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Die Entwicklung des Rechts in der Sowjetunion | APuZ 5/1976 | bpb.de

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APuZ 5/1976 Die aufgeschobene Gipfelkonferenz der europäischen kommunistischen Parteien. Eine Zwischenbilanz Die Entwicklung des Rechts in der Sowjetunion Der antideutsche Nationalismus als Instrument innergesellschaftlicher Auseinandersetzungen in Frankreich: der Fall Binoche

Die Entwicklung des Rechts in der Sowjetunion

Andreas Bilinsky

/ 31 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die doktrinäre Auffassung der Bolschewisten nach 1917 über das Recht als eine kapip talistische Kategorie konnte den Erfordernissen der Praxis beim Aufbau des Kommunismus nicht standhalten. Das Recht erwies sich als ein notwendiges Mittel zur Regelung der Gesellschaftsverhältnisse. Die Rolle des Rechts in der Sowjetgesellschaft gewann daher immer mehr an Bedeutung. In den juristischen Fachzeitschriften, deren Zahl in den letzten 20 Jahren sehr gestiegen ist, werden ständig aktuelle Rechtsfragen diskutiert, wobei durchaus auch heikle Probleme berührt werden. So ist man zu dem Ergebnis gekommen, daß die Vorstellung Stalins von der sowjetischen Verfassung — der der Verfassung die Bedeutung einer Rechtsnorm absprach — absurd sei, die Verfassungsnormen vielmehr echte Rechtsnormen seien. Im Zusammenhang damit tauchte das Problem der Verfassungsgerichtsbarkeit auf, das auf der internationalen Ebene von den Rechts-wissenschaftlern anderer Ostblockstaaten diskutiert wurde. Ferner greifen die sowjetischen Rechtswissenschaftler das rechtliche Wesen der in der Verfassung genannten Grundrechte der Bürger auf; sie ziehen die Schlußfolgerung, daß es sich mit den Schlagworten der eigenen Propaganda nicht deckt. Sie sind der Meinung, daß diese Rechte in der Praxis keine Rechte, sondern lediglich eine „Möglichkeit" bzw. „Rechtsfähigkeit“ der Bürger seien. Der Verwaltungsrechtslehre wird vorgeworfen, daß sie sich auf eine deskriptive Darstellung des staatlichen Verwaltungsmechanismus beschränkt und sich zu wenig auf die Konkretisierung der Menschenrechte konzentriert. Das bestehende Beschwerderecht der Bürger als Mittel zum Schutz der Bürgerrechte vor Verletzungen seitens der Behörden und Amtspersonen funktioniere nicht einwandfrei. Die Rechtswissenschaftler fordern daher die Einführung der Verwaltungsgerichtsbarkeit bzw.der Kontrolle der Verwaltungsakte durch die Gerichte. Auch der zivilrechtliche Schutz der Bürger sei noch weitgehend unzureichend. So fordern die Rechtswissenschaftler, den Bürgern das Recht zu gewähren, sich mit Klagen gegen die Staatsbetriebe an die Zivilgerichte wenden zu können. Im Bereich der Staats-und Wirtschaftsverwaltung fordern sie eine exakte Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen den einzelnen Organen, was sich nur durch eine detaillierte rechtliche Regelung erreichen lasse. Im Bereich der Rechtspflege sind mittlerweile viele positive Erscheinungen festzustellen, wie z. B. die Emanzipation der Gerichte von dem Einfluß der Staatsanwaltschaft oder die Besetzung der Richterämter durch qualifizierte Juristen. Nur im politischen Bereich, in dem der Staatssicherheitsdienst immer noch mit den herkömmlichen Methoden herrscht, erfolgt die Bekämpfung der politischen Gegner mit außerrechtlichen Methoden.

I. Europäischer Hintergrund

Bei der Betrachtung der sowjetischen innerstaatlichen Rechtsverhältnisse darf man nicht vergessen, daß die „Herrschaft des Rechts" bei uns eine Erscheinung der Neuzeit ist. Unter dem Einfluß der Aufnahme (Rezeption) des römischen Rechts drang das Recht allmählich in sämtliche Lebensbereiche des Staates und der Gesellschaft ein und verdrängte patriarchalische Verhältnisse dort, wo sie noch herrschten. Es kommt zur Bildung konkreter Rechtsbegriffe wie „Person", „Sache", „Rechtsfähigkeit", „Handlungsfähigkeit" usw. Das Recht beginnt das Zusammenleben der Menschen auf eine besondere Art und Weise zu ordnen und diese Ordnung durch die Zwangsgewalt des Staates zu sichern. Im Recht treten Menschen als Träger von Rechtspflichten und subjektiven Rechten (Berechtigungen, Ansprüchen) auf. Zunächst grenzte jede Rechtsnorm den Kreis der berechtigten und verpflichteten Personen ab. Die Rechts„technik" suchte aber nach Möglichkeiten, generelle Begriffe für Träger von Rechten und Pflichten zu schaffen. So entstand der Begriff „Rechtsfähigkeit", „Rechtspersönlichkeit", „Rechtsperson". „Die Rechts-fähigkeit des Menschen beginnt mit der Vollendung der Geburt" (BGB § 1). Denjenigen Menschen, die das geset•zliche Reifealter noch nicht erreicht haben, wird von Rechts wegen die Fähigkeit abgesprochen, durch ihre Hand-lungen subjektive Rechte und Rechtspflichten zu begründen. So entstand der Begriff der Handlungsfähigkeit, der Geschäftsfähigkeit.

Unter dem Einfluß des römischen Rechts kam es schließlich zur strengen Scheidung zwischen dem öffentlichen und privaten Recht. Das öffentliche Recht regelt die staatliche Organisation und die Beziehungen des Staates zu seinen Mitgliedern, während das Privat-recht die Lebenssphären von Personen ordnet. Der Staat ist Träger der Rechtsordnung und zugleich Hoheitsträger. Das Recht dringt aber auch in die Verhältnisse zwischen der Staatsgewalt und den der Staatsgewalt Unterworfenen ein; diese werden zu Trägern gegenseitiger Rechte und Pflichten: Der Untertan verwandelt sich in einen freien Bürger mit subjektiven öffentlichen bzw. politischen Rechten oder Grundrechten. Sie sind nach ausdrücklicher Vorschrift (Art. 1 GG) unmittelbar geltendes Recht und binden Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung. Der Katalog der Grundrechte ist in der Verfassung verankert. Für sie sind auch wirksame Garantien vorgesehen, wie Gewaltenteilung, Unabhängigkeit der Gerichte, Bindung der Verwaltung an das Recht, Verfassungs-und Verwaltungsgerichtsbarkeit usw. Den Hintergrund dieser Umwandlungen bildete die individualistische Tradition der westlichen politischen Philosophie.

II. Das Recht im Licht der kommunistischen Dogmatik

Die kommunistische Ideologie lehnt die individualistische Staatsauffassung als einen überbau der kapitalistischen Produktionsverhältnisse grundsätzlich ab. Die Vergesellschaftlichung erstreckt sich auf sämtliche Produktionsmittel, zu denen auch die Arbeitskraft gehört. Der einzelne, das Individuum, wird zu einem organischen Bestandteil der Gesellschaft. Der individualistischen Geistesbewegung der letzten Jahrhunderte wird der totalitäre Kollektivismus gegenübergestellt. Nach der Oktoberrevolution 1917 waren die kommunistischen Politiker in der Sowjetunion fest entschlossen, eine sozialistische Gesellschaftsordnung aufzubauen, worunter sie die Abschaffung der Marktwirtschaft und die Einführung einer allumfassenden Planwirtschaft verstanden. Ihre damaligen Auffassungen über das Recht kann man folgendermaßen kurz zusammenfassen:

Das „Atom" bzw.den Kern der bürgerlichen Wirtschaftsordnung bildet ein Wirtschaftssubjekt, das zugleich ein Privateigentümer ist. Die Wirtschaftsverhältnisse beruhen auf dem Privateigentum. Die Vermögenssphäre der einzelnen Privateigentümer ist durch das Recht genau abgegrenzt. Der Wirtschaftsverkehr Spielt sich nach bestimmten Regeln (Rechtsnormen) ab, die einen objektiven Charakter haben. Die Rechtsordnung ist die Gesamtheit der geltenden objektiven Rechtsnormen. Das Recht stellt somit eine bestimmte juristische Form der Wirtschaftsverhältnisse dar. Ein Wirtschaftsverhältnis zwischen zwei Wirtschaftssubjekten wird dadurch zu einem Rechtsverhältnis. Der Austausch von Gütern, Sach-und Dienstleistungen unter grundsätzlich einander gleichberechtigten Personen vollzieht sich nach den geltenden Rechtsregeln, wird also zum Rechtsverkehr. Diese Auffassung des Rechts beherrscht in den bürgerlichen Staaten auch den öffentlichen Bereich. In der Staatsverwaltung werden die Zuständigkeiten zwischen den einzelnen Behörden durch feste Rechtsnormen abgegrenzt. Das Recht regelt die Verhältnisse zwischen dem einzelnen und dem Staat. Die Rechtskonflikte werden auch durch die unabhängigen Gerichte entschieden, überall ist die Rechtsform entscheidend.

