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Der Mannheimer Parteitag der SPD 1975 | APuZ 11/1976 | bpb.de

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APuZ 11/1976 Artikel 1 Der Mannheimer Parteitag der SPD 1975 Grundwerte in der Geschichte der deutschen Sozialdemokratie

Der Mannheimer Parteitag der SPD 1975

Peter Glotz

/ 34 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der Mannheimer Parteitag der SPD 1975 hat den Endpunkt eines Prozesses gebracht, den man als die Integration der Außerparlamentarischen Opposition in den demokratischen Staat bezeichnen kann. Die Sozialdemokratische Partei hat sich, wenn auch gegen vielfältige Widerstände, mit Erfolg darum bemüht, den überwiegenden Teil dieser protestierenden jungen Generation in den Staat des Grundgesetzes zu integrieren. Die Diskussion über den Okonomisch-Politisdien Orientierungsrahmen für die Jahre bis 1985, der auf dem Mannheimer Parteitag beschlossen wurde, ist dafür ein Beweis. Viele Fragestellungen der Außerparlamentarischen Opposition sind hier positiv aufgenommen worden, jedoch ohne deren dogmatische und utopische Elemente. Der Mannheimer Parteitag der SPD 1975 hat aber nicht nur alte Diskussionen abgeschlossen, sondern auch neue Fragen gestellt. Vor allem sind drei Probleme formuliert worden, die als moralische Impulse die Politik des nächsten Jahrzehnts bestimmen müssen. Es sind dies die Problematik des Rechts auf Arbeit, die Frauenfrage und die Sicherung geistiger Liberalität in unserem Land. Diese Probleme werden die politische Debatte der nächsten Zeit bestimmen. Personalpolitisch hat der Mannheimer Parteitag 1975 die Ergebnisse des Hannoverschen Parteitages 1973 bestätigt: Es hat weder einen Rechts-noch einen Linksruck gegeben; die politische Führung repräsentiert in ihren Schattierungen die Struktur der Gesamtpartei. Die Verfestigung zu Flügeln und Gruppierungen bedeutet aber — insbesondere für eine Zeit größeren Problemdrucks in den nächsten Jahren — eine Gefährdung der innerparteilichen Solidarität. Die SPD braucht ein „zentristisches" Konzept, um die Probleme von Gegenwart und Zukunft bewältigen zu können.

I.

Die Bereitschaft der deutschen Sozialdemokraten, die vielfachen intellektuellen Impulse der studentischen Protestbewegung und der außerparlamentarischen Opposition zu verarbeiten, ihre utopischen Elemente auszuscheiden und ihre zukunftsweisenden Ideen politisch wirksam zu machen, hat ihnen vielfältige Diffamierungen eingetragen. Der Wille, den sensibleren Teil einer ganzen Generation vor dem Abdriften in Resignation und geistige Emigration zu bewahren, führte zu scharfen Gegenreaktionen, die die intellektuellen Führer der Opposition immer noch zu einer Tendenzwende verdichten möchten. In einzelnen gesellschaftlichen Bereichen, beispielsweise den Hochschulen, verloren die Sozialdemokraten — aufgrund ihrer langwierigen, differenzierten, nicht immer durchschaubaren Diskussion mit der außerparlamentarischen Opposition — an Boden; in manchen Bundesländern — beispielsweise in zwei Landtagswahlkämpfen in Hessen — führten gezielte Antilinkskampagnen zu überdurchschnittlichen Gewinnen der konservativen Partei. Es gelang der CDU/CSU und den mit ihr kooperierenden gesellschaftlichen Gruppen, bei Teilen der Mittelschichten die SPD als „unterwanderte", als teilweise demokratisch nicht zuverlässige, zu unüberprüfbaren Experimenten neigende Partei darzustellen.

Nach dem Mannheimer Parteitag der deutschen Sozialdemokratie 1975 wird sich diese (wie gesagt: teilweise durchaus erfolgreiche) konservative Strategie gegen sich selbst richten. Sollte es den rechten Gruppierungen der Union um Strauß und Carstens gelingen, diese Strategie am Leben zu erhalten, kann es der Sozialdemokratie nur recht sein; diese Strategie wird — im Unterschied zu den frühen 70er Jahren — die liberale Öffentlichkeit nicht mehr überzeugen. Denn das wichtigste Ergebnis des Mannheimer Parteitags 1975 der SPD ist die Integration eines großen Teils der außerparlamentarischen Opposition in den demokratischen Staat.

Sichtbar wird dies in dem bei nur einer Gegenstimme beschlossenen Ökonomisch-Politischen Orientierungsrahmen für die Jahre 1975 bis 1985. In ihm sind (sicher mit einem unaufgelösten Rest von Ratlosigkeit) die Denkanstöße der späten 60er Jahre aufgenommen, die Irrtümer und Illusionen aber abgetan. Die SPD hat gleichzeitig in dem jahrelangen Prozeß der Diskussion die kritische Generation von damals aufgesogen; nur wenige sind — verschreckt — zu den Konservativen gegangen; und nur eine verschwindende Minderheit beharrt in auswegloser Konsequenz auf der reinen Lehre und verzettelt sich in den politischen Sekten der linksradikalen Szene; am gefährlichsten ist noch die Dunkelziffer derer, die sich verbittert in einen konsum-und profitorientierten Privatismus zurückgezogen haben. Aber per saldo kann man sagen, daß das politische System der Bundesrepublik den Ansturm der außerparlamentarischen Opposition überstanden hat, und zwar mehr durch Diskussion als durch Repression. Und man muß hinzufügen: daß dies gelang, war das Verdienst der Sozialdemokratie, die dabei von der Union nach Kräften behindert wurde. Noch während des Mannheimer Parteitags hat Kurt Biedenkopf, der Generalsekretär der CDU, nochmals die Diagnose wiederholt, die er schon nach dem Hannoverschen Parteitag gegeben hatte: Innerhalb der Sozialdemokratie gebe es eine tiefe Spaltung. Er hatte damals, nach dem Hannoverschen Parteitag, geschrieben: „Die SPD ist im Begriff, (ihre) programmatische Substanz aufzulösen, um ihre organisatorische Fülle zu erhalten. Sie versucht damit, der Gefahr der Linksabspaltung zu begegnen, unter der sie in ihrer Geschichte immer wieder gelitten hat. ... Unter dem Namen Sozialdemokratische Partei Deutschland agieren in der Bundesrepublik Deutschland heute zwei in Programm und Prinzip verschiedene politische Gruppen: eine sozialistische und eine marxistische." Biedenkopf wird sich ein neues Interpretationsmuster besorgen müssen; der sozialdemokratische Parteitag hatte für seine Diagnose — als der Par-teivorsitzende Brandt sie in seinem Schlußwort erwähnte — nur noch „Lachen" übrig auch außerhalb der SPD werden bald die Reaktionen auf derartige Feststellungen nicht anders sein. Nach Mannheim brauchen die Konservativen eine neue Strategie gegenüber der Sozialdemokratie.

Im Laufe der nächsten Monate wird einem immer größeren Teil der Öffentlichkeit (auch der veröffentlichten Meinung) klar werden, daß Peter von Oertzen und Horst Ehmke auf dem Mannheimer Parteitag die richtigen Diagnosen gaben.

Von Oertzen: „Die Diskussion über den Orientierungsrahmen ... (hat) dazu beigetragen, sachlich inhaltslose und zumindest überspitzte Gegensätze in unserer Partei abzubauen und damit zu größerer Geschlossenheit der Partei beizutragen, eine Geschlossenheit freilich, die auf eigener Einsicht beruht und nicht so sehr auf äußerer Disziplin oder auf moralischen Appellen, so unverzichtbar dieses beides auch sein mag. In dieser Diskussion sind im übrigen auch die Qualitäten des Godesberger Programms teilweise neu entdeckt worden. Mancher jüngere, aber auch mancher ältere Genosse hat nach gründlicherer Diskussion als in der Vergangenheit in unserem Grundsatzprogramm Dinge gefunden, die er vorher darin vielleicht nicht vermutet haben würde."

Ehmke: „(Es ist) gelungen..., nach langen Jahren manchmal schwieriger, aber doch notwendiger Diskussion, vor allem mit der jungen Generation und dem, was man „die junge Linke" nennt, wieder zu einer großen Übereinstimmung der Partei in der Sache gefunden zu haben. Daraus kann die Partei neues Selbstbewußtsein und neue Kraft schöpfen."

II.

Die neuen Fragen, die während der Großen Koalition weitgehend außerhalb der Institutionen des Parlamentarismus entwickelt worden waren, wurden zu Beginn der 70er Jahre in der Sozialdemokratie zur Debatte gestellt. Sie richteten sich, wenn man vereinfacht, auf folgende Probleme:

— Kann das Prinzip unserer Gesellschaft weiter ein vom Profitprinzip stark gefärbter Individualismus sein? Muß die Konkurrenzgesellschaft der vielen einzelnen nicht in einer neuen Solidarität, dem Sozialismus, überwunden werden?

