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Zur Lebenssituation arbeitsloser Jugendlicher. Ergebnisse eines sozialpädagogischen Projekts | APuZ 39-40/1976 | bpb.de

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APuZ 39-40/1976 Jugend und Politik heute Soziale und politische Einstellungen und Verhaltensweisen im Spiegel neuerer Untersuchungen in der Bundesrepublik Deutschland Zur Lebenssituation arbeitsloser Jugendlicher. Ergebnisse eines sozialpädagogischen Projekts Artikel 1

Zur Lebenssituation arbeitsloser Jugendlicher. Ergebnisse eines sozialpädagogischen Projekts

Horst W. Opaschowski

/ 56 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Angesichts der sich abzeichnenden Gefahr einer nicht geringen Jugendarbeitslosigkeit bis in die Mitte der achtziger Jahre hinein kommt der vorliegenden Untersuchung zur Lebenssituation arbeitsloser Jugendlicher besondere Bedeutung zu. Darin werden die Ergebnisse eines 1975/76 vom Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen geförderten sozialpädagogischen Projekts zusammengefaßt. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen Überlegungen zur Überwindung bzw. Milderung der psycho-sozialen Folgen der Jugendarbeitslosigkeit durch Stabilisierung des Selbstwertgefühls, Überwindung der Isolierung, Förderung der Eigeninitiative, Stärkung der Arbeitsmotivation und Erhaltung der Berufsperspektive. Die Darstellung bezieht sich dabei nicht auf „irgendeine" Situation, sondern konkret auf die Wohnund Lebensbedingungen arbeitsloser Jugendlicher im Duisburger Arbeiterviertel Hamborn, dem in der Bundesrepublik wohl am stärksten von der Jugendarbeitslosigkeit betroffenen Großstadtgebiet. Hier ist jeder dritte bis vierte Arbeitslose ein Jugendlicher unter 20 Jahren. Unter Rückgriff auf Erfahrungen der amerikanischen und skandinavischen Sozialarbeit hat ein Team von fünf Sozialarbeitern und Sozialpädagogen zwischen Oktober 1975 und März 1976 rund 130 arbeitslose Jugendliche an ihren Treffpunkten im Freien, in Gaststätten, Jugendheimen und zu Flause aufgesucht, problemorientierte Gesprächskontakte aufgenommen und Beratungen durchgeführt. „Streetwork" (Straßenberatung) als Sozialarbeit im Kontaktbereich der Straße und des Wohngebiets erwies sich dabei als neue und praktikable Methode der direkten Einwirkung auf arbeitslose Jugendliche. Die „Streetworker“ machten die Erfahrung, daß arbeitslose Jugendliche Angst haben, sich als einzelne zu exponieren (weshalb sie auch so schwer zu erreichen sind). Sie fühlen sich als Stigmatisierte, als von der Arbeit Ausgeschlossene. Indem sie ihren Arbeitslosen-Status verbergen, vermeiden sie jede Art von Auffälligkeit und unterliegen dem Zwang zur „Überanpassung". Hinzu kommt die Abschirmfunktion der Familie, die eine weitere Reduzierung der sozialen Kontakte bewirkt. Familiäre und nachbarliche Solidarität yerhindern eine Flucht der arbeitslosen Jugendlichen in Alkohol, Drogenkonsum und Kriminalität. Ein Zusammenhang zwischen Jugendarbeitslosigkeit und Jugendkriminalität ist nicht nachweisbar. Arbeit hat für viele arbeitslose Jugendliche einen anderen Stellenwert bekommen. Herkömmliche Formen von Arbeit („Maloche") und Beruf sind kaum mehr erstrebenswert. Was zählt, sind Job und Gelderwerb. Die Berufsperspektive wird aufgegeben zugunsten einer ausschließlichen Erwerbsorientierung. Die Gefahr einer Materialisierung der gesamten Lebenshaltung ist groß. Die Folgen für die Betroffenen und die Gesellschaft sind noch nicht absehbar.

I. Problemlage

Jugendliche sind gegenwärtig am stärksten von der Arbeitslosigkeit betroffen. Zugleich zeichnet sich die Gefahr der kurz-und mittelfristigen Jugendarbeitslosigkeit bis in die Mitte der achtziger Jahre hinein ab. Nach Ansicht der Ministerpräsidenten der Länder müssen umgehend „länderübergreifende Schritte" eingeleitet werden, um das Problem wenigstens zu „mildern". Es bleibt deshalb „nicht viel Zeit", um für Lösungsvorschläge zu sorgen.

In der vorliegenden Auswertungsstudie über ein vom Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen gefördertes Projekt wird versucht, eine erste Bestandsanalyse zur Lebenssituation arbeitsloser Jugendlicher vorzulegen und sozial-und freizeitpädagogische Ansätze zur Lösung des Problems aufzuzeigen. Dabei geht es insbesondere um die Frage der Realisierung von Zielen zur Überwindung bzw. Milderung der psycho-sozialen Folgen der Arbeitslosigkeit durch — Stabilisierung des Selbstwertgefühls, — Überwindung der Isolierung, — Förderung der Eigeninitiative, — Stärkung der Arbeitsmotivation, — Erhaltung der Berufsperspektive.

Die bisher vorliegenden Untersuchungen zur Jugendarbeitslosigkeit beschränken sich vorwiegend auf die Auswertung von Statistiken sowie auf Aussagen über mögliche Ursachen und vermuteten Umfang der Jugendarbeitslosigkeit. Darüber hinaus wird über die unterschiedlichen Förderungsmaßnahmen berichtet und die mangelnde Koordination und Effektivität von Einzelprojekten beklagt. Die Aussagen über die konkrete Lebenssituation von arbeitslosen Jugendlichen bleiben vage, bewegen sich im Bereich des Spekulativen, zumindest im Bereich des nicht Beleg-und Nachweisbaren. Ursachen hierfür sind zumeist „Materialfindungsschwierigkeiten", was auch unumwunden zugegeben wird. In ihrer regionalen Untersuchung über „Die Entwicklung der Jugendarbeitslosigkeit in West-Berlin" erklärt beispielsweise die Arbeitsgruppe an der PH West-Berlin: „So konnten wir den weitergehenden Fragen nach den Auswirkungen der Arbeitslosigkeit auf den Erfahrungszusammenhang der Jugendlichen, auf deren subjektive Arbeitsund Reproduktionsfähigkeit sowie deren Widerstandsformen etc. nicht nachgehen."

Hauptursache für die bisher fehlenden Untersuchungen über die Lebenssituation arbeitsloser Jugendlicher, ihre persönliche Situation, ihre Situation in Familie und Freizeit, ihre Berufsperspektive und ihre Einstellung zu Öffentlichkeit und Politik ist die Schwierigkeit, arbeitslose Jugendliche in ihren sozialen Bezügen „vor Ort" zu erreichen. Die Erfahrung, daß arbeitslose Jugendliche kaum erreichbar und ansprechbar sind, ist immerhin schon vier Jahrzehnte alt. Jahoda (u. a.) berichtete in der 1933 veröffentlichten Untersuchung „Die Arbeitslosen von Marienthal", daß es trotz zahlreicher Versuche nicht gelang, „mit diesen Jugendlichen in Kontakt zu kommen ... (Sie) blieben unzugänglich ... sie kamen einfach nicht. Sie verschwinden von der Bildfläche und . treiben sich herum'. Auch die Führer der beiden politischen Jugendgruppen bestätigten, daß es das Hauptproblem ihrer Organisation sei, der jungen Leute überhaupt habhaft zu werden."

Die zweifellos vorhandenen methodischen Probleme dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß manche Untersuchungen mehr der eigenen Standortbestimmung und Identitätsfindung der Verfasser dienen als der Darstellung der Lebensprobleme der unmittelbar Betroffenen. W. Hätscher und H. Schmitt ma-chen dies deutlich: „Dabei steht nicht die Untersuchung des Problems der Arbeitslosigkeit mit den spezifischen Folgen für die betroffenen Jugendlichen im Vordergrund, sondern die Problematik der Zusammenarbeit von lin-ken Intellektuellen und Arbeiterjugendlichen."

Diese Darstellung bezieht sich nicht auf „irgendeine" Situation, sondern konkret auf die Lebensbedingungen arbeitsloser Jugendlicher in Duisburg-Hamborn, einem Zentrum und Brennpunkt der Jugendarbeitslosigkeit. Hier ist jeder dritte bis vierte Arbeitslose ein Jugendlicher unter 20 Jahren.

II. Zum Forschungsstand über die Lebenssituation von arbeitslosen Jugendlichen

1. Bedeutung und Vergleichbarkeit der Aussagen Der vor 25 Jahren durchgeführten Befragung einer repräsentativen Auswahl arbeitsloser Jugendlicher und einer Vergleichsgruppe beschäftigter Jugendlicher in den Untersuchungsgebieten Bayern, Hamburg, Schleswig-Holstein und West-Berlin steht bis heute nichts Gleichwertiges gegenüber. Die seinerzeit vom DGB geförderte und von der „Sozialwissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft zur Erforschung von Jugendfragen" unter Leitung von H. Schelsky durchgeführte Erhebung bezog sich auf 1978 arbeitslose und 308 beschäftigte Jugendliche. H. Kluth untersuchte hierbei speziell die Bindungen des arbeitslosen Jugendlichen an die außerfamiliäre gesellschaftliche Umwelt. Dabei ging er von folgenden drei Fragen aus:

1. Kann die Arbeitslosigkeit die Fähigkeit des Jugendlichen beeinflussen, Kontakt mit seinen Mitmenschen aufzunehmen?

2. Welche Rolle spielen die sozialen Kontaktbeziehungen wie Freundschaft, Clique, Organisation usw. in der spezifischen Situation der Arbeitslosigkeit?

3. Können die bestehenden Kontaktbeziehungen die Verhaltensweisen des Jugendlichen in wirksamer Weise beeinflussen?

Im folgenden werden die wesentlichen Ergebnisse der Repräsentativuntersuchung von Kluth soweit sie für die heutige Situation relevant und vergleichbar (wenn nicht gar übertragbar) erscheinen, ausgewertet.

2. Ausfall der beruflichen Tätigkeit als „Bestätigungssituation"

Der Jugendliche besitzt ein gewisses Anspruchsniveau, das mit zunehmendem Alter und qualifizierter Vor-und Ausbildung steigt, d. h. breiter und differenzierter wird. Die für das Anspruchsniveau wichtigsten Faktoren sind — der Anspruch auf eine der eigenen Persönlichkeit gerecht werdende und damit die eigene Persönlichkeit bestätigende Leistung und — der Anspruch auf ein angemessenes Sozialprestige, d. h. auf Anerkennung der eigenen Persönlichkeit.

Dieses Anspruchsniveau wird in der Regel weitgehend befriedigt, solange der Jugendliche eine seiner Leistungsfähigkeit angemessene berufliche Tätigkeit ausübt. Die Arbeitskollegen bilden einen adäquaten Bestätigungskreis; die Freizeit und ihre sozialen Beziehungen erfüllen hierbei zumeist nur eine ergänzende Funktion in partiellen Bereichen.

Fällt nun die berufliche Tätigkeit als Bestätigungssituation aus, weil sie durch Arbeitslosigkeit ganz unterbunden oder weit unter der tatsächlichen oder vorgestellten Leistungsfähigkeit liegt (z. B. bei den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen), dann trägt der Jugendliche unbewußt oder manchmal auch bewußt den Wunsch nach einer Bestätigungssituation und einem Bestätigungskreis in die „Freizeit" und ihre Kontaktverhältnisse hinein. Je länger die Arbeitslosigkeit andauert, um so stärker wird dieser Wunsch und um so schwächer werden die Kontaktbeziehungen zu den (ehemaligen) Arbeitskollegen.

3. Veränderung der Freizeitgewohnheiten Gleichzeitig steigen die Ansprüche, die der arbeitslose Jugendliche nun an seine unfreiwillige „Freizeit" stellt. Diese Anspruchssteigerungen stehen aber im Widerspruch zu den allmählich innerhalb der Freizeit auftauchenden „Lücken", weil der arbeitslose Jugendliche eine Reihe von Freizeitgewohnheiten — meist aus finanziellen Gründen — einschränken oder gar aufgeben muß.

Durch die Arbeitslosigkeit wird der „Zeitplan" des Jugendlichen erheblich verändert; es entstehen „Zeitlücken''. Der Jugendliche wird mit der ihm zur Verfügung stehenden freien Zeit nicht mehr fertig. Zwar ist er den ganzen Tag über irgendwie beschäftigt, so daß man von „Nichtstun" eigentlich nicht sprechen kann. Den arbeitslosen Jugendlichen aber bedrückt die Ziel-und Planlosigkeit seines Tuns. Einzelne Tätigkeiten könnten genausogut durch andere ersetzt werden, sie sind zufällig, planlos, ziellos. Dem arbeitslosen Jugendlichen geht nicht die Fähigkeit ab, in der freien Zeit „etwas" zu tun, sondern die Fähigkeit, die Zeit ziel-und planvoll zu verwenden.

4. Eindruck der Langeweile: Produkt von Ziellosigkeit, Planlosigkeit und Zufälligkeit Dies erklärt auch den negativen Eindruck, den Häuser der offenen Tür auf arbeitslose Jugendliche machen: Weil dort jeder machen kann, was er „will" und keiner weiß, was er machen „soll". Die den Jugendlichen ohnehin bedrückende Ziel-und Planlosigkeit des Tätigseins wird in den Häusern der offenen Tür noch verstärkt. Weil die Inhalte der Zeitverwendung rein zufällig sind, der arbeitslose Jugendliche davon eigentlich nicht „betroffen" ist, entsteht bei dem Jugendlichen, auch wenn er sich den ganzen Tag über „beschäftigt", der Eindruck der Langeweile, das Gefühl, daß man nicht zu dem kommt, was man eigentlich tun „müßte".

Die freie Zeit, die als „Feierabend", „Wochenende" usw. einen festen Platz im Tages-ablauf des Beschäftigten hat, verändert und verliert teilweise ihre ursprüngliche Funktion. Es fehlt die unmittelbare Beziehung zum Beschäftigtsein. Eine Ausnahme bildet hierbei die weibliche Gruppe.

5. Geringere Betroffenheit der arbeitslosen weiblichen Jugendlichen Der Prozentsatz der arbeitslosen weiblichen Jugendlichen, die oft Langeweile haben (23, 1 °/o), ist wesentlich geringer als der der männlichen Jugendlichen (33, 5%). Dies hängt damit zusammen, daß die weiblichen Jugendlichen, sobald sie arbeitslos werden, sehr viel stärker in den Ablauf der häuslichen Arbeiten eingespannt werden, die — unabhängig davon, ob sie gern oder ungern getan werden — von den weiblichen Jugendlichen doch als eine relativ „angemessene" Tätigkeit und planvolle Beschäftigung angesehen werden. Die im Haushalt beschäftigten weiblichen Jugendlichen haben das Gefühl einer weitgehend planvollen Zeitverwendung. Hinzu kommen die sachverwandten Beziehungen zwischen der notwendigen Haushaltsarbeit und der freiwillig ausgeübten Handarbeit (Nähen, Stricken u. a.). Die Haushaltsarbeit hat für die weiblichen Jugendlichen sehr viel stärker einen planvollen Arbeitscharakter als etwa die Bastelarbeit für die männlichen Jugendlichen. Infolgedessen beschäftigen sich auch sehr viel mehr weibliche Jugendliche seit ihrer Arbeitslosigkeit mit Handarbeit (46, 1 %) als männliche Jugendliche mit Bastelarbeit (32, 2 %).

