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Kostenexplosion im Gesundheitswesen und ihre Steuerung | APuZ 16/1976 | bpb.de

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APuZ 16/1976 Kostenexplosion im Gesundheitswesen und ihre Steuerung Beschäftigungspolitische Möglichkeiten zur Bekämpfung hoher Arbeitslosigkeit bei Inflation

Kostenexplosion im Gesundheitswesen und ihre Steuerung

Philipp Herder-Dorneich

/ 42 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Kostenexplosion im Gesundheitswesen ist mehrfach beschrieben, aber noch nie analysiert worden; eine wissenschaftliche Konzeption zu ihrer Bewältigung gibt es ebenfalls nicht. Der vorliegende Aufsatz beschreibt nicht nur umfassend die derzeitige Situation, sondern zeigt auch Lösungen auf. Er vergleicht zunächst die Kostenexplosion im Gesundheitswesen mit den Kostenexplosionen, wie sie der Club of Rome in anderen Bereichen prognostiziert hat, und berücksichtigt dabei die Besonderheiten des Dienstleistungssektors. Die Entwicklung einer Leitlinie optimaler Ausgaben zeigt, daß die Kostenexplosion sektoral vor sich geht. Im ärztlichen Bereich ist sie schwächer, im Krankenhausbereich überaus stark. Die Begründung für die unterschiedliche Explosivität der Bereiche wird in einer Systemanalyse vorgenommen. Untersucht werden die Regelkreissysteme und die regulativen Instrumentarien auf den Steuerungsebenen zwischen Individuen und Staat. Es zeigt sich, daß die Systeme mit der geringsten Steuerungskapazität die höchsten Explosionsraten aufweisen. Die Möglichkeiten zur Verbesserung der Steuerungskapazitäten der verschiedenen Systeme werden untersucht. Es wird gezeigt, wie die Steuerungssysteme in sich schlüssiger gestaltet werden können und wie insbesondere eine Globalsteuerung auf der mittleren Ebene das Steuerungspotential erhöhen kann. Eine Analyse der bisherigen Reformpolitik kommt zu dem Ergebnis, daß sie konsequent auf die Weckung zusätzlicher Nachfrage ausgerichtet war und dabei die vorhandenen Steuerungspotentiale ständig abgebaut hat.

I. Das Problembewußtsein entsteht

Abb. 1: Kostenexplosion beim Erdöl und im Gesundheitswesen

Alarmierende Prognosen

Abb. 6: Das System der ambulanten ärztlichen Versorgung

„Die Gesundheitskosten explodieren! 1995 wird bereits die Hälfte des Sozialproduktes für den Aufwand der Gesetzlichen Krankenversicherung gebraucht!“ Der Alarmruf kam aus Mainz. Der dortige Sozialminister Geißler hatte Berechnungen darüber anstellen lassen, was ihn in seinem Ressort in den nächsten Jahren erwarte. Die Prognosen waren erschreckend. Im Herbst 1974 hatte Geißler den Alarm ausgelöst. Seither ist die Kostenexplosion im Gespräch. Die Sparpläne der Bundesregierung haben sie noch unterstrichen.

Abb. 7: Das System der Arzneimittelversorgung

Was geht da eigentlich vor? Wer sich zu informieren versucht, stößt alsbald auf eine Fülle von Fachausdrücken, Zahlen und Plänen und muß rasch feststellen: ein Problem für Spezialisten, lür Mediziner, Gesundheitsorganisatoren, Sozialtechniker! Ist es für den Laien überhaupt zumutbar, diese Zusammenhänge zu verstehen? Dieser Eindruck (der von vielen Interessenten möglicherweise zum besseren Versteck ihrer Interessen sogar noch ausgebaut wird) ist falsch.

Abb. 8: Steuerung von Preisen und Mengen— ambulante Behandlung (Honorar-Verhandlung) Mengen

Alarmierende Kostenexplosionen hat der Club of Rome in seinem Buch „Grenzen des Wachstums" bereits 1972 angekündigt; freilich auf einem ganz anderen Gebiet: Ihm ging es vor allem um die Rohstoffe. Die Prognosen des Club of Rome zeigen, daß der Verbrauch an Rohstoffen schneller wächst, als neue Vorkommen erschlossen werden können. Die Ölkrise war bereits von einschneidender Wirkung für alle. Einmal berufen, machen sich nun weitere Kostenexplosionen an vielen Stellen bemerkbar: im Nahverkehr, bei der Bundesbahn, in den Bildungsausgaben und eben im Gesundheitswesen. Kostenexplosionen erscheinen also als ein generelles Problem. Lediglich die Explosionsherde, ihre Ursachen und Abläufe sind verschieden. Allen gemeinsam aber ist: Kosten und Ausgaben geraten aus dem Griff.

Abb. 9: Steuerung von Preisen und Mengen — Arzneimittel

Die Alarmrufe des Club of Rome beziehen sich auf das Ende des Jahrtausends. Geißler aber kündigt den Kollaps im Gesundheitswesen bereits für 1978 an. Vergleichen wir die Ausgabenexplosion für Erdöl und die Explosion der Gesetzlichen Krankenversicherungen (vgl. Abb. 1), so zeigt sich: Haie und kleine Fische! Die Ölkrise ist unter diesem Aspekt ein „kleiner Fisch". Damit erhebt sich zunächst einmal die Frage: Warum hat man den Hai — die Kostenexplosion im Gesundheitswesen — so spät erkannt? Oder gab es sie vielleicht früher noch nicht?

Abb. 10: Krankenhausbehandlung

Gründe für die Kostenschere

Abb. 11: Ein Markt-System

Die Ausgaben in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) steigen überproportional zur Einkommensentwicklung, denn: — mit steigendem Wohlstand wird Gesundheit von der Bevölkerung als immer dringlicher empfunden. Wer schon eine gut ausgestattete Wohnung und sein Auto hat, kann weitere Wohlstandsgüter nur genießen, wenn er gesund ist. Dafür lohnt es sich nun, verhältnismäßig mehr auszugeben, während die Ausgaben auf den anderen Gebieten im Wohlstandstrend schwächer ausgedehnt werden. — der medizinisch-technische Aufwand wird immer teurer.

Abb. 12: Ein Nicht-Markt-System

Die Einnahmen der Gesetzlichen Krankenversicherungen steigen dagegen kaum noch schneller, höchstens proportional gegenüber den Durchschnittseinkommen, denn:

Abb. 13: Ein Regelkreis der Rezepte

— die Beiträge zur Gesetzlichen Krankenversicherung sind proportional (als Prozentsatz) an die Löhne gebunden, — das Reservoir, neue Zahler zu gewinnen, ist nahezu ausgeschöpft: z. B. Frauen, die vordem kostenlos Familienmitversicherte waren, wurden berufstätig und damit neue Zahler, ohne zusätzliche Belastungen zu bringen. Das Reservoir der weiblichen Arbeitskräfte ist aber offensichtlich ausgeschöpft, denn die Zahl der berufstätigen Frauen ist seit 1960 nahezu konstant geblieben. Oder: Rentner, die vordem kostenlos versichert waren, wurden zu einem Rentnerbeitrag herangezogen. Der Rentnerbeitrag ist jedoch aus politischen Gründen wieder abgeschafft worden.

Abb. 14: Das Modell der Krankenhausärztlichen Vereinigung

— Die Möglichkeiten, zusätzliche Geldmittel hereinzubekommen, versiegen. Krankengeld-zahlungen, die früher die Kassen tragen mußten, wurden durch Gesetz den Arbeitgebern aufgelastet. Die Kassen mußten 1969 noch 4 281 Mio. DM für Barleistungen aufwenden.

Abb. 15: Der konstante Pflegesatz als”Bettenfüller

Nach Einführung der Lohnfortzahlung waren es 1970 nur noch 2 467 Mio. DM. Ersparnis in diesem Sektor: 1 814 Mio. DM.

Abb. 16: Kostensplitting vermeidet unnötige Liegezeit

Fazit: überproportional steigende Ansprüche und nur proportional steigendes Finanzaufkommen. Das ergibt notwendig eine Kosten/Erlös-Schere.

Die Kostenschere war zwar vorherzusehen, sie wurde dennoch nicht ernst genommen. Warum? 1971 war ein Jahr neuen Wirtschaftsaufschwunges. Die Einkommen stiegen innerhalb kurzer Frist außerordentlich stark an. Damit konnten sie vorübergehend sogar dem rasch ansteigenden Trend der Ausgaben vorauseilen. Die Verbraucher wurden gewissermaßen von den hohen Einkommenszuwächsen überrascht. Sie brauchten eine Weile, bis sie sich anpaßten. Bis 1974 hatten sie dann allerdings gründlich aufgeholt:

— Die Ansprüche der Verbraucher stiegen: das klassenlose Krankenhaus vermittelte jedem den Wunsch, mit Komfort im Krankenhaus zu liegen. Vorsorgemaßnahmen wurden eingeführt.

— Die Kosten stiegen ebenfalls schubartig: Krankenhausschwestern, Jahrzehnte hindurch die Schlußlichter im Wettlauf um Lohnerhöhung und Arbeitszeitverkürzung, hatten inzwischen aufgeholt. Ebenso die Krankenhausärzte. Dienstleistungen im Krankenhaus machen aber 70% aller Kosten dort aus; sie wurden nun ungeahnt teuer.

Seit 1974 gingen die Einkommenszuwächse zurück. Damit stagnierten die Einnahmen der Kassen. Die Ansprüche aber behielten das rasche Wachstumstempo bei. Die weiter sich erhöhenden Ausgaben konnten nur durch eine Steigerung der Beitragssätze finanziert werden.

Wenn man sich diese Zusammenhänge klar macht, kann man leicht geneigt sein festzustellen: Also doch ein spezielles Problem. Da gibt es diese und jene Besonderheiten und insgesamt die unglückliche Konjunkturentwicklung. Von 1971 bis 1974 ist es gelungen, mit den Problemen trotz aller Unkenrufe fertig zu werden. Warum sollte uns das nach dem in Aussicht genommenen Aufschwung 1977 und 1978 nicht auch wieder gelingen? — Ist die Kostenexplosion also nur eine Konjunkturfrage? Um dieser Frage nachzugehen, müssen wir genauer feststellen, was Geißler denn nun eigentlich prognostiziert hat.

II. Trendanalyse: Wachstumsraten und ihre Bewertung

Abb. 2: Ausgabenentwicklung der Gesetzlichen Krankenversicherung bis 1978

Tatsächlich sind nicht nur die Prognosen von Geißler alarmierend, sondern auch die von der Bundesregierung und vom Bundesverband der Ortskrankenkassen erstellten eigenen Prognosen (vgl. Abb. 2) geben Anlaß zur Sorge. Die Ergebnisse weichen zwar voneinander ab, denn die Bundesregierung war seit je geneigt, die Zukunftsschwierigkeiten weniger drastisch darzustellen. Um ihre Politik der Minderschätzung festzustellen, brauchen wir nur ihre früheren Prognoseziffern mit den dann eingetretenen Ist-Werten zu vergleichen. Die Spanne der Minderprognosen von damals müssen wir offensichtlich auch bei den Prognosen bis 1978 dazuschlagen, dann unterscheiden sich aber alle Prognosen in ihrem Kern nicht mehr voneinander. Was aber wichtiger ist: Alle Prognosen sind noch vor dem Konjunktureinbruch erstellt worden. Sie gehen davon aus, als gebe es den Konjunktureinbruch gar nicht. Und dennoch kamen sie zu diesen alarmierenden Ergebnissen.

