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Rechtsfindung durch Sachverständige? Zur Problematik von Gerichtsgutachten | APuZ 44/1976 | bpb.de

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APuZ 44/1976 Das Überlebensprogramm Probleme der „Vermarktung" von Wissenschaft durch Massemedien. Rechtsfindung durch Sachverständige? Zur Problematik von Gerichtsgutachten

Rechtsfindung durch Sachverständige? Zur Problematik von Gerichtsgutachten

Günter Weigand

/ 35 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Für’die Rechtsfindung in der Bundesrepublik Deutschland wird die Funktion der Gerichts-gutachter immer bedeutsamer. Viele Richter fühlen sich angesichts der Komplexität der modernen Lebensumstände überfordert, wenn sie aus eigener Urteilskraft einen Konflikt — sei es zivil-, sei es strafrechtlich — befriedigend schlichten sollen. Theoretisch behalten sie auch bei Einschaltung eines Sachverständigen Kompetenz und Verantwortung für ihren Entscheid; praktisch gerät der Gerichtsgutachter jedoch um so stärker in die Rolle eines Ersatzrichters, je mehr der Auftraggeber auf eine Überprüfung seiner Ergebnisse nach Billigkeit und logischer Stringenz verzichtet und ihn, wenn er fahrlässig oder vorsätzlich fehlgutachtet, gegen die Abwehr des durch das Gutachten Geschädigten in Schutz nimmt.

In unserer hochspezialisierten industriellen Massengesellschaft reichen zur Beurteilung vieler Streitfragen der gesunde Menschenverstand und selbst eine gute Allgemeinbildung nicht mehr aus. So wird der Ruf nach einem Sachverständigen laut, der auf Grund seiner spezifischen beruflichen Vorbildung und Erfahrung, charakterlichen Solidität und öffentlichen Bestellung und Vereidigung dazu geeignet zu sein verspricht, in einem Interessenkonflikt ein möglichst objektives Urteil darüber abzugeben, welcher Sachverhalt denn nun eigentlich vorliegt, wie er unter den verschiedensten Blickwinkeln (rechtlich, wirtschaftlich, steuerlich, technisch, statisch, künstlerisch, sittlich, historisch usw.) zu bewerten und wie der Konflikt zweckmäßig und angemessen zu lösen sei.

Zu diesen quasi klassischen Aufgaben der Begutachtung eines vorliegenden Sachverhalts tritt mehr und mehr die prognostische: Hier soll der Sachverständige als einschlägiger Kenner im Zustand der Planung eines Projekts, aber auch etwa vor der Fällung eines Urteils in einem Zivil-oder Strafprozeß zutreffend abschätzen, welche Folgen und Wirkungen eine Entscheidung nach sich ziehen wird.

Bei dem rapiden Wachstum auch an anthropologischen Erkenntnissen kann es kaum wundernehmen, daß es vor allem für den Richter-stand immer schwerer wird, Streitfälle im weiten Feld der Gerichtsbarkeit zu entscheiden.

Gleichwohl muß die Frage erlaubt sein, ob hier nicht — aus einer zeittypischen Ängstlichkeit heraus, für das eigne Tun Verantwortung zu übernehmen und zu tragen (Verantwortung im selben Umfang, für den Freiheit in Anspruch genommen wird!) — mitunter des Guten zu viel getan und Gutachten in Auftrag gegeben werden, wo sie entbehrlich oder gar überflüssig sind 1). So hat etwa jüngst ein Landesarbeitsgericht geurteilt, es sei ein Sa So hat etwa jüngst ein Landesarbeitsgericht geurteilt, es sei ein Sachverständigengutachten erforderlich, wenn der beklagte Arbeitgeber in einem Arbeitsprozeß Tatsachen vorträgt, aus denen sich ergebe, daß der in einem Krankheitsattest vermerkte Befund unrichtig sei, die ärztlichen Erfahrungsgrundsätze falsch oder ungenügend angewandt oder die Schlüsse aus ihnen falsch gezogen worden seien 2). Sofern die Prozeßpartei wirkliche Tatsachen vorgetragen hat, aus denen sich das Vorstehende ergibt: was kann denn ein Gutachter, solange er sich den Gesetzen der Logik unterworfen fühlt, anderes sagen als die Prozeßpartei selber, und warum soll richterliche Urteilskraft nicht dazu ausreichen, den tatsächlichen Vortrag der Partei durch Beweiserhebung wie Zeugenvernehmung, Augenschein, Urkunden-prüfung usw. in eigener Verantwortung definitiv prüfen zu können?

Weil die Bestellung eines — oder gar mehrerer, sich mitunter nach Kräften gegenseitig befehdender — Sachverständigen durch die Gerichte regelmäßig die Entscheidung laufender Verfahren kompliziert, verlängert und verteuert und die Inflation der vergebenen und oftmals ohne sorgsame Prüfung unbesehen übernommenen Gutachten deren Qualität und Niveau nicht halten oder heben kann, sondern senken muß, ist nachdrücklich zu fordern, Sachverständige bei Gericht nur dann zu bestellen, wenn dies wegen der die normale richterliche Urteilskraft übersteigenden Schwierigkeit im Einzelfall von der Sache her erforderlich ist. Nur deshalb einen Gutachter zu beauftragen, weil man Zeit gewinnt, den Rechtssuchenden vielleicht abschreckt oder zermürbt und einen Batzen eigner Verantwortung überwälzen kann, stellt einen Mißbrauch der Rechtsprechungsgewalt dar, dem alle am Prozeß Beteiligten, vornehmlich die Rechtsarwälte, erklärte „Organe der Rechtspflege", steuern müssen, selbst wenn es Honorareinbußen zur Folge haben sollte.

Völlig unangebracht ist es natürlich, daß ein Richter oder ein Richterkollegium — vom Prestige der berühmten . Kapazität'fasziniert — eigenes kritisches Denken und Abwägen preisgibt. Den besonders krassen Fall, daß die Strafkammer eines Landgerichts glaubte, sich einem forensisch sehr geschickten Psychiater bedingungslos anschließen zu müssen, weil er „psychologisches Neuland betreten habe", hat es tatsächlich gegeben: Der Sachverständige hatte einen ordinären Lebensmitteldiebstahl in einem Selbstbedienungsladen dahin gehend verharmlost, die Beklagte, habe sich infolge Überarbeitung, Klimakterium und Ehenot halt nur so vergriffen wie ein Klavierspieler beim Anschlag einer falschen Taste, jedenfalls nicht gewollt, was sie getan habe Der Beruf der Diebin: Richterin!