— Ist der Staat im entwickelten Kapitalismus überhaupt reformfähig? Ist er nicht eine bloße Marionette der großen Konzerne oder ein Vollzugsorgan der Gesetze des Kapitalismus? — Läßt sich angesichts der Probleme wirtschaftlichen Wachstums, angesichts der Ausbeutung der Rohstoffquellen, angesichts weltweiter krisenhafter inflationärer Entwicklungen überhaupt ohne ein ausgebautes Instrumentarium staatlicher Investitionslenkung auskommen? Ist es nicht notwendig — um die Lebensgrundlagen in der Welt zu erhalten —, sowohl Produzenten wie Konsumenten sehr viel schärfer zu kontrollieren und ihre Entscheidungen zu lenken?

— Kann der Problemdruck der Gegenwart überhaupt mit einem parlamentarischen System bewältigt werden? Muß der Parlamentarismus nicht sozusagen von unten, von der Basis her, zu neuen Leistungen getrieben, in bestimmten Punkten sogar gänzlich überwunden werden?

In dieser hier formulierten Form sind die Fragen innerhalb der Sozialdemokratie — vor allem in der letzten Phase der Diskussion, zwischen dem Hannoverschen Parteitag 1973 und dem Mannheimer Parteitag 1975 — nicht gestellt worden; kein verantwortlicher Sozialdemokrat spielte auch nur gedanklich mit der Theorie vom staatsmonopolistischen Kapitalismus oder mit der Idee, den Parlamentarismus abzuschaffen. Aber das waren die Fragen, die in den späten 60er Jahren von Berkeley bis Warschau, von Berlin bis Mexiko-City aufgeworfen worden waren. Die Sozialdemokratie hat ihre Diskussion — wenn auch nicht ohne innere Kämpfe und zuweilen Krämpfe — zugelassen; sie hat, im Unterschied zu den konservativen Parteien in der Bundesrepublik, keine Denkverbote aufgerichtet. Heute, nach dem Mannheimer Parteitag, kann sie konstatieren, daß diese Fragen im Orientierungsrahmen — jedenfalls für kontinentaleuropäisch-demokratische Verhältnisse — aufgearbeitet sind, daß sie für ein Jahrzehnt — und zwar mit der Zustimmung aller Sozialdemokraten, auch der jungen Generation — beantwortet wurden. Die Bereitschaft zur Diskussion hat der SPD zwischen 1970 und 1975 manche Stimme gekostet; aber sie wird ihr jetzt auch eine neue Spannkraft geben, die sie sich nie erarbeitet hätte, wenn diese Diskussion administrativ verhindert worden wäre.

Die SPD ist — dies läßt sich überhaupt nicht bestreiten — im Laufe dieses Diskussionsprozesses bescheidener geworden. Der jetzt beschlossene Orientierungsrahmen verzichtet auf eine quantifizierte Vorausschau der wirtschaftlichen Entwicklung und auf quantifizierte Zielwerte für die Verteilung des künftigen Sozialprodukts auf die großen Bereiche der Investitionen, des Konsums und des Staatsverbrauchs sowie der künftigen öffentlichen Ausgaben auf die verschiedenen Gebiete öffentlicher Tätigkeit Es hat sich klar erwiesen, daß die Prognosekraft der Partei und auch des Staates nicht ausreicht, um derartige Projektionen verantwortlich zu erstellen. Dasselbe ailt für die noch beim Hannoverschen Parteitag beabsichtigte Definition des Begriffes Lebensqualität mit Hilfe von Sozialindikatoren, an denen allerdings noch nicht ernsthaft genug gearbeitet wurde. Trotz dieser Einschränkungen wird man aber sagen können, daß der Orientierungsrahmen in der in Mannheim beschlossenen Fassung eine Interpretation und Konkretisierung des Godesberger Programms darstellt, wobei die Grundsätze dieses Programms auf die seit 1959 neu entstandenen weltpolitischen und weltwirtschaftlichen Probleme angewandt werden. Diese Probleme wurden bereits in Hannover 1973 diskutiert: die ökologische Krise, die Wachstumswidersprüche (Weltinflation, Weltwährungsordnung, strukturelle Arbeitslosigkeit) und das Problem der „Loyalitätssicherung“ — die Gewährleistung einer Zustimmung der Menschen zu den notwendigen, aber oft schmerzhaften Reformprozessen.

Ich kann in diesem kurzen Resümee des Mannheimer Parteitags die Debatte zu den von mir skizzierten Grundfragen nicht im einzelnen nachzeichnen. Die liebevolle Aufmerksamkeit aber, die die konservative Publizistik in Deutschland all diesen theoretischen Auseinandersetzungen zugewandt hat, legt es doch nahe, die Ergebnisse wenigstens schlagwortartig zusammenzufassen. 1. Grundwerte Seit die CDU auf ihrem Parteitag in Mannheim die Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität, wenn auch in gänzlich anderer Interpretation, in ihr Programm aufgenommen hat, wird den Christdemokraten eine pauschale Ablehnung des Denkansatzes dieser Grundwerte schwer. Auch das Toleranzgebot, also die Erkenntnis, daß man aus verschiedenen geistigen Traditionen zu diesen Grundwerten kommen und sie begründen kann, kann die Union trotz ihres Ursprungs (u. a.)

beim Zentrum, der Bayerischen Volkspartei und ähnlich konfessionell geprägten Parteien nicht mehr frontal attackieren. Die Kritik verlegt sich deshalb auf den Zusammenhang der Grundwerte und unterstellt der Sozialdemokratie, sie wolle das Kollektiv der Freiheit des Individuums voranstellen. Mit einem Wort: Die Stoßrichtung der Kritik richtet sich gegen den Grundwert Solidarität, jedenfalls gegen die sozialdemokratische Interpretation dieses Grundwerts, und versucht, die menschliche Sehnsucht nach individueller Freiheit zu einem Vehikel für ihre „strukturkonservativen" Ziele zu machen.

Die beschlossene Fassung des Orientierungsrahmens entzieht solchen Versuchen allen Boden. In dem beschlossenen Text steht der Satz: „Wer den notwendigen Zusammenhang der drei Grundwerte und ihre Gleichrangigkeit verkennt, engt sie ein, höhlt sie aus und läuft schließlich Gefahr, sie — wie im Falle der totalitären Bewegungen — zu zerstören."

Und in der Einführungsrede auf dem Mannheimer Parteitag hat der Vorsitzende der 'Orientierungsrahmenkommission, Peter von Oertzen, erläutert: „Leitende Idee des Sozialismus ist, wie ein Blick auf den ersten Satz des Godesberger Grundwertekapitels lehrt — und wir haben diesen Satz daher auch bewußt an den Anfang unseres neuen Entwurfs gestellt —, die freie Entfaltung der Persönlichkeit. Ungeachtet all seiner unleugbaren sozialen Bindungen und Verpflichtungen steht der einzelne Mensch und nicht das Kollektiv im Mittelpunkt einer demokratisch-sozialistisch geordneten Gesellschaft."

Das Protokoll verzeichnet als Reaktion des Parteitags auf diese Aussage: „Beifall."

Auch aus der Interpretation des Grundwerts Solidarität im Orientierungsrahmen wird die konservative Theorie und Propaganda keinen Honig saugen können. Oertzens Resümee: „Unstreitig steht die Klassensolidarität der Arbeitnehmer am Anfang der Geschichte unserer Partei und ist auch heute noch ein wesentliches Element ihres Wirkens. Aber ungeachtet aller in unserer Gesellschaft fortdauernden sozialen Gegensätze und Konflikte, die offen und, wenn nötig, auch hart ausge-fochten werden müssen, gilt doch auch dies:

es gibt eine allgemeine Solidarität der Mitbürger und der Mitmenschen, von der niemand ausgeschlossen werden darf. Das ist eine prinzipielle Frage, Genossinnen und Genossen. Der menschliche und politische Grundkonsens ist die unerläßliche Voraussetzung auch für das Wirken der sozialistischen Bewegung. Die Alternative zu diesem Konsens wäre der offene Bürgerkampf, den niemand wollen kann, wir Sozialdemokraten zuallerletzt. Und hierzu noch eine Bemerkung:

es ist ein schrecklicher Irrtum, zu meinen, Genossinnen und Genossen, eine Gesellschaft der Brüderlichkeit könne aus dem Geist des Hasses geboren werden."

Die Unterstellung, die SPD wolle Kollektivismus und haßerfüllte Klassenauseinandersetzungen, richtet sich durch diese Beschlüsse einmal mehr gegen sich selbst. Gleichzeitig wird jedoch auch einer oberflächlichen Partnerschaftsideologie eine klare Absage erteilt. Dazu heißt es: „Es ist der Irrtum des Konservatismus, es könne zwischen Reichen und Armen, Mächtigen und Machtlosen, Wissenden und Unmündigen wirkliche Solidarität geben und man könne die rechtlich-politische Freiheit für alle bewahren, wenn man die ökonomische, soziale, kulturelle Freiheit einer Minderheit vorbehält."