Die Verwendung der freien Zeit ist für den arbeitslosen Jugendlichen um so problemloser, — je planvoller die ausgeübte Beschäftigung ist, — je stärker der Zweck-und Arbeitscharakter der Beschäftigung ist, — je ausgeprägter und entwickelter die ursprüngliche Fähigkeit zur Selbstbeschäftigung ist und — je mehr das eigene Anspruchsniveau (Leistungsanspruch, Prestigebedürfnis u. a.) des Jugendlichen mit dem Gesamtniveau der Kontaktpersonen, der Gruppe, der Clique u. a. übereinstimmt.

6. Isolierung gegenüber der sozialen Umwelt Das Anspruchsniveau ist bei den jüngeren Arbeitslosen noch so wenig inhaltlich geprägt, daß es weitgehend in der eigenen Clique verwirklicht werden kann. Äußere Dinge wie Kleidung, Geld usw. werden noch nicht als unbedingt notwendige Attribute der „Persönlichkeit" angesehen. Mit zunehmendem Alter oder zunehmender Bildung werden Leistungsanspruch und Prestigebedürfnis zielgerichteter, die Interessensphäre wird breiter und differenzierter und das Bedürfnis, Ansehen zu gewinnen, d. h. in seiner Persönlichkeit bestätigt zu werden, wird ausgeprägter. Für dieses hohe Anspruchsniveau aber bestehen während der Arbeitslosigkeit nur geringe oder gar keine Chancen der Verwirklichung. Je größer die „Voraussetzungen" (Alter, Vorbildung, Berufsausbildung etc.) sind, die der Jugendliche mitbringt, desto stärker ist auch der Wunsch nach einem angemessenen „Bestätigungskreis" und um so größer ist das Mißverhältnis zwischen dem Anspruch, den das Kontaktverhältnis während der Arbeitslosigkeit selbst an ihn stellt, und der Funktion, die es für den Jugendlichen erfüllt. Das Mißverhältnis führt bei längerer Dauer der Arbeitslosigkeit zur Isolierung.

Vier verschiedene Formen der Isolierung lassen sich unterscheiden:

1. die aktive Isolierung (der Jugendliche sucht bewußt oder unbewußt die Kontaktlosigkeit) ;

2. die passive Isolierung (der Jugendliche sucht weder die Bindung noch die Bindungslosigkeit); 3. die situationsbedingte stabile Isolierung (der Jugendliche paßt sich dem Arbeitslosen-dasein an und reduziert seine Kontaktwünsche) ;

4. die situationsbedingte labile Isolierung (der Jugendliche hält seine Kontaktwünsche aufrecht, auch wenn sie der Realsituation nicht entsprechen).

7. Problemlösung: Aufgabenstellung mit Dauercharakter Längere Arbeitslosigkeit begünstigt und beschleunigt die Entwicklung einer konsequenten Isolierung gegenüber der sozialen Umwelt und führt schrittweise zu einem Absinken des eigenen Anspruchsniveaus. Dies kann nur verhindert werden, wenn es gelingt, dem Jugendlichen eine Aufgabe zu stellen, die seinem Leistungspotential gerecht wird und ihm die Chance bietet, seine Persönlichkeit bestätigt zu sehen. Dabei ist der rein materielle Aspekt (Geldverdienen) zwar wichtig, aber nicht ausschlaggebend. Die Jugendlichen waren oftmals bis zum Beginn der Arbeitslosigkeit (Schule, Ausbildung usw.) ohnehin auf die materielle Hilfe der Eltern angewiesen, so daß sich unter Umständen die materielle Situation nur geringfügig veränderte. Mit der Dauer des erzwungenen Nichtstuns aber wächst das Gefühl, „übrig" zu sein und keine Aufgabe zu haben.

Temporäre Lösungen (z. B. zeitlich begrenzte Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen) ändern daran wenig, da ihnen von dem Jugendlichen nicht der für eine „echte" Aufgabe notwendige Dauercharakter zuerkannt wird. Dies gilt um so mehr für Jugendliche, die — in einem durch örtliche Gegegebenheiten (Größe des Wohnorts, Fremdheit usw.) un-überschaubaren sozialen Raum leben (z. B. Großstadtjugendliche, Ausländerjugendliche) oder — nicht mehr in vollem Umfang auf die Familie „ausweichen" können (z. B. Jugendliche in nicht mehr intakten Familien).

8. Zwischenlösung: Bindung an interessen-bestimmte Gruppen Wo es nicht gelingt, eine Aufgabenstellung mit Dauercharakter für den arbeitslosen Jugendlichen zu finden, bietet sich als Zwischenlösung die Bindung an eine interessen-bestimmte Gruppe an. Dabei wird das spezifische Interesse (z. B. Beatband, technisches Werken, Sportausübung) zum verbindenden Moment für die Aufrechterhaltung oder Erneuerung sozialer Beziehungen. Die bestimmenden Interessengebiete sind von der Situation der Arbeitslosigkeit relativ unabhängig, weil sie eine spezifische Bedürfnissphäre des Jugendlichen ansprechen, in der Regel auch Leistungsanforderungen stellen und das eigene Anspruchsniveau (zumindest bis zu einem gewissen Grade) befriedigen können. Die Zeitverwendung erscheint planvoller und auf ein bestimmtes Ziel abgestellt. Hier bietet sich die Chance, etwas zu leisten und anerkannt zu werden („... man merkt beim Sport, daß man noch etwas kann"). Die negativen sozialen Folgen der Arbeitslosigkeit können dadurch teilweise kompensiert werden. Die ständige Anforderung, die die Erfüllung eines qualifizierten Interesses stellt, hält auch die Leistungsbereitschaft bis zu einem gewissen Grade aufrecht.

Der durch längere Arbeitslosigkeit hervorgerufene Prozeß des „Auseinanderlaufens" von Leistungsanspruch und Leistungsbereitschaft wird in starkem Maße verlangsamt. Die Intensität hängt allerdings davon ab, — wie hoch ursprünglich Leistungsbereitschaft und Leistungsanspruch waren, — wie hoch die interessenbestimmten Anforderungen sind, — wie stark der Jugendliche in der Tätigkeit selbst „engagiert" ist und — wie groß die Einflüsse der interessenbestimmten Gruppe sind.

Es zeigt sich, daß Jugendliche in interessen-bestimmten Gruppen am ehesten mit der Arbeitslosigkeit „fertig" werden, und zwar nicht im passiven Sinne des „Akzeptierens", sondern im aktiven des „überwindens" von Leerem und Ungebundenem.

Bei allen feststellbaren positiven Wirkungen muß berücksichtigt werden, daß die Leistungssituation der interessenbestimmten Gruppen nur eine Zeitlang ein Ausgleich für die „echte" Leistungssituation der Arbeit und des Berufs sein, sie aber auf Dauer nicht ersetzen kann.

9. Konzeptionelle Konsequenzen Die Auswertung der Repräsentativuntersuchung von H. Kluth über die Lebenssituation von arbeitslosen Jugendlichen zwingt zu konzeptionellen Konsequenzen. Die von Kluth ermittelten Verhaltensformen, Reaktionsweisen und Kontaktbeziehungen enthalten durchaus mit der heutigen Jugendarbeitslosenproblematik vergleichbare Aussagen. Aus den Ergebnissen läßt sich zur Vermeidung bzw. Milderung der psycho-sozialen Folgen der Jugendarbeitslosigkeit ein Kriterienkatalog ableiten, der für die Durchführung von Förderungsmaßnahmen bedeutsam ist. Die in den Projekten zu vermittelnden Inhalte sollten vorrangig auf solche Eigentätigkeiten und Beschäftigungsarten gerichtet sein, die möglichst viele der folgenden sieben Kriterien erfüllen: 1. Dauercharakter Keine zeitlich begrenzte „Lösung", sondern auf längere Dauer angelegte Tätigkeit.

2. Regelmäßigkeit Tätigkeit, die eine gewisse Regelmäßigkeit der Ausübung bzw. Kontinuität der Teilnahme — z. B. in der Gruppe — voraussetzt.

3. Zweckbestimmung Unmittelbar zweckbestimmte Tätigkeiten mit arbeitsähnlichem Charakter in einem entsprechenden Sachund Sinnzusammenhang.

4. Zielorientierung Keine nur zufällig beliebige, sondern planvolle, auf ein bestimmtes Ziel gerichtete Tätigkeit. 5. Prestigebelriedigung Eine die Anerkennung der eigenen Persönlichkeit fördernde und bestätigende Tätigkeit. 6. Leistungsanspruch Eine der individuellen Leistungsbereitschaft und -fähigkeit angemessene Tätigkeit.

Interessengruppierung Eine die spezifischen Interessen berücksichtigende, soziale Beziehung erhaltende und erneuernde Tätigkeit.

III. Skizzierung des Projekts „street-corner-work"

1. Chancen und Probleme Insbesondere die Arbeit mit drogengefährde-ten und drogenabhängigen Jugendlichen in den letzten Jahren hat gezeigt, daß durch „Institutionen" (Beratungsstellen, therapeutische Kliniken u. a.) nur ein kleiner, bestimmter Kreis erreicht werden kann. Diese Erfahrung hat bewirkt, daß in verschiedenen europäischen, vorwiegend skandinavischen Ländern und den USA neue Wege erprobt wurden und werden. Als besonders erfolgreich hat sich die sogenannte „street-corner-work" erwiesen, bei der Sozialarbeiter/Sozialpädagogen als Straßen-Berater („Streetworker") eingesetzt wurden, um Jugendliche — an Orten der Gefährdungen aufzusuchen und — zu motivieren, Hilfen (z. B. Vermittlung von Wohn-und Arbeitsmöglichkeiten, Anregung von Aktivitäten im Freizeitbereich) anzunehmen. Nach A. Peters 7) lassen sich die Aufgaben des Streetworkers wie folgt beschreiben:

— Oberster Grundsatz ist die Anonymität. Die Beratung ist vertraulich und nicht von der Angabe der Personaldaten abhängig.

— Die informative Beratung ist nicht auf Dauerbetreuung und Therapie ausgerichtet, wohl aber schließt sie Elemente einer umweltorientierten Einzelfallhilfe ein. — Streetworker knüpfen zu unterschiedlichen Zeiten an Orten, die als Treffpunkte Jugendlicher bekannt sind, erste Kontakte. Dabei sollen aküte Notsituationen herausgefunden und Wege für Hilfsmöglichkeiten eröffnet werden.

— Aus Sicherheitsgründen erfolgt der Einsatz der Streetworker grundsätzlich nur zu zweit. Tag-und Nachtdienstwechsel sind dabei unvermeidbar. — Streetworker müssen die Wertmaßstäbe der Jugendlichen kennen und ihre Sprache sprechen können.

— Den Streetworkern müssen „reale Hilfsmöglichkeiten" und entsprechende Folgeeinrichtungen zur Verfügung stehen (z. B. Unter-bringungs-, Wohnmöglichkeiten; spezielle Freizeitangebote; Möglichkeiten der Arbeitsvermittlung). Ohne diese Hilfsmöglichkeiten sind sie ständigen Mißerfolgen ausgesetzt und in der Breitenwirkung nicht erfolgreich.

— Für ausführlichere Beratungsgespräche muß eine „Anlaufstelle" (z. B. Jugendclub, Jugendzentrum, Haus der Offenen Tür) außerhalb von (behördlichen) Anlaufstellen vorhanden sein.

Kennzeichnend für die street-work-Hilfelei-stung ist, daß sie im allgemeinen unmittelbar und kurzfristig ohne „Intake-Phase" im traditionellen Sinne erfolgt. Es wird also nicht auf jenen Katalog anamnestischer Fragen zurückgegriffen, die nach der Methodik der Einzelfallhilfe als Voraussetzung für die Diagnose-stellung am Beginn des Klientenkontakts zu stehen haben Diese formalisierte, zeitlich und personell von der eigentlichen Beratung getrennte und von Jugendlichen leicht als unangemessen („Verhör") empfundene Handhabung würde die „street-corner-work" von vornherein zum Scheitern verurteilen.

Nach diesem Prinzip arbeitet in München ein Streetworker-Team bereits seit zwei Jahren, dessen praktische Erfahrungen in die Konzeption des Hamborner Projekts einbezogen wurden. Während aber bei der Münchner Gruppe die Randgruppenarbeit und der spezielle Auftrag zur Bekämpfung jugendlicher Banden dominieren, arbeitet das Hamborner Team präventiv und rehabilitativ zugleich. An die Stelle der ambulanten Betreuung und „Steuerung" tritt in Hamborn die offene Beratung, das Aufzeigen von Berufsmöglichkeiten, Freizeitangeboten u. a. Die arbeitslosen Ju-* gendlichen gelten nicht als Klienten mit potentiell krimineller Energie.

Trotz dieser grundsätzlichen Unterschiede sind hinsichtlich Konzeption und Methode Gemeinsamkeiten festzustellen:

— Beide Streetworker-Gruppen haben es mit Jugendlichen zu tun, die überwiegend aus unterprivilegierten Schichten kommen.

— Beide Projekte sind von anderen sozialpädagogischen Maßnahmen abgehoben durch die Arbeit an Ort und Stelle mit Jugendlichen. — Beide Projekte verstehen sich als neue und praktikable Wege und Methoden der direkten Einwirkung auf Jugendliche.

— Beide Streetworker-Gruppen sind auf den eventuellen Vorwurf gefaßt, nur am Symptom zu arbeiten und nicht das Übel an der Wurzel zu fassen: „Demgegenüber ist zu bedenken, daß in der Symptombekämpfung überhaupt der erste Ansatz für mögliche Veränderungen innerhalb der Gruppen, beim einzelnen Jugendlichen und in den Beziehungen zur Umwelt liegt. Denn es gibt viele Symptome, die von ihrer historischen Entstehung abgelöst sind und ein -automatisiertes Eigenleben führen bzw. sich selbst am Leben erhalten, zumal nach ihrer Aufhebung häufig die ursprünglich verursachenden Faktoren gar nicht mehr wirksam oder vorhanden sind. Deshalb wollen und müssen die Streetworker ihren Blick auf den Unterschied zwischen sich selbst erhaltenden und solchen Symptomen schärfen, die von einer erkennbaren Ursache immer wieder erzwungen werden."

— Beide Streetworker-Gruppen setzen sich aus einem Team von Sozialarbeitern und Sozialpädagogen zusammen. Die Hamborner Gruppe ist der Duisburger Arbeiterwohlfahrt, die Münchener Gruppe dem Stadtjugendamt (Fachgruppe 1/Gesetzlicher Jugendschutz) Verwaltungs-und dienstaufsichtsmäßig angegliedert und unterstellt.

Auch hinsichtlich der Zielgruppe entwickeln sich Gemeinsamkeiten. Die Münchener Gruppe hat es vornehmlich mit Jugendlichen ohne Hauptschulabschluß, ohne berufliche Vorbildung, mit dem Gesetz in Konflikt Geratenen, mit Jugendlichen ohne jeglichen Rückhalt im Elternhaus und Kindern von Gastarbeitern zu tun — mit einem Personenkreis also, der zuerst und in der Hauptsache von der Jugendarbeitslosigkeit betroffen ist. Hier treffen Präventiv-und Korrektivmaßnahmen zusammen. Street-corner-work kann niemals nur Freizeit-Pädagogik oder nur Sozialarbeit sein. Beratung, Anregung und Aktivierung können je nach Problemlage Einzelfallhilfe, soziale Gruppenarbeit und Stadtteilarbeit ebensowenig ersetzen wie dies umgekehrt auch nicht der Fall ist. Auch die theoretische Frage, ob es angesichts der Massenarbeitslosigkeit der Jugend zweckmäßiger ist, mit sozialpädagogischen Methoden zur Eigeninitiative anzuregen, berufspädagogische Förderungsmaßnahmen vorrangig anzubieten oder mit politischen Mitteln das Beschäftigungssystem radikal zu verändern, ist müßig, wenn es darum geht, unmittelbar in Not Geratenen zu helfen, die psychischen und sozialen Folgen der Arbeitslosigkeit für den Jugendlichen zu mildern und das Abgleiten in eine Ziel-und Planlosigkeit des Tagesablaufs zu verhindern.