Nun wird die Kunst, in rechtlich problematischen Situationen mit dem Richterspruch das Rechte und Billige zu treffen, sich gewiß nicht mit dem Erwerb noetischer Rechtskenntnisse wie von selbst einstellen. Vielmehr gehören Intuition und natürliche Begabung dazu, auf deren Vorhandensein und Training im Rahmen der Ausbildung zum Richter nicht minder geachtet und bei qualifizierenden Prüfungen für dieses schwere Amt Wert gelegt werden muß wie auf den Wissensstoff, auf dessen . lebenspraktische’ Anwendung es ja zuletzt ankommt. Der Einwand, eine Auswahl der Richteranwärter auch noch nach diesem Kriterium sei sachlich nicht möglich, ist nicht stichhaltig: Die psychologische Persönlichkeits-und Eignungsdiagnostik hat qualifizierende Tests entwikkelt, mit denen sich das Vorhandensein oder das Fehlen dieses Talents, „salomonisch urteilen zu können", feststellen lassen. Dabei wird es entscheidend darauf ankommen, ob einer formalistisch am Buchstaben klebt und dafür sogar Lebendig-Komplexes zerteilt, oder ob er souverän dem Geist einer Rechtsnorm dadurch gerecht wird, daß er mit untrüglichem Blick für echt und falsch, wahr und vorgetäuscht, wichtig und unwesentlich im Rahmen humaner Billigkeit für den Einzelfall eine den Rechtsfrieden fördernde, materialgerechte Lösung anstrebt und auch findet.

Dem Umstand, daß alles menschliche Tun selbst bei bester Absicht Irrtümern unterliegt und deshalb fehlerhaft bleibt, steht die Erfahrung nicht entgegen, daß es bei der Rechtszuteilung eben doch diese beiden Typen — salopp einmal als Paragraphenreiter und salomonischer Richter bezeichnet —, natürlich mit einer Vielzahl von Zwischenformen, gibt. Jeder, der vor Gericht sein Recht sucht oder sich einer Anklage zu erwehren hat, ist froh, * wenn er nicht auf einen — auch wieder salopp formuliert — abgestorbenen, sturen Rechtsautoniaten trifft.

Nach diesem Exkurs zurück zum Thema:

Gutachtertätigkeit kann besonders problematisch auf dem Gebiet der Zwangseinweisung in psychiatrische Kliniken werden. Gefährdet sind hier vornehmlich eigenwillige Einzelgänger. Wie in den folgenden Ausführungen noch im einzelnen gezeigt und belegt werden soll, ist es ein verhängnisvoller Fehler zu glauben, solche Gefährdung gebe es in unserem Staat nicht. Tilmann Mosers Studie „Repressive Kriminalpsychiatrie" (Suhrkamp-edition 1971) belehrt hierin ebenso eines Schlimmeren wie auch ein Blick in das so verharmlosend als „Gesetz über Hilfen und Maßnahmen bei psychischen Krankheiten"

des Landes Nordrhein-Westfalen vom 2. Dezember 1969, das inzwischen andere Bundesländer kopiert haben, benannte Recht. Obwohl nach dem Grundgesetz kein die Menschenwürde als unantastbar konstituierendes Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet und beschnitten werden darf, bestimmt es in § 42: „Durch dieses Gesetz werden ...

die Rechte auf körperliche Unversehrtheit und auf Freiheit der Person, auf Unverletzlichkeit des Briefgeheimnisses und der Wohnung eingeschränkt." Moser geht sogar so weit, von einer regelrechten „Komplizenschaft" zwischen Strafjustiz und Gerichts-psychiatrie sowohl bei der Formulierung und Novellierung einschlägiger Gesetze als auch in der Justizpraxis zu sprechen. Er greift damit — bisher unwidersprochen — den Zustand an, daß sich längst zwischen den justiziellen Auftraggebern und den wenigen gerichtsbekannten und immer wieder (sofern sie in ihren Ergebnissen nicht . enttäuschen'!) herangezogenen gerichtlichen Sachverständigen eine in der Abwicklungsroutine gehärtete Handlungssymbiose nach Absprache herausgebildet habe, die sich stärker an der reibungslosen und bequemen Abwicklung der Akten als an der entsagungsvollen Aufgabe orientiere, die Sachlage unter juristischen und medizinischen Aspekten wirklichkeitsgerecht zu erforschen und gerecht zu beurteilen. Mag dieser schwerwiegende Vorwurf übertrieben oder unzulässig verallgemeinert erscheinen: unbestreitbar ist aber, daß es. in beiden Lagern kritische Stimmen zum Thema „Sachverständige und ihre Auftraggeber" gibt, die beklagen, daß es nicht , selten vorkommt, daß einer den anderen aufs Glatteis führt, indem entweder der Auftrag mit Fragen überfrachtet wird, die außerhalb der Kompetenz des juristischen Laien liegen, oder in-B dem der Gutachter sich zu Wertungen, Empfehlungen und Ratschlägen hinreißen läßt, die durch den Auftrag und sein Wissen in seinem Fachgebiet nicht gedeckt sind

Aus alledem ist die Frage, ob zumindest die Tätigkeit der forensisch tätigen Sachverständigen einer Kontrolle bedarf, notgedrungen zu bejahen. Denn zweifellos ist der möglicherweise entstehende Schaden, der dadurch eintreten kann, daß der schärfer als bisher kontrollierte Gerichtsgutachter unwilliger, ängstlicher oder unentschlossener, unentschiedener amtiert, geringer als der, daß er im Bewußtsein einer unkontrollierten Machtfülle seine Aufgaben nachlässig, gefällig, parteiisch, bedenkenloser als geboten, kurzum: sachlich irreführend und falsche justitielle Urteile und Anordnungen provozierend erfüllt. Es wäre erfreulicher, könnte man uneingeschränkt Zutrauen zu der sorgfältig und unparteiisch geleisteten Arbeit der Gerichtsgutachter haben, so daß man auf Kontrollen ganz oder doch fast vollständig verzichten könnte. Die Lebenserfahrung im In-und Ausland zeigt indes deutlich, daß ein solches Zutrauen nicht gerechtfertigt ist und eingeschliffene Mißstände begünstigen würde. Fast immer, wenn sich erst nach vielen Jahren, mitunter auch Jahrzehnten, gegen härteste Widerstände der Staatsanwaltschaften und Gerichte erweist, daß ein Urteil fehlerhaft war und im Weg der Wiederaufnahme kassiert werden muß, liegt ein — aus der Rückschau oft hanebüchen anmutendes — Fehlgutachten zugrunde „Wer die Wahrheit nicht kennt, ist ein Dummkopf. Wer sie aber kennt und trotzdem schweigt, ist ein Verbrecher!" — so hat Bertolt Brecht geurteilt. Dem steht die Auffassung eines Oberlandesgerichtspräsidenten entgegen, der Autorität der Justiz sei viel besser dadurch gedient, daß sie selbst dann bei ihrem ersten Zugriff bleibe, wenn sich dessen Unhaltbarkeit herausgestellt habe, als daß sie sich korrigiere, weil sie dann ihre Fehlerhaftigkeit ja eingestehe Der Fall der Vera Brühne scheint das trübste Illustrationsbeispiel der Gegenwart für diese Betrachtungsweise der Dinge, die Dummheit ausschließt, zu sein. Dieser verkrampften Fehl-auffassung der Rechtsprechungsautorität als einer um jeden Preis fanatisch zu bewahrenden Fassade entspricht der Makellosigkeitswahn mancher Richter, wie er sich etwa in dem Abschiedsbrief eines wegen Trunkenheit am Steuer angeklagten Landgerichtsrats vor dem Erhängen manifestiert:

„Was auf mich zukommt (vielleicht drei Wochen Freiheitsstrafe zur Bewährung, aber diese Schande! d. V.) ist schlimmer als furchtbar; ich ziehe meinen Freitod einer Gerichtsverhandlung gegen mich entschieden vor." Wie kann ein Mensch mit solcher Mentalität über andere Menschen, die nicht fehlerhafter sind als der Richter selber, richten wollen?

