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Das Deutschlandbild in den israelischen Geschichtsbüchern Ein Arbeitsbericht | APuZ 41/1976 | bpb.de

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APuZ 41/1976 Artikel 1 Das Deutschlandbild in den israelischen Geschichtsbüchern Ein Arbeitsbericht Zum Begriff des Verhaltens in der Lernzielkon. zeption für den politischen Unterricht Mittlere Geschichte im Lernfeld Politik Die SED und die Historie. Probleme und Aspekte der gegenwärtigen Umorientierung in der Geschichtswissenschaft der DDR

Das Deutschlandbild in den israelischen Geschichtsbüchern Ein Arbeitsbericht

Chaim Schatzker

/ 22 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die vorliegende Analyse der israelischen Geschichtslehrbücher in bezug auf die Darstellung der deutschen Geschichte und der deutsch-jüdischen Beziehungen im Laufe der Geschichte ergibt eine kontinuierliche, lückenlose und überaus reichhaltige Darstellung der deutschen Geschichte von ihren ersten Anfängen bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Ferner werden Themen der deutschen Geschichte angeführt, die im Rahmen der Verwobenheit deutsch-jüdischen Schicksals in die jüdische Geschichte eingegangen sind und die dem Schüler in Israel in seinen Geschichtslehrbüchern als seine eigene Geschichte dargeboten werden. Die Analyse kommt zu dem Ergebnis, daß die Behandlung der deutschen Geschichte bis zum Ende der Weimarer Republik nicht vom späteren geschichtlichen Geschehen bestimmt oder verzerrt erfolgt. Sämtliche — auch die umstrittensten — Themen der deutschen Geschichte werden in den Lehrbüchern differenziert und im Rahmen der jeweiligen Gesamt-konzeption und Grundrichtung des Verfassers, doch durchgehend sachlich und unvoreingenommen behandelt. In der Darstellung des „Dritten Reiches" weichen die israelischen Lehrbücher wesentlich von den entsprechenden Kapiteln in den deutschen Lehrbüchern ab. Die im Geschichtsunterricht benutzten israelischen Lehrbücher sind zumeist Ende der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre erschienen. Die jüngste Geschichte der Bundesrepublik Deutschland wird deshalb noch nicht in den Lehrbüchern behandelt.

Seit Beginn der ersten Untersuchungen deutscher Lehrbücher in bezug auf Juden, Judentum und jüdische Geschichte in den 60er Jahren wurden wiederholt Stimmen laut, die auf die Perspektiven der Gegenseitigkeit solch einer Untersuchung hinweisen. Es war die Hoffnung von Prof. Georg Eckert, dem verstorbenen Direktor des „Internationalen Schulbuch-instituts" in Braunschweig, eine gemischte deutsch-israelische Schulbuchkommission in die Wege leiten zu können, die im Rahmen von gemeinsamen Schulbuchkonferenzen Empfehlungen für beide Staaten vorlegen würde. Dazu war damals die Zeit noch nicht reif. Der Gedanke einer gemischten Kommission wurde in den letzten Jahren von seifen der deutschen und israelischen Lehrergewerkschaften erneut aufgegriffen, hat sich aber bis heute nicht realisieren lassen.

Auch die hier vorgelegte Analyse der israelischen Geschichtslehrbücher in bezug auf die Darstellung der deutschen Geschichte und der deutsch-jüdischen Beziehungen im Laufe der Geschichte ist nicht im Rahmen einer solchen gemischten Kommission oder einer bilateralen Vereinbarung entstanden, sondern bildet eine wissenschaftliche Vorarbeit, die einer künftigen deutsch-israelischen Schulbuchkonferenz zugrunde liegen mag, als eine notwendige Voraussetzung für die gemeinsame Bearbeitung der in beiden Staaten verwendeten Geschichtslehrbücher, wie immer auch solche Bestrebungen geartet sein mögen.

I. Der Geschichtsunterricht im israelischen Schulwesen

Kurz nach der Staatsgründung Israels plante und führte die damalige Regierung eine Reihe von Reformen im Erziehungswesen durch. Ihre wichtigsten waren das Grundschulpflichtgesetz und die Abschaffung des in der vorangegangenen Zeit üblichen „Strömesystems", wonach das Erziehungswesen in den Händen der jeweiligen politischen Parteien und ideologischen Richtungen lag. Das staatliche Erziehungsgesetz vom 12. August 1953 schuf ein einheitliches, staatlich koordiniertes Erziehungssystem, konstituierte aber auch daneben ein zweites, religiös-orthodoxes Erziehungswesen. Nach Abschluß der achtjährigen Grundschule stehen dem israelischen Schüler drei weitere Schultypen, je nach Begabung und Berufsinteresse, offen:

a) das humanistische und vierjährige Real-gymnasium nach kontinental-europäischem Muster, das mit dem Abitur abschließt und seine Schüler vornehmlich für ein akademisches Studium vorbereitet; b) die zwei-bis vierjährige Fachschule, die Studien-und praxisbezogene Fächer in sich vereint und ihre Schüler für zumeist handwerkliche und technische Berufe wie auch für ein Studium an der Technischen Hochschule vorbereitet; c) die zwei-bis vierjährigen landwirtschaftlichen Schulen und „Fortsetzungsklassen", die mit ihrem polytechnischen Charakter einerseits und der pädagogischen Differenzierung innerhalb der Klassen andererseits für die verschiedenen landwirtschaftlichen Berufe, aber auch für das Studium an den landwirtschaftlichen Fakultäten der Universitäten vorbereiten.

Der zweite Bildungsweg ist bisher verhältnismäßig wenig ausgebaut.

Vor etwa zehn Jahren trat in Israel eine weitere Schulreform in Kraft. Danach soll die Schulzeit statt wie bisher in acht Jahre Grundschule und in vier Jahre weiterführende höhere Schule nunmehr in Blöcke von sechs Jahren Grundschule, drei Jahren Mittelblock und vier Jahren höhere Schule gegliedert werden. Der neu zu errichtende Mit-telblock soll als gesellschaftlich integrierte und integrierende Schule als selbständiges autonomes Gebilde in bezug auf Verwaltung, Lehrkräfte und Lehrpläne die erste Phase der bisherigen höheren Schule bilden.

