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Das Verhältnis von Programm und Pragmatismus in der politischen Praxis | APuZ 32-33/1976 | bpb.de

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APuZ 32-33/1976 Auftrag und Ethos der CDU Parteipolitik zwischen Machtstreben und Gemeinwohl Politik unter Sachzwängen — Gibt es noch politische Alternativen? Das Verhältnis von Programm und Pragmatismus in der politischen Praxis Artikel 1

Das Verhältnis von Programm und Pragmatismus in der politischen Praxis

Franz Josef Strauß

/ 32 Minuten zu lesen

Bei der Behandlung des mir zugedachten Themas gehe ich davon aus, daß ich darauf hoffen darf, daß grundsätzliche Überlegungen als grundsätzliche Überlegungen aufgefaßt und diskutiert und daß sie nicht den „idolis fori" (Bacon) und einem kurzfristigen Parteienstreit geopfert werden, ehe sie noch richtig ausformuliert worden sind.

Daß ich in meinem Selbstverständnis ein pragmatischer Politiker bin, brauche ich nicht weiter zu bekräftigen — und das läßt sich auch schlecht durch Worte belegen, sondern nur durch Handlungen. Ich sehe auch die Stärke der Union — bei allen organisatorischen Schwierigkeiten, die sich gerade aus einer solchen Haltung ergeben — darin, daß sie in ihrer ganz überwiegenden Mehrheit eine Partei der Pragmatiker und einer pragmatischen Politik ist. Aber nicht nur das: ich glaube, daß die Bundesrepublik — wenn wir von der jüngst vergangenen, inzwischen etwas verblassenden und hoffentlich nicht wiederkehrenden Periode des Messianismus und der ideologischen Überschwemmungen absehen — schon immer von Pragmatikern regiert worden ist, und daß wir unsere politische Handlungsfähigkeit nur sichern konnten und sichern können quasi durch eine Pragmatische Allianz quer durch die Parteien hindurch. Prinzipien des Pragmatismus Diese Pragmatische Allianz mag nur wenig sichtbar sein. Denn was uns ständig vor Augen geführt wird und was in einer primitiven Dramaturgie leicht dargestellt werden kann, das ist das Gegeneinander von Koalition und Opposition, das ist die Konfrontation von Personen und Programmen, das ist das politische Theater, und das ist nicht die politische Arbeit in den Vorständen und Ausschüssen, in den Behörden und Redaktionen. Das ist überall so, und es wäre nicht so schlimm, wenn nur die politisch Handelnden selbst immer wüßten, daß es in der Politik vorrangig um Entscheidungsprobleme geht und nicht um Darstellungsprobleme.

Eine Politik, der es um das in einer absehbaren Zeit mit bestimmbaren Kosten Machbare geht, ist notwendigerweise eine pragmatische Politik. Es ist aber ein typisch deutsches Problem, ein Problem unserer politischen Kultur (übrigens in Ost wie West, und darüber hinaus, insoweit wir Philosophen wie Hegel oder Marx mit erschütterndem Erfolg exportiert haben), daß diese Politik des Machbaren von vielen gar nicht als Politik angesehen wird oder für sie nur eine „schlechte" Politik ist. Unter der „eigentlichen" Politik stellen sie sich etwas ganz anderes vor, nämlich die Politik als ein heilsgeschichtliches Ereignis, als einen eschatologisch-apokalyptischen Vorgang, in dem jeder politische Akt schon ein Teil der Weltgeschichte ist — und „die Weltgeschichte ist das Weltgericht" (Hegel). Wenn auch niemand mehr davon spricht, daß es darum geht, das „Reich Gottes auf Erden" zu errichten (dieses Thema hat schon die mittelalterliche Theologie aufgearbeitet), so geistern die Säkularisate dieser politischen Theologie ja doch noch recht kräftig in verschiedenen Dogmatikerköpfen und Langzeit-programmen herum: sie sprechen von „historischen Notwendigkeiten" (und vom „historischen Kompromiß"); sie hoffen auf die „große Wende", der „Friede" wird eintreten; die „neue Gesellschaft" und der „neue Mensch" erscheinen am Horizont, von einer neuen „Lebensqualität" durchtränkt. Politik ist nach dieser Auffassung, wie es Hermann Lübbe sagt, „ideologische Geschichtsplanverwaltung". Im Vergleich dazu gilt dann eine Politik, die diesen totalitären Anspruch zurückweist, als „prinzipienlos": sie leidet an einem sog. „Theoriedefizit".

Das einzige Defizit, an dem eine pragmatische Politik leidet, ist jedoch nur ihre mangelnde Darstellbarkeit als eines Heilsdramas, das ist die mangelnde Programmatik des Nicht-Progammierbaren. Doch das ist kein Mangel der Politik, sondern ein Mangel des politischen Verständnisses bei ihren Kritikern — ein Mangel an historischer Bildung (und vielleicht auch an persönlicher Reife), dem man durch die Zerfällung der Politik in eine Ent-scheidungs-und Handlungspolitik einerseits und eine Darstellungspolitik andererseits grundsätzlich nicht begegnen sollte. Eine völlige Perversion wäre es, wenn Entscheidungen nur noch im Hinblick auf Darstellungsprobleme getroffen würden. Das ist aber weithin der Fall. Eine pragmatische Politik ist nicht theorielos I — wenngleich diese Theorie kein geschlossenes Lehrgebäude darstellt und sie ein als I „Theorie" verkleidetes Heils-und Erlösungswissen nicht bieten kann und will. Sie werden von mir an, dieser Stelle kein Philosophiekolleg erwarten. Dennoch werde ich I nicht umhinkönnen, in ein paar Punkten zu definieren, was ich — für meine politische Problemstellung — unter Pragmatismus verI standen wissen möchte.

Das erste Prinzip des Pragmatismus, wie ihn Peirce, James oder Dewey verstanden ha-I ben, ist wohl das der Untrennbarkeit von Ge-I danke und Handlung: die Bedeutung eines 'Gedankens ergibt sich tatsächlich erst aus ! seinen praktischen Konsequenzen. Das gilt I auch für politische Konzepte: nur die Ermitt9 lung der praktischen Realisationsbedingun-I gen, der wahrscheinlichen Folgen und Nebenfolgen, kann Klarheit in ein politisches Kon! zept bringen, und nur die Realisierbarkeit entscheidet über seine Fruchtbarkeit. Die i Schönheit eines Gedankens und die Güte der Absicht, mit der er den anderen aufgezwun-'gen wird, sagt noch nichts über seinen politischen Wert. Im Gegenteil, wir haben von den l schönen fixen Ideen und vom Schaden, den die ach so „guten" und selbstgerechten Menschen anrichten, allgemach genug. Die Politik hat weder mit dem historisch Notwendigen zu tun — wir kennen es einfach nicht: das „Notwendige" der Geschichte ist in der Regel nur das Fiktum von Leuten, die ihren exklusiven Herrschaftsanspruch und die Aufopferung der Gegenwart mit einer Zukunft rechtfertigen wollen, die auch sie nicht kennen —; Politik ist aber auch nicht einfach „die Kunst des Möglichen", wenn man unter dem Möglichen f „alles Mögliche" versteht. Politik ist die Kunst des Realisierbaren, die Kunst des in einer gegebenen Situation mit bestimmten Mitteln mit hinreichender Wahrscheinlichkeit Realisierbaren. Diese Kunst besteht u. a. darin, das berechtigte langfristige Interesse des Gegners nicht zu verletzen und das eigene Interesse zu fördern. Das ist eine ziemlich asketische Kunst, eher auf das kleinere Übel ausgerichtet als auf die schöne Utopie.