Ziehen wir an dieser Stelle eine Zwischenbilanz: Die Kostenexplosion im Gesundheitswesen ist keine vorübergehende konjunkturelle Schwierigkeit. Sie zeigt ein allgemeines Problem im Dienstleistungssektor. Um dieses Die Graphik zeigt die unterschiedlichen Vorausberechnungen der Ausgaben der GKV bis 1978 durch den rheinland-pfälzischen Staatsminister Geißler, die Bundesregierung und den Bundesverband der Ortskrankenkassen. Geißler kommt mit 93 200 Mio. DM zu dem höchsten Ergebnis. Er berechnet eine Erhöhung der Gesamtausgaben für 1978 gegenüber 1971 um das Vierfache und liegt damit um mehr als 10 Mrd. DM über dem berechneten Ergebnis der Bundesregierung. Die Werte der Ortskrankenkassen liegen dazwischen. Bei ihrer bisherigen Berechnung hatte die Bundesregierung die Kostenentwicklung stets um ca. 5 0/0 unterschätzt.

Problem herauszuarbeiten, müssen wir noch ein wenig tiefer in die Materie eindringen (Abb. 3). Wir gliedern die Gesamtausgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung (anhand der Ziffern von 1973) in vier Gruppen:

Ausgaben für ärztliche Leistungen 20 0/0 Arzneimittel 190/0 Krankenhausversorgung 27 °/o Zwischensumme 66 0/0 Sonstiges 34 % 100 0/0

Nun vergleichen wir die Wachstumsraten der drei Ausgabensektoren ärztliche Leistungen, Arzneimittel und Krankenhaus miteinander. Dabei zeigt sich: Die Wachstumsraten des ärztlichen Sektors sind hoch, die der Krankenhausausgaben jedoch fast doppelt so hoch. Die Arzneimittel liegen dazwischen. Offensichtlich konzentrieren sich die Explosionsherde bei den Krankenhäusern und bei den Arzneimittelausgaben. Die Explosion ist also sektoral verschieden. Woran mißt sich eigentlich „Explosion"?

Wir haben Explosionsherde entdeckt, aber woran mißt sich eigentlich die Explosion? Ist die Feststellung von hohen Wachstumsraten schon ein hinreichendes Indiz? Offensichtlich nicht, denn wenn ein Industriebetrieb rasch expandiert, wird man dies noch nicht für alarmierend halten. Nicht das große, sondern das „über" -große Wachstum macht die Explosion aus. Das heißt aber nichts anderes, als daß wir eine Leitlinie zum Vergleich benötigen, an der man das übermäßige, das über die Maße Hinausgehende ermessen kann. Gibt es also etwas wie „normale Wachstumsraten" im Gesundheitswesen?

Viele — und dazu gehören auch Naturwissenschaftler und Mediziner — glauben, die-Frage nach dem Normalmaß rasch beantworten zu können. „Das Medizinisch-Notwendige ist das Normale", sagen sie. „Jeder verantwortungsbewußte Mediziner wird sagen können, was im Einzelfall notwendig ist. Außerdem ist er auch vom Gesetz dazu verpflichtet, nur das Notwendige zu verordnen." So richtig diese Antwort ist, so wenig klärt sie unser Problem. Natürlich kann jeder verantwortungsbewußte Mediziner sagen, was medizinisch notwendig ist — nur decken sich die Antworten nicht. Denn was als notwendig erachtet wird, hängt zu einem guten Teil auch von den Möglichkeiten ab, die zur Verfügung stehen. Im Zweifel ist das Maximale das NotDie Graphik zeigt das prozentuale Wachstum der drei Sektoren für den Zeitraum 1963 bis 1978, bezogen auf das Jahr 1963. Für den Zeitraum von 1973 bis 1978 wurden die Vorausberechnungen von Geißler verwandt. Das stärkste Wachstum wird für die Anstaltsbehandlung vorausgesagt, gefolgt von den Arzneimitteln, während der Anstieg der ärztlichen Leistungen nicht im gleichen M. aße proportional erfolgt. wendige. Und eben das Maximale zeitigt die Explosion. Und selbst wenn die medizinisch notwendigen Mengen abgrenzbar wären, sind es doch nicht die dazu gehörenden Preise. Medizinisch-notwendige Preise gibt es nicht. Aber erst Mengen und Preis machen die Gesamtausgaben aus. Eine Diskussion der Mengen allein erreicht deshalb unser Problem nicht.

Leitlinien Leitlinie Bruttosozialprodukt:

Als Leitlinie für die Kostenentwicklung im internationalen Vergleich wird häufig der Anteil der Aufwendungen für Gesundheitsgüter am Bruttosozialprodukt benutzt; man registriert, wieviel Prozent des Bruttosozialproduktes für Gesundheitsgüter verwendet werden. Unter Bruttosozialprodukt (BSP) versteht man den Gesamtwert aller in einem Jahr erzeugten Güter, Dienste und Nutzungen. In der Bundesrepublik betrug der Anteil 1974 6, 6 °/o. In nahezu allen europäischen Ländern hat das Gesundheitswesen seinen Anteil ständig vergrößert. Den Anteil des Gesundheitswesens am BSP als Leitlinie zu wählen, ist deshalb problematisch, da bisher niemand in der Lage gewesen war anzugeben, welcher Prozentsatz oder welche Steigerungsraten richtig oder falsch sind. Das Hauptproblem bei der Bindung an das BSP ist jedoch, daß Konjunkturschwankungen auf die GKV einwirken. Ist es aber sinnvoll, daß in einer Depression weniger Gesundheitsgüter verbraucht werden?

Leitlinie Produktionspotential:

Um die konjunkturellen Schwankungen auszuschalten, schlägt Fr. Geigant vor, die Entwicklung der GKV mit den Wachstumsraten des Produktionspotentials zu koppeln. Abgesehen davon, daß das Produktionspotential schwer errechenbar ist, ergibt sich noch die Frage, ob Investitionen im Gesundheitswesen mit Investitionen in der Wirtschaft verglichen werden können.

Leitlinie Einkommensvergleiche:

Von der Einkommensseite her werden andere Vorschläge gemacht. Die Einkommen der Ärzte sollen sich an dem Einkommensanstieg anderer Einkommen orientieren. Vergleiche werden gezogen mit den durchschnittlichen Einkommen der Arbeitnehmer, Beamten, Freiberufler oder der Manager..

Die Schwierigkeit bei solchen Vergleichen ist, daß die Einkommensbegriffe sehr verschieden sind. Bei den einen sind es Nettoeinkommen, bei anderen ist der Aufwand für die Altersversorgung nicht inbegriffen (Beamte), Freiberufler haben zunächst Praxiserlöse, von denen noch die Kosten abzuziehen wären usw. Unlösbar ist wohl die Frage: wer soll denn nun eigentlich ebensoviel verdienen wie wer? Aus Feststellungen ergeben sich keine Normen.

Leitlinien für Einkommen ergeben noch keine Leitlinien für Gesamtausgaben. Selbst wenn feststünde, wieviel die Arzte, Schwestern usw. verdienen sollen, ist noch offen, wieviel Arzte es geben soll. Auch hier muß die Menge der Leistungen und nicht nur ihr Geldwert einbezogen werden.

Eine proportionale Bindung an Einkommens-größen (Volkseinkommen — durchschnittliches Arbeitnehmereinkommen, usw.) wirft eine Reihe weiterer Einwände auf:

— Jedes vorgegebene Bindungsverhältnis war und ist rein zufällig und historisch. Die Anteile haben sich in der Geschichte verändert und sie differieren auch in den einzelnen Ländern untereinander.

— Ein starres Bindungsverhältnis trägt nicht der langfristigen Nachfrageverschiebung Rechnung, wonach bei steigendem Einkommen ein größerer Anteil an Gesundheitsgütern nachgefragt wird. •

Entwicklung einer systembezogenen Leitlinie für das Wachstum der Gesundheitskosten

Bei steigendem Einkommen werden den überproportional mehr Gesundheitsgüter von der Bevölkerung gewünscht. Diese grundlegende Beobachtung muß in jeden Konstruktionsversuch einer „Leitlinie" eingehen. Was für die Gesundheitsgüter gilt, trifft übrigens auch für die Dienstleistungen insgesamt zu. Schon seit dem letzten Jahrhundert hat man beobachtet, daß der Anteil der Dienstleistungen am gesamten Sozialprodukt im Steigen begriffen ist.

Das überproportionale Wachstum der Dienstleistungen allgemein müssen wir auch für die Dienstleistungen im Gesundheitssektor einsetzen. Um eine Leitlinie zu entwickeln, tun wir gut daran, die überproportionale Wachstumsrate der Dienstleistungen ein wenig zu korrigieren, denn gerade im Dienstleistungssektor stecken ja eine ganze Reihe von Explosionsherden, und die wollen wir nicht in unsere Berechnung einbeziehen. Daraus also ergibt sich eine gewisse Korrektur nach unten. Andererseits müssen wir beobachten, daß Gesundheitsdienste altersspeziiisch sind. Besonders die älteren Altersgruppen nehmen sie verstärkt in Anspruch. Und diese älteren Schichten werden in der Zukunft breiter werden (Rentnerberg). Daraus ergibt sich eine Korrektur nach oben.

Aus solchen Überlegungen können wir eine Leitlinie für das Gesundheitswesen ableiten (vgl. Abb. 4). Mit ihr können wir unsere drei explosiven Gesundheitssektoren vergleichen (vgl. Abb. 5). Was fällt dabei auf?

Unsere Leitlinie verläuft:

— oberhalb der Entwicklungsraten des Sozialproduktes; — nicht weit unterhalb der Entwicklungsraten der ärztlichen Leistungen;

— sehr weit unterhalb der explosiven Sektoren „Krankenhaus" und „Arzneimittel".

Was können wir aus den Abweichungen von der Leitlinie entnehmen? — Nur ein Teil der hohen Wachstumsraten ist als „übermäßig" zu bezeichnen; anders ausgedrückt: Steigende Wachstumsraten im Gesundheitswesen sind bis zu einem gewissen Grad (nämlich bis zu unserer Leitlinie) durchaus als normal anzusehen und keineswegs beängstigend. Das übermäßige ist allerdings auf das „Normale" herabzusteuern (vgl. Abb. 5). überall da, wo unsere Leitlinie überschritten wird, sind die Dinge irgendwie aus den Fugen geraten.

Führt besseres Steuern zu sozialer Demontage?

Kaum wurden die Sparpläne der Regierung bekannt, entstand alsbald das böse Wort von der „sozialen Demontage". Indem man die „soziale Demontage" anprangert, will man verhindern, daß durch Ausgabeneinschränkung soziale Fortschritte rückgängig gemacht werden. Sparen wird hier also negativ bewertet. Das Problem läßt sich leicht entwirren, wenn wir nur ein wenig Ordnung in die Begriffe bringen. „Weniger ausgeben" ist sicherlich „sparen", aber führt nicht notwendigerweise zu einer geringeren Versorgung. Immer dann, wenn unnötig viel Geld ausgegeben worden ist, heißt Sparen nichts anderes als „gut wirtschaften". Und das bedeutet: dieselbe Versorgung auf günstigere Weise als bisher erzielen.