Diese Reform wurde bis heute nur zum Teil durchgeführt, so daß die frühere achtjährige Grundschule sowie die neue sechs-plus dreijährige in verschiedenen Teilen Israels nebeneinander fortbestehen.

Systematischer Geschichtsunterricht wird in sämtlichen Schularten je nach Fachrichtung und -wähl der Schüler erteilt. In der Regel verläuft der Geschichtsunterricht in zwei Spiralen, die erste vom 6. bis 8. Schuljahr und die zweite vom 9. bis 12. bzw. 13. Schuljahr. In den letzten Jahren besteht die Neigung, die zweite Spirale nicht chronologisch, sondern in Unterrichtseinheiten von Themen-komplexen zu gestalten, über deren Wahl die Schüler selbst entscheiden können.

Das Fach Geschichte beinhaltet gleichzeitig „allgemeine" und „jüdische" Geschichte. Die Art, wie beide im Geschichtsunterricht und im Lehrbuch verwoben werden, hängt nicht lediglich von der didaktischen Geschicklichkeit des jeweiligen Lehrers oder Schulbuch-autors ab, sondern spiegelt die beiden vorherrschenden Auffassungen des Judentums wider: Danach lebt das jüdische Volk streng abgeschieden von den anderen Völkern, und seine Geschichte spielt sich dementsprechend an der Seite, nicht aber inmitten der allgemeinen Geschichte ab. Mit dieser Konzeption konkurriert das moderne geschichtliche Verständnis von den Juden als ein mit den anderen Völkern im permanenten, beiderseitig befruchtenden Wechselbeziehungen stehendes Volk, als gleichwertiges Mitglied inmitten der Völkerfamilie.

Schon allein aus dem Unvermögen, eine ausgewogene und harmonische Integration dieser beiden Komponenten im Geschichtsunterricht zu erzielen, mag ersichtlich werden, wie wenig es Israel und der Welt gelungen ist, ein gesundes und normales Selbstverständnis hinsichtlich der Beziehungen des Judentums und der Völker in Vergangenheit und Gegenwart zu erreichen.

Bei der hier vorgelegten Untersuchung handelt es sich um eine horizontale Schulbuch-analyse, die auf einer repräsentativen Auswahl der gegenwärtig im Geschichtsunterricht benutzten Lehrbücher beruht. Eine vertikale Untersuchung des Deutschlandbildes in den israelischen Lehrbüchern von Beginn des Jahrhunderts mag eine reizvolle Aufgabe für die Zukunft bilden, war jedoch in der hier vorliegenden Untersuchung nicht beabsichtigt.

II. Übersicht der untersuchten Lehrbücher

Bei der Auswahl der Lehrbücher ist die Grundschule vertreten durch a) das fünfbändige Werk „Geschichte Israels" der Verfasser Awiwi und Perski (1958) und b) das dreibändige Buch „Israel und die Völker" von Jakob Katz, Professor für jüdische Geschichte und Soziologie an der Hebräischen Universität Jerusalem, und Moshe Hershko (1961).

Der neu errichtete Mittelblock ist durch das vom israelischen Erziehungsministerium eigens für diese Stufe herausgegebene Lehrbuch repräsentiert, dessen 1975 erschienener Band „Beginn der Neuzeit" allerdings nur bis zum Zeitalter des Absolutismus reicht.

Für den Fachschulbereich wurde das am häufigsten benutzte Lehrbuch „Geschichte" ausgewählt, das die Historiker Ziw und Toury geschrieben haben. Das Werk umfaßt zwei Bände und erschien 1963.

Die Oberstufe schließlich ist vertreten durch das sechsbändige Werk „Geschichte", verfaßt von den Autoren Ziw, Kirshenbaum, Awramsky, Ben-Sasson, Landau und Ettinger (1960).

Ferner wurden einbezogen in die Untersuchung ein weniger verbreitetes, jedoch in einigen sehr guten Gymnasien benutztes Lehrbuch, nämlich „Geschichte der Neuzeit" von Jizchak Shapira (1966), und das parallel benutzte dreibändige Werk von Shlomo Horowitz „Grundriß der Geschichte Israels in der Neuzeit" (1956).

Obwohl genaue Zahlen nicht vorliegen, mag die hier vorgenommene Auswahl weit über 70 Prozent aller Schüler im Geschichtsunterricht erreichen und ist mithin durchaus repräsentativ.

Aus den Erscheinungsjahren der Lehrbücher wird ersichtlich, daß — bis auf ein einziges, vom Erziehungsministerium eigens für den Mittelblock herausgegebenes und noch nicht fertiggestelltes Lehrbuch, das in vielen Beziehungen eine Ausnahme bildet und von dem noch die Rede sein wird — alle heute im Ge-schichtsunterricht benutzten Lehrbücher Ende der fünfziger bzw. Anfang der sechziger Jahre erschienen sind; auch das Erscheinungsdatum des neuesten Lehrbuchs für Geschichte liegt nun bereits 13 Jahre zurück. Da jedoch in der Regel ein Lehrbuch nicht dem letzten Stand der Forschung, sondern dem vor zehn bis fünfzehn Jahren vor dem Erscheinungsdatum entspricht, spiegeln die gegenwärtigen israelischen Lehrbücher den Stand der Forschung zur deutschen Geschichte vor etwa 25 Jahren wider.

Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland kommt dementsprechend in keinem der Lehrbücher vor. Das gleiche gilt auch für die Geschichte anderer Länder und für die Geschichte Israels in diesen Jahren, doch hat es ganz besonders schwerwiegende Folgen für das Deutschlandbild, das dem jungen Israeli aus seinen Lehrbüchern ersteht. Eine Abhilfe dieser mißlichen Lage würde wohl eine der vornehmlichsten Aufgaben und dringlichsten Empfehlungen einer künftigen gemischten Schulbuchkonferenz bilden. Es braucht wohl nicht darauf hingewiesen zu werden, daß das Lehrbuch keineswegs die einzige Informationsquelle bildet und daß der junge Israeli aus zahlreichen anderen Quellen und Kommunikationsmedien ein aktuelleres Deutschland-bild beziehen kann, doch gelten diese Überlegungen jeder Schulbuchanalyse und sollen nicht die Relevanz derartiger Untersuchungen schmälern.

Auch ist festzustellen, daß die israelischen Lehrbücher für Geschichte weit unter dem deutschen Standard der Gegenwart liegen und eher an Lehrbücher der Nachkriegsjahre erinnern. Lediglich die neuerdings erscheinende Reihe für den Mittelblock bildet auch hierbei eine erfreuliche Ausnahme.

III. Bestandsaufnahme der Inhalte deutscher Geschichte in den israelischen Lehrbüchern

Die Analyse der israelischen Lehrbücher ergibt eine kontinuierliche, lückenlose und überaus reichhaltige Darstellung der deutschen Geschichte von ihren ersten Anfängen bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Auch noch in dem für die niedrigste Klasse bestimmten Buch wird mehr deutsche Geschichte behandelt als jüdische Geschichte in allen deutschen Lehrbüchern für die Grund-, Mittel-und Oberstufen zusammen. Der Kürze halber sei lediglich ein geraffter Themenkatalog deutscher Geschichte aufgezeichnet, der in allen israelischen Lehrbüchern für die Oberstufe und zum größten Teil auch in den Büchern für die Fach-und Grundschule enthalten ist:

die Germanen, Lebensformen und Religion, erster Ansturm der germanischen Stämme auf das römische Reich, Hunnensturm und Einbruch der Westgoten, neue Germanenreiche auf dem Boden des Imperiums, die Hunnen unter Attila, das Ende des Römischen Reiches, Romulus Augustulus, Odoaker;

Chlodwig — König der Franken, das Franken-reich der Merowinger, die Christianisierung der Westgermanen, der innere Aufbau des Frankenreichs, Karl Martell, Pippin, das fränkische Großreich Karls des Großen, Ausbreitung, Verwaltung, staatliche Ordnung, Kirche, Kultur, der Zerfall des fränkischen Reiches; die Errichtung des römischen Kaisertums deutscher Nation, Italienzüge und innere Ordnung, die Staufer, der Reichsgedanke, Gesellschaftsleben und Kultur, der Investiturstreit, Bedeutung der Klöster, die Ausdehnung nach Osten, die Kreuzzüge, die Rückwirkung der Kreuzzüge auf das Abendland;

das Bürgertum, Handel, die Hanse, die Fugger, die Habsburger, Königtum und Kurfürstentum, das Reich Karls V., soziale Ordnung, Rittertum, Bauerntum;

Kritik an der römischen Kirche, die Reformation Martin Luthers, Glaubenserlebnis, die 95 Thesen, neuer Kirchenbegriff, drei große Reformationsschriften, der Wormser Reichstag, der Bauernkrieg, die Ausbreitung der Reformation, der Augsburger Religionsfriede, der 30jährige Krieg, Wallenstein, der Westfälische Friede;

der Aufstieg Preußens, der Siebenjährige Krieg, die Hohenzollern, innere Ordnung und Verwaltung, Wirtschaft, das Heer, der aufgeklärte Absolutismus Friedrich des Großen, die Beteiligung Preußens an den Koalitionskriegen gegen Frankreich, Napoleons Neuordnung, Reichsdeputationshauptschluß, der Zusammenbruch Preußens, der Frieden von Tilsit, der Rußlandfeldzug, Entstehen des deutschen Nationalbewußtseins;

Dichtung, der deutsche Idealismus, die preußischen Reformen, die Völkerschlacht bei Leipzig, der Wiener Kongreß, die Neuordnung Deutschlands, das System Metternichs, Liberalismus und Reaktion in Deutschland, Bur-schenschaften, die Karlsbader Beschlüsse,'Veränderungen im Wirtschaftsleben, der Ausbau des Bahnnetzes, die Zollvereinigung durch Preußen, die Februarrevolution in Preußen, die Paulskirche, die konstitutionellen, die bundesstaatlichen und nationalen Probleme, die Ablehnung der Kaiserkrone;

die Restauration in Preußen und die oktroyierte Verfassung, die „Neue Aera" in Preußen und der Militärkonflikt, Bismarck und der Verfassungskonflikt, Bismarcks Außenpolitik, der Krieg von 1864, der Krieg von 1866, der Norddeutsche Bund, die Emser Depesche, der deutsch-französische Krieg, die Gründung des deutschen Reiches, Bismarck und Frankreich nach 1871, die Reichsverfas-

sung und der Aufbau des Reiches, Bismarcks bündnispolitisches System, der Berliner Kongreß, Bismarcks Innenpolitik, der Kultur-kampf, Schutzzollpolitik, industrielle Entwicklung; die Sozialdemokratie: Karl Marx, Lassalle, Wilhelm Liebknecht, das Gothaer Programm; Bismarcks Sozialpolitik, Kolonialpolitik, Wilhelm II., die Entlassung Bismarcks, das „persönliche Regiment" Wilhelms IL, der „Neue Kurs", die Außenpolitik, Weltpolitik und Flottenbau, Wirtschaft und Sozialpolitik;

europäische Krisen und Vorbereitung des Ersten Weltkrieges, der Erste Weltkrieg;

der Versailler Vertrag, Entwaffnung, Reparation und Schuldbekenntnis, die Rheinlandbesetzung, Spartakus, die Spaltung in der Sozialdemokratie, die Weimarer Verfassung, wirtschaftliche Krisen, die „Dolchstoßlegende", der Kapp-Putsch, Bünde und militärische Organisationen, die Reichswehr, Seeckt, das Reparationsproblem, der Rapallo-Vertrag;

politische Morde: Erzberger, Walter Rathenau; Ruhrkampf und Reichskrise 1923, Stresemann, der Dawes-Plan, die Locarno-Verträge, die Wahl Hindenburgs, der Youngplan;