Ein zweiter Punkt ist, daß sich die Wirklichkeit— auch und gerade die politische Wirklichkeit — dauernd im Fluß befindet, daß sie „in the making" ist. Politik ist ein offener Prozeß. Mit jedem Akt verschieben sich die Wahrscheinlichkeitswerte der politischen Alternativen. Das wichtigste Gebot ist, den politischen Prozeß offenzuhalten, keine Endlösung anzustreben; nichts zu tun, was Handlungsalternativen ausschließt, ohne neue zu eröffnen; alles zu tun, um das „Spiel" aufrechtzuerhalten. Die Zukunft hat immer schon begonnen, und sie beginnt nicht erst übermorgen: sie beginnt nicht erst, nachdem tabula rasa gemacht worden ist. Dann beginnt nichts mehr, was sinnvoll wäre. Der Wandel kann nur schrittweise vor sich gehen. Die totale Umwandlung einer politischen Ordnung ist eine Fiktion oder ein Verbrechen.

Drittens: Politik wird im Handeln und nicht durch Reden erzeugt. Handeln ist nur im Verbund mit anderen möglich, während man beim Reden auch monologisieren kann — und nur im Monologisieren kann man sich im Besitz der Wahrheit dünken. Der Pragmatismus geht von der Fehlbarkeit der menschlichen Vernunft aus; und denen, die regieren, ist im Prinzip nicht mehr Vernunft zuzuschreiben als denen, die wählen. Die politische Ordnung muß dieser Fehlbarkeit Rechnung tragen. Weil die Vernunft des Menschen begrenzt ist und er somit nur ein begrenztes Handlungsfeld übersehen kann, ist die beste institutioneile Ordnung immer noch eine pluralistische Ordnung, in der die unvermeidlicherweise verschiedenen Interessen — möglichst in einem rationalen und gewaltlosen Interessen-vergleich — ausgetragen und gegeneinander ausgewogen werden können. Das Ziel einer pragmatischen Politik ist die Handlungsfähigkeit und nicht das Rechthaben, also eher das Recht-bekommen, als das Recht-haben. Weil der pragmatische Kompromiß regelmäßig weit unter der Schwelle der ideologischen Fixierungen und der publizierten Meinung zu finden ist, sind Programme in einer pragmatischen Politik nur von sekundärer Bedeutung. Jede überspannte Programmatik verdummt.

Rechtfertigung einer pragmatischen Politik in der gegenwärtigen Situation

Damit bin ich schon inmitten meines Themas, und ich könnte versuchen, nun die Grundzüge einer pragmatischen Politik darzulegen, um dann die Funktion politischer Programme in einer solchen Politik zu bestimmen. Um mich nicht dem Vorwurf auszusetzen, daß ich den Pragmatismus nur postuliere, möchte ich vorher aber noch eine Rechtfertigung des Pragmatismus aus der gegebenen politischen Situation vorausschicken. Denn der Pragmatismus findet seine Begründung nicht in sich selbst — keine Politik ist an und für sich gut oder schlecht. Es hängt davon ab, was man will, und welche anderen Alternativen sich anbietep. Ich will nicht behaupten, daß eine pragmatische Politik die einzig mögliche Politik ist. Wer auf Welteraberung aus ist und sich stark genug glaubt, alle anderen picht nur durch seine physische Zerstörungsgewalt bezwingen, sondern sie auch geistig beherrschen zu können, der wird sich einer messianisch-totalitären Politik verschreiben; und wer am Rande des Existenzminimums lebt, wer sozusagen aus der Geschichte herausgefallen ist, der wird zu einer pragmatischen Politik nicht mehr fähig sein: er wird, zwischen Opportunismus und Rebellion hin-und hergerissen, sich nur noch reaktiv verhalten können.

Nach meiner Auffassung gibt es jedoch keine vernünftige Alternative zu einer pragmatischen Politik, vorausgesetzt, man will eines: die Vielfalt des politischen Lebens, die freie Entfaltung der menschlichen Anlagen und Fähigkeiten, den freien Austausch und die offene Auseinandersetzung mit den anderen, die Offenheit der Zukunft; vorausgesetzt auch, man hat die Freiheit und den Spielraum, dies wollen zu können. Wir haben diesen Spielraum noch, und wir sollten ihn durch eine dezidiert pragmatische Politik zu erhalten versuchen. Eine pragmatische Politik ist nur möglich in einer Situation des einigermaßen gewahrten äußeren und inneren Gleichgewichts und bei einer ruhigen und kontinuierlichen Entwicklung, die die starken Ausschläge des emotionalen Überschwangs einerseits und der Erstarrung und Inflexibilität andererseits meidet. Umgekehrt kann nur in einer pragmatischen Politik eine ruhige und ausgewogene Entwicklung gewährleistet werden.

Ich will nun nicht behaupten, daß die Chancen einer pragmatischen Politik — bezogen auf die gegenwärtigen Gefährdungen der Weltpolitik — besonders gut sind. Aber ich behaupte, daß wir bald völlig handlungsfähig sein werden, wenn wir — außenpolitisch wie innenpolitisch — nicht eine entschiedene pragmatische Wende vollziehen — eine Wende allerdings, die in den späten siebziger Jahren anders aussehen muß als in den fünfziger Jahren. Denn unser damaliger Pragmatismus war — so schwer es auch gewesen ist, sich aus den rückwärts gewandten Dogmatismen zu befreien, die sich aus dem historischen Vakuum des Zusammenbruchs ergaben (ich denke z. B. an die Einführung der sozialen Marktwirtschaft) — sozusagen ein Pragmatismus mit beschränkter Haftung: wir hatten für uns selbst zu sorgen, wir hatten die großzügige Hilfe und Unterstützung der Amerikaner; wir waren zwar ein weltpolitischer Faktor, aber wir wären kein weltpolitischer Aktor. Heute ist es anders. Wir sind zwar auch heute keine Weltmacht — zu unserem Glück—, aber heute sind wir aufgerufen, Stellung zu beziehen.

Auf unsere Stimme kommt es an: politischer Messianismus oder Pragmatismus, das scheint heute die grundlegende Entscheidung zu sein. Dies gilt nicht nur für uns — die wir infolge unserer weltweiten oder überregionalen politisch-ökonomischen Verflechtung alleine kaum eine Entscheidung treffen können, sondern es gilt ebenso für die Sowjetunion oder die Vereinigten Staaten, und nicht zuletzt gilt es für China und für viele Länder der soge-nannten Dritten Welt.

Ich will dies in einigen Punkten erläutern.

a) Entwicklungskrise: Das ,, überraschungsfreie" Elend Wir sind tatsächlich in eine Politik unbeschränkter Haftung eingetreten. Man mag die Studie des „Club of Rome" (und eine Menge anderer Nachfolgestudien) für überzogen halten, man mag ihre Extrapolationen methodologisch für unzulässig und für naiv ansehen; aber es ist kaum zu bestreiten, daß wir an einem säkularen Wendepunkt stehen und daß wir — wenn wir uns auf eine „überraschungsfreie" Prognose beschränken und von anderen möglichen Katastrophen absehen — einer weltweiten Entwicklungskrise entgegengehen. Es steht heute test, daß die Massen-KonsumGesellschaft, wie sie im Westen realisiert worden ist und wie sie im Sozial-Industrialis-mus — sozusagen knapp vor Torschluß — noch mit größter Verbissenheit angestrebt wird, keine lebens-und entwicklungsfähige Gesellschaftsform mehr ist, und daß diese Gesellschaftsform in keiner Weise — trotz der von der UNO genährten Illusionen — auf die heutigen Entwicklungsländer zu übertragen ist.