Ein Steuerungsdefizit beseitigen heißt, die Dinge besser in den Griff nehmen. Ausgaben aus dem Steuerungsdefizit heraus auf die Leitlinie herabsteuern, ist „Sparen", aber nicht „schlechtere Versorgung". Erst unterhalb der Leitlinie beginnt die Demontage des sozial Erwünschten.

Wer steuert eigentlich im Gesundheitswesen? Wer lenkt was für wen? — Unsere Fragestellung hat sich jetzt gewandelt. Haben wir bisher Trendanalysen betrieben, so kommt es jetzt auf Systemanalyse an. Wir müssen offensichtlich die Steuerungssysteme im Gesundheitswesen untersuchen, um herauszufinden, woher die Steuerungsdefizite rühren. Diese gilt es dann zu beseitigen, so daß sich schließlich das Gesamtsystem an die Steuerungsleitlinie annähert.

III. Systemanalyse: Wie funktionieren die Gesundheitssysteme und wo stecken die Steuerungsdefizite?

Abb. 3: Aufteilung der Gesamtausgaben der GKV

Seit die Kostenexplosion die Gemüter bewegt, vergeht keine Versammlung von Fachleuten und Wissenschaftlern, ohne daß die Forderung nach einer Systemanalyse erhoben wird. Wir wissen tatsächlich nur sehr bruchstückhaft, wie das Gesundheitswesen als soziales und als ökonomisches System funktioniert.

Das System der ärztlichen Leistungen Betrachten wir zunächst das System der ambulanten ärztlichen Versorgung. Welche Personen und Institutionen sind daran beteiligt und wie treten sie miteinander in Beziehung?

Die Abb. 6 zeigt die an der Versorgung mit ärztlichen Leistungen beteiligten Aggregate: Versicherte (V), Ärzte (Ä), Gesetzliche Krankenkassen (K) und Kassenärztliche Vereinigung (KV). Diese Aggregate sind durch zwei einander entgegenlaufende Kreisläufe miteinander verbunden. Der äußere Kreislauf dokumentiert die Leistungen, der innere die Steuerung. Der Versicherte zahlt einen Beitrag (b) an die Kasse. Die Kasse bezahlt eine Gesamt-vergütung (g) an die Kassenärztlichen Vereinigungen, die KVen bezahlen Honorare (h) an die Ärzte. Die Ärzte behandeln den Patienten, erbringen also medizinische Leistungen (m).

Diesem Leistungskreislauf läuft ein Steuerungskreis entgegen. Aufgrund der Beitragszahlung bekommt der Versicherte von seiner Kasse den Krankenschein (si), den er an den Arzt weiterreicht (S 2). Aufgrund dieses Scheins behandelt der Arzt den Patienten, ohne ihm eine Rechnung zu schicken. Vielmehr reicht der Arzt den Krankenschein, auf dem er seine Leistungen vermerkt hat, an die KV weiter (s 3). Aufgrund der eingereichten Scheine bezahlt die KV den Ärzten ihre Honorare und rechnet ihrerseits mit den Kassen ab (S 4). über die Höhe des zu zahlenden Honorars finden regelmäßig Verhandlungen zwischen Kassen und KVen statt.

Die Politiker (P) sind durch die Bundestagswahlen (W) an das System angeschlossen. Sie erlassen eine Gebührenordnung (gb).

Das System besteht also aus vier Beteiligten, die durch zwei Kreisläufe miteinander verbunden sind: Einmal der Kreislauf der Krankenscheine (von der Kasse über den Patienten zum Arzt, von dort über die Kassenärztlichen Vereinigungen zurück zur Kasse) und zum anderen die Leistungen (Beiträge der Mitglieder an die Kassen, Gesamthonorar der Kassen an die Kassenärztlichen Vereinigungen, Einzelhonorare von den Kassenärztlichen Vereinigungen zu den Ärzten, die dafür die Patienten behandeln). Der Kreislauf der Leistungen läuft dabei dem der Steuerungsmittel (Krankenscheine) entgegen.

Das System der Arzneimittelversorgung An der Arzneimittelversorgung sind neben Patient, Arzt und Krankenkasse noch der Apotheker und die pharmazeutische Industrie beteiligt (eine graphische Systemanalyse gibt Abb. 7). Der Patient (V) erhält von der Krankenkasse (K) gegen Zahlung des Beitrags (b) einen Krankenschein (si), den er dem Arzt (Ä) vorlegt (S 2). Dieser behandelt ihn (m) und schreibt ihm ein Rezept (ri). Dieses Rezept legt der Versicherte dem Apotheker (Ap) vor und bekommt dafür das Medikament (X 1), das der Apotheker gegen Bezahlung des Großhandelspreises (g 2) von der pharmazeutischen Industrie (I) erworben hat. Der Apotheker sammelt die bei ihm eingereichten Rezepte und legt sie zur Abrechnung der Krankenkasse vor (rg). Die Kasse bezahlt den vom Hersteller festgelegten Einzelhandelspreis (gi), abzüglich des Kassenrabatts.

Jedoch hat die Kasse keinen Einfluß auf die Höhe des Preises. Dieser Preis wird vielmehr vom Produzenten, also der pharmazeutischen Industrie, dem Apotheker vorgeschrieben. Da Art und Menge der Arzneimittel vom Arzt festgelegt werden, hat die Kasse hier lediglich die Aufgabe der Finanzierung.

Formaler Systemvergleich Versuchen wir, unsere Ergebnisse auszuwerten: Wir haben zwei Systeme vor uns, die sehr unterschiedlich aufgebaut sind. Dennoch sind sie sich in vielen Zügen gleich oder doch sehr ähnlich. Zu einem Vergleich der Systeme können uns die graphischen Darstellungen der Abb. 6 und 7 nützlich sein. Sie zeigen uns den Systemzusammenhang in äußerst komprimierter Form. Wir beobachten zunächst die Vielzahl von Gruppen, die Zusammenwirken. Da gibt es Produzenten und Konsumenten und deren Verbände. Auch die Politiker haben wir einbezogen. Konzentrieren wir unser Augenmerk auf die Steuerungsebenen, so wird ein Unterschied sofort deutlich: Im ärztlichen System ist die mittlere Ebene mit zwei Institutionen besetzt, im Arzneimittelwesen nicht. Dort finden wir vielmehr eine dichtere Besetzung der unteren Ebene.

Beobachten wir nun die Zahlungsströme, so sehen wir im ärztlichen System, daß sich die Zahlungsströme mit dem Leistungsstrom zu einem Regelkreis zusammenschließen. Im Arzneimittelwesen gibt es einen solchen Regelkreis nicht. Und schließlich zu den Steuerungsmitteln zweiten Grades (sog. „Wertpapiere", hier also: Krankenscheine, Rezepte;

Steuerungsmittel ersten Grades ist demgegenüber das Geld): Im ärztlichen System bilden diese Steuerungsmittel zweiten Grades (Krankenscheine) ebenfalls einen Kreislauf, der dem Zahlungsweg entgegenströmt. Im Arzneimittelwesen gibt es einen solchen Kreislauf nicht. Noch eine Beobachtung: Im ärztlichen System fließen Zahlungs-und Lenkungsströme über die mittlere Ebene und berühren beide Partner. Im Arzneimittelwesen nicht. Können uns solche rein formalen Steuerungsanalysen bei der Problemsuche weiterhelfen? Unser Problem liegt in den „übermäßigen“ Ausgaben; diese sollen herabgesteuert werden. Ausgaben sind das Produkt aus Preisen und Mengen. Wir wollen Ausgaben steuern, d. h. aber, wir müssen entweder Preise oder Mengen beeinflussen. Untersuchen wir also, wo sich die Preise bilden und wo die Mengen bestimmt werden.

Steuerung von Preisen und Mengen Im ärztlichen Sektor werden die Preisniveaus zwischen den beiden Institutionen der mittleren Ebene, den Kassen und den Kassenärztlichen Vereinigungen, anhand einer staatlichen Gebührenordnung ausgehandelt. Dafür gibt es verschiedene Abwicklungsweisen, die wir hier nicht weiter aufzuzeigen brauchen, da wir uns auf die Grundzüge beschränken wollen. Die Abb. 8 entspricht der Darstel-lung des Systems der ambulanten ärztlichen Versorgung (vgl. Abb. 6). Durch den Erlaß einer Gebührenordnung kann der Gesetzgeber (P) auf die Preisstruktur der Arzthonorierung Einfluß nehmen, auch sogar dann, wenn den Kassenärztlichen Vereinigungen die Anwendung nicht vorgeschrieben ist, sondern diese in den Verhandlungen mit den Kassen Abweichungen vereinbaren, da bei solchen. Verein-barüngen immer bestehende Gebührenordnungen zugrunde gelegt werden.

In den regelmäßigen Honorarverhandlungen zwischen Kassen und Kassenärztlichen Vereinigungen werden die Auszahlungsquoten, also prozentuale Erhöhungen der Gebühren, vereinbart. Das Preisniveau wird also auf Verbandsebene (mittlere Ebene) bestimmt.

Der Impuls zur Inanspruchnahme ärztlicher Leistungen geht vom Patienten aus. Die Menge der zu erbringenden Leistungen dagegen wird weitgehend vom Arzt bestimmt. Der Patient kann die Notwendigkeit und Nützlichkeit einzelner Leistungen kaum beurteilen und hat eventuell eher ein Interesse an möglichst vielen Leistungen. Jedenfalls ist festzustellen, daß die Menge der erbrachten Leistungen auf der Individualebene (untere Ebene) bestimmt wird zwischen Ärzten und Patienten. Auffällig ist also, daß Preise und Mengen unabhängig voneinander fixiert werden. Das bedeutet einen großen Unterschied zu den Marktsystemen, wo Preise und Mengen jeweils zusammen, und zwar auf der unteren Ebene allein, bestimmt werden. Freilich, Preis-und Mengensteuerung erfolgen doch nicht unabhängig voneinander, denn sie sind durch zwei Kreisläufe zusammengeschlossen: dem Zahlungs-/Leistungskreislauf und den Steuerungskreislauf zweiten Grades (Krankenscheine). Wenn man weiter untersuchen will, wie diese Kreisläufe im einzelnen beschaffen sind und wie dieses Kreislaufgefüge im einzelnen funktioniert, braucht man schon Kenntnisse eines Sozialversicherungsfachmannes. Wir verzichten deshalb hier darauf. Trotzdem wird auch so klar: Regelkreise haben Steuerungsfunktion. Wo wir Regelkreise beobachten, kann gesteuert werden. Wir haben hier also ein System vor uns mit einem erheblichen Steuerungspotential. Ob dieses Potential im einzelnen schon ausgeschöpft ist, das wollen wir später noch näher untersuchen. Aber immerhin: das Steuerungspotential aufzudecken vermag unsere rein formale Steuerungsanalyse schon jetzt.

Arzneimittelpreise und -mengen Und nun zum Arzneimittelsystem: Preise und Mengen werden auch hier voneinander unabhängig bestimmt (vgl. Abb. 9).

Die Endverbraucherpreise der Arzneimittel werden von der pharmazeutischen Industrie festgelegt — bezahlt werden sie (unter Abzug eines Kassenrabatts) von den Kassen. Auf der Endverbraucherstufe findet also ein Preis-wettbewerb — zumindest bei den verschreibungspflichtigen Arzneien — nur sehr bedingt statt. Die Kassen, die die konsumierten Medikamente bezahlen müssen, haben weder auf die Menge noch auf den Preis Einfluß. Sie zahlen lediglich.