Weltwirtschaftskrise und Ende der Weimarer Republik, Brüning, v. Papen, Hitler: Jugend, „Mein Kampf", Hitlers Antisemitismus, die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei, Roehm, Himmler, SS, Gestapo, Bormann, Heydrich, Eichmann, Rosenberg, Julius Streicher, die nationalsozialistische Ideologie, die „Rassenlehre";

der Reichstagsbrand, das Ermächtigungsgesetz, die Gleichschaltung, Übernahme der Befugnisse des Reichspräsidenten, Staatsoberhaupt und Oberbefehlshaber der Reichswehr, Auflösung der Parteien und der Gewerkschaf-B ten, die Wirtschaftspolitik, die nationalsozialistische Außenpolitik bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges.

Der hier umrissene Themenkatalog (Inhalte deutscher Geschichte in den israelischen Lehrbüchern) bietet an sich noch wenig schlüssige Indikatoren für die Gegenseitigkeit einer zukünftigen Behandlung der Lehrbücher beider Staaten. Größe, wirtschaftliche, politische und militärische Macht, Einfluß auf das Weltgeschehen und geschichtliche Bedeutung beider Staaten schließen die Möglichkeit und Berechtigung einer quantitativen symmetrischen gegenseitigen Behandlung ihrer Geschichte in den jeweiligen Lehrbüchern aus.

Anders jedoch sollte es sich im Falle derjenigen Inhalte verhalten, die im Laufe einer gemeinsamen deutsch-jüdischen Geschichte beide Völker zum Guten und zum Schlechten verbunden haben und ein integraler Teil der eigenen Geschichte beider Völker geworden sind. Welche Inhalte deutsch-jüdischer Geschichte sind es nun, die dem Schüler in Israel in seinen Geschichtslehrbüchern als seine eigene Geschichte dargeboten werden? Die quantitative Erfassung der innerjüdischen Themen im deutschen Raum würde den Rahmen dieser Untersuchung sprengen. Im folgenden soll jedoch ausgeführt werden, welche Themen der deutschen Geschichte der israelische Schüler — auch das Kind von aus dem Jemen, Nordafrika oder dem Irak eingewanderter Eltern — als seine Geschichte lernt, ohne vielleicht je einen Deutschen mit eigenen Augen gesehen zu haben.

Sämtliche israelische Geschichtsbücher unterrichten eingehend über den „aschkenasi-sehen" Raum, der im Frühmittelalter auf beiden Seiten des Rheins Schauplatz einer geistigen Blütezeit des Judentums geworden war. Anläßlich der den Juden erteilten Privilegien und der sich entwickelnden Gemeinden in Köln, Mainz, Speyer, Worms, Magdeburg, Augsburg, Regensburg und Xanten wird sehr eingehend über städtische Ordnung, Rechtswesen, kanonisches Recht, Wirtschaft und Handel, Münz-, Steuer-und Zollwesen berichtet. Figuren wie Karl der Große, Heinrich IV., der Bischof von Speyer sind in die jüdische Geschichte eingegangen. Sowohl Beispiele gegenseitig befruchtenden Zusammenlebens, wie es in den verschiedenen Privilegien zum Ausdruck kommt, als auch die die Kreuzzüge begleitenden Metzeleien, Blutmärchen, Beschuldigungen der Brunnenvergiftung, Hostienschändung und anschließende Judenverfolgungen werden dem Schüler anschaulich geschildert. Der deutschen Kolonisation im Osten wird im Zuge der sie begleitenden jüdischen Migrationswelle große Aufmerksamkeit geschenkt. Die sozialen Gegensätze der Stände in Deutschland, die oftmals auf das jüdische Geschehen einwirkten, sind ausführlich behandelt. Die oben erwähnte Schwierigkeit einer harmonischen Integrierung von Komponenten allgemeiner und jüdischer Geschichte wird bei der unterschiedlichen Behandlung Martin Luthers einmal im Rahmen der allgemeinen Geschichte — wobei die mustergültige, einsichtsvolle Darstellung im Lehrbuch für den Mittelblock ganz besonders hervorgehoben werden soll — und zum anderen bei einer Behandlung im Rahmen der jüdischen Geschichte ersichtlich.

Die merkantilistische Wirtschaftstheorie wird anläßlich ihrer Auswirkung auf die Juden in Preußen gründlich erklärt. Die Behandlung der Hofjuden gewährt dem israelischen Schüler einen lebendigen Blick auf das Leben, die Wirtschaft, Verwaltung und die Kultur der deutschen Fürstentümer und auf die ersten Ansätze der Industrialisierung.

Im Zusammenhang mit der Frage der Gleichberechtigung der Juden werden Geistesströmungen in Deutschland, Namen wie Lessing, Herder, Fichte, Dohm und Eisenmenger, auch hier positiv oder negativ, erwähnt. Insbesondere wird Preußen zur Zeit Friedrich des Großen und dessen Wirtschaft und Verwaltung große Aufmerksamkeit geschenkt. Die konstitutionellen Wirren Deutschlands zur Zeit der französischen Revolution und Napoleons stehen im Zusammenhang mit dem Gleichberechtigungsparagraphen der Juden.

Ganz besonders wird die deutsche Aufklärung im Zusammenhang mit der jüdischen Aufklärung hervorgehoben; Lessing und Mendelssohn werden hierbei so eng verwoben dargestellt, daß die deutsche Aufklärung als ein nicht mehr wegzudenkender Bestandteil jüdischer Geschichte erscheint.