In der Sklavenhaltergesellschaft, in der der Sklave ganz seinem Herrn untersteht, erforderte dieses Ausbeutungsverhältnis keine besondere juristische Formgebung, weil es ein Herrschafts-und Knechtschaftsverhältnis ist, schrieb der prominente sowjetische Rechts-theoretiker Paschukanis in den zwanziger Jahren. Tritt aber der Lohnarbeiter auf dem Markt als freier Verkäufer seiner Arbeitskraft auf, so vermittelt sich das Verhältnis der kapitalistischen Ausbeutung in der juristischen Form des Vertrages. Ein Wesensmerkmal der Rechtsform ist ihre Abstraktheit, denn gerade in der bürgerlichen Gesellschaft nimmt das Recht einen abstrakten Charakter an. Das Recht wird „fetischisiert", zu einem „Fetisch“ erhoben.

In der sozialistischen bzw. kommunistischen Gesellschaft wird der Fetisch Recht allmählich abgebaut und stirbt schließlich ab. In der Planwirtschaft braucht man die „objektiven Rechtsnormen" nicht. Im Gegenteil: Die Rechtsnormen zerlegen das kommunistische Kollektiv in einzelne Individuen, ähnlich wie die patriarchalische Familie in der kapitalistischen Gesellschaftsordnung durch das Recht in einzelne Rechtsträger zerlegt wird. Das Recht ist also eine kapitalistische Kategorie, sie wird im Sozialismus allmählich absterben und den technisch-organisatorischen Normen Platz machen. Das Leben der Gesellschaft wird sich nach einem von den obersten Staatsorganen beschlossenen „Fahrplan" vollziehen. — Soweit die ersten rechtstheoretischen Ansätze nach 1917.

III. Vom Dogmatismus zum Pragmatismus

Im Laufe der Entwicklung wurde die krasse Gegenüberstellung von Markt und Plan in der Sowjetunion abgeschwächt, nachdem man sich überzeugt hatte, daß auch der staatliche Wirtschaftsmechanismus durch bestimmte Rechtsnormen geregelt werden muß. Dies sind nicht nur organisatorisch-technische Normen, sondern auch Normen, die etwas regeln, die Pflichten auferlegen, ein verantwortliches Handeln erfordern, die materiellen Interessen der einzelnen Bürger und Produktionskollektive abgrenzen usw. Doch durfte die gesammelte Erfahrung nicht zur Untergrabung der Lehre über das Wesen des „kapitalistischen" Rechts führen. Dem „kapitalistischen" Recht wurde somit das „sozialistische" Recht gegenübergestellt. Das letztere unterscheide sich von dem ersteren dadurch, daß es den staatlichen Willen der Arbeiterklasse verkörpere und als klassenbedingter Regulator der gesellschaftlichen Beziehungen erscheint. In diesem Sinne werden heute im sowjetischen Schrifttum die unterschiedlichen Rechtsdefinitionen formuliert. Der Unterschied liegt jedoch nicht nur in den Definitionen. Denn wenn die Tätigkeit der einzelnen Glieder den sowjetischen Staats-und Wirtschaftsmechanismus in objektive Rechtsnormen einbetten würde, so entstünde die Gefahr der Absonderung der Rechtsnormen von der Dynamik der Wirtschaft und die Herausbildung von „Rechtsträgern“, von „Individuen". Dann könnten zwischen den Rechtsträgern Konflikte entstehen, die durch die unabhängigen Gerichte entschieden werden müßten. Die Unabhängigkeit der Gerichte aber bedeutet die Gewaltenteilung in einem Staate, der die Einheit der Staatsgewalt unter grundsätzlicher Ablehnung jeglicher Gewaltenteilung zu einem Dogma erhoben hat. Ein derartiges System ließe sich auch aus rein praktischen Gründen mit dem Grundsatz der leitenden Rolle der Partei nicht vereinbaren, denn wenn die Befugnisse eines territorialen Parteikomitees in rechtliche Schranken gewiesen werden, so würde die leitende Rolle der Partei in der örtlichen Staats-und Wirtschaftsverwaltung sofort in Frage gestellt. Diese Gefahren lassen sich vermeiden, wenn die regulierende Rolle des Rechts insoweit akzeptiert wird, als dadurch die bestehenden Machtstrukturen und vor allem die leitende Rolle der Partei nicht in Frage gestellt werden. Die Unabhängigkeit der Gerichte darf also nicht zur Untergrabung des Grundsatzes der Einheit der Staatsgewalt führen.

Da auch die sowjetischen Machthaber den praktischen Wert des Rechts erkannt haben, lassen sie die Rechtswissenschaftler über die einzelnen Rechtsfragen im kommunistischen Staat diskutieren, Vorschläge unterbreiten und sich mit ihrem Rechtsinstrumentarium in den kommunistischen Aufbau einschalten. Somit kann die „Rechtsideologie“ mit dem Prädikat „sozialistisch" offiziell kultiviert und die tatsächlichen Erscheinungen der bestehenden Gesellschaftsordnung rechtlich analysiert werden. Ohne die bestehenden Machtstrukturen in Frage zu stellen, können die Rechtswissenschaftler an den bestehenden Verhältnissen Kritik üben. Nachdem die bisherigen Methoden des Aufbaus des Kommunismus in vielen Beziehungen versagt haben, läßt sich die kommunistische Führung von den Rechtswissenschaftlern überreden, ihre doktrinäre Einstellung zum Recht zu modifizieren. So hat die Lehre über das Absterben des Rechts folgende Modifikation erfahren:

„Sowohl die höchste Normativität, die dem Recht eigen ist, als auch die formale Bestimmtheit der Normen, der genaue Mechanismus der Sicherstellung der Rechte und Freiheiten der Menschen sowie die Rolle der Normen bei der Organisierung der gesellschaftlichen Macht — all das wird auch in der kommunistischen Gesellschaft von großer Bedeutung sein. Wir verstehen unter dem Kommunismus eine gut organisierte Zusammenarbeit von Werktätigen. Strenge Ordnung und strikte gesellschaftliche Disziplin sowie die Unantastbarkeit der Rechte und Freiheiten der Menschen sind unverrückbare Merkmale dieser Zusammenarbeit... Auch in der kommunistischen Gesellschaft werden jene Züge der normativ-rechtlichen Form der gesellschaftlichen Regelung neu genutzt und entwickelt, die das Recht als wirksamen und zweckmäßigen Regulator der gesellschaftlichen Beziehungen kennzeichnen."

Dies ist ohne Zweifel eine bemerkenswerte Wendung in der offiziellen sowjetischen Rechtspolitik. Die hier zitierte Formulierung aus dem Jahre 1968 ist aber leider nur ganz allgemeiner Natur. Ungeklärt bleibt, welche Bereiche des staatlichen Mechanismus der präzisen rechtlichen Regelung unterworfen werden und wie diese Regelung aussehen soll. Der Gesetzgeber erlaubt den Rechtswissenschaftlern, einzelne Probleme ziemlich gründlich durchzudiskutieren. Praktisch wird jedoch wenig getan, und das, was gemacht wird, trägt ausgesprochen konservative Merkmale. Ein kurzer Überblick über die Situation in den einzelnen Rechtsgebieten verdeutlicht die wirkliche Lage der Reformarbeit in der Sowjetunion.

IV. Verfassungsrecht

Zur Zeit gilt in der Sowjetunion die „Stalinsehe" Verfassung von 1936. Diese Verfassung wie auch ihre Vorgängerinnen sind Verfassungen besonderer Art: sie verkünden die Macht der Arbeiter und Bauern. Der wichtigste Artikel der Verfassung von 1936 ist Art. 126, der die Kommunistische Partei als „leitenden Kem" sämtlicher staatlicher und gesellschaftlicher Organisationen proklamiert. Auf diese Weise übernahm die KP das Monopol jeglicher politischer, sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Aktivität.

