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Sowjetische Flottenpolitik und atlantische Strategie | APuZ 15/1976 | bpb.de

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APuZ 15/1976 Artikel 1 „Streitkräfte im Klassenkampf unserer Zeit". Aspekte der Militärdoktrin und der Militärpropaganda in der „entwickelten sozialistischen Gesellschaft" der DDR Sowjetische Flottenpolitik und atlantische Strategie

Sowjetische Flottenpolitik und atlantische Strategie

Ulrich Weißer

/ 26 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Für die Nordatlantische Allianz hat die Bedrohung durch die globalen seestrategischen Möglichkeiten der Sowjetunion eine neue Dimension erhalten. Da angesichts der nuklearen Parität die Bedeutung des konventionellen Potentials generell gestiegen ist, sind die Auswirkungen der sowjetischen Flottenpolitik auch im Lichte dieser Entwicklung zu beurteilen, um daraus Konsequenzen für die Tragfähigkeit der atlantischen Strategie ziehen zu können. Schlüssel zum Verständnis der sowjetischen Flottenpolitik ist ein Katalog der politischen und strategischen Motive, die zum Ausbau der Sowjetmarine geführt haben. Um festzustellen, inwieweit die Verteidigungsfähigkeit des Westens dadurch getroffen wird, ist ein quantitativer und qualitativer Flottenvergleich erforderlich. Dabei sind die Seekriegs-potentiale der NATO und des Warschauer Paktes vor dem Hintergrund der jeweiligen geographischen Lage der beiden Pakte, der unterschiedlichen Abhängigkeit von Seeverbindungen und der Unterschiede in den politischen und militärstrategischen Zielsetzungen zu sehen. Es geht nicht mehr darum, ob die NATO oder der Warschauer Pakt mehr Kriegsschiffe hat, sondern darum, daß die Sowjetunion heute in der Lage ist, unsere Seeverbindungen mit U-Booten, hochseefähigen Überwasserkampfschiffen und Marineflugzeugen zu jeder Zeit und an jedem Ort angreifen und stören zu können. Wenn es aber dem Warschauer Pakt gelingt, die Zufuhr von Verstärkungen und Nachschub über See zu, unterbinden, kommt seine konventionelle Überlegenheit in Zentraleuropa ungemindert zur Geltung. Zu den Grundprinzipien der NATO-Strategie — Abschreckung und Vomeverteidigung — gibt es keine Alternative. Wohl aber muß die Allianz etwas tun, um die Fähigkeit zur Vomeverteidigung zu erhalten. Vorne müssen genügend Soldaten und Feuerkraft präsent sein, um im Verein mit rasch zugeführten Reserven und Verstärkungen standzuhalten. Freie und gesicherte atlantische Seeverbindungen sind deshalb unmittelbares Element der Vomeverteidigung, an deren Wirksamkeit unser Land die Wirksamkeit der Bündnis-strategie vor allem messen muß. •

Die NATO sieht sich in den letzten Jahren durch die demonstrative weltweite Präsenz der sowjetischen Flotte herausgefordert und 'bedroht.

Lange Zeit richtete die Allianz, oft gekennzeichnet als ein Bündnis von Seemächten, ihre Verteidigungsanstrengungen vornehmlich an der Überlegenheit der Land-und Luft-streitkräfte des Warschauer Paktes in Zentral-europa aus. Die ozeanischen Seeverbindungen für freien Handel, für Nachschub und Zufuhr von Verstärkungen galten als sicheres „Hinterland", waren beherrscht von westlicher Seemacht. Nun hat die Bedrohung für die NATO durch die globalen seestrategischen Möglichkeiten der Sowjetunion eine neue Dimension erhalten.

Dies allein wäre Grund genug, Konsequenzen für die Strategie der Atlantischen Allianz zu ziehen, zumindest die Tragfähigkeit der gültigen Doktrin zu überprüfen. Eine grundlegende Strategiediskussion wird indessen auch durch eine weitere schwerwiegende Lageveränderung erforderlich: Die nukleare Parität der Supermächte hat zu der Interessenidentität von Sowjetunion und USA geführt, keinen nuklearen Krieg zu führen; damit ist die Bedeutung des konventionellen Potentials erheblich gestiegen. Hieraus wiederum resultieren Interessendivergenzen zwischen Westeuropa und den Vereinigten Staaten von Amerika, denen die nukleare Schutzgarantte für die europäischen Verbündeten obliegt. Die USA verlangen von den europäischen Bündnispartnern eine merkliche Steigerung des konventionellen Verteidigungspotentials, um das nukleare Risiko für sich zu mindern und gleichzeitig die Lasten in der Allianz gerechter zu verteilen. Die Europäer sind zwar bereit, mehr für das konventionelle Potential zu tun, wollen aber keine konventionelle Verteidigungsoption und keine Entkoppelung von strategischem und taktischem Nuklear-

I. Einführung

Abbildung 2

potential; die Europäer können und wollen die konventionelle Verteidigungsfähigkeit nicht unbegrenzt steigern, sie setzen auf das Abschreckungsprinzip der TRIADE.

Es stellt sich daher immer drängender die Frage, ob die Allianz eine neue Strategie definieren muß und kann, um diesen Entwicklungen mit der gebotenen Gemeinsamkeit begegnen zu können. Bei aller Dynamik, mit der sich die politischen und strategischen Bedingungen verändern, bleibt der Grundsatz gültig, daß Sicherheit nur durch eine Strategie des Gleichgewichts zu gewährleisten ist.

Heute wird strategisches Gleichgewicht zuerst als Gleichgewicht der Abschreckung verstanden, die ihren wirksamsten Ausdruck in der nuklearen Parität — also in der Parität der strategischen Waffen — findet. Tatsächlich scheint jedoch ein strategisches Gleichgewicht erst gegeben, wenn Zielsetzung und Potentiale beider Seiten die Abschreckung nicht nur auf der atomaren, sondern auch auf allen anderen Ebenen so glaubwürdig machen, daß keiner der am Gleichgewicht Beteiligten in unerträglicher Weise in seinem Handlungsspielraum eingeengt wird.

Dieses Strategem hat besonderes Gewicht für die Sicherheit Westeuropas, denn unterhalb des verfestigten nuklearen Unterbaues gilt es, durch ausbalancierte Kräfte den politischen Handlungsspielraum zu sichern. Im Hinblick auf dieses Ziel erscheint es notwendig zu klären, welche Auswirkungen die sowjetische Flottenpolitik auf die maritime Balance, die Verteidigungsfähigkeit der NATO und damit auf die atlantische Strategie hat. Es geht dabei vor allem darum, über einen quantitativen und qualitativen Vergleich der Seekriegs-potentiale von Ost und West den Zusammenhang zwischen Verteidigungserfordernissen und [maritimer Bedrohung herauszuarbeiten, um daraus Konsequenzen für die Strategie ziehen zu können.