Die Kosten einer sich selbst tragenden Industrialisierung sind höher geworden und nicht niedriger, und die in einigen Punkten sich heute schon abzeichnende Rohstoffknappheit treibt diesen Preis nur noch in die Höhe.

Dazu kommt, daß die Bevölkerungslawine vor allem in der Dritten Welt nicht mehr zu halten sein wird. Selbst bei konservativen Schätzungen wird die Erdbevölkerung im Jahre 2000 über 6 Mrd. und im Jahre 2040 15, 5 Mrd.

Menschen umfassen. Die „grüne Revolution"

ist in vielen Ländern nicht im notwendigen Umfang zu organisieren, und ein Massensterben ist durch Geschenke an Nahrungsmitteln nicht zu verhindern. Es kann nur um einige Jahre aufgeschoben werden, die soziopolitischen Kosten werden aber nur noch höher sein.

Auf der anderen Seite stehen die entwickelten Industrienationen, die durch eine sich be-schleunigende technologische Höherentwicklung versuchen werden, sich dem Rohstoff-mangel zu entziehen und die Gefahren der Luftverschmutzung und der Wasserverseuchung sowie der Anfüllung der Umwelt mit karzinogenen und mutagenen Stoffen zu vermindern. So unlösbar alle diese Probleme erscheinen oder sind, und so sehr sich die Positionen der armen Agrarländer und der reichen Industrieländer voneinander unterscheiden, so kann man doch mit Sicherheit sagen, daß es eine messianistische Globallösung nicht geben wird. Weder wird uns das Modell der einen und gleichen Weltgesellschaft weiterbringen, noch wird die propagierte Weltrevolution oder ein weltweiter Terrorkrieg auch nur einer dieser Ländergruppen etwas helfen können. Der bisher größte und mißlungene Versuch einer weltweiten Einheitslösung ist bekanntlich die Entwicklungshilfe, wie sie in der UNO-Charta in San Francisco (1945) und wie sie im Anschluß daran im sogenannten Point Four Program des amerikanischen Präsidenten gefordert und dann auch in Gang gesetzt worden ist. Die „soziale Weltgerechtigkeit" ist zwischen Truman und McNamara nicht hergestellt worden, der Kommunismus ist nicht eingedämmt worden. Im Gegenteil: die Abstände haben sich vergrößert, und dem Kommunismus hat man — indem man unerfüllbare Erwartungen geweckt hatte — erst zu seiner weltweiten Ausbreitung verhülfen; denn dieser säkularisierte Messianismus verspricht, obwohl er es auch nicht kann, die geweckten Erwartungen zu erfüllen. Auch die Revolutionstheologie der christlichen Kirchen, die das Recht der — angeblich von uns — Entrechteten predigt, liegt auf derselben Linie. Die aus ganz anderen Motiven begründete Ablehnung der Geburtenkontrolle und selbst humanitäre Hilfsmaßnahmen dienen vielfach nur einer zynischen Erpressungsund Machtpolitik. Wie wenig die Sowjetunion an der Entwicklungshilfe und an einer authentischen Entwicklung der von ihr unterstützten Länder interessiert ist, das zeigt sie durch ihren minimalen Kapitaleinsatz und durch das Auftreten ihrer Militärberater; wie sehr sie an der Ausdehnung ihres Einflußbereiches und ihrer strategischen Basis interessiert ist, das zeigt sie durch ihre militärische Präsenz und die Größe ihrer Waffenlieferungen. Wenn auch ein weltweiter Zerstörungskrieg nicht auszuschließen ist, eine weltweite Lösung der Entwicklungs-, der Rohstoff-und Umweltprobleme steht weder für die Entwicklungsnoch für die Industrieländer in Aussicht. Unsere Verantwortung zeigt sich in einer solchen Situation nicht an der Größe unserer Pläne, auch nicht an der Emphase der zum Ausdruck gebrachten Verzweiflung, sondern einzig und allein an unserem Realitätssinn und an dem Willen, das in unserem Bereich Machbare zu tun. Was uns hier helfen kann, ist nur eine pragmatische Politik, d. h. eine Lösung durch eine schrittweise Problemauflösung (und nicht durch eine heillose Problem-verwirrung), durch die Betonung der Prinzipien der Subsidiarität, der Selbstverwaltung und Selbstentwicklung (und nicht der Prinzipien einer ferngesteuerten Zentralverwaltung). Sicher, auch mit einer pragmatischen Politik sind keine Wunder zu vollbringen.

Das Gute ist, daß der Pragmatiker dies weiß, daß unter großen lOpfern nur Teillösungen zu erreichen sind. Die Chance, daß diese Teillösungen halten, ist jedoch weitaus größer als die, daß der Große Sprung nach vom zum Erfolg führt: sie strukturieren die Probleme und sie fügen sich langsam zu einem organischen Ganzen zusammen. Eine Wende zu einer pragmatischen Entwicklungspolitik ist sowohl bei den Großmächten wie bei den von diesen Großmächten abhängigen Ländern unverkennbar. Man kann nur bedauern, daß sie nicht schon früher eingesetzt hat.

b) „Ddtente"

Die pragmatische Wende zeigt sich auch an der Entwicklung der Detente, die einmal ebenso „messianisch" angelegt war, so aber nicht mehr fortzuführen ist. „Messianisch" muß man dieses Konzept deshalb nennen, weil beide Supermächte glaubten, dadurch die Probleme mit einem Schlag und für alle verbindlich lösen zu können: die Sowjets, indem sie durch die Detente sich Zugang zu westlicher Kapitalhilfe und westlichem technologischen Wissen verschafften; zugleich aber auch, indem sie die divergenten nationalen Kommunismen mit Hilfe dieses Privilegs zu zentrieren und zu kanalisieren versuchten; die Amerikaner, indem sie sich aus der Vereinfachung der weltpolitischen Beziehungen und der Aufwertung der Sowjetunion, aber auch aus der Belieferung mit westlichen Gütern; einen mäßigenden und schließlich zum Frieden führenden Einfluß versprochen hatten. Die Detentß ist nicht am Ende, aber sie erweist sich doch als funktional sehr begrenzt. Die Detente ist nämlich nun ein negatives Konzept; sie kann bestenfalls — und auch das ist inzwischen fraglich geworden — den Atomkrieg verhindern (oder die Atomschwelle heben); sie zeigt aber weder für die USA noch für die ÜdSSR einen Weg zu einer produktiven Weiterentwicklung.

Den deutlichsten Test der sowjetischen Einstellung zur Detente brachte wohl der Yom-Kippur-Krieg vom Oktober 1973, in dem sich zeigte, daß die Sowjets nicht nur keinen der Artikel aus dem Gipfelabkommen vom 29. Mai 1972 (mäßigend zu wirken, die Amerikaner zu informieren, usw.) eingehalten hatten, sondern daß sie im Gegenteil zum Krieg ermuntert haben, drei Wochen vorher riesige Mengen von Munition geliefert, den Luft-transport mit nordkoreanischen und nordvietnamesischen Piloten organisiert haben und eine in dieser Massierung bisher nicht gesehene Seestreitkraft auffahren ließen. Hätten die Amerikaner nicht in letzter Minute ihre gesamten Streitkräfte in den Alarmzustand versetzt, dann hätten 7 Divisionen sowjetischer Truppen mit 50 000 Mann einseitig als sog. „Polizeitruppe''direkt in den Krieg eingegriffen. Wie sich Detente und Intervention für die Sowjets verbinden, das zeigte sich ebenso in Angola und wird sich noch anderswo zeigen.