Damit ist der Sozialdemokratie der Auftrag erteilt, den Grundwert Solidarität neu zu interpretieren. Sie muß neue Kooperationsverhaltensformen im Arbeitsprozeß, beim Wohnen, bei der Überwindung der traditionellen Trennung von Arbeit und Freizeit entwickeln. Eine Identifikation von Solidarität und Sozialversicherung oder Solidarität und sozialer Sicherheit (im Sinne der Absicherung des individuellen Risikos) ist nicht erlaubt. 2. Staat Anfang der 70er Jahre hat es innerhalb der SPD, besonders im Bereich der Hochschulen und innerhalb der Arbeitsgemeinschaft der Jungsozialisten, eine intensive, z. T. allerdings reichlich akademische Diskussion über den Staat gegeben In der Verfassungsdebatte des Deutschen Bundestages 1974 wurde diese Diskussion von den Unionsparteien wie bei zahllosen anderen Gelegenheiten polemisch aufgegriffen. Unter diese Diskussion wurde in Mannheim nun, wie Oertzen es formulierte, „ein sinnvoller Schlußstrich gezogen. Der Staat ist weder eine allmächtige, über der Gesellschalt schwebende Autorität noch ein Handlanger der Monopole oder eine abhängige Funktion der Kapitalverwertung. Der Staat ist mit der Gesellschaft auf das engste verflochten. Er muß sich seine Unabhängigkeit und seinen Gestaltungsraum gegen starke eigensüchtige Interessen immer aufs neue erkämpfen, und seine Autorität reicht nicht weiter als das Vertrauen, das mündige Bürger in freien demokratischen Wahlen dem Parlament und der Regierung gegeben haben."

Diese, an der Wirklichkeit ansetzende, jeden Hegelianismus rechter oder linker Provenienz vermeidende Definition des Staates ermöglicht eine nüchterne politische Praxis. Die deutsche Versuchung der Staatsvergottung ist ebenso vermieden wie die sozialistische Versuchung, auf ein Absterben des Staates zu hoffen. Es wäre gut, wenn auch der politische Gegner der SPD dieses Ergebnis der Diskussion zur Kenntnis nehmen würde 3. Wachstum Die Wachstumsdebatte, die auf dem Hannoverschen Parteitag im Zentrum der Debatte stand, mußte in ihrer grundsätzlichen Dimension auf dem Mannheimer Parteitag nicht neu aufgenommen werden. Eine strikte Antiwachstumsschule meldete sich in Mannheim nicht mehr zu Wort. Im Orientierungsrahmen ist die Auffassung aller Sozialdemokraten formuliert: „Wir können uns künftig nicht mehr an einem Wachstum ausrichten, das nur in seiner globalen Veränderung betrachtet wird, ohne Rücksicht darauf, wie es sich zusammensetzt und unter welchen Bedingungen es zustande kommt. Unser Ziel muß ein gesamtwirtschaftlich sinnvoll differenziertes, auch an qualitativen Maßstäben ausgerichtetes Wachstum sein."

Dabei wird klar gesehen, daß die Verbesserung des Lebensstandards der Arbeitnehmer in den vergangenen Jahrzehnten von den Wachstumsraten finanziert wurde. Sobald die Wachstumsraten kleiner werden, wird die Zustimmung der breiten Mehrheit der Menschen zu den dann notwendigen Maßnahmen nur erreichbar sein, wenn eine Politik verfolgt wird, die die Gleichheit der Menschen stärker betont. Eine Gleichheitspolitik, die Besitzstände antastet, wird aber schärfere Widerstände bei den Besitzenden auslösen als eine Verteilungspolitik aus der Wachstumsmarge. Im Orientierungsrahmen heißt es: „Der Widerstand der Privilegierten wird um so erbitterter sein, je weniger Maßnahmen aus einer Neuverteilung von Zuwächsen finanziert werden können, je mehr sie also aus einer Umverteilung von Besitzständen finanziert werden müssen.“

Die SPD hat mit diesem Konzept vor allem die kritischen Positionen der Ökologen positiv aufgenommen. Sie hat allerdings gleichzeitig auf die immensen Durchsetzungsschwierigkeiten hingewiesen, die der Verfolgung dieses Konzeptes in der Zukunft in den entwickelten Industriegesellschaften entgegenstehen werden. Ein begrenztes Wachstum darf nicht zum Reformstillstand führen; die Zustimmung zu Reformen wird aber in einem verschärften Verteilungskampf immer schwerer zu erlangen sein. Eine „Lösung" dieses politischen Konfliktes, das heißt, die Darstellung eines Katalogs von Maßnahmen, mit denen dieser Konflikt aufzulösen wäre, ist auch innerhalb der Sozialdemokratie keineswegs in Sicht. Das Problem ist in Mannheim beschrieben worden; in den Debatten um die Problematik „Recht auf Arbeit“, um strukturelle Arbeitslosigkeit und Arbeitsbeschaffung für die Zukunft wurde sichtbar, was auf die Industriegesellschaft unter Umständen in den nächsten 40 Jahren zukommen wird. Es wäre dringend zu wünschen, daß ein ähnlicher Dialog auch bald in der Opposition in Gang käme, die heute noch allzu unentschlossen zwischen verbaler Verzichtsethik und interessengeleiteter Expansionspolitik hin und her schwankt. Denn in der Konfrontation zweier fast gleich starker Parteiblöcke werden die sich zunehmend verschärfenden Probleme nicht zu lösen sein. 4. Investitionslenkung Das wichtige Thema der Investitionslenkung — es wird angesichts schrumpfender Wachstumsraten und schrumpfender Rohstoffvorräte ohne Zweifel jeden Tag wichtiger — hat in der letzten Phase vor dem Mannheimer Parteitag, vor allem im publizistischen Begleitkonzert zu den vorbereitenden Parteitagen der Bezirke, gegen die Sozialdemokratie manches Propagandamaterial geliefert. Die Sozialdemokratie selbst war daran nicht unschuldig; an diesem Thema profilieren sich einzelne Vertreter der Parteiflügel, ohne sich immer mit der notwendigen Sachkenntnis ausgestattet zu haben. So konnten es auch die beschwörenden, immer wiederholten, exakt belegten Appelle des stellvertretenden Vorsitzenden der Orientierungsrahmenkommission,

Herbert Ehrenberg, nicht verhindern, daß auch Sozialdemokraten durch lautstarke Feldzüge gegen die angeblich gefährliche „direkte" Investitionslenkung der rechten Publizistik Munition gaben.

Auf dem Mannheimer Parteitag wurde diese Diskussion in allgemeiner Übereinstimmung ad acta, gelegt. Im Orientierungsrahmen heißt es: „Bei der häufig verwandten Unterscheidung zwischen . indirekter'und . direkter'Investitionslenkung handelt es sich um eine Scheinalternative. In Wahrheit geht es um eine abgestufte Skala von Instrumenten, deren dosierter Einsatz zeitlich, sachlich und in der Eingriffstiefe in jedem Einzelfall sorgfältig geprüft werden muß. Im Rahmen einer so verstandenen zielorientierten Wirtschaftspolitik werden den einzelnen wirtschaftlichen Entscheidungen Daten gesetzt durch Steuern, Anreize, Bereitstellung oder Verweigerung öffentlicher Leistungen, wobei diese Datensetzung den einzelwirtschaftlichen Entscheidungsspielraüm unter Umständen erheblich einengen kann (etwa Investitionsverbote in Form von Ansiedlungsverboten, Produktionsverboten, Umweltschutzauflagen, Qualitätsnormen usw.).“

Es folgt dann der entscheidende, aus der Diskussion der Gewerkschaften übernommene Satz: „Die letztverantwortliche Investitionsentscheidung innerhalb des gesetzten Rahmens verbleibt aber beim Unternehmen."

Schon dieser Satz müßte alle Bedenken vor allem des Managements zerstreuen, die Sozialdemokratie wolle die Investitionsentscheidungen des einzelnen Unternehmens künftig von einer zentralen Bürokratie fällen lassen.

Wie differenziert die Diskussion innerhalb der Sozialdemokratie geführt wurde, zeigen die beiden Minderheitsvoten, denen der Parteitag nicht gefolgt ist. Sie verlangten einmal das Instrument des Investitionsverbots bei der Gefahr von Uberkapazitäten und zum anderen eine Vergesellschaftung der Banken. Wie gesagt: Der Parteitag hat diese Minderheitsvoten abgelehnt: das Investitionsverbot bei Uberkapazitäten mit dem Argument, daß die ökonomische Vorausschau des Staates für derartige Maßnahmen nicht differenziert genug sei, und die Vergesellschaftung von Banken mit dem Argument, daß im Bereich der Banken ja bereits ein wichtiger, großer Sektor öffentlich-rechtliche Eigentumsstrukturen aufweise, und daß vor der Vergesellschaftung eine Reform des privaten Bankenwesens der dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Mittel angemessenere Schritt sei Aber jeder unvoreingenommene Beobachter muß sehen, daß selbst bei Annahme dieser Minderheitsvoten niemand der SPD hätte vorwerfen können, daß sie zentralisierte und bürokratisierte Investitionsentscheidungen befürworte. Die Banken — um dieses Thema herauszugreifen — sind beispielsweise in Österreich und Frankreich verstaatlicht! niemand wird behaupten wollen, daß in diesen beiden Ländern die Marktwirtschaft außer Kraft gesetzt worden sei. Auch hier stand das publizistische Getöse vor dem Parteitag in keinem Verhältnis zu der Entscheidung, die der Mannheimer Parteitag selbst dann getroffen hat.