II. Einige Aspekte sowjetischer Flottenpolitik

Die Sowjetunion verfügt heute neben den USA über die modernste und schlagkräftigste Kriegsflotte der Welt. Der Aufbau der sowje-tischen Handelsflotte hat die Sowjetunion an die sechste, Stelle der Weltrangliste — noch vor die USA -— geführt. Die sowjetische Fischereiflotte macht 53 Prozent der Weltkapazität aus. Die sowjetische Forschungsflotte ist größer als alle anderen.

Dieser gewaltige Flottenausbau zwingt zur Frage nach dem Motiv.

Historisch setzt die sowjetische maritime Entwicklung um 1700 mit den ersten Initiativen Peters des Großen ein. Um 1800 versuchte Zar Alexander sich in den Besitz von Malta zu setzen. Um 1850 war es ein wichtiges strategisches Ziel des Krim-Krieges, die Dardanellen, die das Schwarze Meer vom Mittelmeer abriegeln, zu erobern; doch dieses Ziel blieb unerreicht. Um die Jahrhundertwende gab es im russisch-japanischen Krieg einen empfindlichen Rückschlag für die sowjetische Flottenpolitik, als die abenteuerliche Umsegelung der Kontinente durch die russische Ostseeflotte 1905 bei Tsushima ein Ende fand. Die Folge war die Rückkehr der russischen Marine in küstennahe Gewässer. Die beiden Weltkriege sahen die russische Flotte nur als den auf die Küstenmeere verlängerten Arm der Land-verteidigung. 1956 konnte die Sowjetunion die Suez-Intervention nicht verhindern und auch 1958 mußte sie untätig bleiben, als die USA mit der 6. Flotte im Libanon intervenierte. 1962 kam es zum Kuba-Desaster, das die sowjetische Ohnmacht gegenüber der amerikanischen Quarantäne deutlich machte.

Alle diese Ereignisse haben den Blick der sowjetischen politischen und militärischen Führung für das Instrument Flotte, für das Wesen der Seemacht geschärft und Gedankenanstöße für ihre Flottenpolitik von heute gegeben.

Die treibende Kraft des sowjetischen Flotten-aufbaus war in den letzten beiden Jahrzehnten — und ist auch heute noch — der seit 1956 amtierende Oberbefehlshaber der Sowjet-Marine, Admiral Sergej G. Gorskov.

Lange Zeit galt die Motivation der sowjetischen Flottenrüstung als umstritten — ein Urteil, dem sich auch Lothar Rühl in seinem Beitrag zu dem jüngst erschienenen Werk über Seemacht und Außenpolitik anschließt. Den Schlüssel zum Verständnis der Motivation sowjetischer Flottenpolitik hat jedoch Admiral Gorskov selbst mit seinem Buch über die Rolle der Flotten im Krieg und Frieden geliefert. Mit großer Genauigkeit hat er analysiert, welche Fehler bei der politischen, strategischen und operativen Handhabung des Instrumentes Flotte während der beiden letzten Jahrhunderte gemacht wurden.

Diese Analyse, die sich insbesondere auch auf den Zweiten Weltkrieg bezieht, hat Gorskov mit der Beurteilung heutiger technischer Möglichkeiten verbunden. Auf dieser Beurteilungsgrundlage kommt er beispielsweise zu dem Schluß, daß die Kriegsflotte in der Friedenszeit die Wirtschafts-und militärische Macht eines Landes jenseits seiner Grenzen anschaulich zu demonstrieren vermag, daß sie es gestattet, ohne unmittelbaren Waffeneinsatz auf potentielle Gegner Druck auszuüben Für den Einsatz der Flotte im Kriege kommt Gorskov zu dem Ergebnis, „daß die U-Boote im Zweiten Weltkrieg die Hauptwaffe im Kampf gegen die Schiffahrt des Gegners waren und sich als solche unter den jetzigen Verhältnissen um so mehr anbieten" Neben U-Booten, vor allem solchen mit atomarem Antrieb, weist Gorskov Marineflieger-kräften mit großer Eindringtiefe und großen überwasserschiffen, die nach Bewaffnung und Taktik zur „ersten Salve" befähigt sind, die wichtigste Funktion in einem künftigen Seekrieg zu

Gorskov betont wiederholt, daß Wesen und Art des Flottenaufbaus von der Politik bestimmt werden Aus dem historisch und ideologisch determinierten Charakter der heutigen sowjetischen Politik lassen sich die folgenden fünf Hauptmotive für den Ausbau der Seestreitkräfte nennen:

— Prestige-Bedürfnis der Weltmacht Sowjetunion, — Erweiterung der politischen Handlungsfähigkeit durch ein maritimes Demonstrationsund Interventionspotential, — Schutz vor dem strategischen Potential der NATO, — Beitrag zur nuklearen Parität durch strategische U-Boote, — Schaffen eines Angriffspotentials gegen NATO-Seeverbindungen für den Fall eines weltweiten Krieges.

Die sowjetische Kriegsflotte Die heutige moderne sowjetische Kriegsflotte ist unter Führung ihres Oberbefehlshabers Admiral Gorskov in zwei Phasen aufgebaut worden. Seit nun fast zehn Jahren liegt der Schwerpunkt der sowjetischen Marine-Rüstung beim Ausbau der strategischen und konventionellen U-Boot-Waffe und dem Aufbau einer hochseefähigen Kreuzer-/Zerstörerflotte mit Schiff-Schiff-und Schiff-Luft-Flug-körpern. Weitere wichtige Komponenten der sowjetischen Flotte sind die Marineflieger-kräfte, deren Hauptaufträge Angriff und U-Bootjagd sind, und die Marine-Infanterie, die als Elitetruppe mit offensiver Transportkapazität in Form von Landungsschiffen und Dekkungsstreitkräften bereitsteht. Die weltweite Versorgung für die Kampfschiffe wird durch den Bau einer großen Versorger-Flotte und den Abschluß von Stützpunktverträgen ermöglicht. Die sowjetische Flottenausrüstung hat aber auch die Komponente Führung und Organisation parallel zur Verbesserung des Materials nicht außer acht gelassen. Die sowjetische Marine hat eine rechnergestützte Zentrale zur Führung ihrer gesamten Kriegs-und Handelsflotte. Damit wird der koordinierte weltweite Einsatz der durch weite Distanzen getrennten vier Kriegsflotten (Nordmeer, Ostsee, Schwarzes Meer, Pazifik) ermöglicht. Anfänglich traten diese vier Fotten nur in ihren Heimatgewässern auf; mittlerweile jedoch werden die Einheiten untereinander ausgetauscht und operieren nach einem in sich abgestimmten Gesamtkonzept. Im Frühjahr 1975 hat die Sowjet-Marine mit dem Manöver OKEAN 75 gezeigt, „daß die sowjetischen Seestreitkräfte — auf allen Weltmeeren Schwerpunkte bilden und diese rasch verlegen können, — zentral geführt und nach einheitlichem Operationskonzept eingesetzt werden, — sich auf eine ausreichende Seeversorgung abstützen können, die Marine-Flieger auf einige Flugplätze in der Dritten Welt"

Zu diesen Erfolgen wäre es allerdings wohl kaum gekommen, wenn es der Sowjetunion nicht gelungen wäre, im Verlauf der letzten dreißig Jahre hervorragende Seeleute heranzubilden, die sich ihre Berufserfahrungen durch monatelange Seefahrtszeiten auf Kriegs-, Handels-, Fischerei und Forschungsschiffen erwerben. Durch Austausch dieses Personals kommt das erworbene Wissen und Können der Gesamtflotte zugute.