Alle bisherigen „bourgeoisen“ Verfassungen legten die organisatorisch-strukturellen Grundlagen des Staates fest, andererseits aber sahen sie Mittel zur Einschränkung der Staatsgewalt vor. In der französischen Erklärung der Menschen-und Bürgerrechte von 1789 hieß es: „Ein Staat, in dem die Gewährleistung der Rechte der Menschen und des Bürgers nicht gesichert wird und die Trennung der Gewalten nicht verordnet wird, hat keine Verfassung." Den sowjetischen Verfassungen liegt aber der Grandsatz der uneingeschränkten einheitlichen Staatsgewalt zugrunde. Redefreiheit, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, Freiheit von Straßenumzügen/und -kundgebungen und andere Bürgerfreiheiten werden durch den Staat garantiert, allerdings nur „in Übereinstimmung mit den Interessen der Werktätigen und zum Zwecke der Festigung des sozialistischen Systems". Sie sind also keine Mittel zur Einschränkung der Staatsmacht. Noch zu Lebzeiten Chruschtschows wurde der Entschluß über die Vorbereitung einer neuen Verfassung gefaßt. Aus dem, was bis jetzt über die neue Verfassung gesagt wurde, kann man schließen, daß sich diese heue Verfassung von der heute geltenden in keiner Beziehung unterscheiden wird.

Während der Debatten über den Verfassungsentwurf im Jahre 1936 äußerte Stalin die Meinung, daß zwischen dem Parteiprogramm und der Verfassung-ein grundsätzlicher Unterschied bestünde. Die Verfassung fixiere das bereits Erreichte, während das Programm das zu Erreichende zum Gegenstand habe-, die Verfassung sei also kein Gesetz, keine Rechtsnorm, sondern lediglich eine Deklaration über das Erreichte. Der Staats-und Par-B teiapparat haben jedoch die Aufgabe, das Parteiprogramm zu verwirklichen, müssen also viel weitergehen, als dies die Verfassung deklariert. Sie sind nicht an die Verfassung gebunden.

Nachdem der 21. und 22. Parteitag Andeutungen über die Notwendigkeit eines Ersatzes der „Stalinschen" Verfassung von 1936 durch eine neue machte, nahmen die Rechtswissenschaftler einen Meinungsaustausch über die einzelnen Verfassungsprobleme auf und sind zu dem einheitlichen Ergebnis gekommen, daß die Auffassung Stalins über die sowjetische Verfassung absurd sei, denn sie beraube die Verfassung jeglicher rechtlicher Bedeutung („Urkunde ohne allgemeinverbindliche Rechtskraft"). Die Verfassung müsse aber einen weiten Fragenkomplex regeln. Die Verfassung müsse bestimmte Grundsätze enthalten, auf denen die ganze Rechtsordnung beruhe. Ist man zu der Auffassung gelangt, daß die Verfassungsnormen Rechtsnormen sind, so folgt daraus, daß es auch Staatsorgane gibt, denen die Kontrolle über die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze und anderer Normativakte obliegt. Unter dem Einfluß einiger Ostblockländer gingen sowjetische Juristen nun auf das Problem der Verfassungsgerichtsbarkeit ein. Einer von ihnen schlug vor, in der UdSSR und in den Unionsrepubliken „Verfassungsräte" als Organe der obersten Aufsicht über die Einhaltung der Verfassung zu bilden, wobei diese von den anderen Staatsorganen unabhängig und in ihren Aussagen über die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze völlig frei sein sollten; das Recht auf Verfassungsbeschwerde sei jedem Bürger, jedem Staatsorgan sowie den gesellschaftlichen Organisationen, Betrieben und Behörden zuzubilligen. Dieser Vorschlag wurde seitens der Rechtswissenschaft schweigend umgangen, woraus zu schließen ist, daß die Parteizentrale ihn nicht gebilligt hat.

Berücksichtigt man, daß verschiedene Verfassungsprobleme der Ostblockstaaten, u. a. auch die Frage der Verfassungsgerichtsbarkeit, auf der internationalen Konferenz der „sozialistischen Staatsrechtler" im Jahre 1964 in Szeged (Ungarn) besprochen wurden, so scheinen die wesentlichen Verfassungsprobleme den sowjetischen Juristen nicht nur bekannt zu sein, sondern sie haben auch ihre eigenen Vorstellungen über das Funktionieren des „sozialistischen Konstitutionalismus" entwickelt. Die Parteispitze bremst aber diese Entwicklung nicht zuletzt deswegen, weil sie noch der Auffassung Stalins über die Rolle der Verfassung huldigt. So bestimmt z. B. Art. 110 der Verfassung, daß das Gerichtsverfahren in der Sprache der Unions-bzw.der autonomen Republik vor sich geht, wobei Personen, die dieser Sprache nicht mächtig sind, das Recht haben, sich vor Gericht der Muttersprache zu bedienen. Diese Bestimmung ist auch in den Strafprozeßordnungen sämtlicher Republiken enthalten. In Wirklichkeit aber wird in den meisten Fällen in den Gerichten in russischer Sprache verhandelt. Die Gesetzbücher der Unionsrepubliken werden überwiegend in russischer Sprache gedruckt, die Unterrichtssprache in den juristischen Fakultäten in den Unionsrepubliken ist Russisch. Es liegt also eine eklatante Verletzung des Art. 110 der Verfassung vor. Wagt jemand, sich deswegen beim Zentralorgan zu beschweren, so wird dies als ein Rückfall in den „bourgeoisen Nationalismus" gewertet.

Art. 124 der Verfassung garantiert den Bürgern „die Freiheit der Ausübung religiöser Kulthandlungen" und proklamiert die Gewissensfreiheit. In Wirklichkeit genießen die Kirchengemeinden und ihre Mitglieder fast keinen Rechtsschutz. Etwaige Beschwerden der Bürger werden weder durch Gerichte noch durch zuständige Verwaltungsorgane verhandelt. In diesem Bereich herrscht eine schrankenlose Willkür. Dieses Thema gehört leider nicht zu den Diskussionsthemen der Rechts-wissenschaftler.

V. Das Problem der Grundrechte

Seit der Verabschiedung der Verfassung der UdSSR von 1936 ist die sowjetischen Propaganda nicht müde gewesen, den demokratischen Charakter dieser Verfassung hervorzuheben, weil dort alle denkbaren Grundrechte bzw. subjektiven Rechte verankert seien. Nach dem Tode Stalins gaben sich die sowjetischen Staatsrechtler mit diesen Klischees nicht mehr zufrieden und griffen mutig die Frage nach dem „rechtlichen Wesen" oder „rechtlichen Inhalt" der in der Verfassung verankerten Grundrechte der Bürger auf. Sie gingen von der offiziellen Auffassung des Rechts als dem „Willen der herrschenden Klasse" aus. Diesen Willen repräsentiert der Staat. Der Staat erläßt Gesetze, Rechtsnormen, die in ihrer Gesamtheit die objektive Rechtsordnung bilden. Ausschließlich der Staat ist Schöpfer seiner Rechtsordnung. Einer höheren Macht ist er nicht unterworfen. Wenn der Träger, jeglichen Rechts nur der Staat der Arbeiter und Bauern ist, dann ist jede Möglichkeit von rechtlichen Ansprüchen (subjektives Recht) an den Staat a priori ausgeschlossen. Da das objektive Recht den Willen der herrschenden Klasse beinhaltet und das subjektive Recht dem objektiven ent-springt, wohnt auch dem subjektiven Recht der Wille der herrschenden Klasse inne. Die sich aus der Rechtsnorm ergebenden subjektiven Rechte (Berechtigungen, Ansprüche) und Pflichten sind nur Mittel zur Verwirklichung des Willens der herrschenden Klasse. — Der Schluß ist logischI Wenn die Verfassungsnormen Rechtsnormen sind, aus denen sich Berechtigungen und Ansprüche (subjektives Recht) der Bürger ergeben, so müßte die Verfassungsbestimmung über die Meinungs-oder Versammlungsfreiheit bedeuten, daß die Bürger dem Staat gegenüber Anspruch auf Meinungs-bzw. Versammlungsfreiheit haben. Da dies aber nicht der Fall ist, bemühen sich die sowjetischen Rechtswissenschaftler, Theorien zu entwikkeln, die mit der offiziellen Rechtslehre übereinstimmen. Voraussetzung, daß jemand zum Träger eines subjektiven Rechts (Berechtigung, Anspruch) wird, ist seine Rechtsfähigkeit, behaupten sie. So ist es auch bei uns. Bei uns gilt aber der Grundsatz, daß jede Person rechtsfähig ist. Dieser Begriff der allgemeinen Rechtsfähigkeit als Fähigkeit, Träger von Rechten und Pflichten zu sein, ist nach sowjetischer Auffassung eine der „zivilisti-sehen Rechtsauffassung* (also „bürgerlichen* Rechtsauffassung) entspringende Konstruktion. Demgegenüber bestimmt der sozialisti-/sehe Staat, wer und in welchem Umfang Träger von Rechten und Pflichten ist. Danach gibt es keine allgemeine Rechtsfähigkeit, sondern die Rechtsfähigkeit des Zivilrechts, die des Verwaltungsrechts, des Familienrechts, des Arbeitsrechts usw. Ein Sowjetbürger kann — so wird ausgeführt — die Fähigkeit besitzen, Träger von Zivilrechten zu sein; er kann die Fähigkeit besitzen, das Eigentumsrecht an einem Auto, jedoch nicht an einem Grundstück oder Maschinengewehr zu erwerben, weil diese nicht Gegenstände des Rechtsverkehrs (in Übereinstimmung mit dem Willen der herrschenden Klasse) sein dürfen. Erwirbt jemand ein Auto, so ist er Eigentums-träger geworden, d. h., er hat das subjektive Recht am Auto erworben. Bis zu dieser Zeit hatte er lediglich eine Möglichkeit, war also lediglich „rechtsfähig", ein Auto zu erwerben. In dieser „Möglichkeit" sehen die sowjetischen Rechtstheoretiker die „Rechtsfähigkeit". Die Begriffe „Möglichkeit" und „Wirklichkeit" sind der Dialektik Hegels entnommen worden. Die „Möglichkeit" ist mit der „Rechtsfähigkeit" identisch. Hat jemand ein Auto bereits erworben, so hat er die „Möglichkeit" in die „Wirklichkeit" umgesetzt und dadurch ein subjektives Recht erworben.