Unbestritten freilich ist, daß die Sozialdemokratie „die Steuerungsmechanismen unserer Volkswirtschaft schrittweise fortentwickeln" möchte. Angesichts der wachsenden Belastung der Umwelt des Menschen durch die Industrialisierung, angesichts der Ausbeutung der Rohstoffvorräte, angesichts des begrenzten Wachstumsspielraums in der Zukunft und — vor allem — angesichts einer wachsenden Vermachtung der Märkte ist dies unausweichlich. Im Orientierungsrahmen heißt es: „Die Unvollkommenheit der Marktwirtschaft erfordert nicht ihre Ersetzung, wohl aber eine Ergänzung und Korrektur durch staatliche Lenkungsmaßnahmen." 5. Doppelstrategie und Vertrauensarbeit Sicher hat man in der Sozialdemokratie immer — zumindest theoretisch — gewußt, daß die Aktivität in Parlamenten und Gebietskörperschaften allein nicht genügt, um politische Ziele umzusetzen. Trotzdem kann kein Zweifel darüber bestehen, daß insbesondere in den 60er Jahren die Sozialdemokratie jene andere Ausrichtung ihrer Aktivität, die Basisarbeit, zumindest an den Bruchstellen der Gesellschaft vernachlässigt hat. Der Orientierungsrahmen beendet den Streit um die „Doppelstrategie", wie die Jungsozialisten sie über Jahre gefordert haben, und integriert damit ein Element der politischen Strategie der außerparlamentarischen Opposition in den demokratischen Staat.

Der Parteitag vertauscht in der Diskussion um dieses Problem übrigens keineswegs Etiketten — den Begriff Doppelstrategie mit dem Begriff Vertrauensarbeit. Zwar zeigt diese sprachliche Differenzierung das wachsende Bewußtsein der Sozialdemokraten gegenüber der Gefahr der Diffamierung; der Begriff „Doppelstrategie" ist so nahe am Begriff „doppelzüngig", daß er zur demagogischen Verwendung geradezu auffordert. Aber nicht die terminologische Differenzierung ist wichtig, sondern die inhaltliche.

Der Parteitag stellt nämlich klar, daß die „Mobilisierung an der Basis" durch Sozialdemokraten nicht für Ziele erfolgen darf, für die die Sozialdemokraten sich in ihren Parteitagen eben gerade nicht entschieden haben. Die Basisarbeit darf kein Instrument gegen die parlamentarische Tätigkeit sein, sofern diese sich im Rahmen der Beschlüsse der Partei vollzieht.

Auf der anderen Seite aber ist es bitter notwendig, daß die Sozialdemokraten die Bevölkerung für ihre Ziele gewinnt. Es heißt deshalb wörtlich im Orientierungsrahmen: „Für eine sozialdemokratische Strategie reicht es also nicht us, Regierungsverantwortung in Bund, Ländern und Gemeinden zu erringen, besser als bisher zu koordinieren und zu behaupten. Auf mittlere und längere Sicht hat sozialdemokratische Politik auch auf der staatlichen Ebene nur dann Erfolgschancen, wenn sie mit einer breit und langfristig angelegten Vertrauensarbeit unserer Partei mit der Bevölkerung einhergeht. Bei diesem Sachverhalt — der mit dem oft mißverstandenen Begriff Doppelstrategie belegt worden ist — handelt es sich um zwei Seiten einer einheitlichen sozialdemokratischen Strategie. Eine Strategie dagegen, die den Konflikt zwischen der Basis der Partei und deren Mandatsträgern zum Prinzip erhebt, muß zu Handlungsunfähigkeit der Partei führen und kann nicht mit dem Begriff der Doppelstrategie in Übereinstimmung gebracht werden."

Damit ist die Arbeit in Bürgerinitiativen, die Aufklärungsarbeit, eben die Vertrauensarbeit in der Bevölkerung von einer demokratischen Partei ausdrücklich programmatisch sanktioniert worden. Gleichzeitig aber wurde sie gegen Aktivitäten abgegrenzt, deren Sinn lediglich eine Zuspitzung von gesellschaftlichen Konflikten ist, mit dem vagen Ziel einer „Kraftprobe", wie sie beispielsweise Andre Gorz anvisiert hat Wie differenziert der Parteitag das Problem diskutierte, zeigt im übrigen folgende Einzelheit. Im — endgültig beschlossenen — Text des Orientierungsrahmens heißt es: „Die erste Aufgabe sozialdemokratischer Vertrauensarbeit ist es, die Probleme und Bedürfnisse der Bevölkerung, insbesondere der Arbeitnehmer, zu ermitteln und sie in die politische Diskussion und Entscheidung einzuführen."

Diese Stelle sollte nun durch einen Antrag ergänzt werden, demzufolge den wirtschaftlich Schwächeren ihre Bedürfnisse „bewußt gemacht" werden sollten. Die Auseinandersetzung um diesen Antrag ist hochinteressant.

Der Antrag wollte nämlich keineswegs sozusagen die „Ermittlungen" der Bedürfnisse der Bevölkerung durch ein „Bewußtmachen" (eben der Bedürfnisse) ersetzen. Die Antragsteller bildeten sich nicht ein, die Bedürfnisse der Bevölkerung besser zu erkennen als diese selbst; aber sie waren der — zweifellos richtigen — Auffassung, daß Bedürfnisse auch manipuliert werden können, daß sie in komplizierten und differenzierten Gesellschaften verschüttet und unterdrückt werden. Trotzdem wurde der Antrag — um keinerlei Unklarheit zu lassen — nicht aufgenommen. Horst Ehmke argumentierte — mit Erfolg — gegen den Antrag: „Weil wirklich das Problem ist, ob wir meinen, wir müssen den Leuten erst einmal beibringen, welches ihre Bedürfnisse sind. So dammlig sind die Leute nicht. (Beifall) Ich will einmal ein Beispiel geben, bei dem wir nicht die Bedürfnisse der Leute ermittelt haben. Wir haben zum Beispiel gemeint, wir müßten ungeheuer viel Altenheime bauen. Es wäre gelogen, wenn wir sagten, daß wir die Alten vorher danach gefragt haben. Hätten wir sie nämlich gefragt und auf sie gehört, statt schon eine Lösung für sie zu haben, hätten wir festgestellt, daß Altbausanierung, mobile Küchen zur Verpflegung, das Belassen der Alten in ihrer Umgebung, solange es geht, statt sie in teuren Altenheimen zu isolieren, eine Sache gewesen wäre, die für die älteren Menschen besser und auch billiger gewesen wäre. Genau das meinen wir. Wir dürfen nicht meinen, daß wir wissen, welches die Bedürfnisse der Leute sind. Die Partei muß sich daran gewöhnen, erst einmal auf die Leute zu hören."

Mit der — im Sinne von Ehmkes Argumentation — getroffenen Entscheidung hat die SPD sich nicht für den Agnostizismus entschieden. Schon im nächsten Absatz des Orientierungsrahmens wird die Aufgabe der Partei beschworen, eine längerfristige politische Orientierung anzubieten, die es den Menschen erlaubt, einen Maßstab für die Beurteilung tagespolitischer Kompromisse zu gewinnen. Die Diskussion zeigt aber die hohe Sensibilität des Parteitages für erkenntnistheoretische Fragen. Auch der geringste Anschein eines „elitären" Bewußtseins wurde von den Delegierten vermieden; die Partei verfügt nicht über ein Generalsekretariat für Genauigkeit und Seele, das die Bedürfnisse der Menschen sozusagen deduktiv . ermittelt.

III.

Auf dem Mannheimer Parteitag wurden aber nicht nur die Diskussionen von gestern aufgearbeitet; es wurden auch neue Fragen gestellt. Um sie werden die Auseinandersetzungen in den kommenden Jahren geführt werden; und niemand sollte sich der Illusion hingeben, daß diese Auseinandersetzungen idyllischer sein werden als das Ringen um den Orientierungsrahmen.

Die Grundfrage lautet: Welche moralischen Impulse werden die deutsche Sozialdemokratie antreiben? Mit welchen Themen, mit welchen Konzepten können die Sozialdemokraten die Menschen bewegen und zur aktiven Teilnahme an der „elenden Plackerei" politischen Handelns veranlassen?

Bruno Friedrich hat diese Frage in der Diskussion um Brandts Rechenschaftsbericht gestellt: „Der moralische Impuls muß auch in den Zeiten der ökonomischen Sachzwänge für die Sozialdemokratie ein unverzichtbarer Motor ihres Wirkens sein. Wir sollten aufpassen, daß der Orientierungsrahmen nicht so etwas wird wie eine instrumentale mechanistische Lösung, und daß dies dann mit Sozialismus identifiziert wird. Genossen, der Klassenkampf war ein moralischer Impuls aus der Situation heraus. Das Godesberger Programm war ein solcher Impuls, ebenso die Gemeinschaftsaufgaben 1963/64 und die Friedenspolitik. Wir wissen aber nicht, welches der moralische Impuls in der zweiten Hälfte der 70er Jahre ist. Dies hat die Partei zu erkunden." Sie hat in Mannheim die ersten tastenden Versuche zu dieser Erkundung gemacht. Ich sehe drei Probleme, die die deutsche Politik in der zweiten Hälfte der 70er Jahre vor allem anpacken muß und von denen „moralische Impulse" ausgehen können. Es sind dies das Recht auf Arbeit, die Frauenfrage und die Sicherung der geistigen Freiheit in unserem Land. 1. Recht auf Arbeit Brandt und Schmidt haben in ihren Parteitagsreden das Thema angeschlagen. Es zog sich dann durch die gesamte Diskussion des Parteitages. Schmidt stellte fest: „Die sozialdemokratische Wirtschaftspolitik dient heute zuerst und vor allem der langfristigen Sicherung der Arbeitsplätze. Für uns ist Arbeit mehr als bloß Geldverdienen. Wir Sozialdemokraten sind immer davon ausgegangen, daß sich der Mensch wesentlich in seiner Arbeit verwirklicht. Ich teile die Überzeugung unserer schwedischen Freunde, die in ihrem Programm ausdrücklich sagen: Arbeit ist ein Grundwert."