Allerdings trifft dies auch auf die Reaktion auf die jüdische Gleichberechtigung in Deutschland zu, wie sie in der „Hepp-Hepp-

Bewegung" und im Erstehen des modernen Antisemitismus zum Ausdruck kommt. Auch bei der Darstellung von Gabriel Riesser, Eduard Lasker, Ludwig Bamberger, Johann Jacoby, Ferdinand Lassalle, Ludwig Boerne, Heinrich Heine, Mendelssohn-Bartholdy und Mey-

erbeer verschwimmen die Konturen deutscher und jüdischer Geschichte und deren scharfe Abgrenzung und gewinnen einen deutsch-jüdischen Gehalt, der durchaus als ein immanenter Teil jüdischer Geschichte angesehen wird, freilich ohne dadurch die dem Thema innewohnende Problematik zu übersehen oder lösen zu können. Nicht eine künstlich konstruierte Harmonie und ein scheinbarer Ausgleich, sondern die Tragik des Konflikts werden hierbei als wesentlicher Teil jüdischer Geschichte verstanden und geschildert.

Die sehr ausführliche Behandlung des modernen Antisemitismus gewährt dem israelischen Schüler Einblick in das Parteienwesen Deutschlands, in soziale Gliederungen, in ideologische und geistige Strömungen und in gesellschaftliche und wirtschaftliche Prozesse. Auch der Anteil der Juden am öffentlichen Leben Deutschlands, in der Wissenschaft, Kunst, Musik, Presse usw. schärfen den Blick für diese Aspekte deutschen Lebens, wie es in den Lehrbüchern anderer Länder wohl kaum in gleichem Ausmaß erfolgt.

Die hier kurz angeführten Themen deutscher Inhalte, die dem israelischen Schüler im Rahmen der Verwobenheit deutsch-jüdischen Schicksals zur eigenen Geschichte werden, mögen als Ansatz zu einer Gegenseitigkeit einer künftigen gemischten Kommission gelten: nicht mehr Darstellung des „anderen" als einer verfremdeten und befremdend anmutenden Erscheinung, sondern die Miteinbeziehung der relevanten Inhalte des anderen als eines Bestandteils der eigenen Geschichte, entstanden im Laufe eines über tausendjährigen Zusammenlebens; nicht mehr Darstellung des anderen als einen Akt der Gefälligkeit, sondern aus dem Bestreben nach eigenem Selbstverständnis, nicht als Konfrontation mit dem anderen, sondern als Konfrontation mit sich selbst.

IV. Analyse der Inhalte deutscher Geschichte

Wenn nun aufgrund der Bestandsaufnahme der Inhalte deutscher Geschichte in den israelischen Lehrbüchern eine Analyse der Behandlung dieser Inhalte erstellt werden soll, muß eine grundsätzliche Bemerkung vorausgeschickt werden.

Anders als bei ähnlichen Bestrebungen gemischter Kommissionen der Bundesrepublik und ihrer Nachbarstaaten bestehen zwischen Israel und der Bundesrepublik keine umstrittene Probleme von Grenzregelungen und Bevölkerungsverschiebungen, keine Fragen des Sprach-und Kulturraums oder wirtschaftliche, politische und ideologische Gegensätze, über die man sich einigen müßte. Auch in bezug auf die Feststellung geschichtlicher Fakten dürften die Meinungsverschiedenheiten gering sein. Die Frage, ob die Juden nun wirklich Brunnen vergiftet, Hostien geschändet, das deutsche Volk geknechtet und dessen Kultur zersetzt haben und ob die Weisen von Zion im Verborgenen Ränke geschmiedet haben, um sich der Weltherrschaft zu bemächtigen, kann wohl heute nicht ernsthaft als Diskussionsthema erachtet werden. Auch bei den Judenverfolgungen und Judenmorden im Dritten Reich und deren aktenkundiger geschichtlicher Feststellung würden sich kaum erhebliche Gegensätze einer bilateralen Regelung in die Wege stellen.

Wohl sei aber auf die Gefahr einer neonazistischen Literatur hingewiesen, „die in den letzten Jahrzehnten bemüht war, die dem Nationalsozialismus nachgewiesenen Verbrechen zu bagatellisieren, ja zu bestreiten".

Diese Propagandathesen, „die an nationalsozialistische Gedankengänge anknüpfen, die lebendig geblieben sind . . . und die in letzter Zeit nicht ungeschickt die allgemeine Nostalgie-Welle nutzen, um den Nationalsozialismus zu verharmlosen, ja nicht selten zu glorifizieren", dürfen „nicht einfach bloß deswegen unbeachtet und unwidersprochen bleiben, weil ihre Argumentation durch inzwischen seit langem historisch erwiesenen Fakten eindeutig widerlegt erscheint"

Die vornehmlichste Aufgabe einer gemischten Schulbuchkommission dürfte wohl eher in der Interpretation der Tatsachen als in ihrer Feststellung liegen, in der Gesinnung und moralischen Haltung zu dem Geschehen als in dessen beiderseitig abgestimmten Formulierung. Es geht also hierbei um ein erzieherisches Anliegen und nicht lediglich um ein politisches Abkommen. Dies erleichtert einerseits das Vorhaben, macht es aber andererseits erheblich schwieriger.

Um das Ausmaß und die Richtung dieser Gesinnungen und Attitüden zu ermessen, die aus der Behandlung deutscher Inhalte in israelischen Geschichtslehrbüchern in dem israelischen Schüler erweckt werden können, wurden im Rahmen der vorliegenden Untersuchung folgende vier Fragen gestellt:

a) Hat das Geschehen im Dritten Reich auf das gesamte Deutschlandbild abgefärbt?

b) Fördern die israelischen Lehrbücher stereotype Vorstellungen und schüren sie Haßund Rachegefühle?

c) Wie werden die Judenverfolgungen und -morde während des Dritten Reiches beschrieben? d) Entsteht, in den Lehrbüchern das Bild eines neuen Deutschlands?

V. Das Deutschlandbild

Es ist oftmals darauf hingewiesen worden, daß Deutschland, die deutsche Sprache, Philosophie, Kunst, Literatur und ideologisches Gedankengut eine bevorzugte Stellung nicht lediglich im deutschen, sondern im europäischen Judentum überhaupt innehatten. Mit keinem Volke fühlte sich das europäische Judentum mehr verbunden als mit dem deutschen, und dies bis zu Beginn des Dritten Reichs, bei nicht wenigen Juden noch darüber hinaus. Kein Volk der Ede aber auch, von dem den Juden größeres Unheil, Leid und Verderben erwachsen ist als von dem deutschen.