2. Rahmenbedingungen Die Arbeiterwohlfahrt Duisburg setzte mit finanzieller Unterstützung des nordrhein-westfälischen Sozialministers von Oktober 1975 bis März 1976 ein Team von fünf Sozialpädagogen und Sozialarbeitern ein. Bedingung hierfür war u. a., daß die Mitarbeiter bereits am Ort oder in der Nähe wohnten, so daß auch nach Beendigung des Projekts die Kontakte mit den Jugendlichen erhalten werden konnten. Darüber hinaus haben die Streetworker vielfältige Außenkontakte (z. B. Kontaktaufnahme zu 45 Hamborner Institutionen, Einrichtungen, Behörden, Organisationen, Gruppen) geschaffen, um eine überleitende und dauerhafte Kommunikation für die Zeit „danach" zu gewährleisten.

Auswahlkriterien für die Einrichtung der Anlauf- und Beratungsstelle in der Hamborner Friedrich-Engels-Straße waren:

— Konzentrierung von Großindustrie — Arbeiterviertel — Verkehrsgünstige Lage — Wohnhaus (keine Behördeneinrichtung)

— Informelle und formelle Treffpunkte von Jugendlichen in der näheren Umgebung.

Hier fand auch die erste Info-Fete statt, an der über dreißig arbeitslose Jugendliche teilnahmen. Die Streetworker und der wissenschaftliche Leiter des Modellversuchs führten regelmäßige gemeinsame Projektbesprechungen über konzeptionelle, methodische, organisatorische und technische Fragen sowie über Fragen der wissenschaftlichen Begleitung und Auswertung durch.

IV. Strukturanalyse Hamborns als Brennpunkt der Jugendarbeitslosigkeit

Die nachfolgende ausführliche Strukturanalyse Hamborns soll das soziale Umfeld, in dem und mit dem arbeitslose Jugendliche leben müssen, erschließen und zugleich deutlich machen, wie strukturelle Defizite eines Stadtteils und strukturelle Arbeitslosigkeit eines ganzen Landes sich zu doppelter Benachteiligung für die davon Betroffenen auswirken können. In der Strukturanalyse Hamborns als einem Zentrum der Jugendarbeitslosigkeit spiegelt sich ein wesentlicher Teil der Lebenssituation arbeitsloser Jugendlicher wider. Die explosive Entwicklung Hamborns vom Bauerndorf zur Industriegroßstadt und schließlich zum infrastrukturell vernachlässigten und kulturell unterversorgten Arbeiter-viertel mit sinkendem Lebensstandard ist ein Symbol für frühkapitalistischen Wohlstand und spätkapitalistische Verelendung. Der Zusammenhang zwischen dem vom Verfall bedrohten Wohnbereich und den von Arbeitslosigkeit bedrohten Bewohnern ist evident.

1. Demographische Aspekte • Hamborn, ehemals Abtei, Kirchspiel und Zusammenschluß verschiedener „Bauernschaften", hat eine — selbst für das Ruhrgebiet — außergewöhnliche Bevölkerungsentwicklung hinter sich. Innerhalb von zwei Jahrzehnten wurde aus einer im Jahre 1890 erst 7 983 Einwohner zählenden Gemeinde eine Großstadt, die August Thyssen aufgrund der von ihm vorangetriebenen Entwicklung von Bergbau und Hüttenindustrie in amerikanischem Tempo aus dem Boden stampfte. Die Gesamtentwicklung der Hamborner Bevölkerung und die Siedlungsentwicklung der einzelnen Hamborner Ortsteile zeigen den funktionellen Zusammenhang zwischen der Bergbau-und In-31 dustrieentwicklung in den Hamborner Einzelbezirken und dem Bevölkerungswachstum. Darin spiegelt sich die von den Unternehmern betriebene Siedlungspolitik wider, deren Ziel es war, die Belegschaften in möglichst unmittelbarer Nähe der Arbeitsstätten anzusiedeln. 1797 zählte Hamborn 927 Einwohner. In den folgenden hundert Jahren nahm die Einwohnerzahl nur geringfügig zu (1818: 1 388-, 1871: 2 710). Im Jahre 1900 war die Zahl plötzlich auf 28 000 angestiegen und zwölf Jahre später hatte Hamborn bereits 100 000 Einwohner.

Infolge der gewaltigen Bergbau-und Industrieexpansion in Flamborn und der damit verbundenen großen Nachfrage nach Arbeitskräften war das Reservoir der freien Arbeitskräfte im Ortsbereich und in den angrenzenden Nachbargemeinden bald erschöpft. Die Flamborner Großunternehmen begannen infolgedessen mit der planmäßigen Anwerbung von Arbeitskräften in den Bergbaugebieten Ostdeutschlands und des östlichen Auslands.

Neben Polen und Osterreich-Ungarn (Siebenbürgen, Kroaten, Slowenen) wurden auch Holländer und Italiener angeworben. Der für das Jahr 1900 erstmalig ausgewiesene Anteil von Prozent ausländischen Arbeitskräften stieg bis 1905 auf rund 23 Prozent an und nahm ab 1914 relativ und absolut wieder ab.

In den Jahren 1919— 1925 setzte eine starke Abwanderungswelle — vor allem nach Osterreich-Ungarn und Polen — ein. Seitdem ist der Ausländeranteil kontinuierlich zurückgegangen.

1910 lebten in Hamborn 17 432 Polen, was einem Anteil von 17, 4 Prozent der Gesamtbevölkerung entsprach. Damit lag Hamborn noch unter den vergleichbaren Sätzen anderer Ruhrgebietsstädte, wie der Polen-Anteil im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung im Jahre 1910 zeigt: Recklinghausen (23, 1 °/o), Herne (21, 6%) und Gelsenkirchen (17, 7 °/o).

Hamborn hat heute eine Einwohnerzahl von rund 113 000. Die Bevölkerungsentwicklung ist in den letzten Jahren (1956: 126 975 Einwohner)

deutlich rückläufig. 1939 hatte beispielsweise der Hamborner Ortsteil Bruckhausen eine Einwohnerzahl von 19 079. 1950 war die Zahl auf 15 420 zurückgegangen; 1961 sank sie erneut auf 225 und erreichte schließlich 1970 den Tiefstand von 9 988. Die Abwanderungsbewegung hält weiter an.

2. Sozialhistorische Aspekte

Die gewaltige Bevölkerungsexpansion Hamborns schuf — im groben Vergleich mit der Gegenwart — ein nach Arbeitsbedingungen wie nach Wohnund Lebensverhältnissen entsprechendes „Gastarbeiter" -Milieu riesigen Ausmaßes. Dieses Milieu bildete den Nährboden für soziale Unruhen und drohte schließlich der Kontrolle der gewerkschaftlichen Organisation zu entgleiten.

Als die Gewerkschaften im November 1918 auf Unternehmerdruck hin eine in Hamborn bereits erkämpfte 71/2-Stunden-Schicht wieder auf 8 Stunden heraufsetzen wollten, traten die Hamborner Bergleute in den Streik: „Mit dieser Entscheidung der Hamborner Bergleute gegen ihre Gewerkschaften begann die eigentliche Revolution im Ruhrgebiet von 1918/19." 12) Die Hamborner zogen in großen Demonstrationszügen zu den Nachbarzechen, um deren Solidarisierung zu erreichen, was ihnen auch gelang. Immer mehr Belegschaften schlossen sich dem Streik an und forderten die „Hamborner Sätze" (71/2-Stunden-Schicht). Es kam zur bewaffneten Auseinandersetzung mit der Reichswehr, in der „Hamborn mit seinem bekannt militanten Proletariat" (E. Lucas)

eine dominierende Rolle spielte. Im Hamborner Rathaus bildete sich eine regelrechte Gefechtsleitung, die den anrückenden Truppen massiven Widerstand entgegensetzte. Die „Hölle von Hamborn" war nach dem Tagebuch des Regiments „wohl mit das Beispielloseste . . . , was selbst alte kriegsgewbhnte Offiziere und Unteroffiziere mitgemacht haben.

Auf die Truppe wurde andauernd aus Häusern und Kellerluken, von Dächern und Fabriken, von Halden und Bahndämmen, ja selbst aus Kesselund' Maschinenhäusern geschossen, so daß sie in viele kleine Teile zerriß." 13)

Die Politikerin und Alterspräsidentin des deutschen Reichstages, Clara Zetkin (1857 bis 1933), hat die Flamborner Arbeiter „das reifste Proletatriat der Welt" genannt Damit charakterisierte sie die Radikalität der Hamborner Arbeiterschaft hinsichtlich ihres Bewußtseins und ihres Handelns.

Auch im Dritten Reich bewahrten die Hamborner, so lange es ging, unter der Devise „Nazis raus aus Hamborn" ihre Eigenständigkeit ). Mit der kommunalen Unterordnung unter die Großstadtverwaltung Duisburg gin-gen jedoch zunehmend proletarisches Selbstbewußtsein und Eigenstolz der Hamborner Arbeiter verloren. Hamborn und „Hambornisierung"

bekamen in Duisburg eine pejorative Bedeutung und gelten heute als Synonym für Proletarisierung und Unterprivilegierung. 3. Wirtschaftsstrukturelle Aspekte Von den 66 Hochöfen des Ruhrgebiets stehen heute 39 in Duisburg. Rund 32 Prozent der Roheisenund rund 27 Prozent der Rohstahlerzeugung der Bundesrepublik entfallen auf Duisburg. Das größte Stahlwerk Europas, die August-Thyssen-Hütte, befindet sich in Duisburg-Hamborn. In der August-Thyssen-Hütte (ATH) sind derzeit 15 238 Arbeiter und 6 637 Angestellte beschäftigt. In dem Duisburger Bergbau-und Industriestadtteil Hamborn dominiert die August-Thyssen AG, von der die Bevölkerung, der Handel und das Kleingewerbe mehr oder minder abhängig sind. Um sich neben der industriellen Fertigung behaupten zu können, muß sich insbesondere das Handwerk darauf spezialisieren, die industrielle Gütererzeugung zu ergänzen. Gleichzeitig aber ist das Handwerk der permanenten Abwanderungsgefahr seiner Beschäftigten ausgesetzt, die aus höheren Löhnen und z. T. günstigeren Arbeitsbedingungen der ATH resultiert. Ähnlich verhält es sich mit der Bauindustrie, die im wesentlichen von Renovierungs-, Änderungsund Erweiterungsbauten der Großindustrie lebt. Insgesamt bleiben Handel, Handwerk und Dienstleistungen der Großindustrie nachgeschaltet.

Hamborn hat seine Selbständigkeit (nicht sein Eigenleben) verloren. Hamborn ist heute ein Stadtteil Duisburgs und „Duisburg ist Thyssen". Dies erklärt auch, warum Massenentlassungen und die gleichzeitige Ausschüttung einer zweistelligen Dividende (Lokalpresse: „Die Krise konnte Thyssen bisher nichts an-haben") ohne Argwohn oder Widerspruch hingenommen werden. Massive Kritik oder Demonstrationen gegen das Unternehmen hätten zugleich Betriebsrat, Stadtrat, Institutionen, Zeitungen und einen Großteil der Duisburger gegen sich.

Trotz unübersehbarer Massenentlassungen wird der Duisburger Stahlindustrie Großmut bescheinigt: „Schwache Schulabgänger hätten die Möglichkeit, sich in den Lehrwerkstätten einiger Großbetriebe zu bewähren, allerdings ohne Lehrvertrag." Die bloße Bereitstellung von Arbeit — ohne Anspruch auf Qualifizierung — wird von der Lokalpresse als unternehmerische Leistung gewürdigt. Dabei bleibt unerwähnt, daß Ungelernte viel schneller entlassen werden können als Facharbeiter, die nicht so leicht ersetzbar sind. Die vorhandenen Beschäftigungsprobleme werden durch Hinweise auf ATH-Werte (Betriebstreue, Betriebsfamilie) kaschiert: „Bei der Einstellung wurden vorwiegend Söhne und Töchter unserer Mitarbeiter berücksichtigt. Das soll nicht heißen, daß in der großen . Thyssen-Familie'nur noch ganze Sippen untergebracht werden."

4. Siedlungsgeographische Aspekte Die übliche, von einem Siedlungskern ausgehende Stadtwerdung ist in Hamborn entgegengesetzt verlaufen. Hamborn entwickelte sich mit der Ansiedlung von Bergbau und Industrie an verschiedenen Stellen. So wuchsen die verschiedenen Siedlungsteile kreisund fächerförmig, bis sie sich einander näherten und schließlich im Bereich von Alt-Hamborn-Mitte zusammentrafen. Auf diese Weise vollzog sich eine siedlungsgeographische und städtebaulich unorganisch anmutende Entwicklung.

Das Siedlungsbild Hamborns wird von dem stark hervortretenden industriellen Charakter bestimmt. Breite Industrieflächen ziehen sich durch die Wohngebiete, die den Eindruck von „Siedlungsinseln" erwecken. Aufgrund seiner bergbaulichen und industriellen Sonderstellung wirkt Hamborn wie ein von Duisburg losgelöstes Siedlungsphänomen.

• 5. Wohnungs-und städtebauliche Aspekte Die jahrzehntelange Siedlungspolitik der Großunternehmen, die Arbeitnehmer in unmittelbarer Nähe der Betriebe unterzubringen, prägte die äußere Erscheinung der industrieangrenzenden Wohnviertel. Charakteristisch hierfür ist der übermäßig hohe Anteil an firmeneigenen Häusern und Wohnungen. Nach H. -H. Wehrmanns Untersuchung von 1959/60 lag der Anteil von sogenannten werkseigenen Wohnungen am Gesamtwohnungsbestand bei rund 39 0/018). Die relativ geringe Zahl von Neubauten läßt darauf schließen, daß auch gegenwärtig noch etwa jede dritte Hambor-ner Wohnung in Werksbesitz ist. Dabei entfallen etwa drei Viertel der Häuser und Wohnungen auf das Eigentum der Rheinischen Wohnstätten AG (Fr. Thyssen-und Hamborner Bergbau AG; August-Thyssen-Hütte); den Rest teilen sich im wesentlichen die Bergbau und Industrie AG Neumühl und die Grillo-Werke AG. (1925 betrug der Anteil der werkseigenen Wohnungseinheiten am seinerzeitigen Wohnungsbestand noch 56

Die Wohngebäude des Hamborner Ortsteils Bruckhausen stammen fast ausnahmslos aus der Zeit von 1900 bis 1948. Neubauten gibt es nicht. 41, 8 Prozent besitzen kein eigenes Bad und WC. Die Investitionsbereitschaft im Hinblick auf Neubauten oder Modernisierung der Altbauten wird durch die Ausweitung der August-Thyssen-Hütte und der immer stärker werdenden Industrialisierung des Gebiets verhindert. Neben Dortmund gehört Duisburg zu den in der Bundesrepublik am meisten mit der Industrie verzahnten Stadtgebieten. In Duisburg-Hamborn leben Zehntausende von Menschen hautnah mit den Industrieanlagen zusammen. Eine Verbesserung der Wohnqualität durch Abriß überalterter und in der Bausubstanz schlecht gewordener Häuser kommt kaum in Frage, da nach dem sogenannten Abstandserlaß der nordrhein-westfälischen Landesregierung Neubauten von einer 1, 1 Kilometer messenden industrieanlagenfreien Bannmeile umgeben sein müssen. Diese Auflage kann die Stadt Duisburg nicht erfüllen.