Im Lichte dieser theoretischen Ausführungen erhalten die verfassungsmäßigen Rechte („Grundrechte") der Bürger eine besondere „Substanz". Ausgehend davon kommen die sowjetischen Rechtstheoretiker zu dem Ergebnis, daß z. B. das verfassungsmäßige Recht auf Arbeit, ähnlich wie das Recht auf Bildung, auf Urlaub usw., lediglich ein Element der Rechtsfähigkeit, jedoch kein subjektives Recht (keine Berechtigung, kein Anspruch) der Bürger ist. Das Recht auf Arbeit bedeutet, daß der Bürger arbeiten darf. Die „Möglichkeit" zu arbeiten ist nicht einklagbar, genießt also keinen Rechtsschutz. Keine sowjetische Organisation (Betrieb) hat die Pflicht, einen Sowjetbürger anzustellen. Jeder Rechtspflicht entspricht ein Rechtsanspruch, und diesen hat ein Sowjetbürger nicht. Im Gegenteil: Jede Organisation hat die Pflicht, nur Personen anzustellen, die sie wirklich braucht, und das Recht, überflüssige Arbeitsangebote abzulehnen.

Auf diese Weise haben die sowjetischen Rechtswissenschaftler nachgewiesen, daß es sich bei den sog. verfassungsmäßigen Rechten bzw. Grundrechten der Bürger um Parolen ohne jegliche rechtliche Substanz handele. Im Jahre 1973 hat die Sowjetunion die Menschenrechtspakte ratifiziert. Nach den diesbezüglichen Kommentaren der Moskauer Tageszeitungen handelte es sich um kein besonderes Ereignis, denn die meisten Menschenrechte seien in der Sowjetunion bereits verwirklicht. Die Ausführungen der Rechtswissenschaftler (Tolstoj, Bratus, Tschetschot, loffe, Skobelkin und viele andere) hingegen zeigen ein wahres Bild der Menschen-und Bürger-rechte in der Sowjetunion und befinden sich damit im krassen Widerspruch zu den offiziellen Behauptungen.

Es gibt auch Rechtstheoretiker, wie z. B. Strogowitsch, die der Meinung sind, daß die in der Verfassung verankerten Bürgerrechte einen absoluten Charakter haben, d. h. eine unmittelbare Wirkung kraft Verfassungsnorm haben (sollen). Er versucht, einen „Rechtsstatus" des Sowjetbürgers zu konstruieren. Auch diese Auffassung gehört zur Kritik an der Verfassungswirklichkeit.

VI. Zivilrechtlicher Schutz der Bürger

Die öffentlichen Rechte der Sowjetbürger lassen sich nicht mit dem Grundsatz der uneingeschränkten einheitlichen Staatsmacht vereinbaren und sind daher nicht mehr als inhaltslose Deklarationen. Wie ist es aber mit den privaten subjektiven Rechten in der Sowjetunion bestellt?

Die sowjetischen Zivilgesetzbücher kennen solche Verträge wie Kaufvertrag, Mietvertrag, Leihvertrag u. a. Zwischen den Bürgern besteht ein reger Rechtsverkehr; sie schließen miteinander Verträge, aus denen sie berechtigt und verpflichtet sind, haben Ansprüche, d. h. „private“ subjektive Rechte. Diesen Rechten gewährt die Rechtsordnung einen wirksamen Schutz.

Derartige Rechtsverhältnisse können aber nicht nur zwischen natürlichen Personen, sondern auch zwischen den Sowjetbürgern und staatlichen Betrieben, Handelsgeschäften usw. entstehen. In der Regel erwerben die Sowjet-bürger ihre Kühlschränke, Waschmaschinen, Radios, Fernsehgeräte und andere Erzeugnisse bei den staatlichen Betrieben. Die Presse berichtet sehr oft über Verletzungen der Verträge seitens der Staatsbetriebe, durch die die einfachen Sowjetbürger geschädigt werden. In der Regel gibt es für die gekauften Geräte bestimmte Garantiefristen. Wird z. B. ein Fernsehgerät innerhalb der Garantiefrist defekt, so ist der Betrieb verpflichtet, Reparaturen kostenlos durchzuführen. Der Kundendienst der Betriebe ist aber äußerst schlecht organisiert. Private Reparaturwerkstätten gibt es, zumindest in den Großstädten, nicht, so daß der Kunde auf den Kundendienst des Betriebes, bei dem er das Gerät gekauft hat, angewiesen ist. Diese Betriebe sind an den Reparaturen nicht interessiert, weil sie dafür keine Prämie erhalten. Sie nehmen das Gerät in Empfang, halten jedoch die versprochene Frist nicht ein. Der Kunde steht vor einem Problem, wie er seine Ansprüche aus dem Vertrag geltend machen kann. Während die öffentlichen subjektiven Rechte nur eine dünne Bevölkerungsschicht betreffen, sind an dem wirksamen Schutz ihrer Rechtsansprüche gegen Staatsbetriebe wegen Nichterfüllung der Leistung die meisten Sowjetbürger interessiert. Einige Beispiele:

Der Bürger N. schloß mit einer städtischen (staatlichen) Reparaturwerkstätte einen Vertrag über die Reparatur seines Hauses und zahlte als Vorschuß 980 Rubel ein. Die Werkstätte zögerte mit der Reparatur etwa drei Jahre. In dieser Zeit suchte der Kunde etwa 30mal die Verwaltung des Betriebes auf. Schließlich verlor er die Geduld, wollte von dem Vertrag zurücktreten und verlangte die 980 Rubel zurück. Der Leiter der Werkstätte teilte ihm aber mit, daß sein Betrieb verlustbringend sei und kein Geld habe („Iswestija" vom 26. Oktober 1973).

Ein Reisebüro verkaufte an 60 Touristen eine Rundreise zum Einzelpreis von 229 Rubel. Die Rundreise enthielt den Flug zu einer an.der See gelegenen Großstadt, eine Dampferfahrt und den Rückflug. Nachdem die Touristen (es waren sowjetische Touristen) in der Hafenstadt eingetroffen waren, stellten sie fest, daß die Unterkünfte für sie nicht vorbereitet waren. Man hat sie in Notunterkünften untergebracht, da die Hotels überfüllt waren. Die Gaststätte, die ihnen „zugewiesen" wurde, befand sich in einer Entfernung von 10 km. Es war vereinbart, daß sie täglich eine Verpflegung im Wert von 2, 50 Rubel erhalten sollten. In Wirklichkeit belief sich der Wert der Verpflegung auf 1, 40 Rubel. Die Dampfer-fahrt fand nicht statt, denn es hatte sich herausgestellt, daß das Reisebüro die Dampfer-fahrt zweimal verkauft hat. Zwar kam der Dampfer, aber alle Plätze waren besetzt. Die Touristen wandten sich dann an die Beamten des Reisebüros mit der Frage, von wem und welche Entschädigung sie für die mißglückte Rundreise und den verdorbenen Urlaub erhalten würden. Auf diese Frage waren die Beamten jedoch nicht vorbereitet und konnten daher auch keine Antwort geben („Iswestija" vom 6. Juli 1973).