Ähnlich hat es Brandt in einer Nachlese zum Parteitag gesagt: „Wir werden uns mit einem Dauersockel an Arbeitslosigkeit nicht abfinden, denn es geht aus sozialdemokratischer Sicht nicht an, daß Menschen, die arbeiten wollen, nicht arbeiten können."

Die Frage ist nur: Mit welchen Strategien soll das Vollbeschäftigungsziel in einer neuen weltwirtschaftlichen Situation erreicht werden? Dadurch, daß man es — wie manche forderten — in die Verfassung schreibt, wäre nichts gewonnen; der Artikel der Bayerischen Verfassung über den „Genuß der Naturschönheiten", der jedermann gestattet sei, hat bekanntlich die Versperrung der Ufer des Starnberger Sees durch Private keineswegs behindert. Klaus Riebschläger hat dies in die ebenso berechtigte wie beklemmende Frage gekleidet: „Denn was hat der Arbeitnehmer, der keinen Arbeitsplatz hat, in dieser Gesellschaft davon, daß ihm die Sozialdemokratische Partei das Recht auf Arbeit zuspricht und resolutioniert, wenn einer Million im Augenblick keine Arbeitsmöglichkeit verschafft werden kann? Was hat er davon, darf ich einmal bescheiden fragen?“

Wie ist die Lage? Hans Ulrich Klose hat sie folgendermaßen beschrieben: „Wir werden in den nächsten zehn Jahren erleben, daß die Zahl der deutschen Arbeitskräfte im Bundesgebiet um über eine Million zunimmt... Zu-25) gleich erleben wir, daß die Zahl der Arbeitsplätze nicht mehr zunimmt, im industriellen, im produzierenden Bereich schon gar nicht und im Dienstleistungsbereich jedenfalls nicht mehr in dem Umfang, in dem wir es in den vergangenen zwanzig Jahren erlebt haben. Das heißt: wir werden es in den nächsten zehn Jahren mit gegenläufigen Tendenzen zu tun haben: eine steigende Nachfrage nach Arbeitsplätzen und eine abnehmende Zahl von Arbeitsplätzen ... Wenn wir nicht entscheidend einwirken, und zwar praktisch und nicht theoretisch, dann laufen wir auf eine Dauerarbeitslosigkeit zu, die sich in etwa in der Größenordnung hält, die wir gegenwärtig haben ..

Das Problem der „strukturellen Arbeitslosigkeit" ist dabei selbstverständlich nicht vor allem demographisch (durch stärkere Jahrgänge) bestimmt. In einer der wichtigsten, zukunftsweisendsten Auseinandersetzungen des Parteitages — um die Gründe der Inflation — (die dann auch zu einer der wenigen Änderungen des Textes des Orientierungsrahmens führte) wurde dies deutlich.

Wir stehen heute vor der Tatsache, so kann man diese Diskussion schlagwortartig zusammenfassen, daß Geldentwertung und Unterbeschäftigung sich nicht mehr aufheben, wovon das Stabilitätsgesetz noch ausgehen konnte. Der Mechanismus, den in der Wirtschaftswissenschaft die sogenannte „Phillipskurve" beschreibt, daß man nämlich Geldwertstabilität mit Unterbeschäftigung und Vollbeschäftigung mit Geldwertverfall erkaufen könne, funktioniert nicht mehr. Heute treten beide „Ungeheuer" gemeinsam auf und produzieren die „Stagflation" Die Gründe für diese Entwicklung sind vielfältig und kaum erforscht. Jedenfalls haben sowohl der Gleichschritt der Weltkonjunktur als auch die Vermachtung der Märkte und neue Erwartungshaltungen der Wirtschaftssubjekte zu dieser Entwicklung beigetragen: Wenn in allen wichtigen Industriegesellschaften der Welt gleichzeitig Rezession herrscht, wird es selbst bei im Vergleich zu anderen Volkswirtschaften geringeren Preissteigerungsraten kaum zu einer Konjunkturbelebung durch Auslands-nachfrage kommen, und wenn die Bevölkerung eine mit der Expansion und der Nachfragebelebung einhergehende Geldentwertungsrate antizipiert, wird der beabsichtigte Ankurbelungseffekt verpuffen In dieser Situation funktionieren alte Rezepte nicht mehr. Weder kann man Vollbeschäftigung erreichen, indem man ein bißchen mehr Inflation riskiert, noch tut man etwas für die Geldwertstabilität, wenn man mehr oder weniger zynisch einen gewissen Grad von Arbeitslosigkeit akzeptiert. Wie kann man also für die Zukunft verhindern, daß 4 oder 5°/0 Arbeitslosigkeit „normal" werden?

Der Mannheimer Parteitag konnte diese Frage nicht beantworten. Er hat allerdings einige Überlegungen nahegelegt, an denen in der Sozialdemokratie weiter gearbeitet werden wird.

— So ist die Frage gestellt worden, ob Arbeitszeitverkürzungen (mit oder ohne Lohnausgleich) das Problem lösen könnten. Es ist allerdings mehr als fraglich, ob es richtig wäre, Arbeitszeitverkürzungen als Instrument zur Arbeitsbeschaffung einzusetzen, also sozusagen den vorhandenen „Kuchen" an Arbeit auf mehr Köpfe aufzuteilen, statt mit einer überlegten Strategie qualifizierten Wachstums mehr (und andere) Arbeit zu schaffen. Wird eine hungernde Welt es uns erlauben, auf mögliches Wachstum zu verzichten und produktive Möglichkeiten ungenutzt zu lassen?

— In eine ähnliche Richtung zielt die Frage, ob es für die Industriestaaten nicht immer notwendiger werden wird, ihren Produktivitätsfortschritt in die Entwicklungsländer „wegzugeben". Während es dort einen riesigen Bedarf an Gütern aller Art gibt, registrieren Länder wie die Bundesrepublik in vielen, insbesondere gewerblichen Bereichen eine Marktsättigung. Müssen wir den Entwicklungsländern nicht internationale Kaufkraft mitliefern, damit unser Export und unsere Beschäftigung gesichert werden?

— Und schließlich: Wie lange läßt sich eine Politik der Reduzierung der öffentlichen Haushalte im Hinblick auf den Arbeitsmarkt durchhalten? Wenn einerseits die Staatsnachfrage nicht wachsen soll (um Folgekosten, insbesondere beim öffentlichen Dienst, zu vermeiden), andererseits aber zusätzliche gewerbliche Arbeitsplätze — eben aufgrund der Marktsättigung — nicht geschaffen werden können, wo sollen die Menschen dann Arbeit finden? Dauerarbeitslosigkeit ist ja auch nicht umsonst; sie steigert die drückenden Lasten des sozialen Transfers (Arbeitslosen-hilfe, Sozialabgaben etc.) und gefährdet u. U. auf längere Sicht das Netz der sozialen Sicherung. Bedarf es deshalb nicht einer staatlichen Politik, Wachstum und Beschäftigung zu schaffen, und zwar in den Bereichen des staatlichen Angebots, denen eine zunehmende Nachfrage der Bürger entspricht?

Ich betone ausdrücklich: Dies sind offene Fragen, die in Mannheim angerissen, aber nicht beantwortet wurden. Sowohl die Sozialdemokratie als auch die Gewerkschaften müssen auf diese Fragen Antworten finden; sie verlangen eine neue „Strategie der Arbeiterbewegung", die über keynesianische Konjunkturpolitik und traditionelle Sozialpolitik ebenso hinausgehen muß wie über eine nur lohn-orientierte Tarifpolitik. Einzelne Vorhaben der Reformpolitik, von der Humanisierung der Arbeit bis zur Reform des öffentlichen Dienstes und der beruflichen Bildung, finden sich plötzlich unter dem Leitgedanken „Recht auf Arbeit" zu einem neuen Sinn zusammen. Es geht um die ökonomische Frage, wie „qualifiziertes Wachstum" — wie der Orientierungsrahmen es fordert — eigentlich machbar ist; aber es geht auch um die durchaus moralische Frage, wie Menschen zu einem Verhalten bewegt werden können, das „qualifiziertes Wachstum" und „Vollbeschäftigung" ermöglicht. Denn die Nachfrage nach sauberem Rheinwasser oder ausreichenden Humandiensten ist zwar ein ökonomisches Datum; aber sie ist nur erreichbar durch eine Klimaänderung, einen „moralischen Impuls". Wer ihn gibt, bestimmt die Politik des nächsten Jahrzehnts. 2. Frauenfrage Der Mannheimer Parteitag war ohne Zweifel der Auftakt für eine neue Diskussion um die Frauenfrage in der Sozialdemokratie. Dabei wird die SPD erneut, wie in der Auseinandersetzung mit der Außerparlamentarischen Opposition, einen schmerzhaften sozialen Konflikt stellvertretend für die Gesellschaft austragen — mit all den Nachteilen, die diese ehrenvolle Rolle beim Wähler bringt. Verdrängte oder unterdrückte die Partei diesen Gärungsprozeß, wäre es allerdings noch schlimmer; sie würde dann nämlich die moralischen Energien der Frauenbewegung, die langsam, aber stetig größer werden, in den vorpolitischen Raum abschieben, da die Union sich dieser Auseinandersetzung genauso souverän verweigern wird wie der mit der Studenten-bewegung der sechziger Jahre.