Während die Sowjetdiplomatie mit der Detente beschäftigt ist, hat sich der Kreml nicht abhalten lassen, seine Streitkräfte in einem erheblich größeren Tempo aufzubauen und in einer größeren strategischen Breite zu verteilen als die USA und die anderen NATO-Staaten, die im Gegenteil auf Abbau bedacht sind.

In der Kuba-Krise vom Oktober 1962 hat die atomaren Rückzieher Sowjetunion einen gemacht, nur um seine atomare Streitkraft beschleunigt auszubauen und um weltweit noch höhere Ziele zu verfolgen als vorher. Seit der Chruschtschow-Ära ist die Reichweite auch der konventionellen Streitkräfte — durch eine immense Kapazitätserhöhung des Luft-transports über weite Strecken, durch die Expansion der Marine, durch amphibische Landefahrzeuge — bedeutend erhöht worden.

Noch bedrohlicher ist vielleicht das offensive Potential in Mitteleuropa, das sich ebenfalls erheblich erhöht hat. Warum sollte das Sowjetregime knappe und äußerst kostbare Mit-• tel für den Aufbau einer globalen Interventionsmacht aufwenden, wenn sie niemals versuchen wollte, politisches Kapital aus dem Einsatz dieser knappen Mittel zu schlagen?

Aber selbst die rein negative Zielsetzung der Detente ist gefährdet, wie die zur Farce entarteten SALT-Abkommen zeigen. Die Begrenzung beispielsweise auf 1320 MIRV-Raketen besagt gar nichts, solange die UdSSR eine Inspektion an Ort und Stelle nicht zuläßt, bei der festgestellt werden könnte, wie viele atomare Sprengköpfe eine Rakete nun tatsächlich trägt. Die Diskussion um die „Cruise Missiles" einerseits und die „Backfire" andererseits zeigt, daß beide Seiten durch die ständige technische Vervollkommnung, z. B. schon durch eine Erhöhung der Zielgenauigkeit, ihre tatsächliche Schlagkraft weiter zu erhöhen suchen. Die Büchse der Pandora bleibt geöffnet, ein technologischer Durchbruch auf der einen wie anderen Seite ist stets möglich.

Es besteht also kein Grund, übertriebenen Optimismus in eine globale Detente zu setzen. Die Importe an wirtschaftlicher und technologischer Hilfe im großen Maßstab spiegeln lediglich das Versagen der sowjetischen Wirtschaft und Wissenschaft wider, das zu produzieren, was für eine moderne und entwickelte Gesellschaft erforderlich ist. Dieser Mangel wird z. T. durch die völlig überproportionalen Rüstungsausgaben, z. T. aber auch durch strukturelle und organisatorische Schwächen bedingt, die nur durch einen Umbau der Gesellschaft vermindert werden könnten. Zu diesem Umbau aber ist die Sowjetunion nicht imstande. Der Import von Kapital und fortschrittlicher Technologie ist daher ein Surrogat der innersowjetischen Liberalisierung und Modernisierung. Gerade weil der unumgängliche Kontakt mit dem Westen das sowjetische System zu modifizieren droht, wird der ideologische Kampf verstärkt und werden die Schrauben angezogen.

Die Sowjets können eine Detente, die zu einer inneren funktionalen Differenzierung und die zu einer Pluralisierung ihres Umfeldes führen müßte, nicht ertragen. Ihr Leitbild ist und bleibt das der Blockhomogenität und der mechanischen Kohäsion, d. h. aber schließlich: der Polarisierung in einem bipolaren Kräftefeld (die Gefahr einer Kollision zwischen den USA und der UdSSR schließe ich aus). Dieses Bedürfnis nach Homogenität und Überschaubarkeit ist weitgehend mit dem Herrschaftsmonopol einer Kaderpartei und mit der konspirativen Ideologie der Kommunisten zu erklären. Sie können nicht anders, aber der Westen kann anders. Unsere Chance ist das gemischte (freilich komplexe und schwer durchschaubare) internationale System, in dem Verbündete und potentielle Gegner miteinander in einem Netzwerk der Zusammenarbeit — jedoch einer funktional genau geregelten und streng zweiseitigen Zusammenarbeit — verbunden sind, in dem die Konfliktlinien aber auch klar und deutlich gezogen sind. Es geht hier um ein System der mehrseitigen und der spezifischen Allianzen, wie es Bismarck zu etablieren suchte und wie es Kissinger — bisher, weil mit zu vie-len Illusionen befrachtet, ohne durchschlagenden Erfolg — nachahmen möchte. Der entscheidende Angelpunkt einer solchen Politik ist China, das von den die Rechtgläubigkeit für sich beanspruchenden Sowjets als Abtrünniger angesehen wird, das wohl kommunistisch bleibt, das aber nicht, bereit sein wird, seine auch atomar zu verteidigende Unabhängigkeit jemals wieder aufzugeben.

Das international gemischte System aber bedingt eine pragmatische Politik, d. h. nicht eine grenzenlos opportunistische, gegenüber jeder Drohung nachgiebige Politik, sondern im Gegenteil eine Politik ohne Vorleistungen, eine Politik zwar der offenen Allianzen und der Duldung von Ambivalenzen, jedoch stets auf der unbedingt gesicherten Basis einer realistischen (d. h. machtmäßigen und nicht nur vertragsmäßigen) Existenzsicherung, der strikten Wechselseitigkeit und der unnachgiebigen Forderung nach freiem Gedankenaustausch. Das ist eine Politik, die schließlich der europäischen Vielfalt gerecht wird, die aber auch den USA möglich sein wird, die mit der Niederlage in Vietnam eine dreißigjährige Periode einer missionarischen Politik beendet haben und die darauf verwiesen sind, sich in einer pragmatischen Weise neu zu orientieren. Wer pragmatisch handeln will, der ist jedoch auf aktive Partner angewiesen; so kommt es an diesem Wendepunkt ganz entscheidend auf unser eigenes Verhalten an. c) „Demokratie"

Was im außenpolitischen Bereich gilt, das gilt weithin auch im innenpolitischen Bereich: wir müssen von den utopischen Demokratievorstellungen zurückkehren zu einer handlungsmäßig realisierbaren Demokratie, von einer Politik des globalen Wandels und der großen Zukunftsverheißungen zu einer Politik der machbaren Reformen, die nicht nur finanzierbar, sondern die in ihren Konseguenzen auch noch überschaubar und mit den verfügbaren Organisationsmitteln zu steuern sind. Der große Aufbruch in eine ungeahnte Zukunft ist vorbei. Die Frage ist längst nicht mehr, was man alles machen könnte, kaum noch, was man machen soll, vielmehr, was man machen muß und wie man es machen kann. An die Stelle großer Zukunftsvisionen tritt der Versuch der Abwendung der prognostizierbaren Katastrophen. Auch durch zweckoptimistische (offizielle und inoffizielle) Fehlprognosen am laufenden Band läßt sich nicht mehr verschleiern, daß der sozialpolitische Handlungsspielraum sich ganz erheblich verkleinert hat.

