Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Freimütige Kritik und demokratischer Rechtsstaat | APuZ 20-21/1976 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 20-21/1976 Freimütige Kritik und demokratischer Rechtsstaat Militär und Gewerkschaften in Deutschland Das deutsche Identitätsproblem. Eine historisch-politische Provokation

Freimütige Kritik und demokratischer Rechtsstaat

Gustav W. Heinemann

/ 13 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Zum Jahrestag der Verkündung des Grundgesetzes, dem 23. Mai, wendet sich Altbundespräsident Dr. Gustav W. Heinemann gegen die Praxis des sog. Radikalenerlasses vom Januar 1972. Er kritisiert die Methoden der Überprüfung von Bewerbern für den öffentlichen Dienst. Diese Methoden selbst gelte es zu überprüfen, damit nicht das Grundgesetz gegen seinen eigenen Geist geschützt werde und dem Staat eine Autorität unabhängig von Parlamenten, Parteien und Volkssouveränität zugebilligt wird. Heinemann ruft in diesem Zusammenhang zwei geschichtliche Linien in Erinnerung. Einmal die Geschichte der deutschen Freiheitsbewegungen seit dem Ausgang des Mittelalters bis hin zur Revolution von 1848/49, der Arbeiterbewegung und der Revolution von 1918. Ihre Erforschung und das Bewußtsein dieser Geschichte müsse gestärkt werden, damit erkannt werde, daß unsere freie Gesellschaft, um weiterentwickelt zu werden, auch radikaler Kritik bedarf. Die andere Linie unserer Geschichte ist gekennzeichnet durch Maßregelungen, Zensuren und Unterdrückung. Heinemann schildert u. a., wie 1861/62 der Duisburger Gymnasiallehrer Friedrich Albert Lange wegen seiner freimütigen Kritik an der preußischen Militärpolitik gemaßregelt wurde, erinnert an die Karlsbader Beschlüsse des Fürsten Metternich aus dem Jahre 1819, zitiert Lessing, der die Einschränkung der preußisch-berlinischen Freiheit unter Friedrich dem Großen beklagte, und verbindet solche Vorgänge mit der gegenwärtigen Behandlung radikaler Demokraten,

Der Jahrestag der Verfassung, der 23. Mai 1976, ist, 27 Jahre nach Entstehung des Grundgesetzes, ein Anlaß, uns auf die Ziele dieses Grundgesetzes und seine Bedeutung als Maßstab für Leben und Ordnung unserer Gesellschaft zu besinnen. Bei der Diskussion um die Auswirkungen der jetzt überschaubaren Praxis des sogenannten Radikalenerlasses der Ministerpräsidenten der Länder und des Bundeskanzlers vom Januar 1972 handelt es sich um nichts geringeres als um die Geltung des Grundgesetzes für unser öffentliches Leben. Darin sind sich Verteidiger und Kritiker des Radikalenerlasses einig.

Sicher gehört es zum Schutz unserer Verfassung, ihre Freinde vom Staatsdienst als Beamte fernzuhalten. Aber auch dieses Bemühen muß im Einklang mit der Verfassung stehen. Es muß darauf geachtet werden, daß das Grundgesetz nicht mit Methoden geschützt wird, die seinem Ziel und seinem Geist zuwider sind. Die Entwicklung der letzten Jahre zwingt dazu, diese Methoden sorgsam zu überprüfen. Wir beobachten nämlich, wie das freimütige und gewiß oft auch ungebärdige Verhalten junger Generation, das wir Ende der sechziger Jahre erlebt haben, weithin einer ängstlichen Haltung gewichen ist. Anstelle politischer Wachheit und rigoroser moralischer Bewertung des politischen Alltags breitet sich offensichtlich Anpassung und Schweigen aus, so, als gelte es nur noch die eigene Haut und Karriere zu retten.

Sicher ist daran nicht nur die in Gang gekommene Überprüfung ganzer Jahrgänge von Bewerbern für den öffentlichen Dienst schuld, sondern auch der durch die wirtschaftliche Lage und den Numerus clausus bewirkte Leistungsdruck, der mittlerweile bis in die unteren Klassen der Schulen durchschlägt. Die Gefahr einer Verwüstung von natürlichem jugendlichen Selbstbewußtsein dürfen wir nicht gering nehmen.