Am stärksten von der Verzahnung zwischen Hochöfen und Wohngebieten ist der Bereich in und um Hamborn betroffen. Die Hamborner bleiben so lange in ihren Altbauten wohnen, bis diese verrotten. Wenn diesem Prozeß der „Hambornisierung" Einhalt geboten werden soll, müssen u. a. die Immissionen so radikal gesenkt werden, daß keine Gesundheitsgefährdung mehr zu befürchten ist. Dem unaufhaltsamen Aufstieg Hamborns vom Dorf zur Großstadt folgt nicht der ebenso plötzliche Fall, sondern vermutlich eine lange Periode sozialen Siechtums.

6. Sozialstrukturelle Aspekte Bei den durch Bergbau-und Schwerindustrie angezogenen Arbeitskräften war die Sozialstruktur Hamborns von Anfang an sehr einseitig auf einen hohen Anteil von Arbeitern an der Gesamtzahl der Erwerbspersonen ausgerichtet. Als Hamborn im Jahre 1910 die 100 000-Grenze erreichte, waren von den rund 37 500 Erwerbstätigen 33 000 (= 88 0/0) Arbeiter, Gesellen, Gehilfen und Lehrlinge. Bergbau und Industrie bestimmen und prägen auch heute noch die Sozialstruktur, so daß der nachrückende bzw. sich im Laufe der Zeit bildende Mittelstand die bestehenden „Soziallücken" kaum ausgleichen kann.

71, 6 Prozent der Einwohner von Hamborn-Bruckhausen haben nur Volksschulabschluß.

Entsprechend niedrig liegen die Quoten bei weiterführenden Abschlüssen. Das stark industrielle Element dieses Stadtteils kommt auch darin zum Ausdruck, daß 72, 9 Prozent nach ihrer beruflichen Stellung Arbeiter sind.

Schmidthorst-Neumühl, ein weiterer Ortsteil Hamborns, hat einen hohen Anteil an Jugendlichen, da die sozial auffälligen Familien aus dem gesamten Stadtgebiet hier untergebracht werden. Gerade hier ist ein hoher Anteil an arbeitslosen Jugendlichen ohne Hauptschulabschluß vorhanden. 64, 1 Prozent sind Arbeiter, 66, 9 Prozent der Einwohner besitzen nur den Hauptschulabschluß. Die Quote derjenigen, die Abitur oder Mittlere Reife haben, ist um die Hälfte niedriger als in der Stadt Duisburg. Der Anteil der Jugendlichen im Alter von 15 bis unter 21 Jahren im gesamten Duisburger Stadtgebiet beträgt 8, 2 Prozent (Bundesdurchschnitt: 7, 7 °/o). Daran gemessen liegt der Jugendlichenanteil in Hamborn noch erheblich höher. Dies gilt insbesondere für die Ortsteile Obermarxloh (8, 8 °/o), Bruckhausen (9, 1%) und Schmidthorst-Neumühl (9, 7 °/o). Dieser überdurchschnittlich hohe Jugendlichenanteil in Verbindung mit dem hohen Bevölkerungsanteil an Arbeitern und Bewohnern mit Volksschulbildung erklärt die hohe Arbeitslosenquote bei Jugendlichen im Arbeitsamtsbezirk Duisburg: Mehr als jeder vierte Arbeitslose (26, 3 %) war im September 1974 in Duisburg unter 20 Jahre alt. Im Vergleich zu Nordrhein-Westfalen (14, 8%) oder gar zum Bundesgebiet (12, 5%) hält Duisburg die Spitze.

Die vorliegende Statistik der Arbeitsamtsbezirke enthält keine aufgeschlüsselten Zahlen für einzelne Stadtteile. Für Hamborn muß daher aufgrund der ermittelten sozialstrukturellen Daten davon ausgegangen werden, daß die Jugendarbeitslosenquote noch erheblich über dem Duisburger Durchschnittswert liegt. Damit kann Hamborn als das in der Bundesrepublik am stärksten von der Jugendarbeitslosigkeit betrogene Großstadtgebiet angesehen werden. Unter Einschluß der „Dunkelziffer"

(insbesondere bei arbeitslosen Mädchen) ist etwa jeder dritte bis vierte arbeitslose Hamborner ein Jugendlicher unter 20 Jahren. In diesem Brennpunkt der Jugendarbeitslosigkeit ein sozialpädagogisches Handlungs-Forschungs-Projekt durchzuführen, war für den Projektträger — die Arbeiterwohlfahrt Duisburg — Pflichtaufgabe und Chance zugleich. Hier konnten direkte, situationsbezogene Hilfen angeboten und unmittelbare Vor-Ort-Einsichten über die Lebenssituation arbeitsloser Jugendlicher gesammelt werden.

V. Projektrealisierung

1. Problemorientierte Gespräche Im Verlauf von sechs Monaten (Herbst 1975/Frühjahr 1976) haben die fünf Streetworker zu etwa 130 arbeitslosen Jugendlichen in Hamborn Kontakt aufgenommen. Angesichts der vorhandenen relativ geringen realen Hilfsmöglichkeiten haben die Streetworker in den letzten sechs bis acht Projektwochen davon abgesehen, neue Gesprächskontakte aufzunehmen. Vielmehr kam es ihnen jetzt darauf an, die gewonnenen Kontakte zu intensivieren und die Jugendlichen auf die Zeit nach 19) Auf diese Weise sind eine Reihe von Einzelfallschilderungen entstanden, die als Grundlage für die nachfolgende Darstellung der Projektergebnisse und der sich abzeichnenden Tendenzen dienten. Der Abdruck dieser Gesprächsprotokolle würde den Rahmen dieser zusammenfassenden Darstellung sprengen. Um eine Vorstellung von Form und Inhalt der Gespräche zu erhalten, wird im folgenden exemplarisch das Gespräch mit B. wiedergegeben.

B., weiblich, 17 Jahre, neun Monate arbeitslos Zu 1: Person B. beurteilt ihre derzeitige Situation rein emotional als „mies". Die derzeitige Situation sieht B. indirekt als selbstverschuldet an (Krankheit). Bei intensiver Befragung schränkt B. ein: „Wenn weniger Arbeitskräfte da wären, hätte er mich nicht entlassen." Im Vordergrund stehen vor allem finanzielle Probleme: „Ich muß mich ganz schön einschränken mit dem bißchen Arbeitslosengeld." Im persönlichen Bereich sieht sich B. als „nicht mehr so ausgeglichen" an. „Früher habe ich gearbeitet und bin kaputt nach Hause gekommen und haße mich aufs Duschen gefreut. Nachher war man ein völlig neuer Mensch. Man wußte, wofür man arbeitet (Geld). Heute habe ich oft Langeweile und weiß nicht, was ich tun soll."

Zu 2: Familie „Von meiner Arbeitslosigkeit sind natürlich alle betroffen", meint B. „Andauernd liege ich meiner Mutter auf der Tasche, und dabei fühle ich mich nicht wohl und bin oft launisch." „Meine Mutter meint auch, daß ich entlassen wurde, weil ich krank bin", fügt B. hinzu; ihre Mutter ist aber auch der Meinung, daß „meine Entlassung auch mit den zu vielen Arbeitskräften zusammenhängt". „Wir sprechen nicht viel darüber, warum so viele arbeitslos sind. Da hat sicher die Regierung was falsch gemacht." B.'s Pläne sind durch ihre Arbeitslosigkeit kaum beeinflußt worden. Sie würde zwar lieber Geld zur Gründung ihres Hausstandes verdienen, um somit'auch etwas unabhängiger von ihrem Verlobten zu sein: „Daß W. alles bezahlen muß, finde ich ja auch nicht nicht gut." „Ich mache jetzt immer den Haushalt, aber das finde ich nicht so schlimm."

Zu 3: Arbeit/Beruf Wenn B. Ende April aus dem Krankenhaus entlassen wird, tritt sie zusammen mit ihrer Mutter und ihrem Verlobten ihre erste Urlaubsreise an. der Beendigung des Projekts vorzubereiten. Dazu wurden zunächst von den Streetworkern, anschließend auch von den Jugendlichen selbst Zusammenkünfte organisiert.

Mit vierzig Jugendlichen wurden intensive, problemorientierte Einzelgespräche geführt.

Die Streetworker bedienten sich dazu eines eigens hierfür entwickelten Fragen-Rasters, der auf fünf nicht isoliert zu sehende Erfahrungsbereiche (Person-Familie-Arbeit/BerufFreizeit-Offentlichkeit/Institutionen) Bezug nahm 19). Der Fragen-Raster wurde von den „Bis zum Urlaub möchte ich keine feste Arbeitsstelle, vielleicht halbtags putzen. Nach dem Urlaub gehe ich in die Fabrik, denn dann gelte ich als erwachsen, weil ich nicht mehr in die Berufsschule brauche." B. möchte endlich Geld verdienen: „Geld ist wichtiger als die Art der Arbeit. Mein Berufs-wunsch ist Friseuse. Aber ich bekomme ja Ekzeme an den Händen von der Farbe; sonst hätte ich den Beruf erlernt." (B. absolvierte während ihrer Schulzeit ein Praktikum bei einem Friseur, der ihr eine Lehrstelle anbot. B. konnte die chemischen Substanzen jedoch nicht vertragen.) Weitere Berufs-aussichten schiebt B. angesichts ihrer Heiratspläne auf. „Ich möchte erst mal heiraten, dafür spar ich ja auch; außerdem bekomme ich bei meiner Berufs-schulpflicht sowieso keine Arbeit." Kontakte zu anderen Arbeitskollegen bestehen seit ihrer Entlassung nicht mehr.

Zu 4: Freizeit B. beschäftigt sich hauptsächlich mit der anfallenden Hausarbeit. „Jeden Tag wird geputzt. Das Essen kocht mal meine Mutter, mal ich. Sonst lese ich (Hefte, Romane), handarbeite, sticke, stricke, häkele, nähe" (im Hinblick auf ihren Hausrat). „Oft gehe ich mit meinem Verlobten zur Schwiegermutter. — Wir haben noch eine alte Clique von früher, der Schule und so. Wir kennen uns jetzt schon seit vier Jahren, so lange ich hier wohne. Aber mein Verlobter sieht das nicht gerne, wenn ich mit den anderen zusammen bin. Dann stehen wir vor den Türen oder gehen auf den Spielplatz. Ich bin dann so albern, sagt W. Wir wollen uns jetzt mal alle wieder treffen und dann alles machen, was wir schon früher gemacht haben (Schwimmen, Spazierengehen). Dadurch, daß ich arbeitslos bin, hat sich in der Clique nichts geändert. Alle sind genauso wie früher." Eine Verringerung der Kontakte hängt nach B.'s Meinung nicht mit ihrer Arbeitslosigkeit zusammen: „Das hängt davon ab, ob wir rausgehen. Seit ich meinen Verlobten kenne; habe ich viele Menschen kennen-gelernt. Ich bin natürlich jetzt immer zu Hause, aber Leute kann ich wohl immer kennenlernen. Freizeitgewohnheiten brauche ich nicht aufzugeben, weil mein Verlobter alles bezahlt. Aber sonst muß ich immer rechnen mit dem Geld und drehe es dreimal um, bevor ich es ausgebe. Ich muß schon zurückstecken."

Zu 5: Öifentlichkeit/Institutionen „Ja, ich hab oft so ein Gefühl, daß ich schlechter bin als die, die arbeiten. So auf der faulen Haut liegen, die anderen arbeiten und ich tu nichts. Aber es hat mir noch niemand etwas gesagt." Zu den Presseberichten meint B.: „ Die können große Worte kloppen. Die schreiben zwar viel über Ar-beitslos-Sein, aber wie es wirklich ist, das wissen die ja auch nicht. Die sind ja nicht arbeitslos. Die Regierung sollte mal nicht so viel anderen Ländern helfen, sondern uns selbst. Das ist wichtiger. Von Politik habe ich nicht viel Ahnung." Hilfen und Leistungen von Seiten der Institutionen sieht B. skeptisch: „Irgendwo ist immer ein Haken. Idi habe schlechte Erfahrungen mit dem Arbeitsamt gemacht. Die haben oft Vorurteile gegenüber Arbeitslosen. Kurse beim Arbeitsamt bringen auch nicht viel ein." über die Angebote von Jugend-häusern urteilt sie: „Die machen viel im Bürger-haus. Ich würde gerne hingehen, aber mein Verlobter hat keine Lust. Aber das Angebot war schon besser, jetzt ist so viel Durcheinander. Es sind auch nicht mehr so viele Leute da."

Jugendlichen keineswegs als störend empfunden, weil er nur in den Fällen, in denen längere Kontakte vorhanden und auch ein Vertrauensverhältnis zwischen Jugendlichen und Streetworker gegeben war, als „Tischvorlage" für den Streetworker Verwendung fand. Ansonsten diente er als allgemeiner Orientierungsrahmen. Wie die Streetworker berichteten, stellte der Fragen-Raster eine gute methodische Hilfe für sie dar. Die Gespräche verliefen zielstrebiger, strukturierter, systematischer. Dabei bedeutete die starre Form keine Barriere oder eine Abgrenzung für andere Themenbereiche. Oft betonten die Jugendlichen selbst: „Das halt'ich auch noch für wichtig" oder sie schweiften ab und berichteten von aktuellen Ereignissen und Problemen (z. B. „Krach mit der Oma"). Das Abschweifen war auch in der Frage-und Gesprächstechnik begründet. „Ja" - und „Nein" -Antworten sollten möglichst vermieden werden. Dazu war es erforderlich, den Jugendlichen durch einzelne Fragen herauszufordern oder gar zu provozieren: „Warum bist Du eigentlich arbeitslos?"

Problemorientierte Gespräche anhand des Fragen-Rasters dauerten durchschnittlich ein bis zwei Stunden, da ein allzu konzentriertes Vorgehen eine Überforderung der Jugendlichen bedeutet hätte. Darüber hinaus hatte der Streetworker auch darauf zu achten, mit dem Jugendlichen während des Gesprächs allein zu sein (ohne Eltern, Verwandte, Freunde).

Wie wichtig dies war, zeigte sich in einem Gespräch, als ein berufstätiger Freund hinzukam und sich der jugendliche Gesprächsteilnehmer urplötzlich verschloß und jedes weitere Gespräch abblockte.

In einigen Intensivgesprächen konnten die Streetworker auch ihre eigenen Probleme einbringen. Dabei wurde beispielsweise das Streetwork-Projekt sowohl aus der Perspektive der Jugendlichen als auch aus der der Streetworker bzw.des Trägers her behandelt. In angstfreier, offener Gesprächsatmosphäre haben die arbeitslosen Jugendlichen die Notwendigkeit und Begrenztheit der Arbeit der Streetworker kennengelernt. Je intensiver die Gespräche auf beiden Seiten geführt wurden, um so offener verliefen sie (und umgekehrt). Hier wurde das Beratungsgespräch zum wechselseitigen Kommunikationsprozeß.

2. Möglichkeiten und Grenzen konkreter Hilfen Im folgenden sollen exemplarisch eine Reihe von Handlungsansätzen und Hilfsangeboten skizziert werden.

U. f männlich, 19 Jahre, drei Monate arbeitslos Nach mehreren Gesprächen erklärte sich U. grundsätzlich interessiert und bereit, den Hauptschulabschluß nachzumachen. Die Streetworker versprachen, sich um die notwendigen Formalitäten zu kümmern. Zunächst erfuhren sie, daß U. 300 DM Kursgebühren bezahlen müßte, wozu U. aber nicht in der Lage war. Die Streetworker bemühten sich deshalb, den Verein für Jugendhilfe dafür zu gewinnen, die anfallenden Kosten zu übernehmen. Als die Streetworker U. die Mitteilung machen mußten, daß der Kurs aus organisatorisch-technischen Gründen frühestens in einem halben Jahr beginnen könne, reagierte U. ungehalten: „Dann geh'ich arbeiten als Hilfsarbeiter." Drei Wochen später war er als Bauhilfsarbeiter tätig.