Maritime Präsenz Mit dem Aufbau des Marinepotentials hat sich eine stetige Erweiterung der Präsenz sowjetischer Seestreitkräfte auf allen Weltmeeren vollzogen. Die Schwerpunkte der maritimen Präsenz liegen heute im Mittelmeer, im Atlantik und im Indischen Ozean.

Die Sowjetunion demonstriert in diesen See-gebieten mit Hilfe ihrer Flotte, daß sie eine Weltmacht ist, und nutzt die Wirkungen dieser Machtdemonstration, um ihren politischen Einfluß zu vergrößern.

Im Zusammenspiel von maritimer Präsenz mit anderen außenpolitischen Aktivitäten wie Militärhilfe, diplomatischer Unterstützung von Ländern der Dritten Welt und staatlich gefördertem Handel zielt die Politik der Sowjetunion unter anderem dahin, Stützpunktrechte für ihre Flotte zu erhalten. Damit schafft sich die Sowjetunion die Voraussetzungen, jederzeit die für die westlichen Industrienationen lebenswichtigen Seehandelsverbindungen und Olrouten stören oder gar unterbrechen zu können. Im Indischen Ozean und im Südatlantik ergänzen sich somit sowjetische wirtschafts-und sicherheitspolitische Interessen.

Im Mittelmeer und Nordatlantik sind hingegen die militärischen Interessen vorherrschend. Der ständig im Mittelmeer anwesende Flottenverband — selten weniger als 60 Schiffe — ist heute nach Stärke und Zusammensetzung in der Lage, bei jedem lokalen Konflikt im Mittelmeerraum Partei für das Land zu ergreifen, das sowjetischen Interessen dient, und das Eingreifen Dritter zu verhindern. Damit ist das politische Gewicht der amerikanischen 6. Flotte zu einem Gutteil neutralisiert worden. Die Sowjetunion kann überdies glaubhaft demonstrieren, daß sie allen darum nachsuchenden Staaten Schutz gewähren kann.

Während die Sowjetunion im Mittelmeer noch unter dem Deckmantel des Argumentes anwesend ist, ihren Selbstschutz wahrzunehmen, hat die Präsenz im Nordatlantik und Nordmeer schon mehr einen Drohcharakter. Der Nordatlantik wird durch Aufklärungsflugzeuge, ozeanographische Forschuhgs-und Spezialschiffe für elektronische Aufklärung überwacht. Ständig stehen strategische U-Boote vor der amerikanischen Ostküste, mehrmals im Jahr laufen große Uberwasserkampfverbände nach Kuba und Guinea. U-Boote und Überwasserkampfeinheiten der Sowjet-Marine demonstrieren schon im Frieden, daß hier ein Potential verfügbar ist, mit dem die NATO-Seeverbindungen über den Atlantik im Krisen-und Kriegsfall unterbrochen werden können. Diese Situation im Nordatlantik wird für die NATO bedrohlich durch die politische und seestrategische Entwicklung an ihrer offenen atlantischen Südflanke verschärft. Es gilt daher, dem Südatlantik nach dem politischen Erfolg der Sowjetunion in Angola besondere Aufmerksamkeit zu widmen: Die Sowjetmarine kann nun hier damit rechnen, außer ihrer Basis in Conakry/Guinea auch Häfen in Angola nutzen zu können. Schon während des Bürgerkrieges in Angola standen vor der Küste ununterbrochen russische Kriegsschiffe, von denen aus militärische Aktionen an Land koordiniert und über Funk geführt wurden und von denen auch gleichzeitig reaktionsschnelle Funkverbindungen zum fernen Moskau bereitgehalten wurden. Diese Einheiten der Sowjetmarine machten zudem deutlich, daß ein Interventionspotential bereitstand, um das Eingreifen Dritter zu verhindern.

Angesichts der engen politischen Beziehungen zwischen den gerade in die Unabhängigkeit entlassenen Kapverdischen Inseln und Guinea, das unter starkem sowjetischen Einfluß steht, bahnt sich für die Sowjetunion die Möglichkeit an, einen weiteren wichtigen Stützpunkt zu erhalten.

Diese Erfolge an der westafrikanischen Küste versetzen die Sowjetmarine nunmehr in die Lage, ihre Präsenz an den wichtigsten Seeverkehrsrouten des Westens zu verstärken, weil zeitraubende Wege zu den Heimatbasen entfallen.

Jährlich umrunden etwa 26 000 Handelsschiffe das Kap der Guten Hoffnung; täglich passieren die Südspitze Afrikas fast 1, 5 Millionen Tonnen Schiffsraum, wovon die Hälfte aus Tankertonnage besteht. Dieser Seeverkehr der Kap-Route bündelt sich in der Passage zwischen den Kapverden und der Westküste Afrikas mit dem von Südamerika nach Europa laufenden Handelsschiffsverkehr zu einer besonders dichten Schiffsfolge, so daß der Besitz dieser Positionen und die Kontrolle die-'ses Seegebietes von entscheidender Bedeutung ist.

Da jedoch das Operationsgebiet der NATO nach Süden hin vom Wendekreis des Krebses (30 Grad nördlicher Breite) begrenzt wird, gestaltet sich der Schutz der Seeverbindungen im Südatlantik besonders schwierig.

Angesichts der nun durch Stützpunkte abgesicherten wachsenden sowjetischen maritimen Präsenz im Südatlantik wird die Allianz nicht darum herumkommen, dieses Seegebiet in ihre seestrategische Konzeption einzubeziehen. Das muß nicht eine Ausweitung des NATO-Operationsgebietes nach Süden bedeuten. Denkbar wäre auch, daß sich die potenten Mächte des Südatlantik — Brasilien, Argentinien, Uruguay und Südafrika — in einem Südatlantik-Pakt zusammenschließen und damit eine Initiative realisieren, die schon 1968 von der Republik Südafrika zur Diskussion gestellt worden ist und die in Südamerika nicht auf grundsätzliche Ablehnung stieß. Das Seekriegspotential der Südatlantikanlieger — 2 Flugzeugträger, 5 Kreuzer, 45 Zerstörer/Fregatten, 10 U-Boote, 60 Seefernaufklärungsflugzeuge — könnte zu gemeinsamen Operationen genutzt werden. Dies hätte zur Folge, daß die NATO ihre Kräfte nicht noch weiter zersplittern und dadurch ihre ohnehin gefährdete Position im Nordatlantik schwächen müßte.