Wenn man der Forderung, gerichtliche Sachverständige dürften nicht unkontrolliert ihre Funktionen ausüben, zustimmt, erhebt sich die Frage, wie denn eine solche Kontrolle praktiziert werden sollte. Zumeist lautet die Antwort, der mit einem Gutachten begründet Unzufriedene müsse das Recht erhalten, einen Gegengutachter zu bestellen (und dies dürfe nicht an der Kostenfrage scheitern!). Doch scheint mir dies nicht das beste Heilmittel zu sein. Denn wenn der zweite Gutachter zu einem vom ersten Gutachter sehr abweichenden Ergebnis gelangt, wird das Gericht, weil ihm in der Regel das für die Klärung der Streitfrage notwendige Sachverständnis fehlt, einen dritten, den sog. , Obergutachter', bestellen. Dieser bürgt jedoch keineswegs dafür, daß er die widerstreitenden Prozeßinteressen zwischen Ankläger und Angeklagtem samt Verteidiger oder Kläger und Beklagtem mit ihren Bevollmächtigten zufriedenstellend, d. h. sachlich überzeugend, ausgleichen oder vorentscheiden kann. In jedem Falle aber vergeht weitere kostbare Zeit, in der der Streitgegenstand unentschieden weiterschwärt und der Angeklagte in der Untersuchungshaft den Entzug seiner Freiheit hinnehmen muß.

Sinnvoller und wirksamer mir die scheint schärfere Anwendung der Haftungsbestimmungen aus dem Recht der unerlaubten Handlung (§§ 823— 847 BGB) durch die -Ge richte auf Antrag der von fehlerhaften Gutachten Geschädigten zu sein. „Schärfer" kann mißverstanden werden; deshalb sei dieser Ausdruck dahin verdeutlicht, daß nur gefordert wird, die Gerichte — wiewohl Auftraggeber der Gutachter und deshalb nach ihrer (so nicht voll zu billigenden) Meinung von deren Wohlwollen , abhängig'— möchten endlich jene Bestimmungen verfassungskonform („Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich", Art. 3 GG) auch gegenüber ihren „Gehilfen" anwenden und die „Komplizenschaft" im Sinne Tilmann Mosers zugunsten einer redlichen Gleichbehandlung aller Schädiger aufkündigen! Müßte nicht eigentlich ein Gerichtsgutachter, der einen Richter durch sein Falschgutachten zu einem Falschurteil verleitet, wegen der dank der Rechtskraft des Urteils schließlich kaum behebbaren, oft zeitlebens dauernden Schädigung noch mehr haften als ein anderer Schädiger?

Die grundlegende Norm für den Schadensersatzanspruch aus unerlaubter Verletzung allgemeiner Rechtsgüter — § 823 Abs. 1 BGB — lautet:

„Wer vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum oder ein sonstiges Recht eines anderen widerrechtlich verletzt, ist dem anderen zum Ersätze des daraus entstehenden Schadens verpflichtet."

Der Schmerzensgeldanspruch ist in § 847 BGB wie folgt geregelt:

„Im Falle der Verletzung des Körpers oder der Gesundheit sowie im Falle der Freiheitsentziehung kann der Verletzte wegen des Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, eine billige Entschädigung in Geld verlangen." . Billig'meint in diesem Zusammenhang eine in billigem Verhältnis zum Schaden stehende Zahlung. Die Auffassung davon, was angemessen ist und welche Kriterien auf die Höhe des Anspruchs legitim einwirken sollen, schwankt freilich, doch geht die Diskussion und der Trend der Meinung heute eindeutig dahin, die früher oft lächerlich gering anmutenden Entschädigungssätze unter Beachtung der seit Jahren stetig anhaltenden Teuerung in ein ausgewogeneres Verhältnis zum Niveau des Lebensstandards zu bringen. Von der Generalklausel, daß jeder Schaden, der willentlich und/oder durch mangelnde Sorgfalt eingetreten ist, den Schädiger zum Schadenersatz verpflichtet, hat der Gesetzgeber aus wohlerwogenen (aber doch wohl auch nicht für alle Ewigkeit beständigen!) Gründen eine wichtige Ausnahme vorgesehen: das sog. Spruchrichterprivileg des § 839 Abs. 2. Es lautet:

„Verletzt ein Beamter bei dem Urteil in einer Rechtssache seine Amtspflicht, so ist er für den daraus entstehenden Schaden nur dann verantwortlich, wenn die Pflichtverletzung mit einer im Wege des gerichtlichen Strafverfahrens zu verhängenden öffentlichen Strafe bedroht ist.

Auf eine pflichtwidrige Verweigerung oder Verzögerung der Ausübung des Amtes findet diese Vorschrift keine Anwendung."

Das heißt mit anderen Worten: Einen Richter (ein Richterkollegium) kann der Geschädigte im Normalfäll nicht belangen. Denn für Fahrlässigkeit, selbst gröbste, braucht er nicht zu haften. Eine vorsätzliche Schädigung bei der Rechtszuteilung stellt das Delikt der Rechtsbeugung — § 336 StGB — dar, dessentwegen ein Richter praktisch nie angeklagt oder gar verurteilt wird, weil dem Geschädigten fast nie der Nachweis gelingt, daß der Richter ihn mit Wissen und Wollen (wider bessere Einsicht und vorsätzlich) geschädigt hat. Erfreulicherweise ist auf Betreiben des Bundesjustizministers der Tatbestand der Rechtsbeugung inzwischen so erweitert worden, daß nicht mehr wie früher allein der absolute Vorsatz des Fehlurteilens das Delikt schafft. Auch schon der sog. dolus eventualis, der Eventual-oder bedingte Vorsatz genügt, der sich mit den Worten umschreiben läßt: . Vielleicht geht's gut aus, vielleicht auch nicht. Das macht aber auch nichts, ich nehme es in Kauf, daß ich falsch geurteilt habe. Es wird schon nicht ruchbar werden...'Daß ein mit seinem Urteil unzufriedener Prozeßbeteiligter nicht mit der Behauptung, der Richter habe ihm fahrlässig Unrecht getan, diesen mit einem Schadensersatzprozeß überziehen kann, ist wohl einfach notwendig, wenn man eine funktionstüchtige Rechtspflege will. In einem Rechtsstaat zumal sollte jedermann davon ausgehen dürfen, daß die Richter grundsätzlich bestrebt und bemüht sind, das Recht un-38 parteiisch und objektiv anzuwenden und keiner Partei des Prozesses absichtlich Vor-oder Nachteile zuzufügen. Dennoch haftet diesem Privileg („Das Recht hat nur einen einzigen Feind: das Vorrecht", wußte schon Maria von Ebner-Eschenbach) unbestreitbar, wie-wohl aus praktischen Gründen unabweisbar erzwungen, etwas Bedenkliches an, weil es eben den Bevölkerungsteil, der in seiner Berufspraxis die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz (und den Gerichten!) sicherstellen soll, begünstigt und ohne Sanktionen pfuschen oder sogar fehlrichten läßt.