Hier handelt es sich nicht um Einzelfälle. Es gibt Tausende und aber Tausende ähnliche Fälle. In allen diesen Fällen wenden sich die geschädigten Bürger mit Beschwerden an verschiedene Staats-und Parteiinstanzen. Die Intervention dieser Instanzen hilft manchmal das Unrecht beseitigen. Oft ist es aber so, daß ein hoher Funktionär zum Zentrum kommt, ein Wenig Wirbel macht und dann zurück-fährt. Dann schreiben die Geschädigten ihre Briefe an die Zeitungen „Prawda" und „Iswestija", die ihre Sonderberichterstatter beauftragen, den Fall zu untersuchen.

Nun schalten sich die Rechtswissenschaftler mit ihren „Empfehlungen" ein und fragen, ob es überhaupt normal sei, die obersten Partei-und Staatsinstanzen oder Redaktionen der zentralen Zeitungen zu bemühen, um die Folgen von gesetzwidrigen Handlungen der Funktionäre der Betriebe zu beseitigen. Geschädigte Bürger müßten die Möglichkeit haben, nicht nur durch Beschwerden, an die Zentralorgane, sondern vor allem durch Klageerhebung vor Gericht ihre Rechte verteidigen zu können. Die Praxis zeigt, daß in den meisten Fällen der Beschwerdegang versagt. Der Rechtsweg vor Gericht wäre in diesen Fällen der zweckmäßigste, denn das Gericht kann in jedem Fall die „objektive Wahrheit" feststellen, während die Feststellung der Wahrheit durch die Verwaltungsorgane oft der Objektivität entbehrt. Nach Auffassung der Rechts-wissenschaftler ist der Rechtsweg vor Gericht auch „demokratischer", denn die Parteien in einem Prozeß sind gleichgeordnet und gleichberechtigt und die Verhandlung ist öffentlich. Man müsse aber mit dem Vorurteil brechen — sagen die Rechtswissenschaftler —, daß der Prozeß des Bürgers gegen einen Staatsbetrieb mit dem „sozialistischen Rechtsbewußtsein" unvereinbar ist. (Diese Anregung stammt von einem der prominentesten sowjetischen Rechtswissenschaftler, Bratus, in:

„Prawowedenie" Nr. 5/1975.)

Es leuchtet ein, daß dieser Aspekt der Diskriminierung der Bürger aus der Monopolisierung der Produktion und der Verteilung in den Händen des Staates resultiert. Bemerkenswert ist, daß die sowjetischen Dissidenten sich auf die öffentlichen politischen Rechte der Sowjetbürger konzentrieren, jedoch den privaten Aspekt dieser Rechte weitgehend unberücksichtigt lassen. Für die Verbreitung ihrer Ideen benutzen sie die Form der illegalen Veröffentlichung (Samisdat). Die Rechtswissenschaftler suchen dagegen keine Konflikte mit dem System und den Machthabern, lassen sich aber von dem Gedanken leiten, dieses System zu verbessern, erträglicher zu machen und entsprechende Anregungen zu den Reformen zu geben. Daher werden ihre Ideen in der offiziellen Presse gedruckt und von der Bevölkerung gelesen.

VII. Besonderheiten der sowjetischen Kodifikationen

Nach dem Tode Stalins fand man es unerläßlich, diejenigen Rechtsgebiete umzuarbeiten, in denen der Personenkult Stalins die meisten Spuren hinterließ, also vor allem das Strafgesetzbuch, die Strafprozeßordnung und die Gerichtverfassung. In den sechziger Jahren verfiel der sowjetische Gesetzgeber in eine Art Kodifizierungsrausch. Neukodifiziert wurden nicht nur das Zivilrecht und das Zivilprozeßrecht, sondern auch das Arbeitsrecht, das Familienrecht, das Bodenrecht, Wasserrecht, Gesundheitswesen usw. Da die individualistische Rechtsauffassung grundsätzlich abgelehnt wird, erhalten die sowjetischen Kodifikationen eine andere Prägung. So enthalten beispielsweise die Grundlagen der Gesetzgebung über das Gesundheitswesen eine Vielzahl von Bestimmungen, die an die im Gesundheitswesen beschäftigten Funktionäre gerichtet sind und beschreiben, was sie tun sollen, welche Aufgaben seitens des Staates auf sie übertragen werden. Im Kapitel über die medizinische Betreuung der Bürger wird deskriptiv aufgezählt, welche Art medizinischer Hilfe die Werktätigen vom Staat erhalten. Es wird aber vermieden, ihre Ansprüche gegen die zuständigen Staatsorgane aufzuzählen und das Verfahren für die Durchsetzung ihrer Rechte festzulegen. Man liest diese Kodifikation wie ein Nachschlagewerk über das sowjetische Gesundheitswesen und nicht wie ein Gesetz, wo jedes Wort Gewicht hat. Der Bürger weiß nicht genau, welche Rechte ihm zustehen und wie er sich mit seinen im Gesetz verankerten Forderungen durchsetzen kann. Im Bodenkodex ist z. B. erwähnt, daß den Bürgern für den Wohnungsbau Grundstücke zugewiesen werden. Es wird aber nicht präzisiert, ob jeder Recht auf Zuweisung eines Baugrundstücks besitzt bzw. unter welchen Voraussetzungen er ein Grundstück für diese Zwecke zugewiesen erhalten kann. Erhält er ein Baugrundstück mit Garten, so bestimmt das Gesetz, daß er sein Grundstück „entsprechend der Zweck-bestimmung“ des Grundstücks nutzen darf. Was unter „Zweckbestimmung" zu verstehen ist, wird vom Gesetz nicht deutlich beantwort tet. Sogar die Gesetzbücher wie Zivilgesetzbuch oder Arbeitsgesetzbuch enthalten verhältnismäßig wenige Bestimmungen, aus denen sich klare subjektive Rechte der Bürger ergeben und mit denen man sich unter Umständen im Gerichtswege durchsetzen kann.

VIII. Verwaltungsgerichtsbarkeit

Gerade aus diesem Grunde ist der Spielraum für Entscheidungen der Verwaltungsfunktionäre nach ihrem Ermessen verhältnismäßig groß. Gegen diese Entscheidungen Klage vor Gericht zu erheben, ist nicht möglich. Dagegen wurde 1933 den Bürgern, um ihre Unzufriedenheit mit den Entscheidungen der Verwaltungsorgane zu dämpfen, das Beschwerderecht eingeräumt. Im Jahre 1968 wurde eine neue Ordnung der Erledigung von Beschwerden der Bürger erlassen, die keine besonderen Neuerungen brachte.

Die Beschwerde wird eingereicht, wenn, das subjektive Recht oder ein durch Gesetz geschütztes Interesse eines Bürgers durch ein Staatsorgan oder eine Amtsperson verletzt wurde, wobei es sich bei den gesetzlichen Interessen nicht unbedingt um Interessen handelt, die sich unmittelbar aus dem Gesetz ergeben, sondern auch um solche, die durch die Grundsätze der „sozialistischen Gesetzlichkeit", die „Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens“ die „sozialistische Moral" u. dgl. begründet sind. Die Beschwerde enthält die konkrete Forderung, die beanstandete Verletzung zu beseitigen.

Nicht alle Rechtswissenschaftler gaben sich mit dieser Lösung zufrieden. Im Jahre 1956 (während der „Tauwetterperiode") forderte der Leningrader Strafrechtswissenschaftler Schargorodskij entschieden, die Verwaltungsjustiz einzuführen. Nach seiner Auffassung ist das Gericht die prädestinierte Instanz, nicht nur dann zu entscheiden, wenn der Bürger das Recht verletzt, sondern auch dann, wenn das Recht des Bürgers verletzt wird. Die Verwaltungsorgane würden unter verschiedenen, mehr oder weniger begründeten Vorwänden versuchen, die Verletzung der Gesetze zu rechtfertigen. Die Erfahrung zeige, daß hinter diesen Gründen oft persönliche, eigennützige Motive steckten. Das System der Anrufung der Verwaltungsbehörden durch die Einreichung einer Beschwerde habe sich daher als ein unwirksames Rechtsschutzmittel erwiesen.