Auch die staatlich festgelegte Arzneitaxe hat keinen Einfluß auf Preise und Mengen der verbrauchten Arzneimittel. Sie legt lediglich die Handelsspanne der Apotheken fest. Theoretisch kann sie zwar unterschritten werden (was den Endpreis senken würde), praktisch ist diese Möglichkeit jedoch nicht zu beobachten. Daneben ist festzustellen, daß Industrie und Großhandel den Apotheken Großabnehmerrabatte zugestehen, die sich in einer Erhöhung des Einkommens der Apotheker niederschlagen.

Die Preise werden also von der Pharmaindustrie festgelegt und die Mengen von den Ärzten bei der Rezeptverschreibung bestimmt. Zwischen beiden gibt es keinen Zusammenhang, das ist deutlich am Strom der Rezepte abzulesen. Sie berühren die Pharmaindustrie nicht. Ebenso auch die Geldströme: Diese berühren ihrerseits die Ärzte nicht. Die beiden Steuerungsströme — nämlich die Finanzströme und die Rezeptströme — bilden kein Regelkreissystem.Sie fließen nur an einer Stelle ganz kurz einander entgegen, nämlich bei der Abrechnung der Apotheken mit den Kassen. Aber hier ist bereits alles „gelaufen": Preise und Mengen und damit die Gesamtausgaben sind bereits bestimmt. Der Abrechnungsvorgang kann dies nur noch feststellen, aber nicht mehr ändern.

Auch das Eingreifen der Politiker mit dem Erlaß einer Apothekentaxe ist wenig steue-rungseffizient. Die Apothekentaxe bestimmt die Einzelhandelsspanne. In diesem Augenblick ist aber wiederum alles „gelaufen“. Preise und Mengen sind bereits bestimmt. Die Apothekentaxe hat keinen Einfluß mehr darauf. Wir wollen nunmehr das Krankenhaussystem untersuchen.

Das System der Krankenhausversorgung Krankenhausneubauten und größere Ersatzinvestitionen werden nach dem Krankenhausfinanzierungsgesetz im Prinzip durch Subventionen des Bundes und des jeweiligen Landes finanziert.

Zu Abb. 10: Der Patient (V) geht mit seinem Krankenschein (S 2) zum Arzt (A) und bekommt von diesem — falls erforderlich — einen Überweisungsschein (ui), den er beim Krankenhaus vorlegt (u 2) und sich damit als Mitglied der Kasse ausweist. Im Krankenhaus (KH) wird er behandelt und gepflegt (p). Anhand der Überweisung rechnet das Krankenhaus mit der Kasse (K) ab (us). Die Kasse zahlt den in Rechnung gestellten Pflegesatz (g) an das Krankenhaus.

Der Pflegesatz, mit dem alle Kosten des Krankenhauses abgegolten sind, wird nicht durch Verhandlungen zwischen den Kassen und den Krankenhäusern festgelegt. Vielmehr sieht das Krankenhausfinanzierungsgesetz (bzw. die Bundes-Pflegesatzverordnung) vor, daß der Pflegesatz „kostendeckend" sein muß. Jedoch müssen die Krankenhäuser ihre Pflege-sätze von den Aufsichtsbehörden (meist Landes-Innenminister) genehmigen lassen (G), so daß die Politiker (P) darauf Einfluß nehmen können.

Der Patient — also derjenige, der durch seine Beiträge zur Krankenversicherung das Ganze letztlich zu finanzieren hat — kann auf die entstehenden Kosten für die Krankenhausbehandlung so gut wie keinen Einfluß nehmen. Die Notwendigkeit der stationären Behandlung wird vom einweisenden Arzt festgestellt. Die Dauer seines Aufenthalts kann nur durch den behandelnden Arzt im Krankenhaus bestimmt werden — der allerdings dabei Überlegungen der Verwaltung zur Kostendeckung mit berücksichtigt.

Steuerungsdefizit im Krankenhauswesen Versuchen wir, uns über die Steuerungsfunktion des Krankenhauswesens klarzuwerden:

So sehr wir auch die Dinge hin und her wenden, ein logischer Zusammenhang ergibt sich nicht. Eine sinnvolle Steuerung liegt nicht — nicht einmal in Ansätzen — vor. Wie unübersichtlich das Krankenhauswesen in der Bundesrepublik ist, hat gerade in diesen Tagen der Bericht der Bundesregierung über die gegenwärtigen Probleme der Krankenhausfinanzierung gezeigt. Das Krankenhausfinanzierungsgesetz von 1972 hat bisher kaum andere Wirkungen gezeitigt als Kostenexplosionen (vgl. Bundestags-Drucksache Nr. 7/4530). In der Tat kann von einem so unstrukturierten Gebilde wie dem jetzigen Krankenhauswesen kaum etwas anderes erwartet werden, als daß es auf alle und jegliche Außeneinflüsse mit Kostenexplosionen reagiert. Die Wachstumsraten sind hier am größten und am ungehemmtesten. Damit drängt sich die Frage auf, was ist zu tun? Wir verlassen hier den systemanalytischen Bereich und wenden uns den systempolitischen Fragen zu. Was „systempolitisch" heißen kann, ist nach dem bisherigen Gedankengang klar geworden: Wir haben Explosionsherde entdeckt; die Explosionsraten waren dort am größten, wo die Steuerungsdefizite (= fehlende Steuerung; zu geringes Steuerungsvermögen) am größten sind. Die Steuerungsdefizite müssen also abgebaut werden. Wie also können Steuerungsdefizite in den drei hier skizzierten Systemen (ärztliche Leistungen, Arzneimittel, Krankenhausversorgung) beseitigt werden?

IV. Systempolitik: Wie lassen sich Steuerungsdefizite abbauen?

Abb. 4: Entwicklung einer systembezogenen Leitlinie

Zur Weiterentwicklung des Systems „ärztliche Leistungen": Ausbau der mittleren Ebene Das System „ärztliche Leistungen" weist zwei Vorzüge auf:

— Die mittlere Ebene ist durch zwei Institutionen besetzt. Hier ist es grundsätzlich möglich, ein Interessengleichgewicht auszubalancieren. — Es liegen Steuerungskreisläufe vor. Diese lassen sich gemäß der Regelkreistechnik noch vervollkommnen.

Das System ist also in seiner Grundstruktur durchaus richtig angelegt, es ist weiterent•wicklungsfähig und braucht nicht erst neu konzipiert zu werden. Hier gilt es, Steuerungspotentiale (= zusätzliche Möglichkeit zu steuern), die im System bereits vorgegeben sind, zu entbinden. Wie ist das möglich?

Zunächst fällt auf, daß die Zahlungsströme sich nur relativ wenig bei ihrem Durchfluß durch das System verändern. Sie übernehmen also nur in geringem Maße Steuerungsfunktionen. Geld aber ist der nervus rerum! Einkommensanreize in Geld können sehr starke Wirkungen hervorrufen.

Gehen wir noch ein wenig ins einzelne: In den Verhandlungen auf der mittleren Ebene wird eine Gebührenordnung (eine Art Preisliste) zugrunde gelegt. Warum wird eigentlich diese Gebührenordnung vom Staat erlassen? Sind die Ministerialbeamten sachverständiger als die Vertreter von Ärzten und Kassen auf der mittleren Ebene? Sicherlich nicht. Aber sie reagieren im allgemeinen langsamer auf Veränderungen. So kommt es, daß die Gebührenordnung dem technischen Fortschritt in keiner Weise folgen kann. Der technische Fortschritt schreitet im medizinischen Sektor schneller voran als die Gebührenordnungen folgen. Daraus ergibt sich die Forderung: Verlagerung der Gebührenordnung von der politischen Ebene (staatlich erlassene Gebührenordnung) auf die mittlere Ebene (zwischen Verbänden ausgehandelte Gebührenordnung). Die Anpassungen an die Inflation, an Leistungs-und Einkommenssteigerungen werden im System ärztlicher Leistungen dadurch vorgenommen, daß man „Auszahlungsquoten" vereinbart. Zum Beispiel wurden 1972 durchschnittlich 123, 4% auf die Gebührensätze vereinbart. 1973 wurden die Auszahlungsquoten auf durchschnittlich 129, 4 % erhöht. Das bedeutet lineare Preiserhöhungen, die durchweg für alle Gebührenansätze gelten. Das System der Auszahlungsquote (= lineare Preiserhöhung) versetzt die Kassenärztlichen Vereinigungen in den Stand, das Preisniveau im Honorarsektor an die allgemeine Konjunktur-entwicklung anzupassen. Bei nachlassender Konjunktur wurden niedrigere Auszahlungsquoten mit den Kassen vereinbart und schließlich eine Erhöhung der Quote ganz ausgesetzt. Hier gibt es also Ansätze zu einer konjunkturell ausgerichteten Steuerung.

Andererseits ist ein solches System recht starr. Es kann auf Veränderungen bei einzelnen ärztlichen Leistungen nicht eingehen. Damit werden die Leistungen mit hohem technischen Fortschritt überhonoriert, diejenigen mit geringem technischen Fortschritt dagegen lohnen sich weniger. Wenn diese Entwicklung längere Zeit anhält, ergibt sich eine Verzerrung im Honorargefüge: Einzelnes lohnt sich stark, anderes gar nicht. Weil aber nicht das medizinisch Wünschbare besser bezahlt wird, sondern das leichter Rationalisierbare, werden auf diese Weise Anreize falsch gesetzt. Wenn dieser Abrechnungsmodus schon sehr starr ist, warum bedienen sich dann die Kassenärztlichen Vereinigungen bei ihrer Honorarverteilung ebenfalls desselben Verfahrens? Könnten sie nicht steuernd wirken, indem sie — je nachdem, welche Leistungen angeregt werden sollen — die Auszahlungsquoten entweder erhöhen oder in den Bereichen, wo die Leistungen zurückgedrängt werden sollen, die Auszahlungsquoten bremsen oder gar kürzen?

Die Steuerungskapazität der mittleren Ebene könnte also wesentlich erhöht werden, wenn die Kassenärztlichen Vereinigungen in die Lage versetzt würden, eine eigene Verteilungspolitik zu betreiben. Sie könnten dann mit den Honorarausschüttungen besser dotieren: 1. die Leistungen der Ärzte in regional schwächer versorgten Gebieten, um Ärzten Anreiz zu geben, sich hier niederzulassen (regionale Verteilungspolitik); 2. die Dienstleistungen gegenüber den Geräteleistungen, um die eigentliche ärztliche Tätigkeit gegenüber den Hilfsdiensten der ärztlichen Angestellten rentabler zu machen (Leistungsstrukturpolitik) ; 3. die Rücklagen für die Altersversorgung gegenüber den direkten Ausschüttungen (berufsspezifische Altersversorgung). zu 1): Anpassung der Gebührenordnung. Die derzeitige, in sich starre Gebührenordnung reizt an zu einer Vermehrung der leichter rationalisierbaren, das sind die sog. technischen Leistungen. Demgegenüber werden die „eigentlichen ärztlichen Leistungen", also die Dienstleistungen, immer unrentabler. Um die ärztliche Leistung wieder mehr zu betonen, müssen die dafür vorgesehenen Positionen der Gebührenordnung laufend angehoben werden. Dafür können die Sätze für technische Leistungen, die rationalisierbar sind — wo also technischer Fortschritt zu Einsparungen führt — gesenkt werden. Dadurch könnten auch die z. T. erheblichen Einkommensunterschiede der verschiedenen Facharztgruppen allmählich abgebaut werden. Die Abschöpfung der Rationalisierungsgewinne darf erst mit einer gewissen Zeitverzögerung geschehen, damit inzwischen die Rationalisierungskosten amortisiert werden können.