Ein Südatlantik-Pakt, genährt aus der Interessenidentität der Anliegerstaaten und der Nordatlantischen Allianz im Hinblick auf den Schutz der Seeverbindungen, bedürfte allerdings auch der Rückendeckung durch die NATO. Diese Rückendeckung könnte sich darin dokumentieren, daß die sicherheitspolitische Zusammenarbeit intensiviert wird und über die schon laufende Hilfe der USA, Frankreichs und der Bundesrepublik Deutschland beim Aufbau und der Modernisierung von Marinen einiger Anrainerstaaten hinausgeht.

Haupthindernis für eine solche weitgreifende aktivere sicherheitspolitische Kooperation ist die revisionsbedürftige innenpolitische Grund-position Südafrikas. Da sich die Republik Südafrika heute existentiell durch seine kommunistischen und revolutionären schwarzen Nachbarstaaten bedroht sieht und gleichzeitig die auch für dieses Land lebensnotwendigen Seeverbindungen schutzbedürftiger sind denn je, muß es sich fragen und fragen lassen, wie lange es noch an seiner überkommenen Rassenpolitik festhalten will.

Der südatlantische Raum ist durch die Afrika-politik der Sowjetunion und durch die wachsende Präsenz der sowjetischen Flotte auf zweifache Weise strategisch aufgewertet: Die Kap-Route und die Südamerika-Schiffahrt liegen innerhalb der Zugriffsmöglichkeiten sowjetischer Seestreitkräfte; strategische U-Boote der Sowjetunion können mit ihren weitreichenden Raketen das NATO-Territorium von einem Seegebiet aus erreichen, in dem die Allianz nicht präsent ist. Aus der eindeutigen westlichen Orientierung aller Anliegerstaaten des Südatlantiks ist Angola her-ausgebrochen; die politische Situation ist un-übersichtlicher und labiler geworden, so daß den verbleibenden zuverlässigen Partnern des Westens um so größere Bedeutung zukommt.

III. Flottenvergleich NATO — Warschauer Pakt

Die Berichte über die Gegenwart sowjetischer Seestreitkräfte auf allen Weltmeeren und über das stetige Anwachsen der maritimen Präsenz suggerieren häufig, die NATO sei dieser Entwicklung nicht mehr gewachsen. Andererseits wird pauschalierend festgestellt, daß die Allianz nach wie vor überlegen sei -so Günter Poser in seinem Buch über die NATO: „Bei den Seestreitkräften liegt durch die Gunst der geostrategischen Lage und die Zahl großer überwasserschiffe noch immer ein Übergewicht der NATO-Seemächte vor." Vorsichtiger formuliert die Bundesregierung im Weißbuch 1975/76: „Die NATO hat mehr Kriegsschiffe im Dienst als der War-schauer Pakt. Dieser bloße Zahlenvergleich der Seestreitkräfte hat aber wenig Aussage-wert." Die Meinungen über das tatsächliche Kräfteverhältnis zur See gehen also auseinander, und dies wohl nicht zuletzt deswegen, weil im allgemeinen unklar ist, nach welchen Kriterien sich ein Flottenvergleich richten soll, der Quantität und Qualität berücksichtigt. Um zu einem sachgerechten vergleichenden Urteil über den Kampfwert der Seestreitkräfte in Ost und West zu kommen, erscheint es notwendig, zunächst die geostrategische Lage der beiden Pakte und die unterschiedliche Abhängigkeit von Seeverbindungen zu untersuchen sowie des weiteren die Unterschiede in den politischen und militär-strategischen Zielsetzungen zu beleuchten; denn daraus resultieren unterschiedliche Aufträge und Strukturen der Flotten des Warschauer Paktes und der NATO.

Wichtiges Merkmal für die geostrategische Lage der Allianz ist die Tatsache, daß fast alle NATO-Staaten freien Zugang zu den Weltmeeren haben; deshalb, aber auch auf Grund ihrer weltweiten Wirtschafts-und Handelsinteressen, wär die NATO von Beginn an ein Bündnis, daß die freie Nutzung der See zum unverzichtbaren Ziel des gemeinsamen Sicherheitsinteresses machte. Weiter-hin ist der Bündnisraum der NATO von der großen Entfernung zwischen der Schutzmacht USA und ihren europäischen Verbündeten, der mangelnden Raumtiefe und maritimen Zergliederung Westeuropas bestimmt. Wenig greifbar, aber doch bedeutungsvoll ist der Umstand, daß Westeuropa die Gegenküste Nordamerikas ist. Gerade weil hin und wieder an der Glaubwürdigkeit des amerikanischen Engagements für Europa gezweifelt wird, sollte die besondere Eigengesetzlichkeit der Gegenküste für das amerikanische Inter-'

esse an Europa nicht unterschätzt werden.

Seit Mahan Ende des vorigen Jahrhunderts lehrte, „daß die Seeherrschaft und mit ihr die Gegenküste ein starkes Mittel sei, Kriege zu gewinnen oder zu verhindern und daß Seemacht allein durch ihre Präsenz schon im Frieden Seeherrschaft ausüben und den Handel schützen könne wird der Begriff , Gegenküste'in alle Betrachtungen über Seemacht und Flottenpolitik einbezogen. Die Gegenküste stellt eine besondere Art der politischen Nachbarschaft dar, die sich durch die Nachbarschaft zu Lande davon unterscheidet, daß die See zugleich das verbindende und trennende Element ist Als Gesetz der Gegenküste ist formuliert worden: „Ein Küsten-staat sucht den Besitz seiner Gegenküste oder strebt doch an, daß sich diese nicht im Besitz eines machtvollen Staates befinde oder in dessen Besitz gelange."

Im Gegensatz zur NATO ist dem Warschauer Pakt — vor allem der Sowjetunion — der Zutritt zu den Weltmeeren außerordentlich erschwert. Das Gebiet des Warschauer Paktes ist von großer Geschlossenheit und weist eine große Raumtiefe auf. Das Verhältnis der Entfernungen, über die Verstärkungen für die Bündnispartner in Mitteleuropa zugeführt werden, ist für die Sowjetunion etwa zehnmal so günstig wie für die USA (ca. 6 000 : 650 km). So lange aber die Sowjetunion die Naditeile ihrer ungünstigen seestrategischen Lage nicht wenigstens durch zuverlässige und gesicherte überseeische Stützpunkte teilweise ausgeglichen hat — erste Erfolge zeigen sich mit Liegerechten in Kuba, Guinea und Somalia—, muß sie ihre Schiffe über lange, gefährliche Seewege in die Heimatbasen zurückführen und/oder gleichzeitig gewaltige Anstrengungen für die Seeversorgung unternehmen.