Schargorodskij erhielt 1957 von dem ukrainischen Rechtstheoretiker Nedbajlo Schützenhilfe, als dieser schrieb: „Beschwerden und Anträge gegen /unrichtige Handlungen der Amtspersonen und Behörden werden ih der Regel der Obrigkeit im Subordinationsverhältnis eingereicht. Die Erfahrung zeigt, daß diese Ordnung nicht immer eine rechtzeitige, objektive und gesetzmäßige Erledigung der Beschwerden und Anträge sicherstellt, da die Verwaltung in diesen Fällen als Richter in eigener Sache auftritt und daß die Verwaltungsordnung die Beteiligung der interessierten Personen an der Verhandlung ihrer Sachen in dem Maße, wie dies bei dem Gerichtsverfahren der Fall ist, nicht sicherstellt." (Sovetskoe gosudarstvo i pravo, 1957, Nr. 6 S. 26)

Seit dieser Zeit erscheinen in den sowjetischen Zeitschriften wissenschaftliche Aufsätze, in denen das Problem der gerichtlichen Kontrolle der Verwaltung diskutiert wird. Von amtlicher Seite wird behauptet, daß die Verwaltungsgerichtsbarkeit eine typische Einrichtung der bourgeoisen Staaten sei, bestrebt, die Verwaltungswillkür zu maskieren. Was die Sowjetunion anbelangt, so „werden die Rechte und Interessen der Bürger durch das ganze System der gesellschaftlichen Beziehungen geschützt und garantiert, da es keinen Antagonismus zwischen dem einzelnen und dem Kollektiv infolge der Solidarität der Interessen des Staates und der Bürger gibt."

Die Rechtswissenschaftler teilen aber diese Auffassung nicht. Zur Zeit wird die Kontrolle der Gerichte über die Tätigkeit der Verwaltungsorgane in folgenden Ausnahmen zugelassen: 1. Klagen gegen die Unrichtigkeit von Wählerlisten gemäß den Wahlordnungen der örtlichen Sowjets; 2. Klagen auf Aufhebung oder Änderung von Eintragungen im Standes-register; 3. Klagen gegen rechtswidrige Ausstellung von Wohnraumzuweisungen; 4. Klagen gegen rechtswidrige Handlungen des Notars; 5. Beschwerden gegen Disziplinarstrafen; 6. Klagen gegen Amtspersonen wegen Berechnung und Beitreibung von Steuerrückständen und Geldstrafen. Nun verlangen die Rechtswissenschaftler, den Katalog der der Kontrolle der Gerichte unterliegenden Verwaltungsakte wesentlich zu erweitern, zumal z. B. Bulgarien diese Kontrolle nach der Generalklausel eingeführt hat.

IX. Wende in der sowjetischen Verwaltungsrechtslehre?

Die Verwaltungsrechtslehre befand sich in der Sowjetunion seit Jahren in Bedrängnis. Unter dem Einfluß der „bourgeoisen" Verwaltungsrechtlehre betrachtete man in den zwanziger Jahren das Verwaltungsrecht als einen Rechtszweig, der die Verhältnisse zwischen dem Staat und den Bürgern regelt. Nach der Einführung der totalen Planwirtschaft drangen die Funktionen des Staatsapparates in der nationalisierten Wirtschaft in den Vordergrund. Das Verwaltungsrecht wurde aus den Programmen der Hochschulen gestrichen bzw. mit dem Wirtschaftsrecht verschmolzen. 1938 wurde das Verwaltungsrecht wiederhergestellt, jedoch in einem anderen Gewand; es konzentrierte sich ausschließlich auf die Fragen der Staatsverwaltung. Das soziale und politische Wesen dieser Verwaltung trat in den Vordergrund. Die rechtlichen Fragen der Verwaltung lösten sich in den wirtschaftlichen und politischen Fragen auf. Die Verwaltungsrechtler beschäftigten sich nicht mehr mit den Institutionen des Verwaltungsrechts, mit dem Mechanismus der Verwirklichung der Gesetze durch die Verwaltung, mit dem Schutz der Rechtsnormen vor ihrer Verletzung und mit den Garantien für Bürgerrechte im Bereich der Staatsverwaltung. Erst in den sechziger Jahren lebte die Verwaltungswissenschaft wieder auf. Man hoffte, daß dadurch auch die Verwaltungsrechtswissenschaft von den Lasten der Vergangenheit befreit würde. Dazu kam es aber nicht. Die Verwaltungsrechtler fügten sich der Verwaltungswissenschaft, beschränkten sich auf eine deskriptive Darstellung des Mechanismus der Staatsverwaltung und verwischten somit den Unterschied zwischen der Verwaltungswissenschaft und Verwaltungsrechtslehre. Nun mehren sich Meinungen, daß die Normen des Verwaltungsrechts die Rechte und Pflichten der Bürger, der Staatsorgane und der Betriebe konkretisieren sollen. Die Zuständigkeiten zwischen dem Bund und den Unionsrepubliken, zwischen den örtlichen Sowjets und ihren Exekutivkomitees, zwischen den örtlichen Sowjets verschiedener Grade sowie die Zuständigkeiten der Ministerräte sollen exakt abgegrenzt werden. Es sollen auch die wichtigsten Fragen des öffentlichen Dienstes in Angriff genommen werden (Sovetskoe gosudarstvo i pravo Nr. 4/1975 S. 47 ff.).

X. Die Reaktion der Regierungskreise

Die Regierungskreise tolerieren zwar die kritischen Meinungen und Anregungen der Rechtswissenschaftler, machten bis jetzt aber von ihnen keinen Gebrauch. Es wird nicht geleugnet, daß eine exakte rechtliche Regelung und Kompetenzabgrenzung Vorteile hat (das ist schon ein Fortschritt!), es wird jedoch nichts getan, um diese theoretische Aussage in die Praxis der Staatsverwaltung umzusetzen. Dies zeigt sich besonders im Bereich der Wirtschafts-und Staatsverwaltung.

Ih Jahre 1965 wurde die Verordnung über den staatlichen Produktionsbetrieb, die auch heute noch gilt, verabschiedet. Der Betrieb wurde als die wichtigste volkswirtschaftliche Einheit bezeichnet, deren Tätigkeit auf der Verbindung der zentralen Leitung mit der wirtschaftlichen „Selbständigkeit" und Initiative des Betriebes beruhen sollte. Die Verordnung enthält aber keine Garantien für die Selbständigkeit des Betriebes. Wie die Erfahrung zeigt, mischen sich die übergeordneten Wirtschaftsorgane in die internen Angelegenheiten der Betriebe ein. Ihre Selbständigkeit wurde zu einer Fiktion. In den siebziger Jahren wurden die sog. Produktionsvereinigungen gegründet, nachdem man sich überzeugt hatte, daß die betriebliche Selbständigkeit bei strenger Zentralisierung der Planung und Verwaltung wenig Sinn hat. An Stelle der Selbständigkeit der Betriebe sollte nun die Selbständigkeit der Vereinigung kommen. Diese setzt aber voraus, daß die Zuständigkeit der Vereinigung und des Ministeriums, dem sie unterstellt ist, exakt abgegrenzt wird. Die Regierung redet davon, hat aber wenig Mut, diese Abgrenzung in Form eines Gesetzes durchzubringen, denn das wäre ein Präzedenzfall. Die gleiche Erscheinung findet man bei dem „System der Sowjets". Der Gedanke der örtlichen Parlamente (Volksvertretungsorgane) ist zwar keine sowjetische Erfindung, in der Sowjetunion aber gründlich parodiert worden. Wie die Deputierten der Sowjets gewählt werden und welche Rolle dabei die Partei spielt, ist allgemein bekannt. Der Grundsatz des demokratischen Zentralismus bewirkt aber, daß die durch die Sowjets gewählten Exekutivkomitees den übergeordneten Exekutivorganen unterstellt sind und nach deren Direktiven handeln. Mittelbar sind diese Direktiven auch für die Deputierten des betreffenden Sowjets verbindlich. Somit sind die Deputierten nicht Subjekte, sondern einfache Objekte der Willensbildung und von „ihren" Exekutivkomitees völlig abhängig. Wo es keine Abgrenzung von Zuständigkeiten gibt, kann man auch kein verantwortungsvolles Handeln erwarten. Die Sowjetregierung steht vor einem Dilemma: Entweder muß sie einen Rahmen für verantwortliches Handeln der örtlichen Organe in ihrem Bereich schaffen, indem ihre Zuständigkeit von der der übergeordneten Organe abgegrenzt wird, oder sie muß die Zuständigkeitsabgrenzung aus Angst vor dem örtlichen „Partikularismus" vermeiden und den Apparat der örtlichen Sowjets zum technischen Vollstrecker der Weisungen von oben degradieren. Wie aus dem Beschluß des ZK der KP von 1971 „über Maßnahmen zur weiteren Verbesserung der Tätigkeit der Rayon-und Stadtsowjets" und den verabschiedeten „Ordnungen" dieser Sowjets hervorgeht, wurde der traditionelle letztere Weg beschritten. Demnach ist das Territorium eines Rayons oder einer Stadt Bestandteil des Territoriums eines Gebietes. Die Gebietssowjets mit ihrem Apparat üben ihre Macht auf ihrem ganzen Territorium, also auch auf dem Territorium ihrer Rayons und Städte aus. Das gleiche trifft für den Obersten Sowjet der UdSSR und die Obersten Sowjets der Unionsrepubliken zu.