Die Streetworker-Hilfe scheiterte letztlich an der mangelnden Flexibilität von VHS und DGB-Berufsförderungswerk, die ihre Kurse zu festgesetzten Zeiten beginnen lassen (unabhängig davon, ob nicht eine größere Anzahl von Interessenten die Einrichtung eines Kurses zu einem früheren Zeitpunkt rechtfertigte). B., weiblich, 17 Jahre, neun Monate arbeitslos B. lebt in einem unvollständigen Elternhaus.

Sie hat den Sonderschulabschluß mit der Durchschnittsnote 2 erreicht. Auch hier gelang es den Streetworkern, B. zum Nachholen des Hauptschulabschlusses zu bewegen. Der Verein für Jugendhilfe erklärte sich bereit, die Fahrtkosten zu übernehmen und einen Taschengeldbeitrag zu zahlen. Den gemeinsamen Planungen machte B.'s Verlobter, Schlosser bei ATH, einen Strich durch die Rech-nung. Mit der Begründung „Du brauchst nicht mehr die Schulbank zu drücken, wir heiraten bald" überredete er sie, von ihren Schulplänen Abstand zu nehmen. B. nahm daraufhin eine Putzstelle an, um möglichst schnell viel Geld zu verdienen. Wiederholt haben die Streetworker bei ihren Hausbesuchen feststellen müssen, daß geschlechtsspezifische Vorurteile das größte Hindernis für die Weiterqualifizierung der Mädchen sind (Beispiel: „Wat wollen'se denn schon wieder hier. Meine Tochter hat letzte Woche geheiratet; damit ist das Problem erledigt.")

K., männlich, 17 Jahre, sechs Wochen arbeitslos K. hat Hauptschulabschluß, aber keine Lehre. Er war immer nur kurzfristig beschäftigt (Eltern: „Zu aufmüpfig am Arbeitsplatz"). Nach Gesprächen mit den Streetworkern sah K. ein, daß die gelegentlichen Hilfsarbeiter-Jobs kein Dauerzustand seien. Als Lieblingsberuf nannte K. „Zimmermann". Um dieses Ziel zu erreichen, erklärt sich K. auch zu einer Ausbildung oder Umschulung bereit. Vom Arbeitsamt erfahren die Streetworker, das Arbeitsförderungsgesetz werde gerade geändert, die neuen Bestimmungen seien nicht vor Mitte Februar zu erwarten. Im übrigen sei der Zimmermann-Beruf nicht förderungswürdig, außerdem sei auch noch eine Eignungsprüfung erforderlich. Als K. dies hört, zieht er seine Bereitschaft zurück: „Wenn ich 'n Job krieg, bleib ich da." K. brach den Kontakt mit den Streetworkern ab. Als ein Streetworker K. wenige Wochen später auf der Straße trifft, macht K.dem Streetworker heftige Vorwürfe, weil er inzwischen mit seinen Eltern Arger bekommen hat, die ihm ständig wegen der von den Streetworkern angebotenen Berufsausbildung in den Ohren liegen. Dem Streetworker ruft er zum Schluß zu: „Laß mich bloß in Ruhe, sonst krieg'ste mal eines Tages eine vor die Schnauze." Hier haben die Streetworker Konflikte ausgelöst, ohne sie lösen zu können.

In anderen Fällen wurde die Arbeitslosigkeit Totgeschwiegen'; Hilfsangebote der Streetworker wurden empört abgewiesen: „Kümmern Sie sich um Ihren Dreck; mein Sohn ist nicht arbeitslos." Es kam auch vor, daß vereinbarte Gesprächstermine mit Jugendlichen nicht zustande kamen, weil die Eltern interveniert hatten.

3. Die Immobilität der Institutionen als Hemmschuh Ein Haupthindernis für die Aktivitäten der Streetworker bildete die mangelnde Kooperationsbereitschaft der Institutionen. Nur in einem konkreten Fall wissen die Streetworker davon zu berichten, daß es ihnen gelang, drei arbeitslose Jugendliche erfolgreich an DGB-Schulungen teilnehmen zu lassen. Die Jugendvertreter des DGB setzten sich daraufhin verstärkt für die drei Jugendlichen ein und bemühten sich persönlich um die Vermittlung einer Arbeitsstelle. Ansonsten verschanzten sich die Institutionen hinter Bürokratismen. Das Arbeitsamt sah sich beispielsweise außerstande, ohne Genehmigung der „Hauptstelle" ein Plakat zur Einladung arbeitsloser Jugendlichen für eine Fete auszuhängen. Die Lehrer einer Berufsschule sagten spontan Hilfe zu, ohne — nachweislich — in den Jungarbeiterklassen und Klassen arbeitsloser Jugendlicher darüber ein Wort zu verlieren. Befragungsaktionen der Streetworker in der Schule selbst wurden von der Direktion unter Hinweis auf die Genehmigungspflicht durch das Kultusministerium untersagt. Generell ist festzustellen, daß arbeitslose Jugendliche bei den Institutionen als . schwierig'gelten. Als einzelne werden sie akzeptiert; jedoch als Gruppe hält man sie sich fern, weil sie angeblich einen nicht kalkulierbaren . Risikofaktor'darstellen.

Am meisten machten den Streetworkern die Immobilität der Institutionen zu schaffen, ihre Unfähigkeit, flexibel auf neue Probleme zu reagieren. Anstatt in der derzeitigen Notsituation verstärkt offene Jugendarbeit anzubieten, werden Heimverbote von ein bis drei Jahren ausgesprochen (nach drei Jahren ist der Betroffene kein Jugendlicher mehr!) oder es wird nur noch geschlossene Jugendarbeit durchgeführt (wie z. B. im städtischen Jugendheim Marxloh).

Dem neuen Problem der Jugendarbeitslosigkeit stehen die Einrichtungen etwas konzept-und hilflos gegenüber. Es wird als „zusätzliche" Belastung empfunden, für das eigentlich eine Aufgabenerweiterung und zusätzliche Fachkräfte erforderlich wären. Um nicht auf akute Probleme reagieren zu müssen, werden Probleme der Zuständigkeiten und Kompetenzen vorgeschoben.

4. Individualisierung vor Solidarisierung Ständig wechselnde Ziel-, Problem-und Rand-gruppen (Halbstarke, Rocker, Gammler, Hippies, Drogensüchtige usw.) kennzeichnen die Jugend -und Sozialarbeit der letzten Jahre. Die offene, offensive und mobile Jugendberatung durch Streetworker ersetzt nicht, son37 dem ergänzt notwendigerweise nur die herkömmlichen Formen der Beratung und Hilfe. Allerdings erweisen sich von den Streetworkern ausgehende Ansätze zur Solidarisierung der arbeitslosen Jugendlichen nur dann als sinnvoll, wenn über den Impuls und den beginnenden Solidarisierungsprozeß hinaus eine kontinuierliche Beratung und Hilfe zur Selbsthilfe gewährleistet werden kann (z. B. , heißer Draht'zu den Institutionen, Fahrgelderstattung für Zusammenkünfte, organisatorisch-technische Hilfen). Als die Streetworker erkannten, daß mit der Gruppenbildung die Erwartungen der arbeitslosen Jugendlichen an jedes einzelne Gruppenmitglied und insbesondere an die Initiatoren (Streetworker) anstiegen, ohne daß begründete Aussicht bestand, diese Erwartungen in konkrete Handlungen umzusetzen, verstärkten sie die Individualhil-

fe. Mit Mitteln der Gesprächstherapie versuchten sie, die innere Festigung des einzelnen Jugendlichen zu erhalten oder zu erreichen, indem sie ihnen individuelle Möglichkeiten für schulische, berufliche und politische Weiterbildung aufzeigten.

Die Streetworker waren sich dabei des Vorwurfs der Problemverschiebung (Individualisierung anstelle von Kollektivierung des Problems, Kurieren von Symptomen) durchaus bewußt. Wenn aber schon die strukturellen Rahmenbedingungen nicht verändert werden können, sollten wenigstens Einstellungsund Verhaltensänderungen bei den einzelnen Jugendlichen angestrebt werden. Ihr Nahziel war eine Stabilisierung des einzelnen auf Zeit (ohne sie allerdings auf Dauer sichern zu können).

Die einzelnen Jugendlichen haben (im Vergleich zu erwachsenen Arbeitslosen) relativ kurzfristige Erfahrungen von Arbeitslosigkeit. Ihr politisches Bewußtsein von der gesamtgesellschaftlichen Problematik ist kaum ausgeprägt. Für die Streetworker war daher die soziale Gruppenarbeit ein Mittel (nicht ein Ziel, wie ursprünglich in der Konzeption vorgesehen), um allgemeine Probleme deutlicher sichtbar zu machen, individuelle Schuldgefühle abzubauen und damit zur Stärkung des persönlichen Selbstwertgefühls beizutragen.

VI. Projektergebnisse

1. Typologie der arbeitslosen Jugendlichen

Unter Berücksichtigung typusbildender Unterschiede wurden die arbeitslosen Jugendlichen im Hinblick auf ihre Einstellung und Haltung zum Leben zwei „Haltungsgruppen" (Ungebrochene/Gebrochene) mit je zwei „Haltungstypen" (Zuversichtliche/Pragmatische/Resignative/Apathische) zugeordnet. Diese Unterscheidung sollte nach Aufzeichnung und Zuordnung der direkten Aussagen der arbeitslosen Jugendlichen zu ihrer Lebenssituation das tatsächliche Ausmaß ihrer Betroffenheit widerspiegeln, die psycho-sozialen Folgen der Jugendarbeitslosigkeit deutlich machen und insbesondere über die unterschiedliche Verteilung der einzelnen Haltungstypen Aufschluß geben.

Dabei sollten die Auswirkungen sozialisationsspezifischer Einflüsse auf das Verhalten während der Arbeitslosigkeit und die daraus resultierende Haltung zum Leben näher untersucht werden. Entsprechend der Idealtypik waren nur die „wesentlichen" und deutlich hervortretenden Haltungskriterien für die Zuordnung zu einem Haltungstyp ausschlaggebend. „Unwesentliche", nicht dominierende Merkmale blieben unbeachtet, weil die Typologie Haltungen lediglich modellhaft verdeutlichen, nicht aber exakt bestimmen sollte. Die einzelnen Haltungstypen lassen sich wie folgt charakterisieren:

Zuversichtliche Haltungskriterien: Ungebrochener Mut trotz einzelner Rückschläge; Hoffnung auf die Zukunft; Erwartungshaltung („vielleicht klappt's"); hohe Frustrationstoleranz; Vertrauen auf die eigenen Fähigkeiten; unbeirrtes Vorgehen; Bedürfnis nach Selbstbestätigung; uneingeschränkte Arbeitsbereitschaft. Pragmatische Haltungskriterien: Sachlich-nüchterne Grundhaltung; Arbeitslosigkeit wird als strukturelles (nicht individuelles) Problem erkannt („irgendwie pack ich's schon"); Konsumentenhaltung; lassen die Zukunft auf sich zukommen; „meistern" die derzeitige Situation durch Aufbau von (z. T. illusionären) Abwehrmechanismen wie z. B. überbetonter, . aufgesetzter'Lässigkeit („brauche nicht zu arbeiten, kriege trotzdem Geld"; „mir kann's doch gar nicht besser gehen") zum Selbstschutz; stark familienorientiert; wenig eingeschränkte Arbeitsbereitschaft. Resignative Haltungskriterien: Getäuschte Hoffnung („Ich möchte mal wissen, warum ich mich so abgeschunden habe"); unerwartete Ernüchterung; Enttäuschung; keine Zukunftspläne („das ist ganz weit weg"); keine Erwartungen („da nimmt mich ja doch keiner"; „aber wirklich können wir ja nichts tun"); keine zielstrebige Arbeitssuche, kaum noch berufsmotiviert; eingeschränkte, selektive Arbeitsbereitschaft. Apathische Haltungskriterien: Teilnahmslosigkeit („für mich gibt es sowieso nichts"); Gleichgültigkeit; völlige Planlosigkeit; Mutlosigkeit; energieloses, tatenloses Zusehen (es hat ja sowieso keinen Sinn"); Selbstaufgabe („schaff ich doch nicht mehr"); soziale Isolierung; Al-koholismus; keine Arbeitssuche mehr; äußerst geringe Arbeitsbereitschaft.

Nach den Beobachtungen der Streetworker tendiert derzeit etwa jeder zweite arbeitslose Jugendliche zur Haltungsgruppe „Pragmatische" und jeder dritte zur Haltungsgruppe „Resignative". Der Anteil der „Aktiven" und „Apathischen" beträgt je etwa zehn Prozent. Die einzelnen Haltungstypen stellen weniger stabile Lebenseinstellungen dar als vielmehr mit der Dauer der Arbeitslosigkeit sich verändernde Haltungsphasen sowie z. T. auch von einzelnen Tagesereignissen abhängige Stimmungslagen (Mischformen). Diese Varianz von Einstellung und Verhalten der arbeitslosen Jugendlichen macht die Typologie keineswegs überflüssig, weil sie bei allem Wechsel die grundsätzliche Verteilung der einzelnen Haltungstypen nicht wesentlich ändert. Der derzeitig vorherrschende Typus „Pragmatische" bleibt auch bei individuell wechselnden Tagesstimmungen einzelner Jugendlicher grundsätzlich erhalten. Auch ist je nach Dauer der Arbeitslosigkeit eine durchaus kontinuierliche Entwicklung von mehr „positiven" zu mehr „negativen" Grundeinstellungen zu beobachten. Aktiv-zuversichtliche Grundhaltungen schlagen tendenziell mit längerer Dauer der Arbeitslosigkeit in pragmatische und schließlich in resignative und apathische Haltungen um, während der umgekehrte Prozeß weder beobachtbar noch wahrscheinlich ist. 2. Solidaritätsfunktionen der Familie Für die Familie gilt die Arbeitslosigkeit in der Regel nicht als persönlich verschuldet. Die Familie macht infolgedessen hauptsächlich die gesellschaftlichen Verhältnisse, denen sie selbst „ausgeliefert" ist, dafür verantwortlich Nicht zuletzt die Berichterstattung in den Massenmedien (insbesondere Fernsehen) hat dazu beigetragen, daß Arbeitslosigkeit als strukturelles Problem erkannt wird. Weil die Familie aber die allgemeinen Verhältnisse selbst nicht ändern kann, reagiert sie darauf durch eine Verfestigung der in ihr entwickelten familienbezogenen Anschauungen und Tendenzen („Für meinen Sohn sorge ich alleine; die Arbeit besorge ich ihm schon selbst. Ich brauche keine fremde Hilfe"). Einmischungen „von anderen" werden nicht geduldet.

Die Familie wird vollends zur Not-und Solidargemeinschaft in den Fällen, wo sie als Ganzes von der Arbeitslosigkeit betroffen oder bedroht ist, wie z. B. im Falle des 48jährigen Maurers B., dessen beide Söhne arbeitslos sind: „Noch kann ich ja für sie sorgen, aber wat is, wenn se mich auch rausschmeißen." Die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Fragen (insbesondere den Ursachen der Arbeitslosigkeit) wird aus der Familie weitgehend herausgehalten, um die Stabilität des familiären Zusammenhalts zu erhöhen und solidarische Verhaltensweisen in der Familie zu ermöglichen. Die allgemeine gesellschaftliche Unsicherheit (Bleibt die Massenarbeitslosigkeit? Wann kommt der wirtschaftliche Aufschwung?) wirkt in die Familie hinein und erschwert oder verhindert gar die Erfüllung der Erziehungsaufgaben der Familie. Unter dem Deckmantel („Er hat ja sonst nichts vom Leben") werden Verhaltensprobleme arbeitsloser Jugendlicher heruntergespielt („Aber die beiden schlafen noch, was sollen se denn auch sonst machen... Nun ja, wenn man bis zum Sendeschluß Fernseh'sieht, muß man ja morgens lange schlafen").