Die Vorteile der geostrategischen Lage für die NATO bleiben in ihrem Aussagewert aber unvollständig ohne einen Vergleich der unterschiedlichen Abhängigkeit von Seeverbindungen für Ost und West.

Die USA und fast alle ihre Verbündeten in der NATO sind in hohem Maße auf die Nutzung der freien See für Handel und Wirtschaft im Frieden, für die Zufuhr von Nachschub und Verstärkungen im Kriege angewiesen. Insbesondere Westeuropa hat nur eine geringe Selbstversorgungsquote an Rohstoffen und Energie. Beispielsweise führt die Bundesrepublik Deutschland fast ihren gesamten Bedarf an Chrom, Kupfer, Bauxit, Mangan, Nickel, Titan, Zinn, Eisen und öl ein — zum größten Teil über See. Andererseits lebt die Wirtschaft der westlichen Industrienationen von dem Export an Fertigprodukten. Im Kriegsfall ist Westeuropa davon abhängig, daß die USA ihre strategischen Reserven nach Europa werfen und die Europäer mit Nachschub versorgen. Die Seeverbindungslinien sind daher für die Allianz in Frieden und Krieg von existenzieller Bedeutung.

Anders ist die Lage im Warschauer Pakt. Die Sowjetunion ist so gut wie unabhängig in ihrer Versorgung mit Rohstoffen und Energie und kann die Verbündeten im Warschauer Pakt bei auftretenden Engpässen noch unterstützen. Im Konfliktfall kann die Sowjetunion militärische Reserven auf dem Landweg in kurzer Zeit wegen der geringen Entfernung bis zur innerdeutschen Grenze zuführen. Im übrigen wird der Sowjetunion daran gelegen sein, daß die NATO ihre Streitkräfte in Europa im Konfliktfall nicht über See verstärkt.

Wenn man der Sowjetunion zubilligt, daß sie zur Erhaltung der nuklearen Parität auch see-gestütztes strategisches Potential auf U-Booten benötigt und ein gewisses Potential an Seestreitkräften zur Selbstverteidigung erforderlich ist, stellt sich die Frage, welche Funktion und welchen Auftrag der restliche Teil der sowjetischen Marine hat.

Vor diesem Hintergrund und unter dieser Fragestellung gilt es, die Flotten von NATO und Warschauer Pakt vergleichend zu bewerten.

In diesen Vergleich braucht allerdings auf selten des Warschauer Paktes nur die sowjetische Marine einbezogen zu werden, da die übrigen Pakt-Mitglieder kaum über hochseefähige Einheiten verfügen. Auf selten der NATO hingegen müssen fast alle Marinen berücksichtigt werden, da fast alle NATO-Staaten hochseefähige Kriegsschiffe in Dienst halten. Beschränkt man sich auf die wichtigsten Schiffstypen zur Seekriegführung außerhalb der Küstengewässer — also zur Seekriegführung um die atlantischen Verbindungslinien—, ergibt sich in Zahlen folgendes Bild:

Bestand See-/Seeluftstreitkräfte NATO — Warschauer Pakt

Diese Zahlen machen sofort deutlich, daß die Flotten sehr unterschiedlich strukturiert sind. Das Rückgrad des NATO-Potentials bilden Flugzeugträger mit Marinejagdbombern und Einheiten zur U-Bootjagd und Konvoisicherung (Zerstörer, Fregatten, U-Jagdflugzeuge und U-Jagd-U-Boote). Die Sowjetmarine hingegen besteht vornehmlich aus Angriffs-U-Booten (davon über 50 °/o mit Nuklearantrieb und langer Seeausdauer), großen Überwasserkampfschiffen (Flugkörper-Kreuzer-/Zerstörer) und Marine-Langstreckenbombern.

Diese unterschiedliche Struktur leitet sich aus den unterschiedlichen Aufträgen der Flotten her:

— Die USA und ihre NATO-Verbündeten legen Gewicht auf Seeherrschaft zur Sicherung der freien Seeverbindungen und die Entfaltung militärischer Macht von See aufs Festland durch Angriffsflugzeugträger und amphibische Kräfte zur Unterstützung der Land-front. — Die Sowjetunion legt das Gewicht auf die Abwehr amerikanischer Unternehmen, mit denen Macht von See her ausgeübt werden soll, und auf die Unterbindung militärischer und* wirtschaftlicher Versorgungs-Schiffahrt der USA und ihrer Verbündeten über die offene See

Zusammenfassende Bewertung:

Nach wie vor führt die NATO bei den Flugzeugträgern, sieht sich jedoch mit einer starken U-Boot-Bedrohung konfrontiert. Die Sicherungsstreitkräfte der NATO sind im Hinblick auf ihre Aufgaben und unter dem Zwang, sich durch lange Seeverbindungen zersplittern zu müssen, kaum noch ausreichend. Dazu sei nur vermerkt, daß im Zweiten Weltkrieg auf jedes deutsche U-Boot etwa 25 Schiffe und 100 Flugzeuge Englands und Amerikas kamen Wie das Verhältnis heute ist, zeigt die o. a. Tabelle. Trotz dieses ungünstigen Zahlenverhältnisses geht die Schiffszahl der NATO zurück. Im Warschauer Pakt ist zwar auch insgesamt ein leichter Rückgang des Schiffsbestandes zu verzeichnen, jedoch wird gleichzeitig die Kampfkraft der U-Boote, Kreuzer/Zerstörer und Flugzeuge mit erheblich größeren Investitionsraten verbessert als im Westen.

Die Vorteile des Warschauer Paktes liegen bei der Modernität der Kriegsschiffe, der zentralen Einsatzführung, der über die Verteidigungsnotwendigkeit hinausgehenden Stärke; vor allem aber liegt ein Vorteil darin, daß der Warschauer Pakt den NATO-Seeverkehr, was Ort und Zeitpunkt anlangt, nach eigener Wahl angreifen kann, während die Allianz in der Rolle des Verteidigers ihre Kräfte verteilen mußi Entscheidender Vorteil der NATO und gleichzeitig schwerwiegende Schwäche des Warschauer Paktes ist die nach wie vor ungünstige seestrategische Lage der Sowjetunion und ihrer Verbündeten.

IV. Die Atlantische Strategie

Die Sicherheit der NATO-Staaten beruht auf den drei Elementen Abschreckung, Verteidigung und Entspannung. Kern der Abschrekkungsdoktrin ist der Gedanke, durch ausreichende Verteidigungsfähigkeit der Allianz für jeden Aggressor ein solches Angriffsrisiko zu schaffen, daß möglicher Gewinn und Verlust in keinem'tragbaren Verhältnis zueinander stehen; der Risikogedanke und die Unkalkulierbarkeit der NATO-Reaktion sollen den potentiellen Angreifer abschrecken.