Die Vorschläge der Rechtswissenschaftler hinsichtlich der Abgrenzung der Zuständigkeiten wurden leider überhaupt nicht berücksichtigt. Wenn man die Ordnungen über die örtlichen Sowjets oder z. B. das Gesetz über das Gesundheitswesen in der Sowjetunion liest, so gewinnt man den Eindruck, daß bei diesen Normativakten nicht die Juristen, sondern die Parteifunktionäre am Werk waren. Sie zählen einfach auf, was die Sowjets bzw. ihre Exekutivkomitees tun: sie „üben aus“, „koordinieren", „kontrollieren", „legen fest", „stellen sicher" u. ä. Alle diese Normativakte entbehren jeglicher praktischer Bedeutung, regeln nichts.

Im Jahre 1972 wurde beschlossen, den Status des Deputierten zu festigen, und man verabschiedete ein entsprechendes Gesetz. Nach zwei Jahren stellte das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR fest, daß bei der Durchführung dieses Gesetzes zahlreiche Mängel zu verzeichnen seien. Die Deputierten würden oft über die Einberufung der Plenarsitzung und über die Tagesordnung nicht informiert; die Exekutivkomitees ignorierten die Vorschläge ihrer Deputierten u. dgl. Den Verwaltungsorganen, Betrieben und Organisationen wurde nahegelegt, sich streng an das Gesetz über den Status des Deputierten zu halten. Der Verwaltungsapparat sieht zwar in den Deputierten Mittelsmänner zu den „Massen“ und möchte daher mit den herkömmlichen Mitteln das Prestige der Deputierten heben. Dadurch hat sich aber am Status des Deputierten nichts geändert. Nach wie vor üben die Deputierten ihre Funktionen ehrenamtlich aus und werden durch ihre Arbeitgeber für die Zeit der Tagung des Sowjets mit Durchschnittslohn entlohnt; sie erhalten also keine Prämien. Die Funktion des Deputierten ist daher bei der Bevölkerung nicht attraktiv.

XI. Kodifizierung der Wirtschaftsgesetze

In den sowjetischen Regierungskreisen hat sich die Überzeugung durchgesetzt, daß alle Verfehlungen in der Wirtschaft auf die Nichtbefolgung der Wirtschaftsgesetze zurückzu-führen sind. Inwieweit dies ein . Verdienst" der Rechtswissenschaftler ist, läßt sich nicht feststellen. Damit soll nicht gesagt werden, daß die Kodifizierung der Wirtschaftsgesetz-gebung eine Besonderheit der heutigen Entwicklung ist. Bereits nach der Reform Chruschtschows von 1957 sind vier umfangreiche Bände der „Direktiven der KPdSU und der Sowjetregierung über Wirtschaftsfragen" und andere ähnliche Sammlungen erschienen. üblicherweise enthielten die erlassenen Gesetze und Verordnungen keine Hinweise über die gleichzeitige Aufhebung der bisherigen diesbezüglichen Normativakte. In bezug darauf äußerte sich Breshnew in einer seiner Reden von 1974 folgendermaßen: „In jedem Wirtschaftszweig gelten Tausende von Anweisungen und Instruktionen. Wie soll sich da einer auskennen! Zumal viele dieser Weisungen veraltet sind, unbegründete Einschränkungen und kleinliche Reglementierungen beinhalten. Das schränkt die Initiative ein und ist den an die Wirtschaft gestellten neuen Forderungen im Wege."

Seit dieser Zeit beginnt eine beschleunigte Bereinigung der Wirtschaftsgesetzgebung. Die Methoden, die dabei angewandt werden, ähneln den militärischen Befehlen. So haben z. B. die Zentralbehörden der RSFSR bis 1977 die durch sie erlassenen Normativakte zu überprüfen, die nicht mehr geltenden aufzuheben, Widersprüche zu beseitigen und die durch mehrere Normativakte geregelten ähnlichen Fragen in einem Normativakt zusammenzuziehen. Jedes Ministerium hat bis 1977 ihre Verordnungen und Befehle zu bereinigen und in Form von Sammlungen zu veröffentlichen. Das Ministerium für Justiz soll bis Ende 1975 an die Ministerien die diesbezüglichen methodologischen Weisungen richten. Alle Ministerien und Zentralämter sowie die Gebietsexekutivkomittees werden angewiesen, bei Erlaß ihrer Normativakte unbegründete Beschränkungen der wirtschaftlichen Initiative der Betriebe durch kleinliche Reglementierungen ihrer Tätigkeit zu vermeiden usw.

In diesem Stil hat der Ministerrat der RSFSR am 1. 8. 1975 den Ausführungsbeschluß zum Beschluß des ZK der KPdSU und des Ministerrates der UdSSR vom 25. 6. 1975 „über eine weitere Vervollkommnung der Wirtschaftsgesetzgebung" erlassen. Mit der Bereinigungsarbeit beschäftigen sich Funktionäre, die in der Regel keine Juristen, sondern Technokraten sind. Es erscheint daher zweifelhaft, ob eine in diesem Stil betriebene Kodifizierung einen Ausweg aus dem Chaos zu finden imstande ist.

Unabhängig davon werden in jeder Unionsrepublik „systematische Sammlungen" der Gesetze, Erlasse und Verordnungen vorbereitet Die RSFSR hat ihre Gesetze und Verordnungen bereits 1967 in 15 Bänden veröffentlicht, unter denen sich meistens Gesetze und Verordnungen zu Wirtschaftsfragen befinden. Die Sammlungen werden gebunden; das Loseblattsystem ist in der Sowjetunion unbekannt Infolgedessen ist die Sammlung von 1967 bereits überholt, denn in den letzten sieben Jahren wurden zahlreiche neue Normativakte erlassen, die in die Sammlung nicht eingebaut werden können.

Gemäß dem Beschluß des ZK der KP und des Ministerrates der UdSSR vom Dezember 1970 hat das Ministerium für Justiz der UdSSR eine systematische Sammlung der Gesetze und Verordnungen der UdSSR vorzubereiten. Nach Meldungen der Sowjetpresse sind bereits etwa 20 Bände erschienen, von denen leider kein einziger im Westen angelangt ist.

XII. Maßnahmen zur Verbesserung der Rechtsbetreuung

Doch sind in der Wirtschaft Bereiche vorhanden, in denen der Bedarf an ausgebildeten Juristen sehr groß ist. Seit Chruschtschow wird die Bedeutung der Verträge zwischen den Industriebetrieben aufgewertet. Da ohne Mitwirkung der Betriebe die Aufstellung des Volkswirtschaftsplanes unmöglich ist, werden sie zur Aufstellung des Entwurfs des Volkswirtschaftsplanes herangezogen. Bereits in diesem Stadium ist die Kooperation zwischen den Betrieben wünschenswert. Um so mehl wird auf die Kooperation der Betriebe im Stadium der Planerfüllung Wert gelegt. In allen diesen Stadien vertreten die Betriebe ihre eigenen materiellen Interessen („materielle Interessiertheit"), die hauptsächlich in Prämien und anderen Vergünstigungen ihren Ausdruck finden. Wegen Nichterfüllung oder nicht gehöriger Erfüllung der Verträge entstehen zwischen den Betrieben Konflikte, die durch die staatlichen Vertragsgerichte (Arbitragen) beigelegt werden. Der Vertrag gilt als ein Mittel der Planerfüllung. Zugleich verkörpert der Vertrag auch die Interessen der Betriebe bzw.der Belegschaften. Die Erfahrung zeigte, daß die Technokraten nicht die besten Funktionäre bei der Vertretung der Betriebs-interessen sind. Hier sind Rechtskenntnisse erforderlich, und zwar nicht nur hinsichtlich des Abschlusses und der Erfüllung der Verträge sowie der Anmeldung von Ansprüchen aus den Verträgen, sondern auch hinsichtlich der Einhaltung z. B.der Arbeitsgesetzgebung in den Betrieben.