Welche dieser beiden geschichtlichen Erfahrungen hat nun auf das Deutschlandbild in den israelischen Geschichtslehrbüchern abgefärbt? Sind die Erfahrungen des Dritten Reichs rückwirkend ausschlaggebend für das gesamte Deutschlandbild, oder erscheint das Dritte Reich als ein geschichtlicher Exzeß, unmotiviert und abgründig auf dem geschichtlichen Hintergrund jahrhunderterlanger Verknüpfung und Verbundenheit?

Die Antwort auf diese Frage wie auch auf die drei folgenden kann nicht undifferenziert, sondern nur aufgrund sorgfältiger Analyse der Lehrbücher erfolgen.

Es soll nachdrücklich festgestellt werden, daß die Behandlung der deutschen Geschichte von ihren ersten Anfängen und bis weit in die Weimarer Republik nicht vom späteren geschichtlichen Geschehen bestimmt oder verzerrt erfolgt. Sämtliche und auch die umstrittensten Themen der deutschen Geschichte werden in den Lehrbüchern differenziert und im Rahmen der jeweiligen Gesamtkonzeption und Grundrichtungen des Verfassers, doch durchgehend sachlich und unvoreingenommen behandelt. Kein einziges israelisches Lehrbuch, um nur ein Beispiel zu geben, bezichtigt Deutschland der Alleinschuld am Ersten Weltkrieg, und die Art, wie etwa die Einigung Deutschlands, die Persönlichkeit Bismarcks, der Erste Weltkrieg, die Wirtschaftskrisen der Weimarer Republik in den Büchern behandelt werden, könnte genausogut in jedem deutschen Lehrbuch unangefochten aufgenommen werden.

Schon die anfangs aufgezeichnete Reichhaltigkeit der Inhalte der deutschen Geschichte in den israelischen Lehrbüchern ermöglicht es dem Schüler — was in bezug auf jüdische Geschichte in deutschen Lehrbüchern nie der Fall gewesen war —, sich ein eigenes Bild von der deutschen Geschichte zu schaffen und sich ein entsprechendes eigenes Urteil zu bilden.

VI. Erziehung zum Haß?

Es ist in den israelischen -Geschichtslehrbüchern viel von Haß die Rede, wie es in einer Geschichte, die zum großen Teil eine Märtyrer-und Leidensgeschichte gewesen ist, auch nicht anders möglich sein kann. Wer aus „erzieherischen Gründen“ bemüht ist, denSchü-lern eine heile und intakte Welt vor Augen zu führen, in der die Leute und Völker nett zueinander sind, sollte jüdische Geschichte oder Geschichte überhaupt nicht unterrichten. Es soll hier nicht auf die Versuche philosophischer und theologischer Begründungen des Leids eingegangen werden, es geht vielmehr um eine erzieherisch-didaktische Frage. Gewiß werden Völker in verschiedenem Maße von ihrer akkumulativen Geschichtserfahrung geprägt; dies ist vielleicht einer der Gründe, warum Geschichte gelehrt und gelernt wird. Hier geht es jedoch um die Frage, ob in den israelischen Lehrbüchern bewußt und beabsichtigt Pauschalurteile über das deutsche Volk und dessen Geschichte abgelegt werden. Geht es in den Büchern um eine leidenschaftliche Beeinflussung des Schülers oder um eine nüchterne, sachliche Darstellung, aufgrund derer er zu einem eigenen Urteil gelangen kann? Fördern die Lehrbücher Vorurteile, stereotype Einstellungen, Haß-und Rachegefühle, oder können die in ihnen enthaltenen Darstellungen als eine gemeingültige Basis und Empfehlung für eine gleichartige Behandlung jüdischer Inhalte in deutschen Geschichtslehrbüchern gelten?

Eine genaue Untersuchung des Textes kommt zu folgenden Ergebnissen:

Wohl unterscheiden sich die Bücher aufgrund der Einstellung, Auffassung und pädagogischen Einsicht der jeweiligen Autoren hinsichtlich der mehr leidenschaftlichen und heftigen oder nüchternen und analytischen Ablehnung der gegen Juden erhobenen Beschuldigungen und in der Verdammung des ihnen zugefügten Leids. Lassen es zum Beispiel Awiwi und Perski in der Grundschule und Horowitz in der Oberstufe — leidenschaftlich engagiert und pädagogisch falsch — an Ausrufezeichen und starken Worten der Gegenanklage, Empörung und Entrüstung über das zugefügte Leid nicht fehlen, so begnügen sich Katz und Hershko in der Grundschule, Ziv und Toury in der Fachschule und fast sämtliche Bücher der Oberstufe — pädagogisch richtig — mit einer knappen, sachlichen und gerade deshalb beeindruckenden Darstellung. In beiden Fällen und ausnahmslos geht es in den Lehrbüchern darum, den Schüler mit seiner Geschichte zu konfrontieren, ihm die Tragik jüdischen Schicksals vor Augen zu führen und zu versuchen, ihm Gründe, Sinn und Auftrag dieses Schicksals zu erklären, wie immer auch diese Erklärungen geartet sein mögen. In jedem Fall — und auch das ausnahmslos — werden der die Juden treffende Haß und dessen Auswirkungen immer wieder aufs neue differenziert, niemals einem ganzen Volk pauschal zugeschrieben, sondern stets auf die jeweiligen verantwortlichen Gruppen, Stände, Institutionen, Parteien bezogen, deren Beweggründe angeführt und der Versuch gemacht, sie aus der Sicht des anderen zu erklären, wenn auch nicht zu akzeptieren. Dafür können zahllose Beispiele angeführt werden.