In Mannheim versuchten die Frauen, „ihr" Thema — das natürlich ein „gesellschaftliches" Problem ist — erstmals kontrovers gegenüber der Parteitagsmehrheit zur Sprache zu bringen. Das zeigte sich schon an der Wortmeldungs-Strategie in der Diskussion um Brandts Rechenschaftsbericht; Diskussionsrednerinnen traten bewußt geschlossen auf, um ein Signal zu setzen. Diese Strategie setzte sich in der Diskussion um den Orientierungsrahmen fort, in der eine Gruppe der Arbeitsgemeinschaft der Frauen zäh um einen Antrag zum Frauenproblem kämpfte und sich auch teilweise durchsetze. Dabei war der „Ansatz" der Diskussionsbeiträge noch zur guten Hälfte „traditionell"; aber der sensible spürte, das zusteuert. Zuhörer worauf Schon Brandt hatte in seinem Rechenschaftsbericht das Thema angerührt: „Die Partei muß sich auf einen neuen Prozeß der Umschichtung einstellen, da die Frauen in unserem Lande zu mehr politischer Mitverantwortung drängen. Die SPD, die seinerzeit die staatsbürgerliche Gleichheit der Frauen durchgesetzt hat, muß mit der Gleichstellung der Frauen in ihren eigenen Reihen ernst machen (Beifall). Ich frage die Männer, warum sie sich eigentlich abtrotzen lassen wollen, was sie über kurz oder lang ohnehin werden einräumen müssen."

Die Frage ist ein bißchen rhetorisch; die Männer werden, wenn dieser Prozeß zu Ende kommt, selbstverständlich gewordene Vorrechte abtreten müssen, und die sind allemal nur durch Druck — „abtrotzen" — zu bekommen. Ich überschlage die „traditionellen" Forderungen der Frauen: die berechtigten, allerdings allgemein bekannten sozialpolitischen Probleme von den niedrigen Bruttolöhnen bis zum § 218. Dieser (wichtige, erst noch durchzusetzende) Katalog der Forderungen findet in der Sozialdemokratie breite Unterstützung. Hier ist — worauf Helmut Schmidt mit Recht hinwies — seit 1969 Beachtliches geschehen; auf diesem Weg muß beharrlich weitergegangen werden.

Ich überschlage auch die — zuweilen etwas rührseligen Klagen — über die mangelnde Berücksichtigung der Frauen in den Parlamenten. Denn daß es wenige Frauen in einflußreichen politischen (oder wirtschaftlichen) Positionen gibt, ist nur ein Symptom der allgemeinen Diskriminierung der Frau; es ist nicht durch beredte Klagen, sondern nur durch gesellschaftliche Veränderungsprozesse aufhebbar.

Viel näher am Problem waren die Analysen der Frauen zur Frauenarbeitslosigkeit; hier trifft sich die Frauenfrage mit der Forderung nach dem „Recht auf Arbeit". Die Wirtschaftspolitiker arbeiten heute ja, wenn es um Arbeitslosenzahlen geht, ungeniert mit einer „stillen Reserve": mit den Frauen, die als Arbeitslose in der Statistik gar nicht mehr auftauchen, weil sie resignieren, wenn sie merken, daß ihre Arbeitskraft nicht mehr „nachgefragt" wird.

Dieses Problem wurde aggressiv angesprochen. Ute Canaris: „Wie verträgt sich dieses postulierte Recht auf Arbeit mit Artikeln im . Sozialdemokrat magazin', wo in aller Brutalität und Offenheit gesagt wird: Wenn Frauen arbeitslos werden, ist das nicht so schlimm, weil sie ja noch Männer zu Hause haben, die die Haupternährer der Familie sind? Wie verträgt sich das mit dem Recht auf Arbeit, das wir Sozialdemokraten für alle Mitglieder dieser Gesellschaft, für Männer wie für Frauen, vertreten? Sind Frauen eine andere Art oder minderwertigere Art des menschlichen Geschlechts? Das ist die Frage, die sich diese Partei stellen muß."

Der eigentliche Kern der Auseinandersetzung liegt allerdings in der neuen Definition der Rolle der Frau, die sich Bahn brechen wird. Das beginnt mit der (heute noch gänzlich utopischen) Forderung nach einer Ausbildungspflicht für alle jungen Menschen, mit der die Bildungsbarrieren für Frauen weggeräumt werden sollen, und es führt hin zu Auseinandersetzungen um die Selbstbestimmung der Frau in Ehe und Familie einschließlich der Probleme der Sexualität, die sozialen Sprengstoff enthalten, weil die im Kern ihrer Mitgliedschaft „kleinbürgerlichen" großen Volksparteien auf derartige sozialpsychologisch schwierigen Prozesse überhaupt nicht vorbereitet sind.

In Mannheim wurde dieses „Thema" nur sozusagen nebenbei abgehandelt, etwa in dem Diskussionsbeitrag von Sigrid Skarpelis-Sperk, die ihren Angriff diesmal noch gegen die „Rechtspresse" richtete: „In den Blättern der Rechtspresse, Genossinnen und Genossen, wird bereits wieder das Hohe Lied der Hausfrau und Mutter gesungen, die selbstverständlich zu Hause und unbezahlt arbeitet und dem Mann um Gottes willen keinen bezahlten Arbeitsplatz wegnimmt." Niemand sollte sich darüber hinwegtäuschen, welche Wirkung solche — wie ich glaube: notwendigen — kritischen Fragen gerade in der Arbeiterschaft haben werden. Irgendwann wird der Propagandaapparat der Opposition begreifen, daß sich ein militanter Feminismus (der in Mannheim keineswegs artikuliert wurde) noch weit besser gegen die Sozialdemokratie verwenden läßt als so abstrakte Themen wie das „imperative Mandat" oder die „Doppelstrategie". Es ist deshalb eine ent-scheidende Aufgabe der SPD, die Frauenbewegung — wie einst die Außerparlamentarische Opposition — ernst zu nehmen, ihre berechtigten Forderungen aufzugreifen und ihre utopischen Elemente zurückzudrängen. Es könnte der SPD sonst mit der Arbeitsgemeinschaft der Frauen dasselbe passieren, was ihr zwischen 1969 und 1975 mit der Arbeitsgemeinschaft der Jungsozialisten passiert ist.

Ulrike Mascher hat das in Mannheim eindeutig ausgesprochen: „Noch eine letzte Bemerkung zur Integration der politisch aktivierten Frauen in unserer Partei. Ich würde es für fatal halten, wenn die Mobilisierung der Frauen an der Bequemlichkeit und Trägheit der Genossen scheitert, wenn sich die Genossinnen dann in die Sackgasse eines militanten Feminismus abdrängen lassen. Ich glaube, die SPD muß die Mobilisierung der Frau offensiv aufgreifen, denn die neue Frauenbewegung ist sicher eine der großen moralischen Bewegungen, von denen Bruno Friedrich gesprochen hat, die die Veränderung unserer Gesellschaft bewirken. Ich glaube, daß die SPD auf diesen Motor ganz sicher nicht verzichten kann." 3. Geistige Freiheit Willy Brandt hat in seinem Rechenschaftsbericht auf ein Problem hingewiesen, das für das intellektuelle Klima in der Bundesrepublik Deutschland erst neuerdings wieder Bedeutung erlangt hat. Als Reaktion auf den politischen Symbolismus der Protestbewegung der 60er Jahre, auf den gelegentlichen Mißbrauch der Freiheit in verschiedenen Institutionen, wie beispielsweise in den Universitäten, haben sich Abwehrmechanismen gebildet, die die geistige Freiheit in diesem Land einengen könnten. Symptome für eine derartige Entwicklung sind die falsche Praxis des Radikalenerlasses in verschiedenen Bundesländern, die „herkömmliche Leistungsideologie" (Brandt), eine aggressive Medienpolitik, die mit dem Begriff „Ausgewogenheit" dem freien Kommentar in den Rundfunkanstalten den Garaus machen will und die restriktive Interpretation der Verfassung durch die Konservativen, mit deren Hilfe beispielsweise Fortentwicklungen unserer Wirtschaftsordnung blockiert werden sollen. Der Terrorismus, der mit Mord, Entführung und Erpressung auch direkt in die politische Sphäre eingreift, mußte solche „Reaktionen" des Staates bzw.der gesellschaftlichen Kräfte noch verstärken. Brandt beschrieb seine Position folgendermaßen: „Es bedarf nicht der Mahnung, in unse-rem Land die Freiheit erst zu schaffen. Es bedarf aber der Entschlossenheit aufzupassen, daß in dieser unserer Bundesrepublik nichts ins Rutschen kommt, was wegführt aus der Liberalität, für die im Grundgesetz die Richtpunkte gesetzt worden sind, daß sich auch unter der Hand nichts entwickelt, was den rundsätzen der freiheitlichen Demokratie zuwiderläuft (Beifall). Dies ist heute mein Appell an den Parteitag, an die gesamte Partei, an das Lager der sozialen Demokratie in unserem Land: Wir alle müsse mithelfen, daß Liberalität und geistige Freiheit nicht Schaden leiden. Wir müssen wachsam sein, damit die freiheitliche Demokratie nicht nur gegen offene Feinde, sondern auch gegen Kleinmut und Torheit bestehen kann."