Deshalb muß gefragt werden, inwiefern die jetzigen Methoden, Personen, die sich die Abschaffung demokratischer Rechte zum Ziel gesetzt haben, vom Beamtendienst fernzuhalten, sich negativ auswirken und also geändert werden müssen. Es stehen Dienstaufsichtsund andere personalrechtliche Verfahren bereit, um gegen Beamte und Angestellte des öffentlichen Dienstes, die sich verfassungswidrig betätigen, vorzugehen. Soweit es sich um Bewerber handelt, müssen eindeutige Beweise dafür vorliegen, daß sie sich die Abschaffung der vom Grundgesetz verbrieften demokratischen Rechte zum Ziel setzen. Solche Bewerber sind aber zu unterscheiden von denjenigen, die sich zu gesellschaftlichen Zuständen kritisch äußern und deren Veränderung anstreben, um dadurch die Forderungen des Grundgesetzes besser zu verwirklichen.

Die Tatsache, daß gerade in der Zeit der sozialliberalen Koalition, in der die Sozialdemokratische Partei in der Regierungsverantwortung steht, „Grundsätze zur Frage der verfassungsfeindlichen Kräfte im öffentlichen Dienst" beschlossen wurden, hängt mit der Auseinandersetzung zusammen, in der sich die deutsche Sozialdemokratie seit 1918 mit Kommunisten befunden hat. Sie war es, die stets den schwersten Kampf innnerhalb der Arbeiterschaft gegen den Kommunismus geführt hat. Sozialdemokraten waren es auch, die böseste Erfahrungen mit Kommunisten machen mußten. Ich erinnere nur an die Zwangsvereinigung von Kommunisten und Sozialdemokraten im Bereich der späteren DDR während der ersten Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg. Dennoch muß der politische Kampf gegen den Kommunismus von einem Antikommunismus, der alles Kommunistische verteufelt, unterschieden werden. Es muß mit Ländern, in denen Kommunismus herrscht, verhandelt, gesprochen und auch gehandelt werden, wie das mit nichtkommunistischen Ländern geschieht. Eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten kommunistisch regierter Länder hat keine Verheißung. Wenn in den Jahren zwischen 1950 und 1955 sogar ein „Roll-Back" gegenüber den neuen politischen Verhältnissen in den Ländern des Ostblocks seitens und mit Hilfe der Amerikaner für erstrebenswert gehalten wurde, so wurde dadurch zugleich eine Politik des Mißtrauens von Seiten des Ostblocks gegenüber Westeuropa und Nordamerika begründet. Außerdem wurde im Westen das Sicherheitsbedürfnis der 1941 von Deutschland überfallenen Sowjetunion g-eringer erachtet als deren mögliche Aggression gegenüber der Bundesrepu3 blik. Inzwischen entsteht durch die Veränderungen der westeuropäischen kommunistischen Parteien und durch die sehr verschiedenen Formen von Kommunismus und Sozialismus in den Ländern der Dritten Welt eine neue Lage, der wir mit einem pauschalen Antikommunismus nicht gerecht werden können. Auch innenpolitisch wurde in der Bundesrepublik die Abwehr gegen Kommunisten übertrieben. Obwohl man sich nach jeder Kommunal-, Landtags-und Bundestagswahl der letzten 30 Jahre darin einig war, daß DKP, KPD und KBW keine wirklichen Chancen haben, in Regierungen und Parlamenten mitzuwirken, wurde die Furcht vor kommunistischer Unterwanderung geschürt. Dabei gerieten auch unanfechtbare linke Demokraten in den Verdacht eines verkappten Kommunismus. Gewiß steht seit einigen Jahren zur Diskussion, ob Demokraten etwa an Bürgerinitiativen teilnehmen dürfen, die von Kommunisten angeführt werden, oder ob sie sich lediglich an Initiativen beteiligen sollen, bei denen eine demokratische Gruppe oder Partei federführend ist. In dieser Frage sollte uns aber weder ein leichtfertiges Volksfrontdenken noch übertriebene Berührungsangst beherrschen.

II.