Zu 2): Regionale Sicherstellung der Versorgung.Um gezielte Maßnahmen zur Sicherstellung der regionalen Versorgung mit Ärzten zu ermöglichen, ist eine Feststellung der tatsächlich unterversorgten Gebiete nötig. Durchschnittsrechnungen — z. B. „ein Arzt versorgt im Schnitt 1 200 Einwohner" — sind zur Feststellung kleiner, unterversorgter Flekken auf der Landkarte ungeeignet. Die spezielle Regionalplanung der Ärzte sollte vielmehr auf die zeitliche Erreichbarkeit („jeder Patient kann notfalls in x Minuten einen Arzt erreichen") abgestellt werden. In bevölkerungsschwachen Gebieten kann durch Einkommensgarantien, besondere Zuschüsse zu den Wegekosten, die Errichtung von Zweig-praxen etc. die Besetzung der Arztsitze gewährleistet werden. Zwangsverpflichtungen sind abzulehnen; Zwang auf der unteren Ebene ist Gift im Arzt-Patient-Verhältnis. Wenn Zwang, dann nur zur mittleren Ebene hin (z. B. Beitrittszwang zu einer Kassenärztlichen Vereinigung).

Zu 3): Altersversorgung. Wegen der sehr langen Ausbildung gelangt ein niedergelassener Arzt erst relativ spät zu gesichertem Einkommen. Entsprechend wenig Zeit bleibt ihm für seine Altersvorsorge. Durch weiteren Ausbau der berufsspezifischen Versorgungswerke können die Kassenärztlichen Vereinigungen hier Abhilfe schaffen.

Der Rentnerbeitrag auf der mittleren Ebene Nach geltender Regelung zahlen die Träger der Gesetzlichen Rentenversicherung an die Krankenkassen einen Zuschuß zur Krankenversicherung der Rentner. Er -wird weitgehend nach politischen Gesichtspunkten und nicht nach Gesundheitserfordernissen berechnet. Soll aus politischen Gründen die Rentenversicherung entlastet werden, senken die Politiker den Rentnerbeitrag an die GKV; eine Erhöhung der Beiträge zur Rentenversicherung müssen nämlich die Politiker veranlassen und damit verantworten. Die Beitragserhöhung der Kassen der GKV dagegen geht auf Rechnung der Selbstverwaltung.

Beim Rentnerbeitrag geht es aber nicht nur um reine Finanzfragen, sondern auch darum, die Gesundheitsinteressen der Rentner zu vertreten. Rentner entwickeln ja eine besonders große Nachfrage nach Gesundheitsgütern. Neben den allgemeinen Leistungen der GKV — ärztliche Betreuung, Arzneimittel — werden auch sehr spezielle, altersbedingte Leistungen nachgefragt, z. B. Langzeitpflege. Darauf ist das deutsche Gesundheitswesen noch viel zu wenig eingestellt. Für die GKV haben die Rentner eigentlich erst seit 1967 Bedeutung gewonnen, als alle Rentner in das System der GKV aufgenommen wurden. Seitdem hat sich ihr Anteil stetig erhöht und wächst noch weiter.

Auch in der Medizin besteht ein Nachholbedarf bei der Rentnerversorgung. Die Geriatrie muß stärker ausgebaut werden. Bisher gibt es keine Institution, die sich gezielt um die speziellen gesundheitspolitischen Belange der Rentner kümmert. Wer wäre dazu besser geeignet als die Gesetzliche Rentenversicherung?

Der Rentnerbeitrag sollte nicht länger gesetzlich (also auf der oberen Ebene) geregelt werden. Vielmehr sollten die Rentenversicherung und die Krankenversicherung darüber (also auf der mittleren Ebene) verhandeln. Dabei könnte die Rentenversicherung Beitragserhöhungen von der Verbesserung der Versorgung der Rentner abhängig machen. Solche Verhandlungen auf mittlerer Ebene wären übrigens im Rahmen des Kindergeldes auch für den Bereich der Familienmitversicherung denkbar.

Die Stärkung und der Ausbau der mittleren Ebene im System der ärztlichen Leistungen bedarf also einer Weiterentwicklung. Das Steuerungspotential ist da und braucht nur verstärkt zu werden.

Wenden wir uns nun dem System der Arzneimittelversorgung zu. Kann auch dieses in ähnlicher Weise „weiterentwickelt" werden? Offensichtlich nicht, denn in ihm sind die für eine Steuerung grundsätzlich die Voraussetzung bildenden Regelkreise (noch) nicht angelegt. Dieses System muß also erst einmal ausgebaut werden: Es gilt, Regelkreise herauszugestalten.

Systempolitik der „Arzneimittelversorgung": Der Ausbau von Regelkreisen Bei der Arzneimittelversorgung haben wir es gegenüber den ärztlichen Leistungen nicht im selben Maße mit Dienstleistungen zu tun. Arzneimittel sind im Grunde Waren. Zwar sind in sie bei der Forschung und bei der Verteilung durch die Apotheken auch Dienstleistungen in der Arzneimittelproduktion eingegangen. Die Produktion geschieht aber doch nicht wesentlich anders als bei der sonstigen industriellen Produktion. Dementsprechend beobachten wir auch innerhalb der Gesetzlichen Krankenversicherung im Produktionsbereich der Arzneimittelversorgung reine Märkte, während Märkte in der ärztlichen Versorgung fehlen. Diese Arzneimittelmärkte sind allerdings in ihrer Funktion noch weiter entwicklungsfähig.

Wie man Märkte pflegen und weiterentwikkein kann, wissen wir aus der allgemeinen Volkswirtschaftslehre: — Monopole sind zu verhindern, — die Konkurrenz ist zu fördern, — die Transparenz der Konsumenten ist zu erweitern (die Konsumenten müssen wissen, was sie kaufen und wieviel sie dafür bezahlen). Die umfangreichste Untersuchung über den Pharmamarkt ist vor kurzem durch ein Gutachten des Kieler Instituts für Weltwirtschaft vorgelegt worden. Diese Untersuchung zeigt, daß der Pharmamarkt durch einen hohen Konzentrationsgrad und durch hohe Forschungsaufwendungen gekennzeichnet ist. Daraus ergibt sich eine typische Preispolitik der Unternehmungen, die das Gutachten auch kritisiert. Das im Auftrage des Bundeswirtschaftsministeriums erstellte Gutachten des Kieler Instituts für Weltwirtschaft brachte u. a. folgende Ergebnisse (endgültige Fassung noch nicht veröffentlicht):

— Die Pharma-Industrie in Deutschland ist durch einen hohen Konzentrationsgrad gekennzeichnet. Auf etwa 20 Unternehmen entfielen 1969 etwa drei Fünftel des Umsatzes, der Beschäftigten, der Löhne und Gehälter und drei Viertel der Bruttoinvestitionen der pharmazeutischen Industrie. 80 bis 100 große und mittlere Unternehmen (von über 600 Herstellern) repräsentieren mehr als 80 °/o der Gesamtzahl der Präparate und des Gesamt-umsatzes. Trotzdem erreicht kein Hersteller auf dem Inlandsmarkt einen Anteil von 5 °/o. — Der gesamte Zweig hat von 1952 bis 1972 doppelt so schnell expandiert wie die gesamte übrige verarbeitende Industrie.

— Die Pharma-Industrie kennzeichnet ein hoher Forschungsaufwand. Sie steht mit dem Flugzeugbau und der Elektronikindustrie in der Spitzengruppe, die mehr als 10% des Umsatzes für Forschung ausgibt. Im Gegensatz zu ihnen muß die Pharma-Industrie diese Aufwendungen aus ihren Erlösen, d. h. ohne staatliche Subventionen finanzieren. Etwa 90 % der Gesamtaufwendungen für Forschung wird von etwa 25 Unternehmen getragen.

— Die Preispolitik wird vorwiegend von den großen Unternehmen bestimmt. Diese Preispolitik wird im Kieler Gutachten kritisiert. Durch internationale Preisvergleiche für 35 Präparate ergab sich ein Preisgefälle von der Bundesrepublik Deutschland über die Schweiz, Großbritannien bis hin zu Italien und Frankreich. Nach Schätzung des Bundes-gesundheitsamtes befinden sind 45 000 Präparate auf dem Markt. Der niedergelassene Arzt verwendet gewöhnlich nur 150 bis 300 Präparate. Konsumenten — Nachfrage — Zahler Eine Preissteuerung funktioniert immer nur dann, wenn die Konsumenten auch auf die Preise sehen. Gerade darin aber liegt die Schwierigkeit bei der Sozialversicherung. Diese ist nämlich ein Nicht-Markt-System. Erfahrungen, die mit Markt-Systemen gemacht worden sind, lassen sich nicht einfach auf Nicht-Markt-Systeme übertragen. Z. B. verbessert erhöhte Preistransparenz die Funktion eines Marktes. Von ihr geht ein Wettbewerbsdruck auf alle Preise aus, Waren mit überhöhten Preisen gehen im Absatz zurück. Aber in einem Nicht-Markt-System? — Hier sind die Konsumenten nicht Zahler; Konsumenten der Arzneimittel sind die Versicherten, Zahler aber sind die Kassen. Die Konsumenten sind persönlich nicht am niedrigen Preis, sondern vor allem an hoher Qualität, auch wenn dies zu Lasten des Preises geht, interessiert; sie zahlen ja nur indirekt durch ihre Beiträge und können nicht damit rechnen, daß bei einem Verzicht auf ein besonders teures Arzneimittel deshalb ihr Beitragssatz sinken würde.

— Die Konsumenten sind aber auch nicht eigentlich die Nachfrager; denn die Nachfrage wird direkt durch die Ärzte bestimmt. Die Konsumenten (Patienten) wirken nur indirekt dabei mit.

— Die Nachfrager (Ärzte) sind nicht Zahler und somit auch nicht direkt am Preis interessiert. Sie kümmern sich vor allem um die medizinische Qualität.

— Die Zahler, die am Preis interessiert sein könnten (Kassen), haben keinen Einfluß auf die Nachfrage.

Transparenz am Markt und am Nicht-Markt Unser Arzneimittelmarkt zeichnet sich also dadurch aus, daß er ein Nicht-Markt ist, in dem die Funktionen des Konsums, der Finanzierung und der Nachfrage (die sonst üblicherweise in einer Person vereint sind) auf drei Gruppen auseinanderfallen, die keine direkten ökonomischen Beziehungen untereinander haben (vgl. Abb. 11 und 12, wo ein Marktsystem mit einem Nicht-Markt-System verglichen wird). Erhöhte Preistransparenz (verbessertes Wissen um Preisunterschiede) ist in unserer oben beschriebenen Nicht-Markt-Situation ohne kostensenkende Wirkung. Im Gegenteil: Man kann sogar annehmen, daß die Patienten und die Ärzte einen hohen Preis mit einer hohen Qualität gleichsetzen und dann eher geneigt sind, teure Medikamente zu verwenden als zu vermeiden.