Dieser Anstoß brachte auf dem Mannheimer Parteitag eine Diskussion in Gang, die in der Sozialdemokratie in den nächsten Jahren nicht mehr verstummen dürfte. Der Radikalenerlaß, die Verschärfung von Gesetzen zur Bekämpfung des Terrorismus, das Unterstrafestellen einer „Befürwortung von Gewalt", aber auch ein falscher Leistungsdruck an den Schulen (der bei einer ganzen Generation zu Anpassung und Duckmäusertum führen könnte) waren die Sachthemen dieser Debatte.

Es kann kein Zweifel bestehen, daß die Sozialdemokratie gerade dieses Problem mit Nachdruck ins öffentliche Bewußtsein bringen muß. Dabei darf man sich nicht täuschen: Die Vermittlung dieses „moralischen Impulses" an die breiten Schichten der Bevölkerung, auch an große Teile der Arbeitnehmerschaft, ist kompliziert. Eine gut angelegte, rücksichtslose Propaganda, die auf dem Sicherheitsbedürfnis und dem Antikommunismus der Mehrheit der Bevölkerung aufbaut, kann überaus wirkungsvoll sein und kann die Mehrheitschancen einer politischen Partei, die für geistige Liberalität kämpft, empfindlich schwächen.

Der Mannheimer Parteitag bemühte sich denn auch, differenzierte Instrumente für die geistige Auseinandersetzung zur Verfügung zu stellen. So wurde das Problem „Leistung" so analysiert, daß niemand diese Analyse zum Anlaß nehmen konnte, der Sozialdemokratie pauschal Leistungsfeindlichkeit zu unterstellen. In den Orientierungsrahmen wurde neu eine Passage über den Leistungsbegriff eingefügt, die es ermöglicht, einen falschen Leistungsstreß (beispielsweise in den Schulen) zu bekämpfen, ohne das gesellschaftliche Grundbedürfnis nach erfolgreicher Leistungskonkurrenz in Frage zu stellen. Der Parteitag beschloß: „Der herkömmliche Leistungsbegriff engt die Möglichkeiten menschlicher Selbstverwirklichung und Lebenserfüllung ein. Er berücksichtigt ausschließlich ziel-und zweckgerichtetes Verhalten, insbesondere das Streben nach sozialem Aufstieg. Mehr Macht, mehr Prestige oder mehr Geld allein verbürgen aber weder ein sinnvolles Leben des einzelnen noch der Gesellschaft insgesamt. Materielle Sicherheit ist zwar die notwendige Voraussetzung eines menschwürdigen Daseins, aber nicht dieses selbst. Ohne Lebensgenuß und Bildung, ohne Freundschaft und Liebe, ohne das Streben nach Wahrheit und ohne jede innere Befriedigung, die aus Quellen wie der philosophischen Einsicht oder dem religiösen Glauben erwächst, ist menschliches Leben sinnlos. Die Enge des herkömmlichen Leistungsbegriffs wirkt sich nicht nur im ökonomischen und politischen Bereich aus, sondern auch in der Erziehung und dem geistig kulturellen Leben. Einseitige und überspitzte Leistungsanforderungen können — gerade bei Kindern und Jugendlichen — einen seelischen Druck erzeugen, der die Leistungsfähigkeit eher mindert als fördert.“

Diese Formulierung bietet die programmatische Grundlage für die dringend notwendigen Auseinandersetzungen um die Lehrpläne in unseren Schulen, um das System unserer Hochschulzulassung, um den Sinn von Erziehung. Diese Auseinandersetzungen, die in den vergangenen Jahren kaum eine Rolle spielten und die von den Streitigkeiten um Preissteigerungen und Wachstumsraten erdrückt wurden, werden in der zweiten Hälfte der 70er Jahre zunehmende Bedeutung erlangen. Nach Mannheim ist die SPD für diese Auseinandersetzungen besser gerüstet als vorher.

Die Partei tastete sich insbesondere in dieser Debatte an ein bedeutungsvolles strategisches Problem heran. In der Auseinandersetzung um geistige Freiheit geht es oft so, daß die Opposition offensiv wird und daß sie die demokratische Zuverlässigkeit der Sozialdemokraten in Zweifel zieht. Wenn die Partei dann, um derartige Angriffe abzublocken, auf bestimmte Forderungen und Vorschläge eingeht, kann es geschehen, daß sie sich mehr schadet, als wenn sie diese Forderungen schroff ablehnte. Es kann nämlich Vorkommen, daß das Sicheinlassen auf diese Forderungen des politischen Gegners der Sozialdemokratie innerparteilich eine Diskussion aufdrängt, die langwieriger und (für den politischen Gegner) auswertbarer ist als eine entschiedene Absage von vornherein.

Dieser Gedanke, den ich eben vorsichtig zu formulieren versucht habe, enthält natürlich keinerlei Patentrezept für die Diskussionen um innere Sicherheit, Verfassungstreue und geistige Freiheit. Die Forderungen der Opposition können im Einzelfall berechtigt sein; sie können im Einzelfall soviel Überzeugungskraft für die breiten Schichten der Wähler entfalten, daß ihnen kaum zu widerstehen ist. Aber der Mannheimer Parteitag hat unbestreitbar gezeigt, daß ein Teil der Sozialdemokraten beimThema „geistige Freiheit“ den Punkt erreicht sieht, an dem von Verteidigung auf Angriff umgeschaltet werden muß. Auch diese Tendenz wird nachhaltig in die Zukunft weiterwirken

IV.

In den Personalentscheidungen, die auf dem Mannheimer Parteitag der SPD getroffen wurden, sind die Ergebnisse des Hannoverschen Parteitages 1973 bestätigt worden. In Hannover wurden erstmals wieder nach einer Reihe von Jahren alle relevanten Gruppierungen der Partei an der Führung beteiligt. Die Unterrepräsentation des linken Flügels in den späten 60er Jahren wurde ausgeglichen, die politische Struktur der Führung wurde der politischen Struktur der Gesamtpartei wieder angenähert. Der Mannheimer Parteitag hat diese Entwicklung konsolidiert.

Insbesondere die Tatsache, daß der Bundeskanzler und der Parteivorsitzende (bei einem nur geringfügigen Unterschied der abgegebenen Stimmen) die gleiche Stimmenzahl erreichen konnten, zeigt, daß alle Strömungen der Partei die Auseinandersetzung um graduelle Unterschiede in der politischen Konzeption zurückstellen wollen.

Diese Entwicklung wurde auch durch die Tatsache begünstigt, daß sich der linke und rechte Flügel in Mannheim etwa gleich stark gegenüberstanden; beide Gruppierungen verfügten etwa über 160— 180 Delegierte. Die Bereitschaft der Gruppen, von den listenmäßig erfaßten Personalvorschlägen des eigenen Lagers abzuweichen, war gegenüber früheren Parteitagen deutlich gewachsen. Insbesondere wurden die „politischen" Loyalitäten durch regionale" Loyalitäten überlagert; so waren die personellen Empfehlungen des mitglieder-stärksten Landesverbandes Nordrhein-Westfalen zumindest so wirksam wie die Empfehlungen der „Rechten" oder „Linken". Aber eine „Mitte" als — auch personalpolitisch wirksame — pressure-group gab es, wie auch auf früheren SPD-Parteitagen, nicht. Es gab und gibt in der SPD mittlere, vermittelnde politische Temperamente; aber sie sind in-den rechten oder linken Flügel integriert.

Die innere Situation der SPD, wie ich sie eben geschildert habe, war auch in Hannover schon erkennbar. Das Charakteristische des Mannheimer Parteitages war, daß er — wie es der Parteivorsitzende Brandt ausdrückte — personalpolitisch, nicht inhaltlich auf „Kugellagern" lief. Vor dem Parteitag hatten intensive Kontakte zwischen den Flügeln, auf der Linken koordiniert von Harry Ristock, auf der Rechten von Heinz Ruhnau, stattgefunden. Durch diese Gespräche wurden sachliche Kompromisse erzielt und persönliche Spannungen zwischen den Flügeln abgebaut.