Es ist ein zweideutiges Verfahren, wenn man zur Erklärung gegenwärtigen Geschehens längst vergangene geschichtliche Vorgänge heranzieht; denn jedes geschichtliche Ereignis ist in die besonderen Bedingungen seiner Zeit eingebettet und läßt sich nicht isoliert davon betrachten. Aus diesem Grunde kann man auch nicht ohne weiteres die Karlsbader Beschlüsse des Fürsten Metternich aus dem Jahre 1819, welche jegliche freie Meinungsäußerung und die politische Opposition verfemten, mit dem Radikalenbeschluß der Ministerpräsidenten und des Kanzlers der Bundesrepublik Deutschland vom 28. 1. 1972 vergleichen.

Andererseits läßt sich ein solcher Vergleich nicht ganz und gar vermeiden. Denn jeder Rückblick in die deutsche Geschichte stößt auch auf Freiheitsbewegungen, welche nur allzuoft unterdrückt wurden. War es nicht 1819 wie 1972 vor allem die akademische Jugend, deren Kritik gefürchtet und daher als mißliebig gebrandmarkt wurde? Um der Geschichte freiheitlicher Regungen in der deutschen Geschichte wieder bewußt zu werden, ist es geboten, sich von der rein machtpolitischen Betrachtungsweise unserer Geschichte abzuwenden und einer sozialgeschichtlichen historischen Ausrichtung den Vorzug zu geben. Wir brauchen eine allgemeine Verlebendigung dessen, was in deutschen Landen an Aufbegehren gegen Unrecht und soziale Mißstände geschehen ist. Erst in Ansätzen ist eine solche demokratische Geschichtsbetrachtung unter uns zu beobachten. Um hier weiterzukommen, nenne ich einige Beispiele aus dem nicht gerade geringen Arsenal freiheitlicher deutscher Geschichte, soweit diese noch immer vernachlässigt wird:

Die Zunftauseinandersetzungen seit dem ausgehenden Mittelalter leben nur in verborgenen Spezialuntersuchungen. Der Bauernkrieg von 1525 wird bei uns üblicherweise im Zusammenhang mit der Reformationsgeschichte nur am Rande behandelt. Dem entspricht es, daß in den illustrierten Büchern, die fast alle Städte und Landkreise zu ihrem Ruhme herausgeben, der Vorgänge im Bauernkrieg selbst dann nur flüchtig und oft abschätzig gedacht wird, wenn der Bauernkrieg in ihren eigenen Bereichen eine Rolle spielte. Oder: Im Hotzenwald, im südlichsten Schwarzwald, leben Nachkommen der Untertanen der ehemaligen reichsunmittelbaren Abtei St. Blasien, die sich in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wiederholt gegen den Fürstenabt erhoben haben und niedergeschlagen wurden. Heutige Hotzenwälder wissen von ihren Vorfahren oder von der Geschichte ihrer Höfe so gut wie nichts. Kurzum: Wird solches und vieles andere unter uns einfach zugedeckt und vergessen, weil doch unser Grundgesetz jetzt gewährleistet, wofür Vorfahren gekämpft und gelitten haben? Dann wären es in der Tat nur fremde Siegermächte aus zwei Weltkriegen, die uns demokratisch gemacht haben. Unsere Demokratie kann aber nur dann Bestand haben, wenn wir uns in sie hineinleben und der eigenen Wurzeln gedenken, die sie bei uns hat.