Diese Einengung ist nicht zuletzt das Ergebnis eines geradezu subversiv gebrauchten Demokratiebegriffs und einer auf Massenmobilisation ausgerichteten Demokratiepolitik. Diese Massenmobilisation ist weitgehend erreicht worden — bis in den Betrieb und die Schulklasse hinein. Was sie gebracht hat, ist aber nicht die gesteigerte Partizipation der Bürger an der Politik, sondern es ist die Durchsetzung der gesteigerten Ansprüche derjenigen gewesen, die über die besseren Organisationsmittel verfügten. Es sind die mächtigen gesellschaftlichen Gruppen, die ihren Vorteil daraus zogen, nicht der einfache Bürger als Verbraucher, als Wahlbürger oder als Steuerzahler. Die Ansprüche auf Lohnzuwachs, soziale Sicherung, auf Gesundheitsvorsorge, Arbeitsplatzgarantien, Umschulungskosten, Ausbildungsplätze (und möglicherweise auf Eliteposten) sind vor allem bei denen gestiegen, die —-dank der hinter ihnen stehenden Verbände — ohnehin am besten gesichert sind. Die Anforderungen an den Staat werden immer selbstverständlicher und größer; von der Sozialpflichtigkeit des privaten Eigentums wird viel gesprochen, aber von der gesellschaftlichen Verantwortung der im Namen der politischen Öffentlichkeit auftretenden Interessenverbände ist keine Rede. Der Handlungsspielraum einer demokratischen Regierung ist dadurch nicht größer, sondern kleiner geworden; durch die Reform-euphorie ist genau das Gegenteil von Reform, nämlich ein Anspruch auf Unbeweglichkeit und einen schon leicht parasitären Sozialkonsum etabliert worden. Das läßt sich auch durch die schönklingende, aber biedermeierliche Formel von der „Lebensqualität" nicht mehr verschleiern. Wir werden uns an eine Demokratie gewöhnen müssen, die auch ohne steigenden Sozialkonsum funktionsfähig bleibt, eine Demokratie, deren Unterstützung (oder auch bloße Duldung) nicht mehr durch die Verteilung laufender Zuwächse an die am lautesten Fordernden erkauft werden kann.

In dieser Situation dient die Propagierung eines plebiszitären Demokratiebegriffs, der unerfüllbare Ansprüche weckt und die Unruhe schürt, während er in Wirklichkeit die Macht der Bestorganisierten fördert, nur der Vernichtung der letzten Manövriermasse des Staates und seiner Zerstörung von innen. Ein pragmatischer Demokratiebegriff wird vor allem am Ergebnis interessiert sein, und weniger an der Mitbestimmung am gemeinsamen Elend; er wird weniger an den mehr oder weniger wohlmeinenden Wertungen, die die einzelnen einbringen, orientiert sein, äls vielmehr an den Bedingungen der Verwirklichung der gewollten oder notwendigen Entscheidungen. Bei realistischen Entscheidun-gen kommt es vor allem auf diese Bedingungen an, nur Entscheidungen ins Blaue können allein von Wertgesichtspunkten ausgehen. Der normative Fundamentalismus ist ein Privileg jener, die keine Verantwortung zu tragen brauchen. Wir haben den Glauben daran verloren, daß dieser Fundamentalismus nur das Werk fehlgeleiteter Idealisten ist. Diese Leute wissen genau, daß eine Demokratie nur funktionsfähig ist im Pluralismus der Gruppen und der Wertungen, und daß jeder grundlegende Wertkonflikt, in dem notwendigerweise eine Gruppe behaupten muß, die letzte Wahrheit, die „volonte generale" zu kennen, die Demokratie zerstören muß.

Die „radikaldemokratische Linke" betont natürlich, daß es nicht auf die Leistungsfähigkeit einer Demokratie ankomme, sondern auf die „Partizipation aller Bürger". Aber sie tut das nur, weil sie glaubt, die Bürger dabei in die Hand bekommen zu können. Und sie redet von der Abschaffung der „Herrschaft des Menschen über den Menschen", aber auch nur, weil sie diese „Herrschaftsfreiheit" selbst zu kontrollieren hofft. Doch dies ist eine doppelte Illusion; denn erstens gibt es in einer solchen Demokratie nichts mehr, an dem zu partizipieren sich lohnte; und zweitens provoziert sie nur den Zugriff derer, die jenseits der Mauer stehen und die die Herrschaft des Kommissars über den Menschen noch nie gescheut haben.

Mit der Rückkehr zur Bescheidenheit wird weder die Demokratie noch der Sozialstaat reduziert. Es wird nur der Herrschaftsanspruch der Ideologen und der (gar nicht so ehrlichen) Utopisten zurückgewiesen. Eine andere als eine pluralistische und pragmatische Demokratie hat es noch nie gegeben, „mehr Demokratie" als diese gibt es nicht.

Wenn ich diesen Punkt einer Rechtfertigung der pragmatischen Politik aus den Gegebenheiten und Trends unserer Situation zusammenfassen darf, so sehe ich weder außen-noch innenpolitisch eine andere Rechtfertigung als die für eine pragmatische Politik. Nach meiner Meinung sehen das auch die führenden und verantwortlichen Mitglieder der anderen Parteien so. Nur, so meinen sie, läßt sich der Pragmatismus schwer „verkaufen". Darin mögen sie sogar recht haben: große Pläne und Zukunftsvisionen sind in einer politischen Kultur, die vom deutschen Idealismus und der politischen Romantik entscheidend geprägt worden ist, lange Zeit besser angekommen als die Beschränkung auf das realistischerweise Machbare. Aber das spricht nicht gegen diese Politik. Vielleicht ist es Zeit, diese politische Kultur — „das deutsche Wesen", an dem die Welt doch nicht genesen wird — zu ändern?

3. Parteiprogramme in einer pragmatischen Politik

Mein Ausgangspunkt war, daß wir die Grundzüge unserer Politik nicht durch Darstellungsprobleme bestimmen lassen dürfen. Eine pragmatische Politik mag schlechter darstellbar sein als eine messianische Politik: ihr fehlt die mythologische Prägnanz, ihr fehlt die Verheißung, sie hat die „Wahrheit" nicht zu verkünden. Aber: „Jede Wahrheit ist eine Versuchung der Kindheit . . . Jede Wahrheit", sagt Kolakowski, „kann ... Vorwand für den Verzicht auf Selbständigkeit, für die Rückkehr in die infantile Welt, für die Unterwerfung unter die andauernde Nostalgie des Embryos sein." Und gerade dem möchten wir ja nicht Vorschub leisten.

Der größte Fehler einer pragmatischen Politik wäre, das Nicht-programmierbare programmieren zu wollen. Wir gehen ja davon aus, daß der höchste und unter keinen Umständen aufzuopfernde Wert die freie Person oder die freie Gemeinschaft ist, d. h. aber, daß wir dieser Person oder Gemeinschaft von uns aus keine Wertordnung als bindend auferlegen können, daß wir keine endgültige Wahrheit zu verkünden haben. Eine Wertordnung kann man entweder aus eigenem Antrieb für gut heißen und sie aus freien Stücken verwirklichen, oder es gibt keine authentischen Werte. Aufgedrängte Werte sind Lebenslügen. Die Partei ist keine Dogmenzensurstelle und keine Wertekommandatura.