Dieser Gedanke wurde 1967 durch die Einführung der Strategie der „flexiblen Reaktion" (flexible response) von der NATO verfeinert und den aktuellen Gegebenheiten angepaßt. Die NATO hat sich damit den strategischen Grundsatz zu eigen gemacht, durch ausreichende konventionelle, taktisch-nukleare und strategisch-nukleare Mittel sowie durch hohe Präsenz ihrer Streitkräfte fähig zu sein, jedem Angriff in der angemessenen Form begegnen zu können. Fähigkeit und Bereitschaft, notfalls kontrolliert zu eskalieren, machen dabei die Unkalkulierbarkeit und Stärke der Reaktion aus. Die Maßnahmen der Verteidigung zielen darauf, jeden Angriff so früh und so weit östlich wie möglich zum Stehen zu brin--N gen, keinen Raum aufzugeben, ganz vorne zu verteidigen.

Wegen der Mittel-und Grenzlage der Bundesrepublik Deutschland hat die Vorneverteidigung aus ihrer Sicht von jeher elementare Bedeutung für die Wirksamkeit der Bündnisstrategie gehabt. In diesem Sinne drückt sich die Bundesregierung in ihrem Weißbuch 1975/76 unmißverständlich aus: „Vorneverteidigung verlangt, daß die NATO fähig und bereit ist, unverzüglich und schlagkräftig zu antworten. Die Reaktion der NATO muß verhindern, daß es • zu einem länger andauernden Kampf auf dem Territorium der Bundesrepublik Deutschland kommt. Denn ein solcher Kampf würde letztlich die Substanz dessen zerstören, was verteidigt werden soll."

Diese Feststellung kann nur so interpretiert werden, daß es erstes und oberstes Sicherheitsinteresse der Bundesrepublik Deutschland ist, das Bündnis durch starke und präsente Streitkräfte so abschreckungsfähig zu halten, daß es nicht zu einem militärisch — auf deutschem Boden — ausgetragenen Konflikt kommt. Falls es durch Versagen der Abschreckung dennoch dazu kommt, müßte es ein deutsches Interesse sein, in kürzester Zeit durch Eskalation die Abschreckung wieder herzustellen.

Mit der Strategie der flexiblen Reaktion und dem Konzept der Vorneverteidigung ist die Vorstellung verbunden, daß die präsenten Bündniskräfte mit begrenzten Aktionen eines Gegners sofort und allein fertig werden, aber auch stark genug sind, der ersten Welle eines wuchtig geführten Angriffs zu widerstehen, damit Reserven mobilisiert, Verstärkungen zugeführt und — wenn nötig — eine Entscheidung über den Einsatz von Nuklear-Waffen herbeigeführt werden kann.

Diese Vorstellung führt in der strategischen Praxis nicht nur zur Frage der Kriegsdauer, der Nuklearschwelle und des erforderlichen Umfanges an präsenten Streitkräften, sondern auch zur Frage nach dem möglichen strategischen Verhalten eines Aggressors. Streitkräftestruktur und Strategie der NATO sind offensichtlich für einen Konflikt konzipiert, der längere Zeit währt, denn sonst kämen Mobilisierung von Reserven und Zufuhr von Verstärkungen aus Ubersee überhaupt nicht zum Tragen. Hinsichtlich der Höhe der Nuklearschwelle bestehen zwischen Europäern und Amerikanern gewisse Interessenunterschiede, die durch unterschiedliche Verteidigungserfordernisse bedingt sind. Das Konzept der Vorneverteidigung verlangt em Prinzip eine frühe Bereitschaft zur Eskalation, wenn auch die konventionelle Verteidigungsfähigkeit ermöglichen soll, eine Aggression zunächst ohne den Einsatz von Nuklearwaffen abzuwehren

Der frühere amerikanische Verteidigungsminister Schlesinger hat in seinem Jahresbericht an den Kongreß herausgestellt, daß „ein früher Einsatz nuklearer Waffen keineswegs sicher ist" und die USA „die Option haben sollten, auf unbegrenzte Zeit einen nichtnuklearen Konflikt durchhalten zu können" Nach Schlesinger bestehen für das strategische Konzept der USA zwei Erfordernisse: „. . . die Fähigkeit zu einer erfolgreichen, starken, sofortigen Vorneverteidigung, die vor allem auf den aktiven Streitkräften beruht; und eine Vorsorge für den Fall eines langen Krieges, die vor allem auf der Nationalgarde, den Reservestreitkräften und der Produktionsbasis beruht"

Angesichts der strategischen Vorstellungen der Allianz zu Kriegsdauer und Nuklear-schwelle und der dabei mehr oder minder hervortretenden Meinungsunterschiede wird heute immer häufiger davon ausgegangen, daß der Warschauer Pakt sich in seiner Strategie darauf eingestellt hat. Dazu R. Pfaltzgraff, Direktor des Forschungsinstituts für auswärtige Politik in Philadelphia: „Die gegenwärtige Struktur der NATO-Streitkräfte, die auf der Annahme basiert, daß Zeit zur Verstärkung zur Verfügung stehen würde, macht eine Blitzkrieg-Strategie des War-schauer Paktes aus sowjetischer Sicht äußerst vorteilhaft, weil man damit die westlichen Streitkräfte schlagen kann, solange sie noch schwach sind und so die optimalen Bedingungen für einen schnellen, entscheidenden Sieg erhält."

Funktion der Seestreitkräfte Nach diesem Exkurs über die Grundvorstellungen der Atlantischen Strategie gilt es nun den Zusammenhang zwischen den Auswirkungen der sowjetischen Flottenpolitik, also der atlantischen Bedrohung, und den Erfordernissen der Vorneverteidigung herzustellen.

Damit ist gleichzeitig die Frage nach der Funktion von Seestreitkräften im Zeitalter der Nuklear-Strategie zu beantworten.

Die Bedeutung von Seeherrschaft und damit die Rolle von Seestreitkräften ist für den Fall eines Krieges eine Funktion der Kriegsdauer.

Der Zeitfaktor ist bestimmende Größe.

In einem „Weltkrieg", der als kurzer nuklearer Schlagabtausch zwischen den Supermächten geführt würde, müßte sich die Bedeutung von Seestreitkräften — mit Ausnahme strategischer U-Boote, auf die die beiden Groß-mächte ihre Zweitschlagfähigkeit wesentlich abstützen — etwa auf Null reduzieren. Je länger jedoch ein mit militärischen Mitteln ausgetragener Konflikt ohne den Einsatz von Nuklear-Waffen währt, desto mehr steigt die Bedeutung der Seeherrschaft für die krieg-führenden Parteien.