In Notzeiten wird von der Familie bewußt der Zusammenhalt aller Familienmitglieder angestrebt. Die Familie wird als letzter und entscheidender Lebensraum („Schutzwall") empfunden, was den Verbleib der arbeitslosen Jugendlichen in der Familie begünstigt. Dies trifft verstärkt für weibliche Jugendliche zu. Bei den weiblichen Jugendlichen wird die länger währende Arbeitslosigkeit sehr viel weniger als Zerstörung des Lebensplans emp-funden Sie helfen meist im Haushalt und erhalten dafür von den Eltern nicht selten das nunmehr . erarbeitete'Taschengeld („Freizeit, haben wir nicht. Bei fünf kleinen Kindern ist immer etwas zu tun"). Die stärkere Integration der weiblichen Jugendlichen in die Familie trägt mit dazu bei, daß Mädchen länger als Jungen arbeitslos bleiben („Meine Oma findet es ganz gut, daß ich zu Hause bin. Ist doch klar; ich schmeiß den ganzen Haushalt"). Auch männliche Jugendliche halten nicht mehr starr an ihrer geschlechsspezifisehen Rolle fest: „Wenn ich mal nicht weiß, was ich machen soll, dann helf’ ich zu Hause. Zu tun ist eigentlich immer was").

Je stärker die von der Arbeitslosigkeit betroffene Familie von ihrer Außenwelt sozial isoliert wird, um so stabiler wird ihre Solidaritätsfunktion nach innen. Mit der Zunahme des Außendrucks wächst auch die Solidaritätsleistung der Familie — bis hin zum klein-familiären Gruppenegoismus („Das lassen Sie mal meine Sorge sein; meiner Tochter besorge ich schon die Arbeit"). Diese Einstellung kann sich zu einer Vorwurfshaltung gegenüber der Gesamtgesellschaft verstärken.

3c Entwicklungsgefährdung und Reduzierung der Kontakte Die Abschirmfunktion der Familie bewirkt weiterhin eine Reduzierung der sozialen Kontakte. Besucher, Bekannte und Freunde werden meist schon an der Haustür , abgefertigt'

(„Meine Alte regt sich immer unheimlich auf, wenn ich einen mitbringe"). In bestimmten Fällen kann sich der Einfluß der Familie negativ auf die Dauer der Arbeitslosigkeit auswirken, indem sie zum Durchhalten der Arbeitslosigkeit rät, um ein Abgleiten in tiefer-stehende oder als solche angesehene Berufsschichten zu verhindern. Die Aufstiegs-bzw. Wiederaufstiegswünsche können so eine spätere Lösung von der Elternfamilie bewirken. In manchen Fällen führt die Arbeitslosigkeit dazu, daß eine schon vorhandene Selbständigkeit wieder rückgängig , gemacht wird („Zu Hause habe ich nichts mehr zu melden"). In anderen Fällen wird durch die Arbeitslosigkeit eine geplante Lösung von der Elternfamilie verzögert („Ach, meine Mutter ist ganz in Ordnung. Wenn ich die nicht hätte").

Die solidarische Haltung der Familie verdeckt innerfamiliäre Konflikte. Die ökonomisch-materielle Abhängigkeit reduziert mühsam gewonnene Selbständigkeiten und kritische Grundhaltungen. So erweist sich die Familie als getreues Spiegelbild einer arbeitsorientierten Leistungsgesellschaft, in der gesellschaftliche (in diesem Falle familiäre) Macht mit ökonomisch begründeter Macht einhergeht. Ob die länger andauernde „Fürsorge" der Familie für den arbeitslosen Jugendlichen auch mit einer psychischen Retardierung verbunden ist, kann anhand des vorliegenden Materials nicht eindeutig belegt werden. Es ist jedoch anzunehmen, daß bei länger andauernder Arbeitslosigkeit und der dem Jugendlichen immer spürbarer werdenden Abhängigkeit vom Elternhaus („Zu Hause habe ich nichts mehr zu melden") eine entwicklungsgefährdende Asynchronie eintritt, d. h. eine Nichtübereinstimmung zwischen dem erreichten physiologisch-psychischen und geistigen Entwicklungsstand einerseits und den nach-hinkenden individuellen Emanzipationsmöglichkeiten andererseits. In der irreparablen Verzögerung (Retardation) des sozialen Reile-prozesses muß die größte Gefahr einer Dauer-arbeitslosigkeit von Jugendlichen gesehen werden. Soziale Entwicklungsdefizite in Verbindung mit Ziellosigkeit und dem Verlust von Berufs-und Zukunftsperspektiven machen die davon Betroffenen zwangsläufig zu Problemgruppen von heute und zu Randgruppen von morgen.

Schon sind eindeutige Tendenzen einer freiwilligen Isolierung (Einzelgängertum) feststellbar: — Die Kontakte zu ehemaligen Arbeitskollegen werden fast völlig abgebrochen („interessieren mich nicht mehr"). Zusammenkünfte mit berufstätigen Jugendlichen werden als „Treffen mit anderen" bezeichnet. Die Arbeitswelt der Berufstätigen ist für arbeitslose Jugendliche die „andere" Welt.

— Die Kontakte zu Freunden und Freundinnen werden insgesamt reduziert oder materieller Vorteile wegen am Leben erhalten („Meine Freundin sieht gar nicht gut aus, aber wegen des Geldes ist mir das egal").

— Die Jugendlichen begeben sich in eine selbstgewollte Isolierung, um nicht als Arbeitslose in der Öffentlichkeit diskriminiert zu werden. Mit der Begründung:'„Früher war es hier schöner, da wurde noch was gemeinsam gemacht; jetzt ist hier nichts mehr los", versuchen Jugendliche, ihre Flucht in die Familie sowie ihre eigene Passivität zu kaschieren. 14. Wandel der Einstellung zur Arbeit Als Hauptursachen für die persönliche Arbeitslosensituation werden von den Jugendlichen die Bestimmungen des Jugendarbeitsschutzgesetzes und die Pflicht zum Berufsschulbesuch angesehen. Nur etwa jeder zweiIte arbeitslose Jugendliche (z. B. 32 von etwa 70 Jugendlichen in einer Duisburger Berufsschule)

besucht regelmäßig die Berufsschule („Ich bin da nicht gemeldet, noch nie da gewesen, und die haben mich auch noch nicht ge-holt.

Wenn ich jetzt da auftauche, bekomme ich keine Arbeit mehr"). Die Aussichten, eine Lehrstelle zu bekommen, werden als sehr ge-ring eingeschätzt.

Subjektive Bestimmungsfaktoren:

— die Einflußnahme von Eltern, Freunden, Bekannten u. a. auf die Stellensuche, — altersspezifische Unterschiede, — die Ernsthaftigkeit der Stellensuche, — die Kontinuität der Stellensuche, — die persönlichen Berufsvorstellungen u. a.

Objektive Bestimmungsfaktoren:

1 — die Arbeitsbedingungen, — die beruflichen Ziele in ihrem Verhältnis zu den Realisierungschancen, — das Ansehen bestimmter Arbeiten/Berufe, — der Bekanntheitsgrad der Stellenangebote u. a.

In besonderem Maße ist die Arbeitssuche abhängig von dem Grad des Arbeitswillens und den Berufsvorstellungen. Unter Arbeitswille wird dabei das durch Anlage und soziales Schicksal entwickelte Verhältnis zur Arbeit und unter Berufsvorstellungen die Gesamtheit der Wünsche, Ziele, Wertvorstellungen und Ansprüche, die das berufliche Streben beeinflussen, verstanden Nach den Beobachtungen der Streetworker haben die arbeitslosen Jugendlichen ihre Berufsvorstellungen beinahe vollkommen . materialisiert', d. h., nicht mehr das Berufsbild ist für sie entscheidend, sondern „einen Job haben" und „Geld verdienen". Berufswünsche auf lange Sicht oder gar für die Zukunft fallen diesem konkreten Nahziel zum Opfer.

Was jahrzehntelang als erstrebenswert galt (einen . Beruf fürs Leben'zu erlernen), ist für die arbeitslosen Jugendlichen bedeutungslos geworden. Arbeit hat für sie einen anderen Stellenwert bekommen, indem sie aus dem existentiellen Gesamtbezug herausgelöst und in zeitlich befristete, unmittelbar situationsbezogene Teil-Jobs aufgeteilt wird. Der von den Streetworkern in einer Gaststätte registrierte Warnruf: „Vorsicht Jungens, die wollen Euch Maloche geben", ist als eine sol-che Absage an herkömmliche Formen von „Arbeit" bzw. „Maloche" (Lernen in der Schule, berufliche Ausbildung, betriebliche Fortbildung, Weiterbildung, Umschulung u. a.) zu verstehen. Der Ausspruch eines 19-jährigen Jugendlichen: „Ich möchte mal wis-sen, warum ich mich so abgeschunden habe. . .", deutet auf die geänderte Einstellung zu „Arbeit" (—malochen) und „Job" (=Geld verdienen) hin.

Der erkennbare Einstellungswandel ist Ergebnis eigener materieller Erfahrungen und nicht Produkt eines Reflexionsprozesses, der die arbeitslosen Jugendlichen angeblich davon abhält, „sich überhaupt noch mal den fremdbestimmten Arbeitsbedingungen und der Ausbeutung im Lohnarbeitsverhältnis auszusetzen" Den Jungarbeitern ein derartiges Problembewußtsein und Abstraktionsniveau zu unterstellen heißt, ihre derzeitigen konkreten Lebensbedürfnisse nicht kennen.

5. „Kriminalisierung der Jugend“ — eine schichtenspezifische Spekulation?

In der Bundesrepublik herrscht in der öffentlichen Meinung die Auffassung vor, daß Jugendliche, die längere Zeit arbeitslos sind, in besonderer Weise der Verwahrlosung und Kriminalisierung ausgesetzt sind. Diese Auffassung spiegelt die Selbstgerechtigkeit einer vergangenen Epoche bürgerlicher Sicherheit wider, „die als Grundlage der Arbeitslosigkeit sich meist nur die Arbeitsscheu, auf jeden Fall aber nur ein persönliches Verschulden der davon Betroffenen vorzustellen vermochte. Die Wurzel der heutigen Ansicht liegt also in Wirklichkeit in der früheren Erfahrung, daß nicht Arbeitslosigkeit die Ver-26 wahrlosung, sondern gerade umgekehrt die Verwahrlosung die Arbeitslosigkeit nach sich zog"

Gegenwärtig kann nicht von einem „zwingenden" Zusammenhang zwischen Jugendarbeitslosigkeit und Kriminalität gesprochen werden, da die Massenarbeitslosigkeit breiter Berufsschichten zwangsläufig zu persönlich „unverschuldeten" Arbeitslosigkeiten geführt hat. Nach Untersuchungen des Amerikaners Lowell J. Carr hat beispielsweise die große Wirtschaftskrise in den USA im Jahre 1929 und die mit ihr verbundene Massenarbeitslosigkeit eine „ganz erhebliche Senkung der Kriminalität" bewirkt, was darauf zurückgeführt werden kann, daß die Familienmitglieder durch die Notsituation enger zusammengeführt und so die gegenseitige Kontrolle verstärkt wurde. Dieselben Beobachtungen wurden auch in der Schweiz gemacht.

In den fünfziger Jahren wertete Beermann 176 Akten der Jugendgerichtshilfe in Hamburg aus, die Angaben über 14-bis 17jährige Straffällige für den Zeitraum von November 1946 bis April 1951 enthielten. An drei kriminellen Merkmalen verglich er das Verhalten arbeitsloser und nicht arbeitsloser Straffälliger: 1.

kriminelle Zellenbildung (Bandenbildung), 2.

kriminelle Energie (Einbruch) und 3. kriminelle Verwahrlosung (Rückfall).

Beermann ermittelte, daß bei hundert Delikten, die von arbeitslosen Jugendlichen begangen wurden, elf mehr gemeinsam, zehn mehr im Rückfall, jedoch nur 1, 5 mehr Einbrüche ausgeübt wurden. Dies deutet daraufhin, daß sich die Kriminalität arbeitsloser Jugendlicher kaum in einer Steigerung der kriminellen Energie (Einbruch), sondern allenfalls in Richtung der kriminellen Kontaktaufnahme (verstärkte Bandenbildung) und der höheren Rückfallguote äußerte. Dabei waren die Ursachen für die Straffälligkeit der arbeitslosen Jugendlichen eher in der seelischen als in der materiellen Not zu suchen.

In der Bundesrepublik gibt es bisher keine gesicherten Aussagen über die mögliche Wechselwirkung von Jugendarbeitslosigkeit und Kriminalität. Die die Öffentlichkeit beunruhigenden, durch Pressemeldungen vielfach verbreiteten Meldungen über eine erschreckende Zunahme der Jugendkriminalität und die Entstehung neuer Rocker-und Rauschgiftwellen verdanken ihren Ursprung eher düsteren Spe-* kulationen denn empirischen Beobachtungen. Deutlich kommt dies etwa in einer Pressemeldung des Bundes Deutscher Kriminalbeamter zum Ausdruck: „Als Folge der Jugendarbeitslosigkeit haben sich überall in der Bundesrepublik neue Rockergruppen gebildet, und bestehende Gruppen erhalten weiteren Zulauf. Diese Beobachtungen teilte der Vorstand des Bundes Deutscher Kriminalbeamter ... mit. Die Berufsorganisation für Kripo-Beamte erwartet bei zunehmender Arbeitslosigkeit bei Jugendlichen . einen explosionsartigen Anstieg der Straftaten, insbesondere gewalttätiger Jugendlicher'. Für Aufklärung und Vorbeugung stünden nicht annähernd genügend Beamte zur Verfügung, heißt es in der Erklärung. ”

Nicht ganz so vordergründig und etwas wissenschaftlich verbrämter geben die Richter und Staatsanwälte ihre Meinung kund. Unter der Überschrift „Die Jugendarbeitslosigkeit fördert das Bandenwesen. Mehrere hundert kleine Gruppen tyrannisieren Passanten mit . unberechenbarer Brutalität"'lassen sie am 5. April 1976 durch die Deutsche Presse-Agen-tur folgende Meldung verbreiten: „Eine weitere Zunahme der Arbeitslosigkeit unter Jugendlichen könnte die Strafrechtspflege in der Bundesrepublik vor , etliche'Probleme stellen. Zu diesem Ergebnis sind Richter und Staatsanwälte aus allen Bundesländern Ende letzter Woche auf einer Tagung in der Deutschen Richterakademie in Trier gekommen. Nach Statistiken der Vertreter der bundesdeutschen Gerichtsbarkeit haben gegenwärtig mehr als 50 Prozent der Mitglieder jugendlicher Banden keinen Arbeitsplatz. Allerdings hätten auch zahlreiche Jugendliche ein zuvor festes Arbeitsverhältnis einer Bandenmitgliedschaft geopfert, berichtete die Richter-akademie . . . Zahlreiche Bundesbürger würden , zu jeder Tageszeit'und an jedem Platz aus unergründlichen Anlässen unbarmherzig zusammengeschlagen, stellten die Juristen fest."