Eine Bestätigung dieser Ergebnisse liegt auch von einer ganz anderen Seite vor. Die in den letzten Jahrzehnten in Israel erschienene fachdidaktische Literatur hat sich eingehend mit den Fragen des Geschichtsunterrichts befaßt und immer wieder auf die besondere Problematik des Unterrichts der eigenen jüdischen Geschichte hingewiesen. An keinem Ort wurde dabei die hier gestellte Frage aufgeworfen und erörtert, sondern ganz im Sinne der oben angeführten Ergebnisse auf andere und entgegengesetzte Gefahren aufmerksam gemacht: Ein immer wiederkehrendes Motiv ist die erzieherische Gefahr der Apologetik, nämlich diejenige Art der Behandlungsweise jüdischer Geschichte, die jedes gegen Juden gerichtetes Argument aufnimmt, es zu verstehen, zu widerlegen und zu entkräften sucht, also stets darum bemüht ist, das eigene Ver-halten zu erklären und jeder Beschuldigung mit einer Entschuldigung zu begegnen.

Ein weiteres, häufig erwähntes Motiv in der fachdidaktischen Literatur bezieht sich darauf, daß eine allzu krasse und massive Darstellung des jüdischen Martyriums sehr wohl den Schüler zu einer Ablehnung der eigenen Geschichte führen mag, wohl auch geführt hat.

Fachdidaktiker in Israel sind neuerdings darum bemüht, jüdische Geschichte nicht so sehr in Abhängigkeit von den von außen auf sie einwirkenden Faktoren — wie die Behandlung durch die Völker, Gesetzgebung, Verfolgungen, Vertreibungen — , darzustellen, sondern eher aus inneren Kräften und Zusammenhängen zu erklären. Wie jedoch das innere Gleichgewicht herzustellen ist zwischen der Reaktion auf die im Laufe der Geschichte immer wieder empfundene Ablehnung von seifen der Völker und der zum großen Teil bestehenden Bereitschaft zur Einordnung in leben diese Völkerfamilie und zur Identifizierung mit ihren Werten, bleibt bei all dem problematisch genug.

VII. Das Dritte Reich

Im Rahmen der Konzeption der Zweiteilung in „allgemeine" und „jüdische“ Geschichte werden auch das Dritte Reich und der Zweite Weltkrieg unlogischerweise, aber den Lehrplänen gemäß, einmal in Zusammenhang mit dem Weltgeschehen und ein zweites Mal in bezug auf das jüdische Schicksal in den Lehrbüchern geschildert.

Der Zweite Weltkrieg wird eingehend behandelt. Hier ganz kurz der Themenkatalog:

der deutsche Angriff auf Polen und die russischen Eroberungen im Baltikum, der Angriff auf Dänemark und Norwegen, der deutsche Blitzkrieg, Belgien, Holland, Frankreich;

der Eintritt Italiens in den Krieg, der Krieg gegen England, der Seekrieg, der Krieg gegen Rußland, der Balkanfeldzug;

der Kriegseintritt der USA, der Umschwung, die deutsche Niederlage in Nordafrika, Stalingrad, die Landung im Westen, der Zusammenbruch der deutschen Front in Rußland, die Bombardierung deutscher Städte, die deutsche Widerstandsbewegung (in den Büchern der Oberstufe), das Kriegsende.

Die Darstellung ist im allgemeinen sachlich gehalten und unterscheidet sich wenig von den entsprechenden Kapiteln in deutschen Lehrbüchern.

Das Hauptinteresse gilt jedoch dem Schicksal der Juden im Dritten Reich. Diesem Thema sind bei Ziw und Ettinger 31 Seiten, bei Awi-

wi und Perski 37 Seiten, bei Katz und Hershko wie bei Ziw und Toury fünf Seiten gewidmet. Der Themenkatalog dieses Kapitels in den meisten Büchern ist etwa:

der Antisemitismus, die Juden in Deutschland, ihr Anteil an der Bevölkerung, der jüdische Beitrag zur deutschen Kultur; der Beginn der nationalsozialistischen Juden-politik, Boykott, Ausschaltung aus staatlichen Stellungen und aus dem öffentlichen sowie dem Kulturleben, die Deklassierung des Menschen, die Nürnberger Gesetze, Selbsthilfe der Juden, die Polenaktion und das Pariser Attentat, die „Reichskristallnacht", Verhaftungswelle, Bußezahlung; Auswanderung, Madagaskar-Plan;

die „Endlösung", die Wannseekonferenz, Gettoisierung, Deportationen nach Polen, die Einsatzgruppen, Durchführung und Methoden der Massenvernichtung, Konzentrationslager, Arbeitslager, Vernichtungslager;

jüdische Selbstorganisation, Judenräte, Judenpolizei, jüdischer Widerstand, der Aufstand im Warschauer Getto, Bialystok und Minsk, Zahl der Opfer (sechs Millionen), die Nürnberger Prozesse, die Schuldfrage, die Hauptverantwortlichen, Haltung der Kirchen, Akte der Menschlichkeit.

Es soll vorausgeschickt werden, daß nicht die Deutschen, sondern die Juden und ihr Schicksal den Mittelpunkt des Interesses bilden. Quälende inner) üdische Fragen bestimmen die aufgeworfene Problematik und die verschiedenen Betonungen. So wird z. B. in allen Büchern der jüdische Aufstand im Warschau-er Getto überdimensional betont, und die Lehrbücher versuchen zu erklären, warum die Juden nicht beizeiten entflohen sind, warum sie die ihnen drohende Gefahr nicht ahnten und voraussahen, warum sie sich nicht zur Wehr setzen konnten und dergleichen mehr.