In diesem Zusammenhang gewinnen Äußerungen Schlesingers über die Option, zum unbegrenzt langen nichtnuklearen Konflikt fähig zu sein, ihr besonderes Gewicht.

Es ist offenkundig, daß die Strategie der USA darauf angelegt ist, im Konfliktfall den Einsatz von Nuklear-Waffen so lange wie möglich zu vermeiden und in einem rein konventionell geführten Krieg langer Dauer ihre großen Produktionskapazitäten voll auszuschöpfen, die Vorteile der geostrategischen Lage und die Erfahrungen in der atlantischen Seekriegführung zu nutzen. Doch dieser strategi-sche Ansatz trägt den Erfordernissen der Vorneverteidigung, der ja auch, die USA vitale Bedeutung beimessen, noch nicht genügend Rechnung. Wirksame Vorneverteidigung verlangt die Fähigkeit der NATO, in der ersten Phase eines Konfliktes — oder schon vorher — Verstärkungen und Reserven über See nach Europa zu bringen.

Gerade diese Fähigkeit wird aber durch die Auswirkungen der sowjetischen Flottenpolitik, durch die maritime Bedrohung im Atlantik, die vornehmlich von U-Booten und Marinefliegern ausgeht, in Frage gestellt.

Wenn die NATO-Flotten nicht in der Lage sind, sich dieser Bedrohung zu erwehren, fehlen im Konfliktfall wichtige Teile des Potentials zur Vorneverteidigung. Die Überlegenheit des Warschauer Paktes an konventionellen Land-und Luftstreitkräften könnte sich ungemindert auswirken.

Diese Auswirkungen auf die Verteidigungsfähigkeit der NATO im Kriege haben direkte Folgen für die Glaubwürdigkeit der Abschreckung im Frieden und damit für die Tragfähigkeit der atlantischen Strategie.

V. Und nun?

Die Antwort auf die Frage, ob die Allianz ihre Strategie angesichts der aufgezeigten Lageentwicklung revidieren muß, ist in ihrem prinzipiellen Gehalt klar und eindeutig: Es gibt keine Alternative zum Konzept der Abschreckung im Frieden, die einen Krieg verhindern, die Sicherheit erhalten soll. Für die NATO als einem Verteidigungsbündnis gibt es kein anderes Sicherheitskonzept als ein rein defensives. Abschreckung durch Verteidigungsfähigkeit — begründet im Willen und Vermögen zur gemeinsamen Verteidigung — bildet gleichzeitig die Grundlage einer realistischen Entspannungspolitik, deren Ziel es ist, Konflikte zu verhindern und ihre möglichen Ursachen zu beseitigen.

Die Strategie, deren Kern die Fähigkeit zur angemessenen Reaktion auf jeder Ebene ist, steht nicht zur Disposition, wohl aber die Ausgewogenheit von konventionellen und nuklearen Verteidigungsmitteln. Diese Ausgewogenheit ist sicher außerordentlich schwierig zu bestimmen, da die konventionellen, nukleartaktischen und nuklear-strategischen Elemente der NATO-TRIADE ein in sich verzahntes, unlösbar verbundenes System bilden. . Gerade 'der — vorn Gegner nicht vorherbestimmbare — schnelle Wechsel in der Wähl der jeweils erforderlichen und geeigneten Abwehrmittel machen die Unkalkulierbarkeit der Reaktion aus, lassen einen Angriff zum Risiko werden.

Vorrangiges Ziel für die Sicherheit aller Bündnispartner muß es daher sein, den Eskalationsverbund der Elemente der TRIADE zu erhalten. Diese Förderung gilt, obwohl die konventionellen Kräfte angesichts der nuklearen Parität in ihrer Bedeutung gewachsen sind. Es wäre ein strategischer Irrweg, sich ausschließlich auf die konventionelle Abwehr einer großangelegten Aggression vorzubereiten; weil diese vielleicht ohne den Einsatz von Nuklearwaffen vorgetragen würde. Eine konventionelle Verteidigungsoption Würde das Bündnis gar nicht darstellen können. Die Entkopplung des nuklear-taktischen vom nuklear-strategischen Potential würde der Abschreckungsdoktrin der NATO die Substanz entziehen.

Dennoch muß die NATO so, starke Kräfte bereithalten, daß erste Anfangserfolge gegen eine Aggression erzielt werden können, ohne Nuklearwaffen einzusetzen und ohne Raum preiszugeben. Die Allianz muß gerade in der ersten Phase eines gegnerischen Angriffs ihre größte Kraft zur Abwehr entfalten. Vorne müssen genügend Soldaten und Feuerkraft präsent sein, um im Verein mit rasch zugeführten Reserven und Verstärkungen standzühalten. ’ Dieser Forderung werden die Maßnahmen der neuen Wehrstruktur für die Streitkräfte der Bundesrepublik Deutschland — der Anteil an Kampftruppen Wird vergrößert und erhält mehr einsatzbereites Material — ebenso gerecht wie die beabsichtigte Neuaufstellung einer amerikanischen Brigade in Norddeutschland. All dies kommt unmittelbar einer Erhöhung der Präsenz und konventionellen Abwehrfähigkeit zugute.

Die Bereitschaft‘der USA, Reserven ünd Verstärkungen nach Westeuropa zü bringen, wenn es die Läge erfordert, ist per se schön Demonstration des Willens zur gegenseitigen Unterstützung. Aber das Bündnis muß auch die Voraussetzungen erfüllen, damit der güte Wille notfalls in die Tat umgesetzt werden kann. Das Verlustrisiko auf den Seeverbindungslinien muß in erträglichen Grenzen gehalten werden. Hier gibt es für die NATO viel zu tun.

Es besteht die Möglichkeit, schon in Zeiten politischer Spannung — noch vor Ausbruch eines Konfliktes — Transporte von den USA nach Europa in Marsch zu setzen. Auf diese Weise könnte eine Spannungs-und Warnzeit genutzt werden, um die Abwehrfähigkeit in der Region unmittelbarer Bedrohung nachhaltig zu stärken. Solche demonstrative Maßnahmen könnten die Wirksamkeit der Abschrekkung in einer konfliktträchtigen Zeit erhöhen und damit den Ausbruch eines offenen Konfliktes verhindern helfen. Aber auch die gegenteilige Wirkung kann eintreten: Ober-mann stellt in seinem vielzitierten Handbuch über Verteidigung fest: „Den Entschluß, Truppen aus den USA in den Abschnitt Mitte zu bringen, würde in einer Krisenzeit der Gegner unweigerlich als Eskalation werten, die ihn veranlassen könnte, weitreichende Gegenmaßnahmen zu ergreifen." Ein lagegerechtes „Crisis-Management" müßte also einen schwierigen Kurs steuern, um den Erfordernissen der Sicherheit zu genügen.