Daß in Zeiten allgemeiner Massenarbeitslosigkeit etwa jedes zweite Mitglied einer jugendlichen Bande keinen Arbeitsplatz hat, überrascht nicht angesichts der Tatsache, daß das Gros der Mitglieder krimineller Banden ökonomisch, sozial und bildungsmäßig ohnehin an der . untersten Skala'rangiert. Daraus folgt allenfalls: Kriminelle sind in besonderem Maße von Arbeitslosigkeit bedroht. Daraus kann aber nicht gefolgert werden: Arbeitslose sind in besonderem Maße von Kriminalität bedroht. Es ist bezeichnend, daß gerade Sozialpädagogen und Sozialarbeiter, die unmittelbar vor Ort'in den einzelnen Praxisfeldern tätig sind, Kriminalisierungstendenzen nicht feststellen, ja gegenläufige Entwicklungen beobachten können. So ist beispielsweise die Jugendkriminalität in München seit 1973 kontinuierlich zurückgegangen Hier ist ein besonders starker Rückgang von 1974 auf 1975 feststellbar — zur gleichen Zeit also, in der ein rapider Anstieg der Jugendarbeitslosigkeit registriert wurde. Gruppenspezifische Delikte [wie z. B. Rocker-Kriminalität) sind in München 1975 im Vergleich mit dem ersten Halbjahr 1974 von 197 auf 113 Straftaten zurückgegangen, was einem Rückgang von über 40 Prozent entspricht

Bezogen auf die unmittelbare Situation in Duisburg-Hamborn ist festzustellen, daß die Zahl 'ler Jugendgerichtsfälle seit 1971 kontinuierlich sinkt, während im gleichen Zeitraum die Quote der Jugendarbeitslosigkeit rapide ansteigt. Die amtliche Statistik zeigt einen Tiefstand der Jugendgerichtsfälle zur Zeit der Rezession 1967/68 und einen Höchststand zur Zeit der Hochkonjunktur 1971/72. Die neue Wirtschaftskrise 1974/75 brachte wiederum einen deutlichen Rückgang der Jugendgerichtsfälle und zugleich den tiefsten Stand seit etwa fünf Jahren.

Für diese Entwicklung (Hochkonjunktur/Voll-

beschäftigung/Anstieg der Jugendkriminalität Wirtschaftskrise/Jugendarbeitslosigkeit/Rückgang der Jugendkriminalität) sind in Hamborn im wesentlichen zwei Gründe anzuführen: a) Die von den Streetworkern beobachteten Solidaritätsfunktionen der Familie bewirken eine Abschirmung nach außen („Meine Alte regt sich immer unheimlich auf, wenn ich einen mitbringe") und eine verstärkte familiäre Kontrolle („Zu Hause habe ich nichts mehr zu melden"). Dadurch werden Kriminalisierung und Bandenbildung wenn nicht verhindert, so doch erheblich erschwert. Dies gilt zumindest für die überwiegende Mehrheit der intakten, d. h. vollständigen Familien.

b) Der Duisburger Stadtteil Hamborn stellt ein gewachsenes Arbeiterviertel inmitten von drei Großindustriebetrieben dar, von denen allein die August-Thyssen-Hütte AG über 15 000 Arbeiter beschäftigt. Die relativ homogene Zusammensetzung der Bevölkerung wie auch die seit Kriegsende weitgehend unverändert gebliebenen Wohnstrukturen (fast ausschließlich Altbauten) des Stadtteils bilden keinen günstigen Nährboden für Kriminalität.

Als potentielle Brutstätten für Jugendkriminalität gelten vielmehr die Betonmilieus trostloser Vor-und Satellitenstädte und ihre Dürftigkeit an Freizeitangeboten für Jugendliche.

6. Nachbarlich-ökologische Solidarität und soziale Kontrolle Neben die Solidaritätsfunktionen der Familie und die familiäre Kontrolle treten in Hamborn der Zusammenhalt des Arbeiterviertels und seine gewachsenen sozialen Kontrollen, die um so stärker wirken, je mehr sich die Menschen angesichts äußerer Not zusammenschließen. In Zeiten der Wirtschaftskrise und allgemeinen Arbeitsunsicherheit wächst die Bedeutung von Familie, Nachbarschaft und Stadtteil. Dieses wohnquartierund stadtteilbezogene Zusammengehörigkeitsgefühl wirkt wie eine ökologische Solidarität.

Die gemachten Beobachtungen stellen die vorherrschenden Generalisierungen über einen gefährlichen Anstieg der Jugendkriminalität grundsätzlich in Frage. In einer von der Deutschen Presseagentur am 4. Februar 1976 verbreiteten Pressemeldung hieß es: „Jugendliche Arbeitslose neigen eher zu Kriminalität, Drogen-und Alkoholmißbrauch, politischem Radikalismus und sind stärker selbstmordgefährdet als ihre beschäftigten Altersgenossen.

Ihre Sorge über diese Entwicklung äußerten am Dienstag übereinstimmend das NRW-Arbeits-und Sozialministerium sowie der Landschaftsverband Rheinland. Nach Auffassung des Landschaftsverbandes ist die Arbeitslosigkeit für zahlreiche Jugendliche nicht Ursache, sondern , der letzte Tropfen, der das Faß persönlicher Defizite zum überlaufen bringt'

. .. Bereits wenige Monate ohne Beschäftigung genügten, um labile Jugendliche , den vielfältigen Ablenkungsmöglichkeiten der Konsumgesellschaft'erliegen zu lassen."

Die Streetworker haben in sechs Monaten rund 130 arbeitslose Jugendliche gesprochen, beraten, mit ihnen diskutiert und ihnen Hilfe angeboten. In diesem Zeitraum haben sie weder eine größere objektive Kriminalitätsgefährdung noch eine größere subjektive Kriminalitätsneigung bei den Jugendlichen feststellen können. In der Abschlußbesprechung daraufhin befragt, antwortete ein Streetworker: „Familie und nähere Umgebung wirken sozial kontrollierender als zehn Polizisten." Diese Disziplinierungsiunktion des Arbeiterviertels wird von den Jugendlichen durchaus wahrgenommen und zum Teil sogar als lästige Kontrolle empfunden: „Hier kannst’e nicht mal nach Hause kommen, ohne daß Du beobachtet wirst — ob Du um zehn oder um zwei nach Hause kommst." Die Jugendlichen betrachten die wirksame Sozialkontrolle des Wohnviertels als eine gewisse Beeinträchtigung ihrer Privatsphäre. Objektiv gesehen stellt die von Nachbarschaft und Gemeinwesen ausgeübte Kontrolle einen für den einzelnen Bewohner sehr viel sichereren Schutz vor Gefährdung dar als jede noch so perfektionierte Form institutionalisierter Rechtsaufsicht. Die gewachsene nachbarliche bzw ökologische Solidarität schließt das Recht zur Aufsicht ebenso ein wie die Pflicht zur gegenseitigen Unterstützung. Der hohe Integrationsgrad des Stadtviertels verhindert in Notzeiten eine Des-Integration des einzelnen. Dies wird begünstigt durch die räumliche Konzentration einer relativ homogenen Bevölkerungsgruppe (Arbeiter). Insofern ist Duisburg-Hamborn nicht typisch für die Vielzahl moderner Satelliten-städte in der Bundesrepublik, in denen Problem-und Randgruppen in den von den Stadt-planern übriggelassenen Nischen bzw. im Untergrund agieren müssen. Die von der modernen Stadtplanung angestrebte Vermischung heterogener Bevölkerungsgruppen macht die Wohnbereiche unüberschaubar und eignet sich von daher eher als Brutstätte für Kriminalität.

7. Keine Flucht in Alkoholismus, Drogen-konsum und Kriminalität Der in der öffentlichen Meinung bei den arbeitslosen Jugendlichen vermutete Mißbrauch von Drogen und Alkohol konnte von den Streetworkern nach sechsmonatiger intensiver Beobachtungszeit nicht bestätigt werden. Die arbeitslosen Jugendlichen zeigen ein typisches, durchaus alltägliches Arbeiterjugend-Verhalten, zu dem eben „zwei/drei Gläschen Bier" gehören. Das geringere Taschengeld-Budget verhindert jede Art von Flucht in den Alkohol. Die Jugendlichen haben Mühe, ihren täglichen Rauch-Bedarf und ihr Glas Bier in der Gastwirtschaft zu bestreiten. Als ausgesprochen luxuriös gilt es, wenn ein Junge in der Lage ist, seiner „Perle" eine Cola auszugeben. Alle Vermutungen, Interpretationen und Hypothesen greifen fehl, die sich als Kompensation für den Verlust an Arbeit und Geld nur das Ausweichen in Subkulturen (Cliquenbildung, Rocker, Drogen, Alkoholismus, Zunahme von Versorgungsdelikten u. a.) vorstellen können. Die Arbeitsgruppe Kommunal-und Verwaltungsforschung der Universität Essen/Gesamthochschule prognostizierte bei

spielsweise den Aufbau einer Ersatz-und Gegenwelt, die die arbeitslosen Jugendlichen als „Operationsbasis zur Beschaffung des benötigten Konsums . nutzen'(Zunahme von Versorgungsdelikten) und aus der heraus sie sich Anerkennung und Beachtung . erkämpfen'(Gefahr der Brutalisierung)"

Das Abgleiten in eine kriminelle Subkultur und die Gefahr der Brutalisierung sind deshalb nicht gegeben, weil die meisten arbeitslosen Jugendlichen nicht den Weg in Clique und Subkultur, sondern in Vereinzelung und Isolierung suchen. Sie fühlen sich als Stigmatisierte, als von der Arbeit Ausgeschlossene (outcasts), denen die Möglichkeit verwehrt ist, durch produktive Tätigkeiten ihre eigene Existenz zu sichern. Ein abweichendes Verhalten durch Ausüben einer Straftat (z. B. Diebstahl) würde sie noch mehr in die Außenseiterrolle drängen und ihr ramponiertes Selbstwertgefühl gerade nicht stärken. Aus diesem Grunde vermeiden arbeitslose Jugendliche jede Art von „Auffälligkeit"; sie mischen sich in vorhandene Cliquen und Gruppen und verbergen ihren Arbeitslosen-Status. Sic bauen keine Gegenwelt auf, sondern versuchen im Gegenteil durch Überanpassung ihre Gleichartigkeit und Gleichwertigkeit mit den Berufstätigen zu dokumentieren. Dieser selbstgewählte Anpassungszwang stellt das größte Hindernis für mögliche Solidarisierungen unter arbeitslosen Jugendlichen dar. Nicht durch demonstrativen Freizeitkonsum, sondern durch lukrative Zeitjobs, Nebenbeschäftigungen und Schwarzarbeiten wollen sie sich auf eine Ebene mit den Berufstätigen stellen und sich von den vom gleichen Arbeitslosenschicksal Betroffenen distanzieren. Den größten Prestigegewinn kann der arbeitslose Jugendliche für sich buchen, der über den geldträchtigsten Nebenjob zu berichten weiß. Die Art der Beschäftigung spielt dabei keine Rolle.

An die Stelle der Beschäftigungs-, Arbeitsund Berufsorientierung tritt die ausschließliche Job-und Erwerbsorientierung („Job-Hop-per"). Diese totale Fixierung auf das Geld kann so weit führen, daß die Möglichkeit, am nächsten Tag einen befristeten Job als Buch-Club-Werber anzunehmen, der Aussicht auf den Erhalt einer festen Arbeitsstelle zwei oder vier Wochen später vorgezogen wird.

Die finanzielle Abhängigkeit der arbeitslosen Jugendlichen vom Elternhaus sowie die mit der Dauer der Arbeitslosigkeit immer bewußter und spürbarer werdende Unfähigkeit, viel Freizeit „mit wenig Geld" auszufüllen, bewirken eine Materialisierung der gesamten Lebenshaltung. Die Jugendlichen erfahren, daß das Von-der-Hand-in-den-Mund-Leben mehr zur Erhaltung des Selbstwertgefühls beiträgt als das zielstrebig-systematische Bemühen um einen Arbeitsplatz (ohne zwischenzeitliche Erfolgserlebnisse und allenfalls mit einer größeren Wahrscheinlichkeit auf eine Daueranstellung) .

VII. Praktische Konsequenzen

1. Konsequenzen im konzeptionell-organisatorischen Bereich In einem wesentlichen Punkt muß das Projektkonzept modifiziert werden: Die räumlichen Grenzen können nicht eng genug gezogen werden. Wie die Streetworker beobachtet haben, reicht der tatsächliche Kontakt-und Aktivitätsradius der arbeitslosen Jugendlichen nicht weiter „als bis zum Jugendheim oder zur Stammkneipe". Intensivere Kontakte und gemeinsames Arbeiten sind nur im unmittelbaren Nahbereich möglich. Eine noch so zentral gelegene Anlauf-und

, Austrocknen‘ weil wird zürn verurteilt, sie außerhalb des Alltagslebens der arbeitslosen Jugendlichen liegt. Daraus folgt die Notwendigkeit der Einrichtung mobiler Beratungsstellen, die periodisch wechselnd, d. h. regelmäßig und an bestimmten Tagen in den einzelnen Wohnbezirken ihre . Zelte aufschlagen'. Da gegenwärtig grundsätzlich jeder Jugendliche von Arbeitslosigkeit bedroht ist oder bedroht werden kann, stellen die arbeitslosen Jugendlichen auch keine homogene Gruppe dar. Das gleiche Merkmal „Arbeitslosigkeit" hebt die vorhandenen ökonomischen, sozialen und bildungsmäßigen Unterschiede nicht auf. Es gibt nicht die arbeitslosen Jugendlichen, sondern allenfalls die zur Zeit arbeitslosen Jugendlichen, die größtenteils über kurz oder lang wieder beschäftigt sein werden. — Die arbeitslosen Jugendlichen stellen eine Zielgruppe auf Zeit bzw. auf Abruf dar.

Die Zielgruppe „Arbeitslose Jugendliche" ist nur über ihren Bezugsort und ihre Bezugs-gruppe psycho-sozial erreichbar und ansprechbar. Deshalb ist es auch gelungen, eine relativ homogene Gruppe für das Projekt Job-Freizeit in Essen zu gewinnen. Sie kamen überwiegend aus Jugendwohnheimen und nahmen als Clique bzw. Kleingruppe (nicht als einzelne) an dem Projekt teil. Bei vergleichbaren Projekten sollten daher — Jungarbeiterklassen, Klassen arbeitsloser Jugendlicher in Berufsschulen, Volkshochschulen u. a. — Vereins-, Sportgruppen, Jugendwohnheimgruppen — Freizeit-, Interessen-, Jugendgruppen — Cliquen, „peer groups"

gezielt angesprochen werden. Wie das street-work-Projekt gezeigt hat, ist es auch möglich (wenn auch schwierig und zeitaufwendig), neue Bezugsgruppen auf Zeit zu schaffen. Den Streetworkern war es gelungen, einzelne und freiwillig-unfreiwillig Sich-Vereinzelnde und -Isolierende zu einer solchen Bezugsgruppe auf Zeit zusammenzufassen, die auch zu gemeinsamen Unternehmungen bereit gewesen wäre. Street-corner-work ist als projektvorbereitende Maßnahme vor allem dann unerläßlich, wenn es gilt, auch Unorganisierte und sich weniger in formellen Gruppen Engagierende (z. B. arbeitslose Mädchen) anzusprechen. Auf street-corner-work als erprobter und bewährter Methode informeller Jugend-und Sozialarbeit kann nicht verzichtet werden. Nur dadurch lassen sich einzelne arbeitslose Jugendliche ohne erkennbare Bezugsquellen (z. B. Schulklasse, Jugendwohnheimgruppe) oder Bezugspersonen (z. B. Lehrer, Heimleiter) erfolgreich ansprechen und gegebenenfalls motivieren und aktivieren. Um den personellen Aufwand relativ gering zu halten, empfiehlt es sich, Teams mit je drei Streetworkern zu bilden, denen allerdings in einem Stadtviertel mehrere Anlaufstellen bzw. Stützpunkte zugeordnet werden sollten. Wenigstens ein Streetworker des Teams muß im Stadtviertel aufgewachsen oder bekannt sein. Nach Aussagen der Streetworker schafft der persönliche Bekanntheitsgrad fast fünfzig Prozent der Erfolgsvoraussetzungen, so daß sich die vorhandenen Kontakte nach dem Schneeballsystem „vermehren".