Den deutschen Jakobinern wendet sich die geschichtliche Forschung jetzt auch bei uns endlich zu. Aber was weiß die Öffentlichkeit eigentlich von ihnen, was wird in den Schulen von ihnen erwähnt? Welcher Mainzer Bürger hat schon einmal vom Jakobinerclub seiner Stadt gehört und von der Mainzer Republik des Jahres 1792? Wer kennt den Hamburger Jakobiner Heinrich Würzer, der 1784 für vaterländisches Weltbürgertum und freiheitliche Aufklärung stritt, oder wer weiß et-B was von den vielerlei demokratischen Bewegungen, die durch die Französische Revolution in Deutschland ausgelöst wurden? Wie viele Bremer Bürger kennen den Aufstand der Stedinger Bauern im 13. Jahrhundert, die schließlich dem Bremer Erzbischof unterlagen? Noch immer vernachlässigt wird das Jahr 1849, der Aufstand der Bürger im westdeutschen Industriebereich, die pfälzische Erhebung für die Reichsverfassung der Paulskirche und die badische Revolution. Einiges davon ist neuerdings ans Licht gehoben worden. Aber wir brauchen viel mehr orts-und landesgeschichtliche Erforschung der Freiheitsbewegungen und müssen auch die Nachklänge der 1848/49er Vorgänge aufgreifen, die über die frühen Arbeiterbildungsvereine und die ersten Gewerkschaften bis an unser Jahrhundert reichen. Die Geschichte der Arbeiterbewegung ist noch immer ein Sonderthema für Gewerkschaften und Sozialdemokraten. Auf der anderen Seite liegt das Vorspiel der Revolution von 1848/49 ganz besonders im Verborgenen. Dieser sogenannte Vormärz ist erfüllt von sozialer und politischer Kritik an den bestehenden, von Metternich und einem reaktionären Bundestag bestimmten Verhältnissen. Da gibt es z. B.den politischen Schriftsteller Robert Prutz (1816— 1872), dessen Lebensweg durch Erlasse gegen Radikale und durch reaktionäre Zensur bestimmt war. Gleichwohl konnte sich Prutz dank seiner Unbestechlichkeit und Unbeirrbarkeit literarisch Geltung verschaffen. Seine Werke ebenso wie andere Texte zum Vormärz werden jetzt neu herausgebracht.

Nicht alles, was aus diesem oder jenem Grunde unseren Beifall findet, verdient deswegen auch den Namen einer Freiheitsbewegung. So etwa die Freiheitskriege um 1813 und nicht einmal pauschal der gewiß überaus mutige Staatsstreichversuch vom 20. Juli 1944. Die Freiheitskriege schlugen einen fremden Eroberer aus dem Lande; sie änderten nichts an den überkommenen gesellschaftlichen Gebundenheiten im eigenen Bereich. Der Staatsstreich gegen Hitler verband aufrechte Frauen und Männer von rechts bis links gegen nationalsozialistisches Verbrechertum. Was bei einem Erfolg weiterhin geworden wäre, war selbst unter den Beteiligten umstritten. Das ändert natürlich nichts daran, daß allen Beteiligten am 20. Juli 1944 unser hoher Respekt gebührt.

Freiheit bedarf der ständigen Verteidigung gegen Mißbrauch. Sie war stets und ist auch heute in Gefahr, zum unverbindlichen Schlagwort entfremdet und entwürdigt zu werden. Nahezu alle Gewaltherrschaft, die vielen Rückschrittlichen, aber auch irregeleitete angebliche Revolutionäre berufen sich auf die Freiheit, um ihre wahren Ziele zu verschleiern, und leider finden sie immer wieder gläubige Gefolgschaften. Wir erleben es täglich aufs neue.

Dringend brauchen wir daher ein klares, hieb-und stichfestes Verständnis vom Wesen bürgerlicher Freiheit. Mir erscheint wichtig, jeweils zu prüfen, für wie viele Menschen in jedem einzelnen Fall Freiheit erstrebt wurde, ob nur für den Staat im Sinne außenpolitischer Handlungsfreiheit, ob nur für einen Stand oder eine Klasse zur freien Befriedigung ihrer Interessen, ob nur für eine kleine Gruppe im Dienste ihrer Machtgelüste oder wirklich für alle, für die ganze Gesellschaft mit dem Ziel der Mitbestimmung und ohne Unterdrückung von Minderheiten. Ohne den Schutz von Minderheiten ist Freiheit nur ein leeres Wort.