Unter Wertordnung verstehe ich mit Max Scheler allerdings nicht irgendwelche ideologischen Zielsetzungen, sondern das grundlegende Ethos, die emotionale'Grundordnung einer Person oder Gemeinschaft, das, was sie trägt, das geistige Schema ihrer Zuwendung zur Welt, zum politischen Alltag wie auch darüber hinausgehend zur Geschichte und unserem historischen Schicksal. Diese Wertordnung ist uns nur zum Teil bewußt, und sie ist nur zum Teil rationalisierbar. Schon gar nicht bilde ich mir ein, daß wir, die Intellektuellen, die Parteiführer und Parteifunktionäre, die Abgeordneten und die Minister, diese Wertordnung, die unser Volk trägt, programmieren könnten und programmieren sollten. Intellektuelle sind Leute, die gelernt haben, sich mit Hilfe ihres Intellekts mehr vorzumachen; ihr Realitätsbewußtsein ist keineswegs stärker ausgeprägt als das des berühmten Mannes auf der Straße. Auch ist ein umfangreicher „Orientierungsrahmen" nicht realitätsnäher, beweist er nicht mehr Intuition und Verbundenheit in einem gemeinschaftlichen Selbstverständnis, als ein Grundsatzprogramm von 60 Seiten. Und vor allem: der Mann auf der Straße hat ein Recht darauf, sich seinen eigenen Reim zu machen, das vorzuziehen, was er vorziehen will, und das links liegen zu lassen, was ihn nicht interessiert oder abstößt. Wir können ihm seine Wertordnung weder heute vorschreiben, noch können wir heute wissen, was er morgen wollen soll. Alles, was wir tun können, ist, diejenigen Rahmenbedingungen zu schaffen und zu erhalten, die es ihm ermöglichen, noch eine echte Wertwahl zu treffen.

Was wir deshalb in unser Programm setzen müssen, das ist die Erhaltung und die Sicherung dieser Möglichkeit, und das ist das, was wir unter „Freiheit" und „Handlungsfähig-'keit" verstehen. Voraussetzung dabei ist allerdings, daß wir die Bürger heute schon für mündig halten, daß wir glauben, daß sie sich selbst vorstehen können, daß wir nicht glauben, daß es unserer politpädagogischen Anleitung bedarf, um sie mit Hilfe einer Emanzipationsideologie zu Vollbürgern zu machen. De mokratie ist diejenige politische Herrschafts-I form, die einerseits von der Mündigkeit der 'Bürger ausgeht und die diese Mündigkeit auch achtet, und die andererseits auch in den politischen Ämtern mit Normalbürgern auszukommen sucht, mit unvollkommenen und fehlerhaften Menschen, die ermüdbar sind und nur einen begrenzten Bereich verstehen. An-I dere Menschen gibt es zwar auch in den Dik1 taturen nicht. Der Unterschied ist aber, daß wir dies wissen und akzeptieren, während es die'anderen leugnen und ihre Versager zu Heroen hochstilisieren. Wo der perfekte j Mensch gefordert wird, dort wird die Politik zu einem allgemeinen Erziehungsund Lenkungsprogramm. Wo man ein solches Erziehungsprogramm durchsetzen will, dort [braucht man ein generelles Verstaatlichungsprogramm. Die Programme einer pragmati-

I sehen Politik weisen in die Gegenrichtung, nämlich in Richtung der Selbständigkeit und bereichsspezifischen Selbstverantwortlichkeit des einzelnen und der Gemeinschaften — von der Gemeinde und den Regionen bis zu den Ländern, und von den geselligen Vereinigungen bis zu den Kirchen und Verbänden.

Der oberste Grundsatz eines solchen Programms ist also immer, daß die Bürger zur Verantwortung aufgerufen sind, und daß s i e es sind, die die Ziele setzen. So jedenfalls beginnt das „Grundsatzprogramm der Christlich-Sozialen Union" (das wir vor kurzem verabschiedet haben): „Die Christlich-Soziale Union ist als Partei eine politische Aktionsgemeinschaft, in der aus allen gesellschaftlichen Gruppen kommende Bürger zusammenarbeiten, die sich ihrer Verantwortung für Mitmensch, Gesellschaft und Staat bewußt sind. Die politischen Ziele werden von den Mitgliedern gesetzt." Nach meiner Auffassung muß ein solcher Satz am Anfang eines Programms stehen, wenn das, was nachfolgt, überhaupt einen Sinn haben soll; und es ist das beste, was man erreichen kann und erreichen muß. Wenn Sie unser Grundsatzprogramm durchlesen, so werden Sie feststellen, daß sich alle anderen Leitsätze daraus ableiten, daß das immer wiederkehrende Grundmotiv das der Handlungsfähigkeit in einer sich wandelnden Welt ist: Handlungsfähigkeit in bezug auf das Individuum als Selbstentfaltung, in bezug auf die Gemeinschaft als Subsidiarität und Solidarität, in bezug auf die Struktur der Bundesrepublik als Föderalismus, in bezug auf die Wirtschaftsordnung als soziale Marktwirtschaft, in bezug auf die internationale Politik als eine an unseren Werten orientierte Bündnispolitik.

Das ist der'Kern eines pragmatischen Programmes. Man mag sagen, das sei nicht neu oder nichtssagend, und wir hätten gar kein Programm gebraucht. Möglicherweise mag das letztere stimmen; denn wir haben immer schon das gleiche gesagt. Aber nichtssagend ist es keineswegs. Es ist vielmehr vielsagend, wenn ein Parteiprogramm diese Einräumung nicht enthält. Uns geht es nicht um die Fixierung bestimmter Ziele und um die Ein-schwörung unserer Mitglieder oder Wähler auf diese vorfixierten Ziele, sondern es geht uns vielmehr um die Weckung des Problembewußtseins, um die Offenhaltung des Horizonts, um den Appell an den einzelnen, seine Erfahrungen einzubringen, sich an seiner eigenen Vergangenheit zu orientieren und mit uns an einer gemeinsamen Zukunft zu arbeiten. Die Aufgabe einer pragmatischen Politik — das ist schon hundertmal gesagt worden, aber es ist immer noch richtig, und es wird sozusagen immer noch wahrer—, ist es, den institutionellen Rahmen für eine möglichst freie und von außen nicht gefährdete Tätigkeit der Bürger zu sichern. Die Verwirklichung dieser Politik hat jedoch in einem offenen und pluralistischen System zu erfolgen, das die Spontaneität, Neuerungsfähigkeit und Konkurrenzfähigkeit aller wesentlichen gesellschaftlichen Gruppen fördert.

Ein Parteiprogramm, das eine solche Politik fördern und unterstützen soll (bewirken wird es sie ohnehin nicht), kann logischerweise nur ein „offenes Programm" sein und kein ge-schlossenes Ziel-und Regelsystem. Was programmiert werden soll, das ist die Offenheit und das sind nicht die Scheuklappen. Ein offenes Programm ist selbst schon eine Entscheidung, vielleicht die grundlegende politische Entscheidung überhaupt, nämlich eine Entscheidung für die Komplexität des politischen Lebens, d. h. für seine Vielschichtigkeit und für seine Veränderbarkeit, und eine Entscheidung gegen die Einfachheit und Geradlinigkeit, gegen die Monotonie und die Monokultur, gegen Einparteisystem und Diktatur. Einfachheit und Eindimensionalität sind immer ein Zeichen der Angst vor der Komplexität. Insofern hat Hans Habe ganz recht, wenn er in einer prägnanten Notiz schreibt:

„Viele Menschen fliehen in die Diktatur, weil es guter Nerven bedarf, um die Demokratie zu ertragen."