In bezug auf Deutschland und Deutsche weichen die israelischen Lehrbücher in drei Punkten wesentlich von den entsprechenden Kapiteln in deutschen Lehrbüchern ab:

a) In der Ausführlichkeit der Beschreibung und dem emphatischen Mitgefühl mit den Op-B fern, in der Heftigkeit und Entschiedenheit der Verurteilung der Verbrechen und der Täter, die in einigen Büchern und besonders bei Awiwi und Perski bis ans äußerste geht, freilich auch dann noch dem wahren Sachverhalt gerecht wird.

b) Die Verheimlichungstheorie wird in einigen Lehrbüchern bezweifelt und ad absurdum geführt. „Es ist nicht vorstellbar", schreibt Ettinger, „daß das deutsche Volk in seiner Mehrzahl von dem Geschehen nichts gewußt hat. Das deutsche Volk blieb gleichgültig, und abgesehen von wenigen blieb es Hitler fast bis zum Ende treu. Auch der Widerstand gegen Hitler war noch kein Zeichen für eine veränderte Haltung zu den Juden ...".

c) Die Schuld-und Verantwortungsfrage wird in einigen israelischen Lehrbüchern, nicht in allen, eindeutiger beantwortet als in den deutschen und der Kreis der Verantwortlichen beträchtlich erweitert. Das Heer und seine Zusammenarbeit mit den Einsatzgruppen, die Haltung der Kirchen und insbesondere der Lutherischen Kirche, die Schwerindustrie und die Hochfinanz, deutsche Wissenschaftler, Richter, Ärzte, Lehrer und Erzieher werden aufs schärfste kritisiert, dies jedoch nicht ohne auf die Gefahren hinzuweisen, denen sich Widersacher des Regimes aussetzten. Katz und Hershko betonen nachdrücklich das Terrorsystem, das jeden Widerstand verstummen ließ.

Awiwi und Perski beklagen in ihrem Buch, daß auch nach dem Nürnberger Prozeß Hunderte und Tausende Schergen frei blieben.

Zusammenfassend wäre zu sagen, daß in den israelischen Lehrbüchern in diesem Abschnitt sehr viel beschrieben und wenig erklärt wird, das Ungeheuerliche wird angeprangert und verdammt, bleibt jedoch ungeheuerlich wie zuvor.

Die begriffliche Hilflosigkeit im Erfassen und Ergründen des Geschehens hatte eine Verteufelung der Täter mit sich gebracht, nicht unähnlich der Projizierung des Bösen und Schlechten auf dämonische Ungeheuer und Teufel.

Diese Einstellung ist ebenso wissenschaftlich unzulässig wie erzieherisch verfehlt, da es darum gehen sollte, das Böse in uns selbst zu erkennen und zu verbannen und es nicht auf außer unserem Machtbereich liegende Objekte zu projizieren und mithin die innere Verantwortung abzulehnen. Zwischen Satan und Mensch bestehen keine erzieherischen Beziehungslinien; die Ermordung der Juden war nicht Teufels-, sondern Menschenwerk, nicht dämonischen Urgründen, sondern menschli-

chen, psychologischen, politischen, gesellschaftlichen Motiven und Mechanismen entspringend. Diese gilt es aufzudecken, ihre menschlich-historischen Wurzeln und kausalen Verbindungen darzustellen und zu verstehen zu suchen, um sie für uns und unsere Kinder aus der Welt zu schaffen.

Dies aber ist den Autoren der israelischen Lehrbücher zum größten Teil nicht gelungen; es bleibe dahingestellt, ob es den deutschen Lehrbuchautoren besser erging.

VIII. Die Nachkriegszeit

Wie ist das Deutschlandbild der Nachkriegszeit und der Bundesrepublik beschaffen, das dem israelischen Schüler aufgrund seiner Lehrbücher vor Augen tritt? Es ist eingangs schon auf die Unzulänglichkeit der israelischen Lehrbücher in bezug auf die jüngste Vergangenheit hingewiesen worden.

Der das Nachkriegsdeutschland betreffende Themenkatalog ist leicht umrissen.

Jalta und die Kapitulationsbedingungen für Deutschland, das Potsdamer Abkommen, die vier Besatzungszonen und der alliierte Kontrollrat, Entnazifizierung und Nürnberger Prozeß; die wirtschaftliche Notlage, die Flüchtlinge (12 Millionen), die Währungsreform, die Berliner Blockade;

Westdeutschland wird Mitglied der Montanunion, Eingliederung in die Nato, der War-schauer Pakt, die Bildung der Bundesrepublik und der Deutschen Demokratischen Republik, die Berliner Mauer, Konrad Adenauer, die Eingliederung in den Westen.

Das Reparationsabkommen zwischen Deutschland und Israel wird lediglich in einem Buch (Ziw und Ettinger), und auch dies nur anläßlich der dadurch ausgelösten innenpolitischen Krise, erwähnt. — Die Ergebnisse dieser Darstellung mögen vielleicht einen Beitrag zur Verständigung zwischen beiden Staaten darstellen. Sollte eine bilaterale Schulbuchkommission ins Leben gerufen werden, so böte sich ein Ansatz, in schulische Praxis umzusetzen, was zuvor in den Herzen der betreffenden Völker vorangegangen sein muß.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Hermann Langbein, Literaturbericht. Überblick über neonazistische Literatur, in: Zeitgeschichte, Juni/Juli 1975, Heft 9/10, Historisches Institut der Universität Salzburg. Vgl. auch Ino Arndt/Wolfgang Scheffler, Organisierter Massenmord an Juden in nationalsozialistischen Vernichtungslagern, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 19/76.

Weitere Inhalte

Chaim Schatzker, Dr. phil., geb. 1928, Senior Lecturer an der Hebräischen Universität Jerusalem. Veröffentlichungen: Die jüdische Jugendbewegung in Deutschland — Dokumentation der Jugendbewegung, 1975; Jüdische Geschichte in deutschen Geschichtslehrbüchern, Braunschweig 1963 (zusammen mit Schaul Robinsohn); Intentionen und Fragen zu einer multidisziplinären Analyse deutscher Lehrbücher in bezug auf Juden, Judentum und Staat Israel, in: Sozialwissenschaftliche Schriften 10, Duisburg 1976; Die Erschütterung des geschichtlichen Zeitbegriffs und deren Auswirkung auf den Geschichtsunterricht (hebr.), Jerusalem 1976.