Deswegen ist abzusehen, daß das Spruchrichterprivileg — jedenfalls in seinem jetzt noch sehr erheblichen Freistellungsumfang — mit dem Fortschreiten eines mehr und mehr aufgeklärten demokratischen Bewußtseins immer weniger Chancen hat, bestehen zu bleiben.

Wenn aber ein Privileg aus praktischen Gründen legal geschaffen worden ist, muß es, solange es gilt, mit Gewißheit auf den eng Spruch Begünstigten begrenzten Kreis der (der -richter also) beschränkt bleiben; es darf nicht willkürlich von den Privilegierten auf andere Personengruppen, z. B. die Gerichtsgutachter als . Gehilfen des Richters', ausgedehnt werden. Gerade dies aber ist durch eine Grundsatzentscheidung des Bundesgerichtshofes vom 18. Dezember 1973 — VI ZR 113/71 — geschehen, in der ein zumindest grob fahrlässig handelnder Gerichtspsychiater, dessen Gutachten einen zweifelsfrei gesunden Beschuldigten zeitweise in eine Irrenanstalt brachte, zuletzt wegen seiner Richterhilfsfunktion von aller Haftung für die von ihm angerichteten, unabsehbaren Schäden freigestellt worden ist. Dabei liegt es doch eigentlich auf der Hand, daß es der Rechtssicherheit und der wahren Unabhängigkeit der Gerichtsgutachter von sachfremden Beeinflussungen nicht dienen kann, wenn dieser ohnehin schon 'mächtige und privilegierte Personenkreis zusätzlich das außergesetzliche Vorrecht erhält, für seine praktisch unkontrollierbaren Fehlhandlungen — sei es aus Gleichgültigkeit, sei es aus bedingter oder direkter Absicht, in der Art der Gutachtenerstattung dem juridischen Auftraggeber bequem und gefällig zu sein — niemals einstehen zu müssen.

Aus der Erwägung, daß einige hervorhebenswerte Beispiele aus der forensischen Wirk-lichkeit instruktiver sind als viele abstrakte Betrachtungen, seien nun drei aufs Wesentliche gekürzte Fälle angeführt, die das vorstehend Gesagte illustrieren mögen. Es sind nicht etwa Ausnahmevorkommnisse, sondern durchaus exemplarische Alltagsbegebenheiten. Abschließend werde ich zwei hochqualifizierte juristische Fachleute zu Worte kommen lassen, die sich auch in ihren Forschungen mit der Frage befaßt haben, welchen Einfluß die unkritische oder nicht genügend kritische Übernahme von fehlerhaften gutachtlichen Aussagen durch Spruchrichter auf das Zustandekommen von Fehlurteilen hat.

Ich verkenne dabei nicht, daß hier — wie überall im Leben — eine Verständigungsschwierigkeit zwischen „innen und außen“ bleibt: Wer selbst schon einmal Objekt einer forensischen Falschbegutachtung war, wird von denen, die diese Form der spezifische Schädigung an ihrer Freiheit, Ehre, ihrem Vermögen oder Fortkommen noch nicht erlitten haben, wahrscheinlich als befangen in Kritik und Bewertung dieses Phänomens angesehen werden. Umgekehrt nimmt der gutachtlich Geschädigte nur zu gerne an, die Verschontgebliebenen hätten nicht genügend Vorstellkraft, um sich in seine Lage zu versetzen. Gleichwohl bricht sich aber — nicht zuletzt aus den einschlägigen, oft sensationell aufgeputzten Berichten in den Massenmedien — die Erkenntnis Bahn, daß es nicht immer wieder zu sogenannten Gutachterstreitfällen mit weitreichenden Folgen kommen könnte, wenn sich die Gutachter streng an die Bedingungen hielten, unter denen allein wissenschaftlich hinreichend gesicherte Aussagen gemacht werden dürfen.

Erster Fall

Dr. Max Frei-Sulzer, vom Studiengang her Botaniker, erwarb sich als Leiter des Wissenschaftlichen Dienstes der Stadtpolizei Zürich einen internationalen Ruf, vor allem dadurch, daß er im Auftrag einer UNO-Kommission die Trümmer des Flugzeuges untersuchte, mit dem der Generalsekretär Dag Hammarskjöld über dem kongolesischen Urwald abgestürzt war. Doch zum Schaden seines soliden Rufes begutachtete Frei-Sulzer hinfort alles und jedes; infolgedessen nahm die Qualität und Verläßlichkeit seiner gutachtlichen Stellungnahmen Schaden.

Schweizer Publikationen führten 1966 hierzu etwa folgendes an:

a) Er habe über die Herkunft desselben Kohlepapiers für Schreibmaschinendurchschläge zwei verschiedenen Auftraggebern gegenüber folgende sich ausschließende Gutachten abgegeben: 1) „Selbst bei vorsichtiger Interpretation unserer Befunde kommen wir zum Schluß, daß zahlreiche und gewichtige Indizien dafür sprechen, daß die als . Eigenfabrikate'der schweizerischen Firmen in den Handel gebrachten Erzeugnisse nicht in der Schweiz hergestellt worden sind."

So das erste Privatgutachten mit der ausdrücklichen Versicherung, die Untersuchungen seien nach „bestem Wissen und Gewissen und vollständig objektiv nach denselben Prinzipien durchgeführt worden, wie wenn es sich um eine amtliche Expertise handle". Als diese sechs Monate später in einem Streitverfahren von ihm verlangt wurde, erklärte Frei-Sulzer: 2) „Es bestehen nicht die leisesten Anhaltspunkte, daß die Firma ... jemals fertig im Ausland hergestellte Kohlepapiere importiert und als Eigenprodukt verkauft hätte. Das Vorkommen von Mikrospuren ausländischen Ursprungs bildet keinen Gegenbeweis, da unsere Experimente und Analysen gezeigt haben, daß diese Spuren aus den Rohpapieren stammen."

Um eine Klärung für den Widerspruch zwischen beiden Gutachten ersucht, erklärte der Sachverständige entwaffnend: „Der Augenschein in der Fabrik ergibt nun eine andere Erklärungsmöglichkeit für die beobachteten Tatsachen, die weder Ihnen noch mir vorher bekannt waren."