Diese Feststellung ergibt sich mit ziemlicher Klarheit, sobald man sich nur einmal die Zusammenhänge vor Augen hält, dennoch ist sie bisher noch wenig durchgedrungen. Ein wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung, die Verbände und 'das Wirtschaftsministerium haben sich lange Zeit von einer „erhöhten Transparenz" große Erfolge versprochen. Erhöhte Transparenz sollte dabei durch eine umfangreiche Preisliste herbeigeführt werden, in der alle einschlägigen Arzneimittel mit ih-ren Wirkungen und Preisen zusammengestellt sein sollten. Steuerung ist aber von dieser „Roten Liste" nicht zu erwarten, ist sie deshalb überflüssig?

Erhöhte Transparenz ist sicher gut, aber allein reicht sie nicht aus. Die Kenntnis der preisgünstigen Medikamente wirkt erst dann kostensenkend, wenn auch Interesse bei den Beteiligten besteht, diese preisgünstigen Medikamente und keine anderen zu verschreiben und zu verwenden. Offensichtlich muß also der Arzt nicht nur am medizinischen Standard der Arzneimittel interessiert werden, sondern auch an ihrem ökonomischen Standard. Wenn ein Arzt allerdings „unwirtschaftlich" Arznei-B mittel verschreibt, muß er die übermäßigen Ausgaben, die er verursacht hat, der Kasse ersetzen (Regreß). Ein sog. Regreßausschuß wacht darüber.

Der Arzneimittelregreß schien lange Zeit ein allgemein wirksames Steuerungsinstrument zu sein. Tatsächlich aber kann man damit nur „Ausreißer" packen, nicht jedoch die Gesamtkosten steuern. Im Gegenteil, die Verfahren treiben eher noch die Gesamtausgaben für Arzneimittel in die Höhe. Die Regreßverfahren orientieren sich nämlich am statistischen Durchschnitt der Fachgruppe, da andere Standards nicht zur Verfügung stehen. „Ausreißer", die wesentlich über dem Durchschnitt liegen, werden erfaßt. Gleichzeitig entsteht aber die Tendenz, daß alle Arzte, die unterhalb des Durchschnitts liegen, diesen als zulässige Norm ansehen und ihrerseits sich langfristig an diese Norm herantasten. Naturgemäß erhöht sich dadurch der Durchschnitt, was wiederum einen Anreiz zur Ausdehnung der Verschreibung bietet. Hier ist eine Eigendynamik wirksam, die sich in einem kumulativen Prozeß immer höher . aufschaukelt'.

Ein Regelkreis der Rezepte Im Nachhinein anzusetzen — wie die Regreßverfahren —, bringt für die Steuerung der Gesamtausgaben nichts; setzen wir also am Beginn an: Am Anfang steht das Rezept, das ausgeschrieben wird. Es ist eine Art „Wertpapier", das in Umlauf gesetzt wird. Die „Schöpfung" solcher Wertpapiere ist gegenwärtig völlig frei. Eine Steuerung der Mengen der Arzneimittel ist durch eine Steuerung der Rezepte möglich. Die Rezepte müßten freilich dazu in einen kreislaufartigen Strom eingefügt werden. Solange sie hier „geschöpft" und dort „vernichtet" werden, kommt kein Regelkreis zustande. Die Ausgabe der Rezepte als Wertpapiere muß dort liegen, wo sie auch gegen Geld einzulösen sind, nämlich bei den Kassen. Ein solcher einfacher Regelkreis von Rezepten und seine Steuerungswirkungen wird in der Abb. 13 dargestellt.

Prinzipien einer Systempolitik im Arzneimittelwesen Systempolitik im Arzneimittelwesen muß zwischen Marktbereich (Produktionsstufe) und Nicht-Markt-Bereich (Verbraucherstufe) unterscheiden. Im Marktbereich gelten die Prinzipien der marktwirtschaftlichen Ordnung, also:

— Wettbewerbspolitik auf dem Produzenten-markt. Im Nicht-Markt-Bereich muß erst ein in sich schlüssiges Steuerungssystem geschaffen werden:

— Rezeptsteuerung durch Ausgabeprivileg und Einlösepflicht der Kassen (Regelkreisbildung). Beide Maßnahmen müssen sich ergänzen. Allein sind sie jeweils wirkungslos.

Systempolitik im Krankenhauswesen: Vielfachsteuerung Wie sieht eine Systempolitik im Krankenhauswesen aus? Wir haben festgestellt, daß das Krankenhauswesen kein in sich schlüssiges Steuerungssystem darstellt. Es bildet le-diglich eine Folge von Abwicklungsvorgängen. In diesen Abwicklungsvorgängen haben alle Beteiligten ein Interesse, die Aktionen möglichst auszudehnen. Wo ist anzusetzen, wenn sich keine Ansätze bieten?

Das moderne Krankenhauswesen hat eine Geschichte von gut 150 Jahren hinter sich. Ein gewisser Steuerungsmechanismus bestand seit langem. Indes, man hat ihn durch eine Reform vor kurzem lahmgelegt. Diese Reform hieß „kostendeckende Pflegesätze". Das klassische Krankenhaus war immer mehr oder weniger zuschußbedürftig. Das heißt, seine Kosten konnte es durch den Verkauf seiner Leistungen (Preis pro Tag — Pflegesatz) nie voll wieder hereinbekommen. Das auflaufende Defizit trug ein „Krankenhausträger". Das waren die Kirchen, die Kommunen, die Wohlfahrtsverbände, Schwesterngenossenschäften und -mutterhäuser. Wenn im Krankenhaus „unwirtschaftlich" gewirtschaftet wurde, dann mußte entweder der Pflegesatz steigen oder die Zuschüsse mußten durch den Träger erhöht werden. Immer dann, wenn die Pflege-sätze entweder durch Konkurrenz der Krankenhäuser untereinander oder durch staatliche Pflegesatzordnungen am Steigen gehindert waren, fiel der Kostendruck direkt auf den Träger. Er mußte zahlen oder sich wehren. Da er dem Krankenhaus meist sehr nahe verbunden war, konnte er sich sehr gut wehren. Der Träger konnte Chefarzt, Oberin und Verwaltungsdirektor herbeizitieren, konnte ihnen klarmachen, daß er nicht in der Lage und nicht Willens -sei, seine Zuschüsse um mehr als dies und jenes zu erhöhen und im übrigen müßten sie selbst zusehen. Hier hatte der Träger die Funktion eines gewissen Korrektives. Die Träger bremsten die Kosten. Natürlich mußten die Träger um so mehr bremsen, je magerer ihre eigenen Geldquellen flossen, und da gerieten fast alle Träger mehr und mehr aufs Trockene. Der medizinisch-technische Fortschritt wurde immer kostspieliger und viele Träger — wie die Schwesterngenossenschaften und die Mutterhäuser — hatten immer weniger Mittel. In dieser Situation erhob sich der Ruf nach kostendeckenden Pflegesätzen und nach staatlichen Subventionen. Die Politiker wurden um Hilfe gerufen, und Politiker lassen nie einen Hilferuf verhallen, wenn sie glauben, durch eine Hilfsaktion ihren Einfluß stärken zu können.

Die Krankenhäuser waren seit langem völlig . unpolitisch'gewesen, aber außerordentlich konservativ in der Mentalität ihrer Leitung und ihres Personals. Das konnte anders werden; durch eine großzügige Krankenhausreform ließ sich das Krankenhauswesen „politisieren". Drei Maßnahmen wirkten hier zusammen: — Propagierung des „klassenlosen Krankenhauses" (= Krankenhauskomfort für alle);

— Übernahme der Subventionen durch den Bund;

— kostendeckender Pflegesatz.

Der Krankenhauskomfort für alle (klassenloses Krankenhaus) sollte ein Angebot für diejenigen Wähler sein, die bisher in der „dritten Klasse" angeblich wenig komfortabel gelegen hatten. Die Erhöhung des Anspruchsniveaus trieb die Kosten natürlich ebenfalls hoch. Diesem Kostendruck bot sich der Staat als sorgender Landesvater an. Er versprach, seine Taschen für Subventionen zu öffnen. Damit die Nachfrage nach Subventionen dann doch nicht so groß werden sollte, wurde allerdings ein Ventil in den kostendeckenden Pflegesätzen geschaffen. Die Krankenhäuser sollten ihre Pflegesätze erhöhen dürfen.

In diesem System gibt es nun keinen Druck auf die Kosten mehr, kein bremsendes Korrektiv. Die Konsumenten (Patienten) drängen auf teurere Behandlung. Das Krankenhaus kann alle Kosten auf den Pflegesatz weiter-wälzen. Der Staat kann Subventionen bereitstellen, wenn ihm dies politisch wichtig erscheint; er kann aber auch die Subventionen wieder kürzen und die Krankenhäuser auf den Pflegesatz und dessen Erhöhung verweisen. Die Kassen müssen zahlen, die Kosten steigen ungehemmt an. Was ist zu tun, um aus dieser Situation wieder herauszukommen? Eine Rückkehr zum alten System ist, wie oft im sozialen Bereich, nicht möglich.

Wenn keine Lösung auf der Hand liegt, dann läßt sich vielleicht alles aus dem Problem ausgliedern, was nicht unbedingt hineingehört. Wir haben oben gesehen, daß es für die Steuerung ärztlicher Leistungen bereits ein Steuerungssystem gibt, das mit zwei gegengewichtigen Verbänden und zwei Kreisläufen recht passable Steuerungsleistungen erzielt. Warum gliedern wir nicht einfach alle krankenhausärztlichen Leistungen aus dem System Krankenhausversorgung aus? Wir entlasten dadurch unser Krankenhausproblem bereits um 15°/o Prozent. Denn 15°/o von den Gesamtausgaben für Krankenhäuser entfallen auf die Krankenhausärzte. Problemsplitting: Ausgliederung der Dienste Wenn die Honorierung der Krankenhausärzte so organisiert werden soll wie der ambulante Sektor, muß eine „Krankenhauskassenärztliche Vereinigung" geschaffen werden (vgl. Abb. 14). Sicher ist eine Organisation einer Krankenhauskassenärztlichen Vereinigung nicht ganz einfach, aber unlösbar ist sie nicht. Schließlich gibt es Erfahrungen mit Kassen-ärztlichen Vereinigungen seit über 40 Jahren. Diese Erfahrungen kann man in die Problemlösung mit einbringen.

Krankenhausärztliche Versorgung und ambulante ärztliche Versorgung nach demselben System zu ordnen, hat zudem noch einen weiteren Vorteil: nun ist es nicht mehr so schwierig, frei praktizierende Ärzte gleichzeitig auch am Krankenhaus tätig werden zu lassen. Wenn ein Patient aber von seinem Facharzt in der Praxis und im Bedarfsfälle von ihm auch im Krankenhaus behandelt werden kann und in der Nachbehandlung wieder bei ihm in der Praxis, dann entfallen die vielbeklagten Überweisungsprobleme zwischen Praxis und Krankenhaus und die vielzitierten Doppeluntersuchungen. Der Patient wechselt zwar die Behandlungsstätte (Praxis-Krankenhaus-Praxis), aber nicht seinen Arzt. Dies nur nebenbei als wichtiger Nebeneffekt zur Kostensteuerung.

Durch Gründung einer Krankenhauskassenärztlichen Vereinigung und Überführung der ärztlichen Dienste in ein anderes und anderwärts schon bewährtes Steuerungssystem ist unser Problem bereits um etwa 15 °/o kleiner geworden. Der Rest ist aber nun plötzlich gar nicht mehr so schwierig-, es bleiben nämlich noch zwei Blöcke: — Unterbringung und Pflege (zu finanzieren durch den Pflegesatz); — medizinisch-technische Ausstattung (zu finanzieren durch Subventionen).