Das war es, was auch Lessing meinte, als er 1769 an den Schriftsteller und Buchhändler Friedrich Nicolai über die Berlinische Freiheit unter dem großen Preußenkönig folgendes schrieb: „Sie reduziert sich einzig und allein auf die Freiheit, gegen die Religion soviel Sottisen zu Markte zu bringen als man will. Und dieser Freiheit muß sich der rechtliche Mann nun bald zu bedienen schämen. Lassen Sie es aber doch einmal einen in Berlin versuchen, über andere Dinge so frei zu schreiben, als Sonnenfels in Wien geschrieben hat; lassen Sie es ihn versuchen, dem vornehmen Hofpöbel so die Wahrheit zu sagen, als dieser .. sie ihm gesagt hat; lassen Sie einen in Berlin auftreten, der für die Rechte der Untertanen, der gegen Aussaugung und Despotismus seine Stimme erheben wollte, wie es jetzt sogar in Frankreich und Dänemark geschieht; und Sie werden bald die Erfahrung haben, welches Land bis auf den heutigen Tag das sklavischste Land von Europa ist. Ein jeder tut indes gut, den Ort, in welchem er sein muß, sich als den besten einzubilden; und der hingegen tut nicht gut, der ihm diese Einbildung nehmen will." >>III.

War für Lessing vor 200 Jahren die preußisch-berlinische Freiheit soweit eingeschränkt, daß sie zur bloßen Kritik an der Religion entartete, so erfuhr neun Jahrzehnte später in der Zeit eines ersten Höhepunktes industrieller und kapitalistischer Entwicklung der — heute noch wenig bekannte — radikale westdeutsche Demokrat Friedrich Albert Lange, welche großen Widerstände sich dem entgegenstellen, der soziale und politische Veränderungen herbeiführen will.

Lange, der bisher lediglich als neukantianischer Philosoph bekannt war, hatte 1858 am Duisburger Gymnasium eine Tätigkeit als Lehrer aufgenommen. Wenige Jahre später, 1861, sah er sich gezwungen, im preußischen Verfassungskonflikt über die Zuständigkeit der Volksvertretung für die Ausgaben des Militärs Partei zu ergreifen. Das blieb nicht ohne Folgen, wie der im folgenden beschriebene Hergang der Dinge zeigt:

Am 16. Januar 1862 brachte das Provinzialschulkollegium in Koblenz einen Erlaß heraus, der die Lehrer vor politischer Agitation warnte. Lange veranlaßte daraufhin eine außerordentliche Lehrerversammlung, in der erklärt wurde, der Erlaß der Schulbehörde sei ein wohlmeinender Rat, an den man sich aber nicht zu halten gedenke. In einer Schulfeier zum Geburtstag des Königs am 22. März 1862 hielt Lange eine Rede, in der er u. a. feststellte: „Wollen wir Bürger bilden, — vergeblich werden wir bei der Lektüre der Alten, vergeblich bei geschichtlichen Vorträgen, vergeblich im Religionsunterricht auf die hohen Pflichten dieses Standes hinweisen, wenn wir nicht vor allem selbst Bürger sind"

Am gleichen Tage erschien der Erlaß des Preußischen Innenministers von Jagow, durch den die Beamten zur Mitwirkung am Wahlkampf zugunsten der konservativen Regierung . aufgerufen wurden. Diesen Erlaß beantwortete Lange mit einem Leitartikel in der

IV.

Für Lange war die Verfassungsfrage Angelpunkt allen politischen Bemühens. An ihr entscheidet sich bis in die Gegenwart hinein der geschichtliche Fortschritt — und zwar in dreierlei Hinsicht. Zunächst einmal ist die Duisburger „Rhein-und Ruhrzeitung" vom 27. März 1862. Dort ist u. a. zu lesen: „Der Erlaß des Herrn von Jagow enthält eine Stelle von so bedenklicher Art, daß ich die Wirkung derselben im ganzen gewiß als eine dem Zwecke gerade entgegengesetzte herausstellen muß. Wir meinen die Worte: . Jedenfalls würde es mit der Stellpng eines Königlichen Beamten unvereinbar sein, wenn er soweit ginge, sich — uneingedenk des Sr. Maj.dem Könige geleisteten Eides seiner Treue — in einem der Regierung feindlichen Sinne bei Wahlagitationen zu beteiligen.'Diese Stelle scheint den Versuch zu enthalten, im Bewußtsein der großen Masse der Beamten den Unterschied zwischen ihrem immer gleich verehrten Könige und dessen jetzt zufällig das Ruder führenden Diener zu verwischen . .. Die Verfassung gibt aber auch dem Beamten das volle Bürgerrecht." Die „Rhein-und Ruhrzeitung" wurde für diesen Leitartikel verwarnt.