Nerven braucht man, um die Vielschichtigkeit und Offenheit des demokratischen politischen Prozesses auszuhalten. Dennoch gibt es — wenigstens für den, der diese Nerven und der noch ein gewisses Vertrauen in seine Mitmenschen hat — keine bessere Alternative. Nur die Demokratie ermöglicht die Erhaltung der Komplexität, d. h. die Erhaltung möglichst vieler Handlungsalternativen, die in der gegenwärtigen Entscheidung vielleicht die eben nicht zurückgedrängt, aber doch endgültig vernichtet werden, während die Politik einer ideologisch integrierten Einparteienherrschaft darauf hinausläuft, ihre eigene Parteiideologie auch gleichzeitig zum politischen Programm für alle und für alle Zeiten zu erheben und alle widersprechenden Handlungsalternativen (und auch Handlungsträger) um der eigenen Einheitlichkeit willen auszumerzen. Je stärker das Einheitsbedürfnis einer solchen Partei ist, je hierarchischer ihre Organisation ist und um so starrer ihre Entscheidungsprämissen und Zielsetzungen sind, um so geringer wird auch ihre Umweltempfindlichkeit, ihr Reaktionsvermögen auf eine veränderte politische Lage sein. Eine allzu intensive Programmarbeit und ein allzu dickleibiges Programm muß daher einem pragmatischen Politiker verdächtig sein: es sind für ihn eher Zeichen der ideologischen Vernageltheit und der Realitätsferne (Realitätsferne jedenfalls im Sinne einer demokratischen Politik; aber auch diese „Realitätsferne" ist geeignet — und mir scheint, sie ist geradezu daraufhin programmiert—, eine andere, sicher nicht mehr demokratische, politische Realität heraufzubeschwören) .

Eine rigide Programmierung hat ihre Rückwirkungen sowohl auf die eigene Parteistruktur als auch, insbesondere wenn diese Partei an die Regierung kommt, auf die Gesellschaft. Diese Rückwirkungen liegen viel weniger in dem, was im Programm gesagt wird. Denn auch ein bis ins einzelne ausgearbeitetes Zielprogramm bringt in den obersten Zielsetzungen nur Leerformeln, die so oder so zu deuten sind und deren Deutung sich mit dem sich ändernden Kontext dauernd verschiebt. Sondern die Rückwirkungen liegen vor allem im Anspruch eines solchen Programms auf Rechtgläubigkeit und auf eine logische oder sogar wissenschaftliche Konsistenz, die in Wirklichkeit auch hier nicht gegeben ist. Dieser Anspruch führt einerseits zu einem gesteigerten Bedürfnis nach Exegese und nach Chefideologen, und schließlich führt er zur Dogmenzensur; und andererseits führt er, wenn diese Partei Erfolg hat, zu einer übersteigerten Ideologisierung des gesamten politischen Lebens. In einer Atmosphäre der Ideologisierung und der politischen Emotionalisierung aber sind die Politiker gezwungen, den größten Teil ihrer Energie im ideologischen Dauer-kampf zu verschleißen, sich vor persönlichen Bedrohungen und Beleidigungen zu schützen, sich in aussichtslosen Richtigstellungen zu erschöpfen — und die Ansprüche einer emotionalisierten Öffentlichkeit sind dennoch von keiner Seite mehr zu befriedigen. Dies sind die eigentlichen und uns inzwischen zur Genüge bekannten Gefahren einer überzogenen Programm-Politik, d. h. einer Politik, der das Programm das Primäre und die Weiterentwicklung der Politik das Sekundäre ist.

Es sind vor allem ethische und politische Gründe, die gegen eine solche Programm-Politik sprechen. Aber man sollte nicht vergessen, daß es daneben auch noch technisch-wissenschaftliche Probleme gibt, die von einer solchen Programm-Politik unmöglich gelöst werden können. Die Grenzen der Planbarkeit — ich meine dabei eine realistische Planung, nicht eine Planung ins Blaue — sind nämlich ziemlich eng gezogen. Man hat sich hier noch in der jüngsten Vergangenheit einigen Illusionen hingegeben, die — gerade wenn wir uns die angeblich fortgeschrittensten Plan-wirtschaften ansehen — nicht zu halten und nicht mehr zu verantworten sind.

Selbst bei einer nur technischen Planung ist die Voraussagbarkeit und Planbarkeit ziemlich begrenzt. Abgesehen davon, daß die üblichen Prognosen für das Jahr 2000, von denen wir seit einigen Jahren überschwemmt werden, meist recht dürftig sind, so bestehen sie gewöhnlich nur in Teilvorhersagen, die aneinandergereiht noch keinen Sinn ergeben und nichts über die möglichen Reaktionen der B Menschen aussagen. Die Vorhersage, daß im I Jahre 2000 bei dem, der es wünscht, ein Hauscomputer stehen kann, der mit der Baye-Staatsbibliothek oder dem Max-I Planck-Institut verbunden ist, bedeutet nur I wenig, wenn wir andererseits keine Aussage I darüber wagen können, ob der chinesisch-so-I wjetische Bruch weitere 10 oder 25 Jahre an-

dauern wird, oder wann und wo der erste I Atomschlag erfolgen wird. f Hinzu kommt zweitens, daß die wirtschaftli-[ chen, die politischen und gesellschaftlichen I Prozesse zwar als eigengesetzlich determiniert [gelten können, daß sie aber nicht so stark I determiniert sind, daß wirklich zureichende Voraussagen gewagt und weitreichende Pla-i nungskonsequenzen gezogen werden könnten.

! Wenn zudem die Planung nicht mehr nur [technisch ist, sondern normativ zu werden beginnt, dann jedenfalls gibt es eine unüber; windbare Kluft. Wir nehmen ja an — und wir t möchten das mit unserer Politik fördern—, daß die Menschen handeln können, daß sie einen gewissen Handlungsspielraum behalten und voll ausfüllen. Und wir können auch tat-

t sächlich nicht sagen, welche Erwartungen die i Menschen in 15 Jahren hegen werden, welche -Werte und Ideen zukünftige Generationen I verfolgen werden. Das sagen uns auch die gescheitesten Studien eines Herman Kahn i nicht. Was wir von ihm erfahren, ist besten'falls, daß Ideen und Werte sich zyklisch enti wickeln, daß das Lebensgefühl hin-und her-pendelt. Es kommt aber darauf an, wie die . Menschen neue technische Erfindungen, wie I sie den Bau neuer Trabantenstädte und Atomkraftwerke, die Einführung des Satellitenfern-I sehens oder den Aufbau eines Raketenabwehrsystems erleben, welche Sinndeutungen Zukunftserwartungen sie damit verbin-

j den. Das aber können wir nicht vorhersehen.

Was wir vorhersehen können, ist bestenfalls, daß mit einem Zuwachs an Wissen und Vor-

I aussicht mit Sicherheit auch die Ansprüche wachsen werden, und zwar in der Regel überproportional, so daß der Handlungsspielraum nicht notwendig größer wird, sondern in Gefahr steht, sich zu vermindern.