Beide Blöcke können nun wieder nach dem alten, früheren Steuerungssystem gelenkt werden: Erhöhte Subventionen nur für den, der gleichzeitig seine Kosten in Schach zu halten weiß. Wer um Subventionen anhält, muß sein Management überprüfen lassen; Chancen, seinen medizinisch-technischen Aufwand zu erhöhen, „kosten" also gewissermaßen sparsame Hauswirtschaft, die sich in einem niedrigen Pflegesatz niederschlägt.

Die Verbesserung der Steuerungseffizienz im Krankenhauswesen liegt also in einer relativ einfachen Maßnahme: Kostensplitting in drei Blöcke, die jeweils durch das für sie am besten geeignete Steuerungssystem gesteuert werden: — ärztliche Dienste (Steuerung durch Krankenhauskassenärztliche Vereinigung in Verhandlungen mit den Kassen); — Unterbringungskosten und Pflege (Pflegesatz) ; — medizinisch-technische Ausstattung (Subventionen). „Elastische" Krankenhausbetten „Man liegt, wie man sich bettet"; diese Regel muß in der Krankenhausökonomik ein wenig umformuliert werden: „So viele Betten zur Verfügung gestellt werden — so viele werden auch belegt!" Krankenhausbetten sind teuer, die Folgekosten sind beim Krankenhausbettenbau also vorprogrammiert (vgl. Abb. 15).

Wenn man dem entgegensteuert, und wenn man durch Steuerungsmaßnahmen die unwirtschaftlich langen Liegezeiten im Krankenhaus verkürzt — was wird dann aus den leeren Betten? Offensichtlich muß bei rücksteuernden Maßnahmen auch die Bettenzahl der Krankenhäuser elastisch nachgeben. Die Bettenzahl — nicht die Betten — muß hier also elastisch sein.

Man kann Krankenhäuser nicht einfach abreißen, um Belegungskosten zu sparen. Man kann umgekehrt auch nicht kurzfristig anbauen, um die Bettenzahl vorübergehend zu erweitern. Auch hier empfiehlt sich die Problemlösung des Splitting (Probleme auseinandernehmen, wo sie gehäuft auftreten). Die Krankenhäuser sind aufzuteilen in verschiedene Typen, je nach Pflege-und Investitionsintensität. So läßt sich eine Typenreihe etwa folgendermaßen bilden: — Intensivpflegestation, —-mittlere Pflege (Normalversorgung im Akutkrankenhaus), — Langzeitpflege, — Altenpflegeheime, — Altenheime.

Innerhalb dieser Reihe lassen sich nun verhältnismäßig leicht Betten umwidmen. Werden Krankenhausbetten frei, so können Stationen oder ganze Häuser in Pflegeheime oder Altenheime umgewandelt werden. Natürlich ist auch das nicht kurzfristig, aber doch auf mittlere Frist möglich; ebenso umgekehrt. Dazu ist es sinnvoll, alle, stationären und Heimleistungen bei der Krankenversicherung zusammenzufassen und diese dann mit weiteren Trägern (z. B.der gesetzlichen Rentenversicherung) abrechnen zu lassen; denn die Übergänge zwischen stationärer Behandlung, stationärer Pflege und Heimpflege sind fließend (vgl. Abb. 16). Prinzipien einer Systempolitik im Krankenhauswesen Auch im Sektor „Krankenhauswesen" ist Systempolitik notwendig. Hier gibt es gegenwärtig überhaupt keine Steuerung. Die Systempolitik steht auf zwei Pfeilern: a) Kostensplitting mit entsprechender spezieller Steuerung:

— ärztliche Leistungen durch Krankenhaus-ärztliche Vereinigung;

— Unterbringung durch Pflegesatz;

— medizinisch-technische Ausstattung durch Subventionen. b) Strukturierung des gesamten Bettenangebotes mit Ausgleichsmöglichkeit zwischen den Versorgungstypen bei konstantem Gesamtangebot. Erst beide Pfeiler zusammen stützen die Reform. Einer allein ist nicht tragfähig genug.

Wir sind von unserer Systemanalyse („Wo stecken die Steuerungsdefizite und die Steuerungsreserven?") übergegangen zur System-politik: „Wie können mit möglichst geringen Eingriffen schlüssige Systeme entwickelt werden?" Was aber hat man eigentlich bis heute in der Sozialpolitik unternommen? Wenn es gelingt, die systemkonformen Maßnahmen wissenschaftlich abzuleiten — warum sind diese nicht schon längst verwirklicht worden? Wenn es bisher falsche Maßnahmen waren, wie kommt es dann zu solchen Fehlleistungen?

V. Fehlleistungen

Abb. 5: Wachstumsraten der verschiedenen Sachbereiche der GKVim Vergleich zur Leitlinie

Fehlleistungen haben immer einen zweifachen Aspekt: In einer Hinsicht sind sie zwar echte Leistungen, in anderer Hinsicht stellen sie sich aber als Fehler heraus in bezug auf andere, weiterreichende und hintergründige Ziele — Ziele freilich, die man bis dahin nicht erkannt hat, die unbewußt blieben, die unter dem beschränkten Gesichtsfeld nicht ins Kalkül eingingen. In einer Analyse der Fehlleistungen können wir versuchen, die bisherigen Maßnahmen zu beschreiben und die geistige Haltung, aus denen sie resultierten, freizulegen.

Von der Medizin zur Medizin-Ökonomik „Gesundheit ist das Wichtigste“, sagt der Volksmund. Für das Wichtigste ist das Beste gerade gut genug. Gesundheit stand bisher immer unter Maximalforderungen. Das medizinisch-technisch Beste muß eingesetzt werden. Zwar hat man sich, schon immer zu gewissen Abstrichen bereitgefunden und sich auf das „Notwendige" beschränkt. Aber was ist das „Notwendige"? Für das naturwissenschaftlich ausgerichtete Denken folgt das Notwendige notwendig aus der gegebenen Situation. Jeder verantwortungsbewußte und fähige Mediziner wird das Notwendige für den jeweiligen Fall nennen können. Damit ist das Notwendige objektiv. Denn objektiv heißt nichts anderes, als daß alle Fachkenner übereinstimmen.

Und damit stoßen wir schon auf die „beschränkte Einsicht, die zu Denkfehlern führt". Sicherlich werden alle verantwortungsbewußten und fähigen Mediziner das im Einzelfall Notwendige nennen können, nur übereinstimmen werden sie nicht. Selbst wenn sie nur in 20 °/o der Fälle und nur in Grenzfragen verschiedener Meinung sind, entstehen Entscheidungsprobleme, die für die Steuerung unserer Kostenexplosion relevant werden: Soll diese Maßnahme durchgeführt werden oder nicht, soll sie so durchgeführt werden oder anders; wie lange soll sie dauern usw.?

Rein naturwissenschaftlich gesehen, sind diese Probleme objektiv nicht entscheidbar. Wie also sonst? Wenden wir das ökonomische Prinzip an: Bei einer Wahl zwischen zwei als gleichwertig bezeichneten Maßnahmen ist der billigeren Lösung der Vorzug zu geben. Damit wird das Gesundheitswesen zum ökonomischen Problem: „Unsere Mittel sind beschränkt, wir wollen möglichst viel Gesundheitsgüter für möglichst viele Menschen herausholen; wie muß das geschehen?"

Die Umwandlung der rein medizinischen Fragen in medizinisch-ökonomische Probleme mußte in dem Augenblick eintreten, als die Knappheit an medizinischen Ressourcen (zur Verfügung stehende Mittel) deutlich wurde. Für viele ist sie bis heute noch nicht deutlich. Sie lehnen es mehr oder weniger bewußt ab, Medizin unter ökonomischen Gesichtspunkten zu sehen. Unter dieser, zum Teil mit verstockter Miene und sozial-entrüstetem Gesicht hochgehaltenen Maxime hat die Gesundheitspolitik seit etwa 1960 gestanden. Nahezu jede Reform war durch zweierlei gekennzeichnet: Einführung von mehr Ansprüchen und mehr Ausgaben sowie Abbau von bisher bestehenden Steuerungsmöglichkeiten:

1960: Aufhebung der Niederlassungsbeschränkung für Arzte — damit kaum noch Einfluß der Kassenärztlichen Vereinigungen auf Zahl und regionale Verteilung der niedergelassenen Ärzte.

1967: Abschluß des Übergangs von der Pauschalhonorierung zum Einzelleistungshonorierungsverfahren (Beginn etwa ab 1964) — Übernahme des Morbiditätsrisikos durch die Krankenkassen, gleichzeitig Anreiz zur Ausdehnung der Zahl der Einzelleistungen; kaum mehr Ansatzpunkte für eine Einkommenspolitik der Kassenärztlichen Vereinigungen. 1970: Streichung des Eigenbeitrags der Rentner; Lohnfortzahlung für alle Arbeiter (keine Möglichkeit, innerhalb der ersten sechs Krankheitswochen den Vertrauensärztlichen Dienst einzuschalten; sprunghafte Erhöhung des Krankenstandes); Dynamisierung der Versicherungspflichtgrenze (Abbau des Wettbewerbs von gesetzlicher und privater Krankenversicherung). 1974: Aufhebung der sog. „Krankenscheinprämie" (indirekte Selbstbeteiligung) — Verringerung der Eigenverantwortung der Versicherten. 1974: Einführung sog. „kostendeckender Pflegesätze" im Krankenhaus — kein Zwang mehr zur wirtschaftlichen Betriebsführung — Anreiz zur Verlängerung der Verweildauer durch die volle Pauschalierung.

Von der Irrationalität der Solidarität Wir stellen uns einen Vereinsausflug vor. Jeder zahlt seine Getränke selbst. In Anbetracht der hohen Bierpreise fällt der Durst nur mager aus, die Stimmung bleibt dementsprechend reserviert, die Teilnahme ist mäßig.

7 Machen wir es also anders, ziehen wir vor Beginn des Ausfluges einen Teilnahmebeitrag von allen Vereinsmitgliedern ein! Dafür ist die Teilnahme und der Umtrunk frei! — Wer jetzt nicht teilnimmt und nicht einen kräftigen Schluck nimmt, ist selber schuld. Ja, sogar noch mehr: je höher der Beitrag ausfällt, um so größer die Teilnahme und um so größer der Durst. Jeder muß sich ja sagen, daß er auf alle Fälle belastet wird, wenn aber schon, dann solle doch auch etwas dabei her-ausschauen. Nehmen wir an, einem sei der Beitrag zu hoch. Er wird folgerichtig sagen: „Das kommt vom vielen Trinken!" Also hält er sich zurück, und harrt den Abend säuerlich auf dem Trockenen aus. Spart er damit? Wird dadurch der Beitrag niedriger ausfallen? Nehmen wir an, der Beitrag würde als Umlage im Nachhinein erhoben. Dann würde er natürlich bei Zurückhaltung unserer Versuchsperson niedriger sein. Allerdings niedriger auch für alle anderen. Hat unser Gewährsmann z. B.

für DM 4, — Bier weniger getrunken als die anderen im Durchschnitt, und sind es 80 Teilnehmer, so sinkt die Umlage um 5 Pfennige. Das ist eine sehr geringe Ersparnis für den versauerten Abend unseres sparsamen Teilnehmers! Warum sollte sich unser Mann nicht umgekehrt verhalten? Er haut auf die Pauke und vertrinkt das Doppelte wie alle anderen: jetzt hat er mächtig gezecht, die Umlage aber steigt für ihn nur ganz minimal an, denn alle anderen müssen ja daran mittragen. Nur 1/80 des Mehrkonsums fällt auf unseren Zecher zurück. Wir sehen: Bei Umlage wird Zurückhaltung im Konsum irrational; Mehrkonsum empfiehlt sich, und dies gerade, je höher die Umlage ist. Der Effekt wird um so stärker, je größer die Gruppe ist.