Einige weitere Erklärungen und Artikel Langes, insbesondere zur Verfassungsfrage, führten dazu, daß er von einem Ministerialkommissar vernommen wurde und zusammen mit seinem Kollegen Köhnen vom Königlichen Provinzialschulkollegium einen Verweis erhielt, in dem ihm seine Kritik an der Finanzverwaltung des Staates und Beteiligung an Parteiagitationen zur Last gelegt und „Mangel an gereiftem Urteil" bescheinigt wurden. Lange veröffentlichte Teile dieses Verweises in der „Rhein-und Ruhrzeitung". Das löste eine Welle von Solidaritätsadressen aus. überraschend stellte Lange ein Gesuch auf sofortige Entlassung aus dem Schuldienst. Mit diesem Schritt hatte niemand gerechnet. Seine politischen Freunde und auch die Schulbehörde versuchten, Lange im Schuldienst zu halten. Dieser blieb jedoch bei seinem Entschluß und schrieb an seinen Freund Franz Weinkauff: „Bei mir hat die Politik der freien Hand wieder den Sieg davon getragen, und ich bin dessen froh; die Gegenwart ist mir zu wichtig."

Anerkennung und Durchsetzung einer Verfassung der entscheidende Schritt vom Absolutismus zur Demokratie. Sodann lassen sich verschiedene Verfassungen vergleichen; Fortschritt, Stillstand oder gar Rückschritt sind feststellbar wie z. B. zur Verfassungsgeschichte der Bundesrepublik die Weimarer Verfassung von 1919 und die Verfassung von 1848 gehören. Drittens ist nachzuprüfen, ob die jeweilige Regierung die Verfassung auch ein-hält. Staatliche Maßnahmen und gesellschaftliche Strukturen können an der Verfassung gemessen und müssen gegebenenfalls von der Verfassung her kritisiert werden. Auch wir erleben — ähnlich wie Lange vor hundert Jahren — eine sich verstärkende Gleichsetzung unseres gesellschaftlichen Lebens, so wie es stattfindet, mit der Verfassung selbst. Es wird mehr nach dem Staat als nach Demokratie gerufen. Auch heute werden wieder manche Vorschläge zur Verbesserung unseres demokratischen Zusammenlebens in den Verdacht der Verfassungsfeindlichkeit gerückt, obwohl sie in der Verfassung gründen und mit der Absicht vorgetragen werden, die Verfassungswirklichkeit am Verfassungsgebot auszurichten. Derartige Verdächtigungen führen zu Gesinnungsschnüffelei. Der Mut, öffentlich für eine Meinung einzustehen, sinkt. Amnesty International z. B. beklagt, daß immer weniger Menschen bereit sind, zu einem Protest gegen Folterungen auch nur ihre Unterschrift zu geben.

Die Zahl der politischen Gefangenen ist heute groß. In vielen Ländern, insbesondere in solchen der Dritten Welt, regt sich Widerstand gegen Unrecht und Unterdrückung. Das läßt die Machthaber zu oft brutalen Gegenmaßnahmen schreiten. Wir hören fast täglich von Freiheitsbewegungen; sie werden z. B. vom Weltrat der Kirchen mit Sympathie begleitet und unterstützt. In der Bundesrepublik Deutschland dagegen sind das Entwicklungen, die wir in ihrer Bedeutung vielfach erst erkennen, wenn es zu spät ist. Deutsche Terroristen, die sich fälschlich zu Anwälten dieser Bewegungen ernennen, sind auch hier wirksame Helfer derer, die von Freiheitsbewegungen nichts oder möglichst wenig hören mögen.