Aus diesen Gründen haben das ZK der KPdSU und der Ministerrat der UdSSR 1970 den Beschluß „über die Verbesserung der Rechtsbetreuung in der Volkswirtschaft" verabschiedet. Anschließend haben das Justizministerium, die Staatsarbitrage und das Institut für Staat und Recht der Akademie der Wissenschaften der UdSSR im Einvernehmen mit den Ministerien einen Entwurf der „Allgemeinen Ordnung für juristische Abteilungen, Chefjustitiare und Justitiare in den Betrieben, Organisationen und Behörden" erarbeitet, der 1972 bestätigt wurde. Auf diese Weise soll die Gesetzlichkeit in der Wirtschaft verwirklicht werden. Wenn die Rechtsabteilungen in den Betrieben an Bedeutung gewinnen, so müssen auch die übergeordneten Organe der Betriebe (Ministerien, die territorialen Partei-komitees) die Rolle des Rechts in der Wirtschaft zumindest respektieren. Aber auch sie müssen entsprechende Rechtskenntnisse besitzen. Daher werden auch dort Rechtsabteilungen organisiert.

Die Betriebskollektive bestehen zumeist aus einfachen Menschen, von denen die Planerfüllung abhängt. Sie sind an Prämien interessiert; diese können sie verdienen, wenn der Betrieb Verträge erfüllt, Arbeitsdisziplin beachtet usw. Dies ist der Bereich, wo die „rechtliche Ideologie", d. h. die grundlegenden Rechtskenntnisse über die Regeln des Zusammenlebens in den Betrieben nur positive Erfolge zeitigen kann. Seit etwa zehn Jahren läuft in der Sowjetunion die Aktion der „Rechtspropaganda" mit dem Ziel, der ganzen Bevölkerung diese Rechtskenntnisse beizubringen und die Achtung vor dem Gesetz zu erzeugen. Der Erfolg ist, daß die Bevölkerung auch von den Staatsorganen die Einhaltung der Gesetze erwartet.

Das Recht dringt auch in die ländlichen Ortschaften, in die Kolchosen hinein. In Ermangelung von Kolchosjustitiaren werden die Kolchosen durch die Rechtsanwaltskollektive betreut. An den Hochschulen sind die Kontingente der Jurastudenten vergrößert worden. Der Bedarf an Juristen in den staatlichen Rechtspflegeorganen ist sehr groß. Es wurden drei Berufs-richtungen eingeführt: eine staatsrechtliche (für Verwaltungsfunktionäre), eine wirtschaftliche und justizrechtliche (Richter, Staatsanwälte, Untersuchungsführer). Gemäß der Entscheidung des Ministeriums für Hoch-und mittlere Fachschulbildung und des Ministeriums für Justiz von 1973 „Uber den Stand und die Maßnahmen zur weiteren Verbesserung der Vorbereitung der Justizkader" werden außerdem die mittleren Rechtsschulen organisiert, wo Gerichtssekretäre, Gerichtsvollzieher, Sekretäre der Dorfsowjets, Funktionäre der Standesämter usw. ausgebildet werden.

XIII. Rechtspflegeorgane

Die Sowjetverfassung proklamiert die Unabhängigkeit der Richter, jedoch nicht der Gerichtei In diesem Bereich gilt der Grundsatz der Einheit der Staatsgewalt. Die Gerichte sind Bestandteile der Staatsgewalt und in diesem Sinne abhängig. Es gilt aber der Grundsatz der Funktionenteilung, der eine manchmal sehr weitgehende Verselbständigung der Gerichte herbeiführt. Lange Zeit standen die Gerichte unter der Vormundschaft der Staatsanwaltschaft, denn die wählbaren Gerichte galten als „örtliche" Organe, während die Staatsanwaltschaft geschaffen wurde, um die „einheitliche Gesetzlichkeit" im Maßstabe der ganzen Union zu gewährleisten. Im Laufe der Zeit hörten aber die Gerichte auf, örtlich zu gelten und verwandelten sich in einen Teil der vertikal organisierten Staatsgewalt, Sie sind selbstbewußter geworden und emanzipierten sich völlig von der Staatsanwaltschaft. Gegen Entscheidungen der Gerichte kann die Staatsanwaltschaft Proteste erheben, über die letzten Endes die übergeordneten Gerichte bis zum Obersten Gericht der UdSSR befinden.

Zu Stalins Zeit wurden oft Richter ohne jegliche Rechtsbildung gewählt, während für die Staatsanwälte in der Regel die juristische Hochschulbildung obligatorisch war. Heute haben die meisten Richter (über 80 °/o) eine juristische Hochschulbildung. Diese erwarben sie hauptsächlich im Fern-und Abendstudium, das bekanntlich dem Direktstudium nicht gleichwertig ist. Zukünftig soll aber mehr auf das Direktstudium Wert gelegt werden.

Es besteht noch ein Bereich, in dem die Gerichte machtlos sind: Es ist der Bereich, in dem der Staatssicherheitsdienst regiert. Nach dem Tode Stalins erlebte der Staatssicherheitsdienst vorübergehend eine gewisse Schwächung. Er erholte sich aber bald wieder und setzt heute die Tradition von Tsche-ka, GPU, NKWD und MGB fort. Wo das KGB am Werk ist, darf sich kein Justizorgan einmischen. Gegen die Andersdenkenden kommt der Universalartikel 70 StGB RSFSR (antisowjetische Agitation und Propaganda) zur Anwendung. Nicht die Gerichte, sondern der Staatssicherheitsdienst und dessen Untersuchungsorgane entscheiden darüber, ob in einem konkreten Fall der Tatbestand der antisowjetischen Agitation erfüllt ist. Die Verhandlung findet in der Regel unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt. Mit den gleichen Methoden erfolgt die Bekämpfung der Religion in allen ihren Erscheinungsformen.

XIV. Abschließende Überlegungen

Die westlichen Beobachter sind von der geistigen Opposition (Sacharow, Maximow, Solschenizyn und viele andere) in der Sowjetunion beeindruckt. Zugleich sind sie enttäuscht, wenn sie hören, daß es sich lediglich um kleine Gruppen handelt, die keine Chancen haben, den Weg zu den Volksmassen zu finden. Die von ihnen vertretenen Programme sind verschwommen, nicht konkret, manchmal mehr phantasievoll. Der „Samisdat" findet nur eine geringe Verbreitung und beschränkt sich oft auf die Registrierung brutaler und illegaler Methoden des Sicherheitsdienstes. Die Rechtswissenschaftler bilden keine Opposition, vertreten aber Meinungen, die die sowjetische Verfassungswirklichkeit kritisch beleuchten. In ihren Aufsätzen argumentieren sie wissenschaftlich und stützen sich auf gründliche Sachkenntnisse. Sie sind dem Regime gegenüber loyal, möchten es aber verbessern, nicht „liberalisieren", sondern „rationalisieren". Wenn man ihre kritischen Gedanken über verschiedene staats-und verwaltungsrechtliche Probleme zusammenfaßt, so entsteht ein konkretes und fundiertes politisches Programm, dessen wesentliche Grundzüge hier dargestellt worden sind. Wenn man sie dazu noch mit kritischen Auffassungen der Nationalökonomen über die sowjetische Planwirtschaft und den wirtschaftlichen Zentralismus ergänzt, so muß man sich manchmal wundern, warum sich die Dissidenten dieses Programm nicht zu eigen machen, sondern zumeist über die abstrakteren Menschenrechte diskutieren.

Fussnoten

Weitere Inhalte

'S Andreas Bilinsky, Dr. jur., geb. 1916 in Czernowitz (Buchenland); Studium der Rechtswissenschaften und Auslandswissenschaften an den Universitäten Krakau, München und Berlin; Promotion an der Universität München 1961; seit 1957 wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Institut für Ostrecht, München; seit 1968 Lehrbeauftragter für Wirtschaftsrecht sozialistischer Staaten an der Universität München. Veröffentlichungen u. a.: Organisation der sowjetischen Anwaltschaft, 1958; Das sowjetische Eherecht, 1961; Das sowjetische Wirtschaftsrecht, 1968.