Als eine konsequente Fortsetzung der von den Streetworkern ausgehenden Selbstorganisationsimpulse erscheint die Einrichtung einer von arbeitslosen Jugendlichen selbstverwalteten Werkstätte. Hier sollten die Kommunen nach Klärung der haftungsrechtlichen Fragen organisatorische und finanzielle Hil- ien zur Selbsthilfe leisten. Erst dann sind die Voraussetzungen geschaffen, um aus spontanen Einzelinitiativen auf längere Dauer angelegte und von arbeitslosen Jugendlichen gemeinsam getragene Selbsthilfewerke zu machen. 2. Konsequenzen im administrativ-politischen Bereich Die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen hat aus den Ergebnissen des vom NRW-Sozialministers geförderten Hambor-ner Streetworker-Projekts die notwendigen Konsequenzen administrativ-politischer Art gezogen. Im Frühjahr 1976 beschloß die Landesregierung in ihrem Anschlußprogramm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit eine Verbesserung der Beratung und Betreuung arbeitsloser Jugendlicher durch sozialpädagogische Fachkräfte. Ihre sozialpolitische Entscheidung begründete und erläuterte die Landesregierung wie folgt: „Die bisherigen Erfahrungen mit dem Programm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit ergeben, daß rund zwei Drittel der arbeitslosen Jugendlichen von sich aus die angebotenen Hilfen nicht aufgreifen. .. Sozialpädagogen sind von ihrer Ausbildung und Berufspraxis her in der Lage, jugendliche Arbeitslose an ihren Treffpunkten bzw. zu Hause aufzusuchen, zu beraten, zu motivieren und in ihrer Persönlichkeit zu stabilisieren. . . Deshalb sollen im Rahmen der örtlichen Jugendhilfe bei freien oder öffentlichen Trägern sozialpädagogische Koordinierungs-, Beratungsund Betreuungsstellen eingerichtet werden. Diese Stellen sollen zunächst in Arbeitsamtsbezirken mit hoher Jugendarbeitslosigkeit aufgebaut und mit sozialpädagogischen Fachkräften besetzt werden.

Dafür sind 70 sozialpädagogische Fachkräfte in diesem Aufgabenbereich vorgesehen". Dieses Förderungsprogramm ist geeignet, bessere Voraussetzungen für weitergehende arbeits-markt-und bildungspolitische Maßnahmen zu schaffen.

Aus den Hamborner Projekterfahrungen lassen sich noch weitere Forderungen von administrativ-politischer Bedeutung ableiten. Jugendzentren, Häuser der Jugend und Offene Türen müssen durchgehend von 10. 00 Uhr bis 22. 00 Uhr geöffnet werden. Der damit verbundene erhöhte Personalaufwand ist mit haupt-und nebenamtlichen Fachkräften (z. B.

Sozialpädagogen im Anerkennungsjahr, Praktikanten des Sozialpädagogik-und Diplompädagogenstudiums) abzudecken.

An Berufsschulen sind umgehend Planstellen für Sozialpädagogen bereitzustellen. Aufgabe dieser Sozialpädagogen ist die Beratung und Betreuung arbeitsloser Jugendlicher in ihren persönlichen, familiären, beruflichen und freizeitbezogenen Problemen. Dabei muß der Neigung der Schuladministration, Sozialpädagogen und Sozialarbeiter ausschließlich für . schulund sozialpolizeiliche Aufgaben'einzusetzen, durch entsprechende Bestimmungen entgegengewirkt werden. Es empfiehlt sich daher, das Jugendamt als Anstellungsträger vorzusehen. Durch detaillierte Tätigkeitsfeldbeschreibungen ist dafür Vorsorge zu treffen, daß die Sozialpädagogen nicht vormittags Flausbesuche und nachmittags Verwaltungsarbeiten machen, also für die einzelnen Schüler kaum oder gar nicht erreichbar und ansprechbar sind. Sozialpädagogen an Berufsschulen müssen eine Mittlerfunktion zwischen Schüler, Schule und Betrieb wahrnehmen. Berufspädagogik, Sozialpädagogik und Freizeitpädagogik sind an den Pädagogischen Hochschulen und Universitäten als neue fach-übergreifende Lernaufgaben im Rahmen der Lehrerausbildung verbindlich zu machen. Bisher gelten diese drei Bereichspädagogiken nur als individuelle Studienschwerpunkte für Diplompädagogikstudenten. Studierende für das Lehramt an allgemein-und berufsbildenden Schulen brauchten bisher nur Grundkenntnisse in Allgemeiner Pädagogik und Schulpädagogik vorzuweisen Da mittlerweile jeder Schüler von Numerus clausus und Arbeitslosigkeit bedroht ist, dürfen sich auch die Schulen . diesen psycho-sozialen Problemen nicht verschließen.

Die Volkshochschulen sollten verstärkt Kurse nach Bedarf bzw. auf Abruf für arbeitslose Jugendliche bereitstellen. Wie die Erfahrung zeigt, werden durch bürokratische Auskünfte wie „Der nächste Kurs beginnt im Herbst" oder „im Frühjahr" grundsätzlich vorhandene Motivationen und Interessen wieder abgebaut. Arbeitslose Jugendliche planen nur für den Augenblick und nicht für die Zukunft. Die hohe Fluktuation der Teilnehmer kann er-heblich reduziert werden, wenn die Kursleiter methodisch-didaktisch auf ihre besondere Aufgabe vorbereitet werden (evtl, durch Wochenendlehrgänge), so daß sie sich auf die konkreten Interessen und vorhandenen Fähigkeiten der arbeitslosen Jugendlichen besser einstellen können.

Den arbeitslosen Jugendlichen ist die kostenlose Benutzung des öffentlichen Nahverkehrs zu ermöglichen. Der Aktionsradius der arbeitslosen Jugendlichen reicht oft nicht weiter als bis zum Jugendheim oder zur Kneipe. Ein Hauptgrund für die faktische Immobilität ist die finanzielle Misere, die größere Bus-oder Bahnfahrten nicht erlaubt. Die Jugendlichen helfen sich aus diesem Dilemma, indem sie „fast regelmäßig" (nach den Aussagen der Job-Freizeit-Mitarbeiter) „schwarz fahren" und damit das Risiko eines Gerichtsverfahrens wegen Beförderungserschleichung (durchschnittliche Gerichtskosten für den Staat: ca. 350, — DM) eingehen. Die zuständigen Jugendwohlfahrtsausschüsse sollten daher den jeweiligen Stadträten eine Beschlußvorlage empfehlen, die den arbeitslosen Jugendlichen die kostenlose Benutzung des öffentlichen Nahverkehrs im unmittelbaren Ortsnetzbereich erlaubt. Als Nachweis würde eine Bescheinigung des Arbeitsamtes genügen, die einen halben Monat Gültigkeit haben sollte.

Nach dem gleichen Prinzip (Halbmonatsbescheinigung) sollten arbeitslosen Jugendlichen Preisvergünstigungen für die Benutzung kultureller Einrichtungen (Volkshochschule, Bücherei, Museum, Theater u. a.) und städtischer Freizeiteinrichtungen (Schwimmbäder, Sportanlagen, Bundesligaspiel, Kommunale Kinos u. ä.) gewährt werden. Ohne Konsum-anreize können Arbeiterjugendliche schwerlich für Weiterbildungsmaßnahmen aktiviert werden.

Hilfen zur Bewältigung psycho-sozialer Probleme der Jugendarbeitslosigkeit überschreiten die Kompetenz der Arbeitsmarktpolitik. Sie müssen als referats-und ressortübergreifende Aufgabe erkannt werden. Die bisher in Förderungsmaßnahmen für arbeitslose Jugendliche dominierenden, vorwiegend ökonomisch begründeten Restriktionen (z. B. Mindestteilnehmerzahl) verhindern eine angemessene Berücksichtigung sozialer Belange.

Dem anhaltenden Privatisierungstrend im kommunalen Bereich muß entgegengewirkt werden, um größeren Verfügungsspielraum für die in Zukunft immer bedeutsamer werdenden Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen der öffentlichen Hand zu bekommen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Die Untersuchung hätte nicht durchgeführt werden können ohne das Entgegenkommen und die Mithilfe von Herrn Schuster (Arbeiterwohlfahrt Duisburg) und Herrn Saatkamp (Jugendamt Duisburg) sowie den Herren Buchholtz und Kinold (Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes NRW). Ihnen ist der Verfasser zu Dank verpflichtet. Ganz besonders hervorzuheben ist die Mitarbeit und das Engagement des Streetworker-Teams: Hermann Bühren, Lothar Josting, Ingeborg Mroß, Ruth Neumann, Gunnar Vogel. Sechs Monate haben sie praktische Sozialarbeit , vor Ort'geleistet und gleichzeitig für die wissenschaftliche Auswertung Beobachtungs-, Befragungsund Gesprächsberichte angefertigt. Ihnen verdankt der Verfasser viele Anregungen und Hinweise.

  2. Arbeitsgruppe an der PH West-Berlin: Die Entwicklung der Jugendarbeitslosigkeit in West-Berlin, in: jugendliche arbeitslos, Frankfurt/M. 1976, S. 135.

  3. M. Jahoda (u. a.), Die Arbeitslosen von Marienthal (1933), Frankfurt/M. 1975, S. 80.

  4. W. Hätscher u. H. Schmitt, „Was nützt uns Euer Geschwätz?" Erfahrungen beim Versuch, Arbeiterjugendliche gegen Lehrstellenknappheit und Jugendarbeitslosigkeit zu organisieren, in: jugendliche arbeitslos, a. a. O., S. 175.

  5. H. Schelsky (Hrsg.), Arbeitslosigkeit und Berufsnot der Jugend, 2 Bände, Köln 1952.

  6. H. Kluth, Der arbeitslose Jugendliche in seinen Bindungen an die außerfamiliäre gesellschaftliche Umwelt, Phil. Diss., Berlin 1952.

  7. A. Peters, Streetwork in der Drogenszene, in: Neue Praxis, 3/1 (1973), S. 32 f.

  8. M. Hülster, Innovationsorientierte Jugendberatung in den Niederlanden, in: Neue Praxis 2/(1972), S. 366— 373.

  9. Jugendschutz heute 11. /12. Folge, München 1975 S. 1— 4.

  10. Jugendschutz, a. a. O., S. 3.

  11. Zugrunde gelegte Literatur: H. -H. Wehrmann, Hamborn, eine wirtschaftsgeographische Untersuchung (1959); H. Domke, Duisburg (1960); G. von Roden, Geschichte der Stadt Duisburg, Bd. II (1974); E. Lucas, Märzrevolution im Ruhrgebiet (1970); Bundesanstalt für Arbeit, Arbeitsmarktprobleme Jugendlicher (Jan. 1975); Bundesanstalt für Arbeit, Strukturmerkmale der Arbeitslosigkeit Ende Sept. 1975 (Dez. 1975).

  12. E. Lucas, a. a. O., 26.

  13. Lucas, a. a. O., S. 302.

  14. Volksstimme 06— 06/07, Duisburg 1925.

  15. Vgl. G. von Roden, Geschichte der Stadt Duisburg, Bd. II, a. a. O.

  16. Westdeutsche Allgemeine Zeitung v. 15. 7. 1974.

  17. Westdeutsche Allgemeine Zeitung v. 3. 9. 1974.

  18. Wehrmann, a. a. O., S. 153.

  19. Vgl. Jahoda, a. a. O., S. 70 ff.

  20. Vgl. F. Rudolph, Der jugendliche Arbeitslose und seine Familie, in: H. Schelsky, a. a. O., S. 43 (Die Querverweise auf die Repräsentativuntersuchung von 1952 erfolgen immer dann, wenn vergleichbare Entwicklungen und Gemeinsamkeiten in den Verhaltensformen und Reaktionsweisen feststellbar sind).

  21. Vgl. E. Päth-Beck, Das Verhältnis der weiblichen jugendlichen Arbeitslosen zu Arbeit und Beruf, in: H. Schelsky, a. a. O., S. 330.

  22. Vgl. Rudolph, a. a. O., S. 46.

  23. Vgl. U. Lohmar, Wirksamkeit und Ansehen der Berufsberatung und Arbeitsvermittlung im Urteil Jugendlicher, in: H. Schelsky, a. a. O,, S. 402.

  24. Vgl. G. Wurzbacher, Das Verhältnis der männlichen jugendlichen Arbeitslosen zu Arbeit und Beruf, in: H. Schelskv, a. a. O„ S. 245 ff.

  25. M. Kappeler, Die Jugendarbeitslosigkeit als praktisches Problem in der Jugendarbeit, in: deutsche jugend, 24/3, 1976, S. 112.

  26. F. Beermann, Arbeitsschicksal und Kriminalität der Jugendlichen, in: H. Schelsky, a. a. O„ S. 237.

  27. Delinquency Control (vgl. Beermann, a. a. O., S. 255).

  28. Der Tagesspiegel vom 22. 1. 1975.

  29. Münchener Stadtanzeiger vom 23. 5. 1975.

  30. Süddeutsche Zeitung vom 30. 7. 1975.

  31. Arbeitsgruppe Kommunal-und Verwaltungsforschung der Universität Essen/Gesamthochschule, Jugendarbeitslosigkeit als Problem kommunaler Politik und Verwaltung. Vervielf. Manuskript Essen 1975, S. 5.

  32. Bezeichnend für die gegenwärtige Situation ist folgendes Beispiel: Die im Rahmen eines offiziellen Lehrauftrags geplante Lehrveranstaltung zum Thema „Pädagogische Ansätze zur Lösung des Problems der Jugendarbeitslosigkeit und ihrer sozialen Folgen" wurde vom zuständigen Fachbereich Erziehungswissenschaft der Gesamthochschule Siegen im Sommer 1976 mit der Begründung zurückgewiesen, die Behandlung dieses Themas sei innerhalb der Ausbildung von Studierenden für das Lehramt an allgemein-und berufsbildenden Schulen Bnicht notwendig"!

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Horst W. Opaschowski, Dr. phil., geb am 3. Januar 1941 in Beuthen/OS, Studium der Pädagogik, Soziologie, Psychologie, Germanistik und Geschichte in Köln und Bonn; seit 1975 Professor für Sozialpädagogik/Schwerpunkt Freizeitpädagogik im Fachbereich Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg; 1973 bis 1975 Mitglied der interdisziplinären Projektgruppe „Freizeitpolitik" des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit; Vorstandsmitglied des Studienkreises für Tourismus e. V. Starnberg; Wiss. Vorsitzender des Instituts für Freizeitstudien und Freizeitforschung e. V. Siegen. Veröffentlichungen u. a.: Jugendauslandsreisen. Geschichtliche, soziale und pädagogische Aspekte, 1970; Jugendkundliche Gegenwartsprobleme, 1971 (Hrsg.); Der Jugendkult in der Bundesrepublik, 1971 (in niederländ. Übersetzung 1973); Freizeitpädagogik in der Leistungsgesellschaft, 19732 (Hrsg.); Im Brennpunkt: Der Freizeitberater, 1973; Freie Zeit ist Bürgerrecht. Plädoyer für eine Neubewertung von „Arbeit“ und „Freizeit“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 40/74; Pädagogik der Freizeit. Grundlegung für Wissenschaft und Praxis, 1976; Freizeit als gesellschaftliche Aufgabe, 1976 (Hrsg.); Freizeitkulturelle Bildung. Rahmenkonzept zur Begründung eines neuen Bildungssektors, in: Recht der Jugend und des Bildungswesens 5 (1976); Entwicklung und Erprobung sozialpädagogischer Hilfen und freizeitpädagogischer Angebote für arbeitslose Jugendliche (vorrangig Jungarbeiter) als flankierende Maßnahmen der Jugendhilfe gegen Jugendarbeitslosigkeit, i. A.des NRW-Ministers für Arbeit, Gesundheit und Soziales, 3 Bände (vervielf. Manuskript), 1976; Soziale Arbeit mit arbeitslosen Jugendlichen. Streetwork und Aktionsforschung im Wohnbereich, 1976.