So einfach ist das mit der Sorgfalt! b) Bei der Beurteilung der Echtheit oder Fälschung er (= einer Meistergeige -klärte Frei-Sulzer nacheinander: 1) „Aus den Akten, die das Instrument begleiten, geht eindeutig hervor, daß die Echtheit des Bodens mit dem Lack des Instruments von keiner Seite in Zweifel gezogen worden ist."

2) Kaum ein Jahr später: „Die wissenschaftliche Analyse erlaubt den Schluß, daß es sich um eine etwa 120 Jahre alte Copie handelt, deren italienischer Ursprung wenig wahrscheinlich ist. Auf jeden Fall ist es kein Werk von Grancino."

3) In einem dritten Gutachten über dieselbe Geige: „Die Kombination der naturwissenschaftlich-objektiven und der stilkritischen Untersuchungen hat ergeben, daß eine in Teilen zusammengehörige Arbeit des Mailänder Meisters Grancino vorliegt ..." c) In Graubünden war die Urheberin ehrverletzender anonymer Briefe zu ermitteln, und es war zu begutachten, ob Frau A zu Recht verdächtigt worden sei. Frei-Sulzer schloß sich dieser Meinung an; in Wahrheit jedoch war Frau B die Briefschreiberin, wie ein wirklicher Fachmann herausbekam, der über Frei-Sulzers Gutachten urteilte: „Herr Dr. F. -S. verfügte nicht über genügend Vergleichsstücke, um die hervorgehobenen Schriftmerkmale richtig beurteilen zu können." d) In einem Streit um die Echtheit einer Bank-quittung über 19 000 Franken erklärte Frei-Sulzer diese für echt und gültig. Der Angeklagte aber gab nicht auf, obwohl er nur ein „ungebildeter" Viehhändler war, und bemühte einen Schriftsachverständigen; dieser befand: „Die Quittung ist mit Sicherheit gefälscht. ” Wenig später gestand ein ungetreuer Bankangestellter die Fälschung. e) Bei einem Mann, der nach gründlichster Untersuchung durch das Gerichtsmedizinische Institut der Universität Bern zweifelsfrei seinem Leben durch Suizid ein Ende gesetzt hatte, war Frei-Sulzer „der Überzeugung, daß das Geschoß von hinten durch den Rücken abgeschossen wurde". Hätte man ihm unkritisch geglaubt, wäre ein Unschuldiger wegen eines Tötungsdelikts verurteilt worden. f) Ebenfalls in Bern war einem Brasilianer eine hohe Banknote gestohlen worden. Frei-Sulzer belastete den Verdächtigten schwer, mit der Behauptung, er habe auf dem Geldschein eine Pflanzenspore gefunden, die in Brasilien beheimatet sei, in Europa aber nur in Botanischen Gärten oder Gewächshäusern vorkomme.

Der Leiter der Botanischen Anstalt der Universität Basel, der zum Glück eingeschaltet wurde, erklärte dazu: „Es ist mir völlig unverständlich, wie der Gutachter Dr. F. -S. die Behauptung aufstellen konnte, es handle sich um die Tillandsia-Spore; es muß eine Verwechslung vorliegen."

Frei-Sulzer suchte sich in diesem Fall damit zu rechtfertigen, daß das Testpräparat in seiner Sammlung „wohl eine falsche Bezeichnung trägt"; er zog sich mit der Bemerkung aus der Affäre, sein Gutachten verliere durch die Berichtigung „wesentlich von seiner Beweiskraft" (!)

Im Lauf der Zeit häuften sich die Fehlleistungen des hochangesehenen Gerichtsexperten so auffällig, daß 1971 die Stadt Zürich eine Kommission berief, die Gutachtertätigkeit des Dr. Frei-Sulzer, die zu erheblicher Unruhe in der Bevölkerung geführt hatte, zu untersuchen. Die Kommission, bestehend aus einem Oberrichter und vier Professoren der Fachrichtungen Chemie, Physik, Biologie und Kriminologie, prüfte 18 Gutachten nach und fand, daß „die Fälle voreiliger oder zu weit gehender Schlußfolgerungen doch so zahlreich und schwerwiegend (sind), daß sie nicht auf Zufälle zurückführbar sind. Entscheidend seien gewisse Charaktereigenschaften des Gutachters, dem es nicht leichtfalle, sich in bestimmten Fällen für nicht zuständig zu erklären, oder Gutachten zu erstellen, in denen entscheidende Fragen offenbleiben müssen."

Sie rühmten zwar seinen Ehrgeiz, als Pionier der Kriminalistik danach getrachtet zu haben, zahlreiche — auch methodische — Neuerungen einzuführen, die dem Zürcher Wiss. Dienst der Kripo einen Vorsprung vor vergleichbaren in-wie ausländischen Einrichtungen sichern sollte, beklagten aber, daß er oft seinen eigenen Ergebnissen zu unkritisch gegenübergestanden habe.

Frei-Sulzer kam einer Entlassung aus seinem Amt durch „freiwilligen Rücktritt" zuvor; sein Kommentar zu dem Kommissionsbericht lautete:

„Da mir während eines vollen Jahres die Berechtigung zur selbständigen Ausarbeitung und Unterzeichnung von Expertisen versagt war, habe ich so viel Abstand von meinem Amt und meiner Sachverständigentätigkeit gewonnen, daß es mir fern liegt, mich in irgendwelche Diskussionen einzulassen."

Es drängt sich die Frage auf, warum es erst einer Häufung von Fehlgutachten und einer jahrelangen öffentlichen Kritik bedurfte, bevor Konsequenzen gezogen wurden. Hätten die Dienstaufsichten im Kanton und im Justiz-departement nicht viel eher in eigener Initiative eingreifen müssen?

Zweiter Fall

1955 wurde im Südbadischen der damals 28jährige Metzger und Vertreter Hetzel wegen Mord in Tateinheit mit versuchter Notzucht zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt.

Er hatte als Fernfahrer eine um drei Jahre jüngere Anhalterin mitgenommen und war mit ihr* übereingekommen, gemeinsam eine Fahrt in den Schwarzwald zu unternehmen. Dabei kam es zweimal zu solch exzessivem Sexualverkehr, daß die durch ein Herzleiden sowie eine Abtreibung physisch überforderte Frau während des Geschlechtsverkehrs verschied. In seiner Angst lud Hetzel die nackte Leiche in sein Fahrzeug und brachte sie an eine Stelle, wo einige Zeit vorher schon einmal eine Frauenleiche gefunden worden war, ohne daß ein Täter ermittelt werden konnte. Er geriet in Verdacht und wurde festgenommen.

Die Obduktion ergab zunächst, daß vermutlich ein Herzversagen infolge von Mißhandlungen bei angenommener hochgradiger sexueller Erregung die Todesursache sei; es müsse aber auch beachtet werden, daß die Tote nach ein, er unvollkommenen Abtreibung im 2. Monat sehr entkräftet gewesen sei. Ein Erstikkungstod sei aber auszuschließen.

Zur Ausräumung noch bestehender Zweifel holte die Staatsanwaltschaft bei Prof. Dr. Albrecht Ponsold, damals Direktor des Instituts für gerichtliche Medizin der Universität Münster und hochangesehener Verfasser eines „Lehrbuches der gerichtlichen Medizin" im renommierten Heidelberger Springer-Verlag, ein Obergutachten ein.