Nun übertragen wir unsere Erfahrungen auf die Krankenversicherung. Hier geht es um außerordentlich wichtige Gesundheitsgüter und um sehr große Gruppen. Solidarität im Sinne einer Zurückhaltung in der Nachfrage nach Gesundheitsgütern (einer für alle) wäre hier irrational. Solidarität muß notwendigerweise anders verstanden werden: alle (zahlen) für einen!

Ausgabesteigernde Solidaritätseffekte (Umlagen in großen Gruppen) haben wir vielfach in der Sozialversicherung eingebaut. Nicht nur bei den Versicherten, auch bei den Kassen, den Ärzten, den Krankenhäusern wirken solche Effekte. Solidaritätsappelle können keine ausgabensenkenden Wirkungen haben. Aus Solidaritätsvorstellungen hat man seinerzeit die Umlageverfahren eingeführt („Alle für einen"). Als sie dann zu raschen Wachstumsraten führten und führen mußten, glaubte man, das Problem wiederum durch Solidaritätsappelle lösen zu können. Das stellt sich jetzt als Fehleinschätzung heraus. Falsch adressierte Selbstbeteiligung Immer wieder hat man. versucht, Selbstbeteiligungen in das System der Krankenversicherung einzubauen. Immer wieder hat man ihre Einführung als Reform gepriesen, um sie alsbald wiederum unter der Fahne einer neuen Reform abzuschaffen.

Mit der Einführung einer Selbstbeteiligung an den Aufwendungen für Gesundheitsgüter lassen sich grundsätzlich zwei Ziele verfolgen: ein Finanzierungseffekt und ein Steuerungseffekt. Der Finanzierungseffekt bewirkt, daß ein Teil der anfallenden Aufwendungen von der Krankenkasse auf den Versicherten übertragen wird. Die Kasse wird entlastet, der Versicherte (zusätzlich zum Beitrag) belastet. Der Steuerungseffekt bewirkt, daß weniger Leistungen in Anspruch genommen werden, was sich natürlich bei den Kassen ebenfalls kostenmindernd bemerkbar macht.

Bei Einführung einer generellen — also nicht auf ganz bestimmte Leistungen bezogenen — Selbstbeteiligung besteht jedoch die Gefahr, daß auch medizinisch notwendige Leistungen nicht nachgefragt werden, Es unterbleibt z. B. ein wichtiger Arztbesuch oder ein benötigtes, aber teures Medikament wird nicht gekauft. Die Selbstbeteiligung sollte deshalb nicht generell, sondern unter Zuhilfenahme spezieller Steuerungsmittel nur für ganz bestimmte Leistungen eingeführt werden. So wäre es denkbar, die Zahl der Krankenscheine je Jahr zu erhöhen und für einen Tejl der Scheine bei Nichtinanspruchnahme Beitragsrückvergütungen einzuführen. Auch besondere Krankenscheine, etwa für Nachtbesuche des Arztes, die gegen Gebühr von der Krankenkasse gekauft werden müssen, wären denkbar. Die Selbstbeteiligung muß so ausgestaltet werden, daß keine überflüssigen Leistungen nachgefragt werden, medizinisch notwendige Leistungen aber auch nicht unterbleiben.

Konsumenten der Gesundheitsgüter sind die Patienten; sie sind aber nicht Nachfrager, denn das sind die Ärzte. Die Konsumenten mit Selbstbeteiligung zu belasten, berührt die Nachfrager zunächst nicht. Sollten die Konsumenten dennoch unter der Belastung der Selbstbeteiligung selbst ihre Nachfrage zurücknehmen, so wissen sie nicht, wo dies zweckmäßig ist. Sie sind ja nicht sachverständig. Es besteht die Gefahr, daß sie gerade an den medizinisch besonders wichtigen Gesundheitsgütern sparen (bittere Medizin) und ihre Nachfrage dorthin verlagern, wo es medizinisch nicht so wichtig, dafür aber eher angenehm ist (Kuren).

Selbstbeteiligung wendet sich meist an die falschen Adressaten.

Mit diesen beiden Erfahrungen „Irrationalität der Solidarität" und „falsch adressierte Selbstbeteiligung" können wir jetzt verstehen, daß Maßnahmen, die auf den ersten Augenschein hin schlüssig erscheinen, es tatsächlich nicht sind. Erst eine eingehende Analyse bringt dies allerdings an den Tag. Solange eine solche Analyse nicht zu Ende durchdacht wird, wird man immer wieder beim ersten Augenschein verharren und sich auf Wirkungsloses versteifen. So hat man mehr als ein Jahrzehnt mit der Selbstbeteiligung experimentiert, ohne die Zusammenhänge zu erkennen, und reichlich hundert Jahre von den Solidareinrichtungen gesprochen, ohne die Irrationalität, die in ihnen wirken kann, zu erfassen.

Wir haben, der modernen Sozialwissenschaft folgend, von vornherein ganz andere Wege eingeschlagen. Rückblickend werden die Prinzipien jetzt deutlich:

Erstes Prinzip: Die Probleme von der Gesamtschau her ansprechen.

Die Kostenexplosion im Gesundheitswesen ist keine isolierte Erscheinung. Sie muß im Zusammenhang mit den Kostenexplosionen und Steuerungsdefiziten im primären und tertiären Sektor gesehen werden. Aus diesem Zusammenhang ergibt sich, daß es sich hier nicht um ein kurzfristiges oder ein konjunkturelles Problem handelt, sondern um ein langfristiges Problem der Wachstumssteuerung.

Unter diesem Prinzip wird deutlich, daß alles Herumoperieren am Detail, aller Pragmatismus der Manager und der politischen Funktionäre zur Problemlösung nicht ausreichen wird. Damit wird man bis zur Bundestagswahl 1976 sicher noch über die Runden kommen, aber vor den darauffolgenden Wahlen wird man wiederum vor demselben Problem stehen.

Zweites Prinzip: Es besteht kein Finanzierungsproblem, sondern ein systempolitisches Problem.

Aus unserem ersten Prinzip ergibt sich bereits das zweite: damit, daß wir mehr Geld aufbringen, ist das Problem nicht gelöst. Wir müssen Systeme schaffen, die die Gesamtaus23 gaben herabsteuern, die die Kosten so in Schach halten, daß bei einer Ausgabenminderung keine Versorgungsminderung eintritt. Die Aufgabe der Systempolitik ist es, das „übermäßige" wegzusteuern. Das „übermäßige auf das rechte Maß zurückführen" wird keiner zentralen Verwaltung gelingen, denn es muß in jedem einzelnen Fall und immer wieder festgestellt werden. Das kann nur dadurch geschehen, daß man möglichst viele der Beteiligten an der Steuerung des Ganzen mit interessiert. Eine Vergrößerung der Steuerkapazität darf und wird auf diese Weise nicht Verringerung von Freiheitsgraden bedeuten.

Drittes Prinzip: Globalsteuerung auf der mittleren Ebene.

Heruntersteuern geschieht am besten dadurch, daß man Gegenkräfte im System entbindet, die den Explosionskräften entgegenwirken. Solche Gegenkräfte gibt es vor allem auch auf der mittleren Ebene der Verbände. Deshalb ist die mittlere Ebene zu stärken; sie soll dabei nicht in die Einzelentscheidungen der unteren Ebene (der Individuen) vordringen, sondern bei Globalentscheidungen bleiben.

Globalsteuerung auf der mittleren Ebene ist in der Krankenversicherung schon mehr oder weniger bewußt seit Jahrzehnten geübt worden. Freilich hat man sie nicht als solche erkannt. Das Verständnis für Globalsteuerung an sich ist nämlich noch relativ jung. Sie wurde erst durch den damaligen Wirtschaftsminister Schiller in der staatlichen Wirtschaftspolitik heimisch; hier als staatliche Globalsteuerung (also auf der oberen Ebene). Globalsteuerung auf der mittleren Ebene ist in der Wirtschaft geradezu verpönt. Die Verbände haben zu sehr den Charakter von Kartellen, als daß man sie mit solch steuernden Aufgaben betrauen wollte. Was aber für die Industrie falsch ist (Stärkung der Kartelle auf der mittleren Ebene), muß nicht für die Dienstleistungen und speziell für das Gesundheitswesen falsch sein. Im Gegenteil: Die Globalsteuerung auf der mittleren Ebene muß hier entwickelt werden.

Viertes Prinzip: Ausbau von Regelkreisen.

Im Gesundheitswesen haben nicht nur die Geldströme eine steuernde Funktion, sondern auch viele sog. „Wertpapiere" (Steuerungsscheine: Krankenscheine, Rezepte, Überweisungsscheine usw.). Die Steuerungskapazität dieser Steuerungsscheine ist noch keineswegs erschlossen. Im Gegenteil, diese Scheine zirkulieren oft völlig ungeregelt. Sie müssen in klare Regelkreise eingebunden werden. Damit ergeben sich dann ganz von selbst neue Steuerungsmöglichkeiten.

Verbindung von drittem und viertem Prinzip: Die Regelkreise der Steuerungsscheine über die mittlere Ebene leiten.

Wenn die Ströme der Steuerungsscheine über die mittlere Ebene fließen (von den Verbänden ausgegeben bzw. in Geld eingelöst werden), lassen sich leicht damit Aufgaben einer Globalsteuerung verbinden.

Fünftes Prinzip: Jedem Problem die ihm adäquate Steuerung bereitstellen; Probleme nicht kumulieren, sondern splitten.

Wenn jedes Problem einzeln und für sich gelöst werden soll, dann sollen z. B. die Dienstleistungen durch Steuerungssysteme für Dienstleistungen geregelt werden. Investitionen aber sind davon auszunehmen. Diese sind ihrerseits über dafür adäquate Steuerungssysteme für Investitionen zu lenken (Investitionen sind Sachgüter, keine Dienste!).

Fussnoten

Weitere Inhalte

Philipp Herder-Dorneich, Dr. rer. pol., geb. 1928; Studium der Nationalökonomie und Soziologie in Bonn und Freiburg; 1967— 1970 Ordinarius für Nationalökonomie und Sozialpolitik in Innsbruck; 1970— 1973 Ordinarius für Sozialökonomik und Sozialpolitik in Bochum; seit 1973 ordentlicher Professor für Sozialpolitik und Direktor des Seminars für Sozialpolitik der Universität zu Köln sowie des Forschungsinstituts für Einkommenspolitik und Soziale Sicherung an der Universität zu Köln. Veröffentlichungen u. a.: Zur Theorie der sozialen Steuerung, Stuttgart 1965; Soziale Kybernetik, Stuttgart 1965; Sozialökonomischer Grundriß der Gesetzlichen Krankenversicherung, Stuttgart 1966; Honorarreform und Krankenhaus-sanierung, Berlin 1970; Systemanalyse und Systempolitik der Krankenhauspflegedienste, Berlin 1972; Systemanalyse und Problemgeschichte der arbeitsrechtlichen und versicherungsrechtlichen Lösung sozialer Aufgaben, Opladen 1973.