewußtseinshaltung und gesellschaftlichen Einstellung Spiegelbild des konservativen Bürgertums ist, darauf hinausläuft, die gesamte Gesellschaft in ihrer politischen und kulturellen Vielfalt zu repräsentieren.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. hierzu Knut Scheider, Zur sozialen Rolle des deutschen Juristen, Diss. Marburg 1969, S. 43.

  2. Vgl. Wolfgang Kaupen, Das Verhältnis der Bevölkerung zum Recht in einer demokratischen Gesellschaft, in: Steinert (Hrsg.), Der Prozeß der Kriminalisierung, München 1973, S. 27 in Bezug auf Bevölkerungsumfragen zum Recht.

  3. Richter und Politik, in: Neue Rundschau 1/1969, neu aufgelegt in: Das Unbehagen an der Justiz, München 1975, S. 104.

  4. Vgl. Diether Huhn, Oppositionelle Richter, Deutsche Richterzeitung 1968, S. 82 ff.

  5. Vgl. Friedrich Karl Kübler, Der deutsche Richter und das demokratische Gesetz, Archiv für zivili-stische Praxis 162 (1963), S. 104 ff.

  6. Vgl. zu diesem Abschnitt H. und E. Hannover, Politische Justiz 1918— 1933, Fischer 770 (1966) S. 21 ff.

  7. So Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, 1964, S. 868 ff.

  8. So der Oberverwaltungsgerichtspräsident Paulus van Husen, Die Entfesselung der Dritten Gewalt, Archiv für öffentliches Recht, 78, 49.

  9. Adolf Arndt im Geleitwort zu Xaver Berra, Im Paragraphenturm, 2. Aufl. 1967.

  10. Empfiehlt es sich, die vollständige Selbstverwaltung aller Gerichte im Rahmen des Grundgesetzes gesetzlich einzuführen?, Verhandlungen des 40. Deutschen Juristentages, 1953, Bd. I S. 95, 111.

  11. 1961, also 16 Jahre nach Kriegsende, befanden sich immerhin noch 161 Richter im Dienst, die nach amtlichen Ermittlungen an NS-Terrorurteilen mitgewirkt hatten, vgl. Deutsche Richterzeitung 1962, S. 293.

  12. Vgl. die Beiträge in: Rudolf Wassermann (Hrsg.), — Aktionskomitee Justizreform —, Justizreform,

  13. Der Richter, 1956.

  14. Vgl. Anm. 3.

  15. Der politische Richter; vgl. auch Wassermanns Beitrag, Zur politischen Funktion der Rechtsprechung, in: aus politik und Zeitgeschichte, B 47/74.

  16. Dierk-Peter Steffan, Richterliche Rechtsfindung durch politisches Engagement, in: aus politik und Zeitgeschichte, B 47/74; ferner: Wilhelm Henke, Wider die Politisierung der Justiz, in: Deutsche Richterzeitung 1974, S. 173.

  17. Vgl. hierzu die Kommentare von Horst Papke und Hans Lisken, in: Deutsche Richterzeitung 1970, S. 352 und S. 391.

  18. Dies deckt in einem Fall Heinz Recken anläßlich einer Rezension eines Buches von Kissel auf, in: Deutsche Richterzeitung 1974, S. 272; Information tu dem „Fall“ Wassermann bei Rainer Litten, Politisierung der Justiz, 1971 und Rasehorn bei Helmut Ostermeyer, in: Vorgänge 4/1973, S. 16.

  19. Vgl. hierzu Ostermeyer, a. a. O., zum Fall Rase-horn oder auch die Leserzuschrift von Klinge zu einem Aufsatz von Huhn, in: Deutsche Richter-zeitung 1975, S. 114.

  20. Typisch für ihn: Die deutsche Justiz auf dem Weg zur Selbstzerstörung, Deutschland-Magazin Jan. /Febr. 1970, S. 21.

  21. Hier vor allem Hans E. Klein, Richterrecht und Gesetzesrecht, in: Deutsche Richterzeitung 1972, S. 333; Walter Leisner, Sonderheft Die politische Meinung, Okt. 1972 und Henke a. a. O., (Anm. 16).

  22. Vgl. u. a. Litten a. a. O. (Anm. 18), Hasse mit seinen Beiträgen in Rasehorn/Ostermeyer/Huhn/Hasse, Im Namen des Volkes?, 1968, sowie Knoche mit seinen Beiträgen in den Vorgängen 1967— 1971.

  23. Hier ist auf Kaltenbrunner und neuerdings auf Guggenberger in: Krise des Staates, 1975 (zusammen mit Strasser und Greven) zu verweisen.

  24. Vgl. hierzu meinen Beitrag, Der politische Richter und sein Korrelat, der Richterwahlausschuß, Vorgänge 7/1971, S. 238.

  25. Vgl. hierzu meinen Bericht, Die Soziologie als Kritiker und Anreger der Justiz, in: Deutsche Richterzeitung 1973, S. 39.

  26. Strafrecht und Psychoanalyse, 1972.

  27. Der lange Weg in die Berufung, in: Rolf Bender (Hrsg.), Tatsachenforschung in der Justiz, 1972, S. 81. Vgl. auch die von ihm herausgegebene Empirische Rechtssoziologie, 1975, als den bisher besten Über-blick über dieses Gebiet.

  28. Vgl. hierzu u. a. Erich Röper, Rechtsberatung und Rechtsschutz für sozial Schwache, in: aus Politik und Zeitgeschichte, B 6/75.

Weitere Inhalte

Theo Rasehorn, Dr. jur., geb. 1918 in Lüdenscheid, Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht Frankfurt; 1937 bis 1945 Soldat und Offizier, Studium der Rechts-und Sozialwissenschaften in Bonn und Köln, dort von 1948 bis 1972 an Gerichten aller Instanzen und in verschiedenen Rechtszweigen tätig; Mitarbeit an justizempirischen Untersuchungen des Arbeitskreises für Rechtssoziologie in Köln. Veröffentlichungen: Im Paragraphenturm (unter dem Pseudonym X. Berra), Neuwied 1967. Im Namen des Volkes? (mit H. Ostermeyer, D. Huhn und F. Hasse), Neuwied 1968; Die Justiz zwischen Obrigkeitsstaat und Demokratie (mit W. Kau-pen), Neuwied 1971; Recht und Klassen, Neuwied 1974.