Ponsold hatte weder die Leiche selbst noch Normallichtbilder von ihr, sondern nur sehr starke Ausschnittvergrößerungen von bestimmten Körperpartien gesehen; insbesondere die Fotos vom Hals der Frau waren nach dem Urteil von Fotofachleuten schon zu groß, als daß man aus ihnen allein noch verantwortbare Schlüsse über die Verursachung der darauf sichtbaren Hautveränderungen ziehen durfte. Ponsold aber erklärte mit der Autorität seines Amtes und seiner jahrzehntelangen einschlägigen Erfahrung, er könne verbindlich sagen, daß Hetzel, um den Widerstand der Frau zu brechen, ihr einen Kälber-strick übergeworfen und um den Hals zugezogen habe: das lasse sich mit Sicherheit aus den schräg verlaufenden Abprägungen des Strickes an der linken Halsseite schließen. Weiterer Beweis für die Erdrosselung sei zudem die am rechten Zungenhorn festgestellte Blutung. Der von den Vorgutachtern angenommene mit Herztod Sicherheit auszuschließen, weil die Obduktion ein Lungen-ödem ergeben habe, das für den Herztod nicht wahrscheinlich sei.

Für Hetzels Verurteilung war im wesentlichen dieses Ponsold-Gutachten maßgebend. Der Verurteilte beteuerte gleichwohl seine Unschuld über Jahre und stellte immer wie-der von neuem — allerdings ohne Erfolg — Wiederaufnahmeanträge 12). über die Tauglichkeit des deutschen Wiederaufnahmerechts, unterlaufene Prozeßfehler zu korrigieren, hatte sich schon 1960 noch sehr zurückhaltend der bekannte Re über die Tauglichkeit des deutschen Wiederaufnahmerechts, unterlaufene Prozeßfehler zu korrigieren, hatte sich schon 1960 noch sehr zurückhaltend der bekannte Rechtsanwalt Dr. Max Hirschberg geäußert. „Wenn es jemals eine Mißgeburt der Gesetzgebung gegeben hat, so ist es die Regelung des Wiederaufnahmeverfahrens in den §§ 359 ff. StPO.

Der Gesetzgeber ging dabei von der Fiktion der geheiligten Rechtskraft aus. Ein rechtskräftiges Urteil soll gegen Angriffe um jeden Preis geschützt bleiben, auch wenn das die Vernichtung eines Unschuldigen bedeutet."

Im Normalfall wäre Hetzels Bemühen um den Nachweis seiner Unschuld ohne Chance geblieben; die Gerichte, vornehmlich die oberen, bei denen die Wiederaufnahmeanträge zu stellen sind, gehen fälschlicherweise davon aus, daß es keinen Sachverständigen gibt, der über vergleichbare Kenntnisse und Forschungsmittel wie der Institutsdirektor einer Universität im Fach Gerichtsmedizin verfügt. Hetzel hatte aber mit Hilfe des ungewöhnlich engagierten „Star”-Anwalts Dr. Groß schließlich doch Erfolg. Dieser war zu Beginn seiner Anwalts-laufbahn Staatsanwalt gewesen und hatte bereits mit seinem Erfolg in der Mordsache Rohrbach in Münster großes Aufsehen erregt. Mit großer Beharrlichkeit brachte Groß eine Gruppe von Experten zusammen und erreichte beim dritten Anlauf die Zulassung der Wiederaufnahmeverhandlung. Jetzt wurden von den Originalnegativen neue Abzüge angefertigt. Dabei ergab sich — besonders aus einem Foto, das in den Gerichtsakten fehlte daß die Marken auf der Halshaut nicht durch irgendein Strangulationswerkzeug (wie etwa einen Strick oder Draht), sondern eindeutig durch zeitweises Aufliegen der Leiche im Gebüsch bzw. infolge ihres Eigengewichts durch den Druck von fingerdicken Ästen oder Zweigen verursacht waren.

Hetzel wurde schließlich 1969 von der Mord-anklage friegesprochen und für die 16jährige U-und Strafhaft, die er auf Grund des Ponsold-„Gutachtens" unschuldig erlitten hatte, aus der Staatskasse entschädigt

Erst Jahre später, als Ponsold im Westfälischen einen kranken Angeklagten, der während der Sitzung an Herzversagen starb, als Simulanten fehibegutachtet hatte, wurde er als Gerichtsgutachter disqualifiziert. Fünf Jahre vorher hatte ein Schweizer Kriminalschriftsteller in einer polemischen Streitschrift Prof. Ponsold folgenlos öffentlich einen Lügner genannt und dazu u. a. ausgeführt: „In einem Interview mit . euromed'hat Ponsold zum Fall Hetzel ausgeführt — am 4. 10. 1966—, bei der Fotografie, auf der der Abdruck eines Strickes zu sehen war, handle es sich um einen so gewöhnlichen und alltäglichen Befund, wie wir ihn bei Tausenden von Fällen beobachtet haben. Das Foto war so eindeutig, daß ich auf ihm mein Gutachten ohne weiteres aufbauen könnte." 15)

Demgegenüber hatte Ponsold zehn Jahre vorher, in einem 1956 verlegten Buch über „Die Polizei und ihre Aufgaben", über den ihn damals gerade beschäftigenden Fall Hetzel folgende Sätze zum Thema beigetragen: „Besondere Sorgen macht mir ein Gutachten, auf Grund dessen ein Angeklagter lebenslänglich zu Zuchthaus verurteilt wurde. Ich muß mir nach wie vor die Frage vorlegen: Habe ich richtig begutachtet, oder ist mir ein Fehler unterlaufen? Ich sah mir nun Foto für Foto genauestens an, und erst am zweiten Tag sah ich, daß sich in der Fortführung des Streifens am Halse Abdrücke eines Strickes befanden. Ich muß sagen: 11/2 Tage habe ich über diesen Bildern gebrütet, ohne zunächst weiterzukommen." 16)

Später nahm Ponsold für sich in Anspruch, „noch nie geirrt zu haben" 17). Befragt, was er davon halte, bei abzuurteilenden Kapitalverbrechen vor den Schwurgerichten zweckmäßigerweise einen gleichrangigen zweiten Gerichtsmediziner als Gutachter hinzuzuziehen, antwortete er (Fernsehinterview WDR vom 8. 2. 1967): „Dann besteht die Gefahr, die Möglichkeit der Gefahr, daß der zweite Gutachter eben etwas anderes sagt, nur um etwas anderes sagen zu können, und daß das dann nicht immer das Richtige ist."

Wer seinen Fachkollegen ein so gebrochenes Verhältnis zur wissenschaftlichen Objektivität zugunsten einer . Profilierung'um jeden Preis nachsagt — wie wird es mit dessen eigener Haltung bestellt sein?