Um so deutlicher müssen wir daran festhalten, daß eine freiheitliche Gesellschaft auch bei uns eine Gesellschaft in Bewegung ist. Sie kann kein fertiger und ein für allemal bleibender Zustand sein. Ihre Weiterentwicklung muß bewußt betrieben werden, damit es nicht zu Rückfällen kommt. Wie schon erwähnt, erleben wir gegenwärtig eine sich verstärkende Gleichsetzung der Strukturen unserer Gesellschaft mit der Verfassung selbst. Der Staat soll wieder einmal als das hohe, über uns schwebende Etwas verstanden werden, das unabhängig von Parlamenten, Parteien und Volkssouveränität als ein Inbegriff von ausübender Gewalt besteht. Deshalb werden radikale Verfechter von Freiheit und Demokratie auch da in den Verdacht von Verfassungsfeindlichkeit gerückt, wo sie mit und aus der Verfassung heraus für bessere Freiheit und Demokratie eintreten. Das läßt an Parallelen zu Metternich denken. Ich meine, wir sollten dem nachdrücklich widerstehen.

Grundwerte wie Freiheit, soziale Gerechtigkeit und Solidarität müssen alle Bereiche unseres öffentlichen Lebens durchdringen. Vielfach müssen dabei aber Verkrustungen aufgebrochen werden. Dazu bedarf es auch radikaler, in die Tiefe der Probleme dringender Kritik. Solche Kritik muß nicht nur geduldet werden, sie soll auch erwünscht sein. Erinnert sei nur an die Artikel 14 und 15 des Grundgesetzes, die Eigentum mit sozialer Verpflichtung verbinden, oder an den Artikel 4, der Kriegsdienstverweigerung als Grundrecht schützt.

Wird nun aber radikale Kritik an der Verfassungswirklichkeit mit verfassungsfeindlichem Extremismus bewußt verwechselt, gilt es, Alarm zu schlagen. Wenn der radikale Verfassungsfreund nicht mehr vom Verfassungsfeind unterschieden wird, bleibt ihm oft nur die Wahl zwischen Resignation und Abmarsch ins Lager der wirklichen Feinde einer sich ständig erneuernden und weiterentwikkelnden freien und solidarischen Gesellschaft. Kritik, radikale Kritik bedarf des freien Marktes der Meinungen und Gegenmeinungen, um fruchtbar zu bleiben. Dazu gehört auch, daß man sich politisch irren oder gar verirren kann, ohne dafür nach Jahren zur Rechenschaft gezogen zu werden, zumal, wenn inzwischen die Irrtümer eingesehen und überwunden sind.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Friedrich Albert Lange — Leben und Werk, hrsg. von J. H. Knoll und J. H. Schoeps, Duisburg 1975, S. 60.

  2. Friedrich Albert Lange — Uber Politik und Philosophie, Briefe und Leitartikel 1862 bis 1875, hrsq. von Georg Eckert, Duisburg 1968, S. 383.

  3. Friedrich Albert Lange — Leben und Werk, a. a. O., S. 62.

Weitere Inhalte

Gustav W. Heinemann, Dr. jur., Dr. rer. pol., D., Dr. jur. h. c., Altbundespräsident, geb. 23. Juli 1899; Studium in Münster, Marburg, München, Göttingen, Berlin; Rechtsanwalt in Essen; Justitiar, Direktor und Vorstandsmitglied der Rheinischen Stahlwerke in Essen; Mitglied des Rates der EKD 1945— 1967; 1946— 1949 Oberbürgermeister in Essen; 1947— 1948 Justizminister in Nordrhein-Westfalen; 1949/50 Bundesinnenminister; 1966— 1969 Bundesjustizminister; 1969— 1974 Bundespräsident. Veröffentlichungen u. a.: Kassenarztrecht, Essen 1929 (4. Aufl. Berlin 1974); blandbuch des deutschen Bergwesens, Berlin 1938; Der Bergschaden nach preußischem Recht, Berlin 1941 (1961 3. Aufl.); Im Schnittpunkt der Zeit (Reden und Aufsätze), Darmstadt 1957; Verfehlte Deutschlandpolitik. Irreführung und Selbsttäuschung, Frankfurt 1966 (1970 3. Aufl.); Plädoyer für den Rechtsstaat (Reden und Aufsätze), Karlsruhe 1969; Allen Bürgern verpflichtet. Reden des Bundespräsidenten 1969— 1974, Frankfurt 1975; Glaubensfreiheit — Bürgerfreiheit (Reden und Aufsätze 1945— 1975), Frankfurt 1976; Das freie Wort im politischen Kampf der Demokratie. Gesamtbibliographie (wird von der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 1976, herausgegeben).