In einer pragmatischen Politik kann man sich nur vornehmen, diesen Erwartungsüberhang nicht künstlich in die Höhe zu treiben. Genau das aber geschieht, wenn man anfängt, das „Glück" der Menschen zu planen, wenn man sich nicht mehr mit konkreten Projekten beschäftigt, sondern wenn man verspricht und sich vornimmt, einfach „mehr" Demokratie und Mitbestimmung zu wagen, die Lebensqualität, die Emanzipation, die Rationalität und die Selbstverwirklichung der Menschen zu steigern, ohne klare Vorstellungen zu entwickeln, was damit heute und was in zwanzig Jahren damit gemeint sein kann. Damit werden Planungskriterien etabliert, die nichts mehr mit der weltpolitischen Realität (wie ich sie auszuführen suchte) zu tun haben. Nachdem diese Begriffe völlig vage sind und nachdem sie zudem dem schnellen modischen Wandel unterworfen sind, geben sie natürlich keine realistische Planungsgrundlage ab. Sie dienen nur der ideologischen Selbstbestätigiung derer, die sie in die Welt gesetzt haben. Dennoch werden öffentliche Erwartungen erzeugt, werden Propagandamaschinen und Planungsapparate in Gang gesetzt, die nicht nur teuer sind, sondern die durch eben jene Über-steigerung der Erwartungen den Handlungsspielraum der Politik auch noch einengen. Den Leuten werden gedachte Bedürfnisse und imaginierte Zurücksetzungen eingeredet; aber wenn sie erst einmal daran glauben, stellen sie ihre Anforderungen an den Staat. Wohin das führt, das konnten wir in den letzten drei Jahren beobachten: nämlich zu handfesten Krisen, die einerseits wohl zur Dämpfung der überspannten Erwartungen beitragen, die andererseits aber wieder ein willkommener Ausgangspunkt für die diversen Systemveränderer sind, um neue unerfüllbare Erwartungen aufzubauen und neue Kontrollapparate in Gang zu setzen.

Das ist der Teufelskreis der sog. Gesinnungsethik und einer gesinnungsethischen Politik, wie sie Max Weber schon vor über 50 Jahren gekennzeichnet hat: es wird Politik mit Gesinnungen und Verheißungen gemacht, aber die Verantwortung für die daraus erwachsenen Folgen wird abgelehnt. Ich fühle mich an so manche politischen Vorgänge und Figuren der letzten Jahre erinnert, wenn ich in Webers Rede „Der Beruf zur Politik" über den „Gesinnungsethiker" lese: „Wenn die Folgen einer aus reiner Gesinnung fließenden Handlung üble sind, so gilt ihm nicht der Handelnde, sondern die Welt dafür verantwortlich, die Dummheit der anderen Menschen . .. Verantwortlich fühlt sich der Gesinnungsethiker nur dafür, daß die Flamme der reinen Gesinnung, die Flamme z. B.des Protestes gegen die Ungerechtigkeit der sozialen Ordnung, nicht erlischt." Und Weber meinte, daß er es nach dem Ersten Weltkrieg, als die Gesinnungsethiker ins Kraut schossen, „in neun von zehn Fällen mit Windbeuteln zu tun [hatte], die nicht real fühlen, was sie auf sich nehmen, sondern sich an romantischen Sensationen berauschen".

Ich glaube, es war ganz ähnlich nach dem II. Weltkrieg, und nur das ausgeprägte Realitäts-bewußtsein und die Illusionslosigkeit eines alten Mannes bzw. einer ganzen Reihe mit ihm verbundener Persönlichkeiten, die durch die schließlich ebenfalls vorwiegend von „Gesinnungsethikern" provozierte Götterdämmerung hindurchgegangen waren, konnten den Übergang zu einer pragmatischen Politik und zur Verantwortungsethik bahnen. „Der Verantwortungsethiker", schreibt Weber, „rechnet mit eben jenen durchschnittlichen Defekten des Menschen, ... er fühlt sich nicht in der Lage, die Folgen eigenen Tuns, soweit er sie voraussehen konnte, auf andere abzuwälzen". Der Verantwortungsethiker beurteilt den Erfolg einer Politik aus ihren Folgen. Ebenso sind politische Programme nicht nach der Schönheit ihrer Zielsetzungen zu beurteilen, sondern nur nach ihrer Realitätsnähe, nach ihrer Eignung, die politischen Energien auf das zu konzentrieren, was machbar und auch für die Zukunft fruchtbar ist.

Man kann verschiedene Planungsfehler machen; der verderblichste ist jedoch der, das Nicht-Planbare planen zu wollen: Die Planung der Bedürfnisse, der Wertsetzungen und Ideen verplant den Menschen. Wenn es uns um die Erhaltung der Handlungsfähigkeit und wenn es uns um die Authentizität der Wert-setzungen der Menschen geht — wie man das in einer Demokratie füglich voraussetzen sollte —, dann müssen wir darauf verzichten, ihr „Glück", ihr Selbstverständnis und ihre Wert-ordnung zu planen. Das müssen wir ihnen schon selbst überlassen, unser Programm kann darüber keine Aussagen machen.

Man kann aus der Geschichte nur wenig lernen, wenn es um konkrete Handlungsanweisungen und um Leitlinien des eigenen Verhaltens geht; historische Analogien führen sehr leicht in die Irre. Man kann aber davon ausgehen, daß es so etwas gibt wie eine „geistige Offenheit der Geschichte". Es ist diese Offenheit, auf die wir setzen, und diese Offenheit muß auch im Programm einer pragmatischen Politik zum Ausdruck kommen.

Damit hoffe ich das Verhältnis zwischen Programm und Pragmatismus in der Politik, so wie ich und wie meine politischen Freunde es verstehen, in den Grundzügen dargestellt und auch hinreichend begründet zu haben. Ich glaube, es ist Zeit, mit der Denunziation des Pragmatismus in der Politik Schluß zu machen. Bei einer Denunziation heißt die erste Frage: wer denunziert, und was will er? Am Ende sind doch alle, welche politischen Ziele sie auch verfolgen wollen, gezwungen, pragmatisch vorzugehen. Wer sich das Unerreichbare zum Ziel setzt, der muß für sich und seine Anhänger für Ersatzbefriedigung sorgen, und die bestehen, wie Weber es schon deutlich ausspricht, in aller Regel in der „Befriedigung des Hasses und der Rachsucht", vor allem in der Befriedigung „des Ressentiments und des Bedürfnisses nach pseudoethischer Rechthaberei, also des Verlästerungsund Verketzerungsbedürfnisses gegen die Gegner". Damit aber korrumpiert sich jede messianische Politik selbst (den Ausdruck „idealistisch" möchte ich dafür nicht verwenden; denn wir wissen, daß dieser vorgebliche „Idealismus" eine Lüge ist, ein Machtzynismus ohnegleichen).

Dazu möchte ich ergänzend und abschließend hervorheben, daß wir, wenn wir in einer pragmatischen Politik es bewußt nicht unternehmen, das „Gemeinwohl" autoritativ zu definieren, wenn wir gerade im Gegenteil versuchen, die Rahmenbedingungen für einen politischen Prozeß zu schaffen, in dem dieses Gemeinwohl immer aufs neue (und niemals endgültig) von den Beteiligten selbst sozusagen „ausgehandelt" werden kann, ohne daß dafür eine Generalformel zur Verfügung stehen müßte, daß wir dann zugleich den wirksamsten Beitrag dazu leisten, daß das „Machtstreben" einzelner Personen und Personengruppen, Verbände oder Parteien nicht zum Selbstzweck wird. Ich bin — wie ich meine: der begründeten — Überzeugung, daß die Spannung zwischen „Machtstreben" und „Gemeinwohl" nur auf diese Weise in erträglichen Grenzen gehalten werden kann.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Franz Josef Strauß, geb. 1915 in München; 1939— 1945 Kriegsteilnehmer; 1945 stv. Landrat; 1946 Landrat in Schongau; 1948 Mitglied des Wirtschaftsrates; 1945 Gründungsmitglied der CSU, 1946 im Landesvorstand, 1949 Generalsekretär, 1952 stv. Parteivorsitzender, seit 1961 Landesvorsitzender. 1953 Bundesminister für bes. Aufgaben; 1955 Bundesminister für Atomfragen; 1956— 1962 Bundesminister der Verteidigung; 1963— 1966 Vorsitzender der CSU-Landes-gruppe im Bundestag; stv. Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion; 1966— 1969 Bundesminister der Finanzen.