Dritter Fall

Ein 80jähriger Bauer konnte keine klaren Informationen darüber erhalten, auf welche Weise sein Sohn, Sozius in der gutgehenden Anwaltspraxis des Oberbürgermeisters einer westfälischen Großstadt, gewaltsam zu Tode gekommen war. Die Staatsanwaltschaft unterstellte Selbstmord, weil sie drei Abschiedsbriefe vorfanden; die Hinterbliebenen besaßen jedoch Anhaltspunkte für ihren Verdacht, hier werde aus Gründen politischer Inopportunität ein Mord vorsätzlich vertuscht und abgeschirmt. Der Bruder des Toten suchte lange nach einem öffentlich bestellten und vereidigten Schriftsachverständigen, dem er den , Abschiedsbrief'seines Bruders an seinen Vater und Vergleichsschriften von seiner und der Hand seiner Schwägerin brachte, die mit ihrem Mann in einer scheidungsnahen Ehe gelebt hatte, ehe das Unglück geschah. Aufgabe des Sachverständigen sollte es sein, den fraglichen Brief auf seine Echtheit hin zu überprüfen, bzw. festzustellen, ob eine Fälschung vorliege. Die Ehefrau hätte Interesse daran haben können, die Tötung ihres Mannes zu vertuschen, um sich so in den Besitz einer Versicherungsleistung von 120 000 DM zu bringen.

Zunächst war der vom Bruder des Toten privat Beauftragte, aber über die möglichen strafrechtlichen Auswirkungen seiner Erkenntnisse voll informierte Sachverständige äußerst zurückhaltend: Er forderte mehr Vergleichs-material an, um über die Spontaneität oder Nachahmung der für ihn relevanten Schrift-merkmale verläßlichere Aussagen machen zu können. Er erklärte schließlich nach eingehender Prüfung schriftlich, der Abschiedsbrief an den Vater sei eine nachweisliche Fälschung, und er könne die Schwiegertochter des Empfängers, also die Witwe des Toten, nicht aus dem Kreis der Schrifturheber ausschließen. Daraufhin erreichte nach jahrelangen Kämpfen der Bruder des Toten die schon nicht mehr für möglich gehaltene Gelegenheit, den Sachverständigen in einen ordentlichen Prozeß vor Gericht einzuführen, bei dem außer diesem noch zwei weitere Schriftsachverständige in Konkurrenz auftraten (ein dritter war verstorben, ehe es zur langdauernden Hauptverhandlung kam).

Alle drei Sachverständigen hatten sich übereinstimmend für die Echtheit des umstrittenen Briefes, also klar gegen den Hildesheimer Kollegen ausgesprochen. Dieser blieb jedoch in einem weiteren, nun für das Gericht erstatteten Gutachten zunächst bei seiner früher gemachten Aussagen. Nachdem der Witwe aber auch vom Gericht Schriftproben abverlangt worden waren, die die drei Experten neu zu begutachten hatten, stellte er zur allgemeinen Überraschung fest, daß der Brief echt sei und die Ehefrau nach ihrem viel geringeren Formniveau als mögliche Fälscherin mit Gewißheit ausscheide, weil sie dafür nicht genügend „Schreibkönnen" mitbringe

Als Zuhörer bei Gericht war auch ein wissenschaftlicher Schriftexperte aus Bonn anwesend, der aus Interesse an dem in dem Prozeß aufgeworfenen Problem auf eigene Rechnung mehrere Tage lang nach Münster gekommen war. Er machte sich mit dem Hildesheimer Kollegen bekannt und gewann sein Vertrauen. Nach dem „Umfall" des Hildesheimer Experten, der natürlich vereidigt worden war, berichtete der Bonner Experte dem Verfasser dieser Arbeit, der Hildesheimer habe ihm bekannt, eingesehen zu haben, daß er gegen die Mehrheit seiner Kollegen nicht ankomme; seine Praxis in Hildesheim sei durch die lange Abwesenheit schon notleitend geworden, und deswegen habe er die langwierige, für ihn aussichtslose Prozedur durch einen Widerruf seines Gutachtens „abgekürzt".

Exemplarische oder Ausnahme-Fälle?

Der Verfasser maßt sich nicht an, über die Qualität aller Sachverständigen, die zu den unterschiedlichsten Themen vor Gericht auftreten, ein Urteil fällen zu können. Es liegt in der Natur der Sache, daß von allen Prozessen, in denen Sachverständige mit ihren Expertisen entscheidenden Einfluß auf das Urteil nehmen, sei es in Zivil-, Arbeits-, Sozial-, Verwaltungs-, Disziplinar-oder Strafsachen, nur die ins Gerede kommen, in denen es nicht glatt abläuft, in denen Konflikte zwischen den Experten der im Prozeß streitenden Parteien (hier Kläger oder Staatsanwalt, dort Beklagter oder Verteidiger des Angeklagten) ausgetragen werden und von denen eine breitere Öffentlichkeit durch Gerichtsreporter erfährt. Ferner gehören Wiederaufnahmeverfahren hierher, die die Unschuld oder nicht zweifelsfrei nachgewiesene Schuld des Verurteilten erweisen. Sicherlich ist also die Zahl der Verfahren größer, bei denen gegen die verwerteten Sachverständigengutachten nichts einzuwenden ist. Man müßte aber davon die Fälle abziehen können, in denen nur Müdigkeit, Unerfahrenheit oder Gleichgültigkeit der Betroffenen zu einer Hinnahme des die Wahrheit verletzenden Gerichtsgutachtens geführt hat — eine Forderung, die unerfüllbar bleibt, solange prozeßunmündige Personen „im Namen des Volkes" mehr willenlose Prozeßobjekte als Prozeßparteien sind, die schon wegen der unverstandenen Fachsprache, der Beklommenheit vor dem Tribunal, der Angst, sich durch ein selbstbewußtes, souveränes Auftreten die Sympathie des Gerichts Zu verscherzen usw., scheitern.

Mit einiger Wahrscheinlichkeit wird man aber folgende Proportion aufstellen und als richtig annehmen können:

Ein Gerichtsgutachten hat je mehr die Vermutung der Richtigkeit und Objektivität für sich, desto näher sein Thema den reinen Sachwissenschaften (Chemie, Physik, Geologie, Statik, Technik im weitesten Sinne, Botanik, Anatomie, Pharmazie u. dgl.) zugehört. Jedoch sind auch hier Irrtümer nicht ausgeschlossen, wie etwa der Schilderung über den Fall Frei-Sulzer zu entnehmen ist. Je mehr jedoch menschliches Handeln von Menschen zu erkennen und zu bewerten ist, desto mehr kommt unvermeidbar ein Element der Unsicherheit und Fehlbewertung ins Spiel, vielleicht schon deshalb, weil — wie Nicolai Hartmann einmal bündig sagte — der Mensch für den Menschen mehr Objekt der Stellungnahme als der objektiven Erkenntnis ist Ist mir der andere sympathisch, unsympathisch, gleichgültig, interessant, freundlich, feindlich, nützlich oder abträglich? Das sollte für einen Wissenschaftler zwar eine unzulässige Fragestellung sein, aber die Erfahrung lehrt eindeutig, daß sie — wenn auch nur unterschwellig — in seine Expertise ebenso miteinfließt wie die Bewertung der sozialen Stellung, des Berufes, Vermögens und ähnlicher soziologischer Bestimmungsgrößen (das Geschlecht nicht zu vergessen) des zu „Begutachtenden". In dieser Hinsicht ist der spöttische Vers von Erich Kästner zutreffend und bedenkenswert: „Vergiß es nie, Schaf, weil es immer gilt: der Fotograf ist mit auf dem Bild."