Die Gewißheit, über sichere Seeverbindungen zu verfügen, kann daher nur schlagkräftiges Seekriegspotential in ausreichender Zahl und Qualität liefern. Keiner der europäischen NATO-Staaten kann allerdings diese Aufgabe allein bewältigen. Obwohl die Abhängigkeit der Staaten Westeuropas von freien Seever\ bindungen in Frieden und Krieg größer denn je ist, sind sie heute angesichts der Auswirkungen sowjetischer Flottenpolitik bei gleichzeitigem rasanten Anstieg der Kosten für moderne Kriegsschiffe und Flugzeuge weder allein noch gemeinsam in der Lage, ihrer Schiffahrt den notwendigen weltweiten oder auch nur regionalen Schutz zu geben.

Nur Zusammenarbeit mit den USA und ein aufgabenteiliges Bündnis kann Schutz und Sicherheit bieten.

Den historisch gewachsenen großen Marinen — vor allem denen der USA, Großbritanniens und Frankreichs — fällt dabei die Sicherung des Atlantik zu. Die kleineren Marinen hingegen haben sich auf regionale begrenzte Aufgaben zu konzentrieren. Dies bedeutet keine Abwertung. Seeherrschaft in den maritimen strategischen Schlüsselstellungen hat weitreichende Wirkungen. Ein gutes Beispiel hierfür sind die Ostseezugänge. So lange die NATO diese Position hält und die Sowjet-Flotte in einem Konflikt nicht über die Verbindung Ostsee-Atlantik verfügt, fehlt den sowjetischen Kriegsschiffen eine wichtige Aktionsbasis. Doch Aufgabenteilung allein reicht nicht aus, um der Lage Herr zu werden. Die NATO braucht mehr, modernere und standardisierte Kriegsschiffe. Ihr Einsatz und ihre Effizienz sollte nicht durch eine überholte Kommandostruktur behindert werden. Die Devise muß heißen: Alle atlantischen Seestreitkräfte in eine Hand! Gerade im Zeichen begrenzter Kräfte muß es möglich sein, je nach Bedrohung und Sicherungserfordernissen Seestreitkräfte für wichtige Aufgaben zu konzentrieren, Schwerpunkte zu bilden.

Die NATO muß wieder mehr in ihre Flotten investieren, voran die USA. Die amerikanische Marine hat ihren Bestand an Kriegsschiffen in den letzten zehn Jahren von rund 1 000 auf 490 Einheiten absinken lassen. Das 1975 verabschiedete Neubauprogramm sieht nun allerdings vor, eine Flottenstärke von 600 Schiffen wieder zu erreichen, was schon eine jährliche Neubaurate von 30 Einheiten erfordderlich macht.

Dem Kostendruck kann das Bündnis nur begegnen, wenn Aufgaben und Typen ihrer Schiffe vereinheitlicht werden. Die Allianz kann es sich nicht länger leisten, 100 verschiedene Arten von Schiffsklassen oberhalb der Zerstörergröße, 36 verschiedene Feuerleitradare, 40 verschiedene Munitionsarten in ihren Flotten zu dulden Reibungslose Zusammenarbeit und Zwang zur Geldersparnis fordern zur Standardisierung heraus.

Alles dies trägt dazu bei, die maritime Balance wieder herzustellen, die Verteidigungsfähigkeit zu erhöhen und damit die Abschrekkung im Frieden glaubwürdiger und wirksamer zu machen. Weiterhin sollte es sich die Allianz angelegen sein lassen, die Auswirkungen sowjetischer weltweiter maritimer Präsenz zu neutralisieren. Es geht darum, die Vorteile der geostrategischen Lage zu erhalten — beispielsweise wichtige seestrategische Positionen wie Island und Portugal mit den Azoren nicht verlorengehen zu lassen — und in nationaler Zuständigkeit, aber dennoch nach abgestimmtem Konzept auch Kriegsschiffe außerhalb des so willkürlich begrenzten NATO-Operationsgebietes einzusetzen. Der Wille, die Rohstoff-und Olrouten zu schützen, muß erkennbar sein.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Mahnke-Schwarz, Seemacht und Außenpolitik, Frankfurt 1974, S. 404.

  2. S. G. Gorskov, Die Rolle der Flotten in Krieg und Frieden, Bd. 2 Wehrforschung Aktuell, München 1975, S. 152 f.

  3. Gorskov, a. a. O., S. 140.

  4. Gorskov, a. a. O., S. 175— 177.

  5. Gorskov, a. a. O., S. 182.

  6. Weißbuch 1975/76 zur Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und zur Entwicklung der Bundeswehr, Ziffer 59.

  7. Günter Poser, Die NATO — Aufgaben und Struktur des Nordatlantischen Bündnisses, München — Wien 1975, S. 63.

  8. Weißbuch 1975/1976, a. a. O., Ziffer 58.

  9. A. F. Mahan, Vom Einfluß der Seemacht auf die Geschichte, Berlin 1898/99, S. 156.

  10. E. Wolgast, Seemachtslehre als Staats-und Gestaltlehre, Tübingen 1961, S. 10.

  11. Wolgast, a. a. O., S. 10 ff.

  12. Vgl. dazu auch: The Military Balance 1975— 1976, IISS, London 1975.

  13. Vgl. dazu: Report of Secretary of Defense James R. Schlesinger to the Congress on the FY 1976 and Transition Budgets, FY 1977 Anthorization Requests and FY 1976— 1980 Defense Programms, February 5, 1975. Gekürzte deutsche Übersetzung in: Europa-Archiv, Folge 16/1975, S. D 145.

  14. Gorskov, a. a. O., S. 138.

  15. Weißbuch 1975/1976, a. a. O., Ziffer 58.

  16. Weißbuch 1975/76, a. a. O„ Ziffer 156.

  17. Vergleiche dazu auch: R. L. Pfaltzgraff jr., Technologische Neuerungen und das Konzept der Verteidigung Westeuropas, in: Europa-Archiv Folge 16/1975, S. 504 ff.

  18. Schlesingers Report to the Congress, a. a. O., D 436.

  19. Schlesingers Report to the Congress, a. a. O., S. D 435.

  20. Pfaltzgraff, a. a. O., S. 506.

  21. E. Obermann, Verteidigung, Stuttgart 1970, S. 533.

  22. Seemacht und Außenpolitik, a. a. O., S. 412.

Weitere Inhalte

Ulrich Weißer, Fregattenkapitän, geb. 1938, Kommandant eines Minensuchbootes von 1963— 1966, nach Besuch der Führungsakademie der Bundeswehr seit 1974 Admiralstabsoffizier im Planungsstab des Bundesministers der Verteidigung. Veröffentlichungen zur Seestrategie, Sicherheitspolitik, Verteidigungsplanung und Marinerüstung in Fachzeitschriften.