Personalpolitisch bedeutet dies, daß auf Bundesebene das Berliner Modell der „Konzentration der Kräfte" annäherungsweise übernommen wurde. Ganz abgesehen von der allgemeinen Bereitschaft, -die Führungsspitze ge meinsam zu tragen, wählte der Flügel linke die Repräsentanten der Rechten, der rechte Flügel die Repräsentanten der Linken. Vor allem der linke Flügel erreichte das dadurch selbst-gesteckte Ziel, seine Bündnisfähigkeit nachzuweisen. Das Modell der „Konzentration der Kräfte" hat dabei auf Bundesebene die gleichen Vorteile und die gleichen Schwächen, die aus der Berliner Situation bekannt sind: einerseits den Vorteil der Berechenbarkeit und die Ausschaltung einer selbstzerstörerischen Personalkonkurrenz, andererseits Verhärtung der Fronten und Bürokratisierung der Personalauswahl.

Die Personalentscheidungen des Mannheimer Parteitages waren, ebenso wie seine Sachentscheidungen, die Voraussetzung für ein geschlossenes Auftreten der Sozialdemokratie in der Bundestags-Wahlauseinandersetzung 1976. Insofern haben sie der Partei ohne Zweifel genützt. Die Gefahr des „Mannheimer Modells" liegt allerdings darin, daß bei einer Zuspitzung der innerparteilichen Konflikte das Gegenüber von formalisierten Gruppen erneut dazu führen könnte, daß bei Vielen die Loyalität zur Gruppe stärker ist als die Loyalität zur Gesamtpartei. Diese Gefahr ist um so größer, je inhaltsleerer die Personaldiskussion geführt wird.

Meine These ist, daß die große Auseinandersetzung der Sozialdemokratie mit der Studentenbewegung und der außerparlamentarischen Opposition die beiden Flügel der Sozialdemokratie einander angenähert hat. Diese Annäherung, die das Ergebnis einer geistigen Auseinandersetzung ist, könnte aber, wenn der Wind wieder schärfer bläst, durch die personell bedingten Loyalitäten innerhalb der Gruppierungen, durch die gewachsenen Freundschaften und Abhängigkeiten, gefährdet werden. Leute, die sich als vernünftige Gesprächspartner kennengelemt haben, könnten — in einer Situation verschärften Problemdrucks in der Gesellschaft — gegeneinander getrieben werden, nur weil sie verschiedenen „Flügeln" angehören. Gerade dieser Gefahr muß vorgebeugt werden.

Es ist deshalb dringend notwendig, daß der Prozeß der Differenzierung, der durch den Dialog zwischen Sozialdemokraten verschiedener politischer Prägung zustande gekommen ist, weitergeführt wird. Das Ziel dieses Dialogs muß es sein, die mehr oder weniger formalisierten Gruppen innerhalb der Sozialdemokratie noch stärker aufzulockern, als dies in den letzten Jahren schon gelungen ist. Die Parole muß lauten: Sich auf den Wahlkampf, die große Auseinandersetzung mit der Opposition, zu konzentrieren, aber gleichzeitig darüber nachdenken, was nach der Wahl innerparteilich kann geschehen und geschehen muß.

Die Lösung des Problems liegt aber mit Sicherheit nicht in einer neuen Art von Fraktionsbildung. Der demokratische Sozialismus braucht, wie fast immer in seiner Geschichte, dringend ein zentristisches Konzept. Dies gewinnt er jedoch nicht durch die Bildung einer zentristischen Fraktion; wichtiger ist das Einsickern von zentristischem „Geist" in die bestehenden Gruppierungen. Dieser (intellektuelle) Prozeß muß gefördert werden.

Die entscheidende Rolle bei diesem Prozeß werden dabei, gemäß der innerparteilichen Struktur der SPD, die ordentlichen Gliederungen der Partei, insbesondere die Bezirke übernehmen müssen. Ihre Aufgabe ist es, den Dialog zwischen den unterschiedlichen Grund-haltungen zu organisieren, aus diesem Dialog die „moralischen Impulse" zu gewinnen und sie an die Bevölkerung zu vermitteln: Vertrauensarbeit! Der Mannheimer Parteitag hat die Chance erhöht, daß diese schwierige Aufgabe in schwieriger Zeit gelingen kann.

Fussnoten

Fußnoten

  1. In: Wirtschaftswoche Nr. 20 vom 11. 5. 1973, S. 32.

  2. Unkorrigiertes Protokoll, 15. 11. 1975, S. 114.

  3. Unkorrigiertes Protokoll, 12. 11. 1975, S. 95/96.

  4. Unkorrigiertes Protokoll, 14. 11. 1975, S. 8/9.

  5. Vgl. Peter von Oertzen, unkorrigiertes 12. 11. 1975, S. 92.

  6. Ökonomisch-Politischer Orientierungsrahmen für die Jahre 1975 bis 1985 in der vom Mannheimer Parteitag der SPD am 14. 11. 1975 beschlossenen Fassung, in der Reihe Dokumente, Bonn 1975, S. 9.

  7. Unkorrigiertes Protokoll, 12. 11. 1975, S. 98.

  8. Unkorrigiertes Protokoll, 12. 11. 1975, S. 98.

  9. Orientierungsrahmen, a. a. O., S. 9.

  10. Vgl. dazu Peter Glotz, Der Weg der Sozialdemokratie, München—Wien 1975, S. 80 ff.

  11. Unkorrigiertes Protokoll, 12. 11. 1975, S. 107.

  12. Vgl. dazu im Text des Orientierungsrahmens die Ziffer 24, a. a. O.

  13. Orientierungsrahmen, a. a. O., S. 37.

  14. A. a. O.

  15. Orientierungsrahmen, a. a. O., S. 46.

  16. Ebd.

  17. Vgl. dazu die meines Erachtens schlüssige Argumentation von Herbert Ehrenberg, in: Unkorrigiertes Protokoll, 12. 11. 1975, S. B 52/B 53.

  18. Orientierungsrahmen, a. a. O., S. 42.

  19. Orientierungsrahmen, a. a. O., S. 54.

  20. Vgl. Andre Gorz, Zur Strategie der Arbeiterbewegung im Neokapitalismus, Frankfurt am Main 1970; ders., Der schwierige Sozialismus, Frankfurt am Main 1969; ders., Die Aktualität der Revolution, Frankfurt am Main 1970; Lelio Basso, Zur Theorie des politischen Konflikts, Frankfurt am Main 1967; vgl. zum Thema Doppelstrategie: Peter Glotz, Der Weg der Sozialdemokratie, a. a. 0., S. 245 f.

  21. Orientierungsrahmen, a. a. O., S. 55.

  22. Unkorrigiertes Protokoll, 12. 11. 1975, S. A 61.

  23. So Helmut Schmidt, Unkorrigiertes Protokoll, 12. 11. 1975, S. 11.

  24. Unkorrigiertes Protokoll, 11. 11. 1975, S. 113.

  25. A. a. O„ S. 35.

  26. Die Neue Gesellschaft, 1/1976, S. 5.

  27. Unkorrigiertes Protokoll, 11. 11. 1975, S. 141.

  28. Unkorrigiertes Protokoll, 11. 11. 1975, S. 169.

  29. Vgl.den Diskussionsbeitrag von Heinz Rapp, Unkorrigiertes Protokoll, 12, 11. 1975, S. B 14/15.

  30. Vgl. dazu im einzelnen: Heinz Rapp, Was ist anders geworden in unserer Wirtschaft?, in: SPD-Pressedienst vom 6. 11. 1975.

  31. Unkorrigiertes Protokoll, 11. 11. 1975, S. 62.

  32. Unkorrigiertes Protokoll, 11. 11. 1975, S. 149/50.

  33. Unkorrigiertes Protokoll, 11. 11. 1975, S. 157.

  34. Unkorrigiertes Protokoll, 11. 11. 1975, S. 160.

  35. Unkorrigiertes Protokoll, 11. 11. 1975, S. 74.

  36. Orientierungsrahmen, a. a. O., S. 13.

  37. Eine etwas andere Position vertrat H. J. Vogel in seiner Rede anläßlich der 2. /3. Lesung des Entwurfs des 14. Strafrechtsänderungsgesetzes am 16. 1. 1976 im Deutschen Bundestag.

Weitere Inhalte

Peter Glotz, Dr. phil., M. A., geboren am 6. März 1939; 1964— 1970 wissenschaftlicher Mitarbeiter und Lehrbeauftragter am Institut für Zeitungswissenschaft der Universität München; 1969/70 Konrektor der Universität München; 1970 Mitglied des Bayerischen Landtages, Geschäftsführer des Forschungsinstituts Arbeitsgemeinschaft für Kommunikationsforschung in München; 1972 Wahl in den Deutschen Bundestag; seit 1974 Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft; seit 1972 Stellvertretender Vorsitzender der SPD in Bayern. Veröffentlichungen u. a.: Versäumte Lektionen — Entwurf eines Lesebuchs, 1965; Der mißachtete Leser — Kritik der Deutschen Presse, 1969; Vorbilder für Deutsche — Korrektur einer Heldengalerie, 1974 — alle mit Wolfgang R. Langenbucher. Buchkritik in deutschen Zeitungen, 1968; Der Weg der Sozialdemokratie — Der historische Auftrag des Reformismus, 1975. Kommunikationswissenschaftliche und politikwissenschaftliche Aufsätze in Fachzeitschriften, Lexika, Sammelwerken etc.