Ob ein Mensch in seinem Leib Erreger einer bestimmten Krankheit hat, das ist bei genügender Untersuchungssorgfalt zu einer bestimmten Zeit sicher festzustellen, wohl auch noch der Alkohol-Promillegehalt im Blut nach einem Verkehrsdelikt. Ob aber bei Mehrverkehr der X, der Y oder der Z der Erzeuger eines Kindes ist, bringt auch die erbbiologische Untersuchung nicht immer klar ans Licht, und nicht selten wird jemand zum Zahlvater bestimmt, weil der andere einen gewandteren und engagierteren Prozeßbevollmächtigten hatte, als darum gestritten wurde, wer denn nun die Alimente zu zahlen habe.

Insbesondere Kunstfehler von Ärzten entziehen sich praktisch einem Nachweis fast immer. Ist es schon schwer, auch nur einen Sachverständigen zu finden, der den Fehler eines Kollegen einen Fehler nennt, so ist es noch viel schwerer, als Geschädigter ein Urteil zu erstreiten, das den Schaden mit Geld halbwegs ausgleicht. Entstehen zum Beispiel während einer Vollnarkose oder im Verlauf eines chirurgischen Eingriffs bleibende psychische oder physische Schäden (Bewußtseinstrübung, Querschnittslähmung), so kann — wie es vor wenigen Monaten der Fall eines Münchner Klinikdirektors gezeigt hat — der lebenslang Versehrte im Rollstuhl dank der Haltung des Gerichts und der Staatsanwaltschaft nur durch den von der Sache her unzulässigen Verzicht auf seine Rechte (auch das Recht auf Durchführung, eines seit Jahren verschleppten strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens wegen fahrlässiger Körperverletzung) erwirken, daß er „ohne Anerkennung einer rechtlichen Verpflichtung zum Schadenersatz" eine Abfindung von 500 000 DM erhält.

In einem sozialen Rechtsstaat, der diesen Namen auch verdient, in dem alle Bürger vor dem Gesetz gleich sind und Reichtum und soziale Stufung nach dem Geist der Verfassung nicht ohne weiteres Privilegien verleihen, sollte es nicht zulässig sein, durch Aufwenden einer halben Million die seit Jahrzehnten überfällige Klärung der Grundsatzfrage vereiteln zu können, ob unerlaubte Handlungen, vorsätzlich oder fahrlässig von Akademikern begangen, nicht stärkere Wiedergutmachungspflichten als von einem Handwerker oder Hilfsarbeiter angerichtete Schäden auslösen sollten. Daß es in einem nach 30 Friedens-jahren voll etablierten System, das sich so viel auf ein soziales Sicherungsnetz zugute hält, aber immer noch möglich ist, ist ein Indiz dafür, wie weit wir von der Verwirklichung des Verfassungsauftrages in diesem Punkt noch entfernt sind — und uns dabei ruhig stellen, solange es uns nicht selbst-trifft!

Im Kreis der medizinischen Gerichtsgutachter nehmen die Psychiater eine besondere Position ein. Sie rührt daher, daß sie sich nach ihrer wissenschaftlichen Ausbildung und Lebenserfahrung im Umgang mit ihrem . Krankengut'in der Regel für legitimiert halten, zu bestimmen, wer normal ist und wer auf Grund einer geistig-seelischen Störung (bis hin zur Geisteskrankheit und einer charakterlichen oder Verhaltensdevianz) . kränk'oder an einer . Störung von Krankheitswert'leidet. Damit ist ihnen eine ungeheure (und sogar unheimliche) Macht über Mitmenschen gegeben, der leider nicht alle Fachärzte für Psychiatrie und Neurologie gewachsen sind. Dies zu äußern wagt der Verfasser erst, nachdem er mit rund vier Dutzend Persönlichkeiten dieser Gruppe dienstlich in nähere Berührung gekommen ist und sie systematisch befragt hat, welch wissenschaftlich verläßliche Kriterien für die Scheidung in gesund und krank, normal und abnorm sie denn hätten.

Die meisten von ihnen wurden verlegen und wußten nichts Einleuchtendes zu antworten; sie sahen in dieser Fragestellung schon eine dem medizinischen Laien nicht zustehende Arroganz. Die Gesprächsbereiteren unter ihnen gaben — wenn ein höherer Grad von Vertrautheit aufgekommen war — ehrlich zu, daß sie über die Einheit des menschlichen Geistes mit seiner prinzipiellen Unberechenbarkeit und seinen unzählbaren Variationsmöglichkeiten kein praktikables Maß für die grundsätzliche Scheidung, ob der Patient gesund/verantwortlich für sein Tun und Lassen oder krank/zurechnungsunfähig oder -gemindert sei, anzugeben vermöchten: das sei ebenso eine Frage der fachlichen Ausbildung wie der Intuition und der Berufserfahrung während des ganzen Lebens.

Nur einer war entwaffnend ehrlich und räumte ein, daß er die statistische Häufigkeit als Norm setze und alles von ihr nach links oder rechts, oben oder unten Abweichende ohne Rücksicht auf dessen ethisch-sittliche Qualität als abnorm bis pathologisch rubriziere, m. a. W.den um . Heiligkeit'bemühten Idealisten oder Altruisten ebenso wie den gewohnheitsmäßig Straftaten begehenden Menschen.

Daß das massenhaft vorherrschende Verhalten aber einen ganz und gar untauglichen, auch unbeständigen und labilen, gewissermaßen einen Gummibandmaßstab für richtig und falsch, gesund und krank abgibt, liegt auf der Hand. Auch wenn sich unsere Gesellschaft dahin entwickelte, daß 80— 90 v. H. lügen, stehlen, morden und verraten, wird niemand mit dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit sagen können, es sei abnorm und krankhaft, die Wahrheit zu sagen, das Eigentum zu achten, das Leben zu schützen und zu bewahren, loyal zu den Angehörigen und den staatlichen Gemeinschaften zu sein. Schon der bekannte Spottsatz von Karl Jaspers, normal sei „leichter Schwachsinn", sollte eigentlich davor warnen, die Norm so oberflächlich im Bereich der Alltagsphänomene zu suchen.

Eben weil die Psychiatrie am nächsten in den Bereich vorstößt (und ihn zuweilen überschreitet), der sich der Kontrollierbarkeit durch Laien fast entzieht, ist die Forderung nicht unbillig, sondern zwingend geboten, daß psychiatrische Gerichtsgutachter (abgestuft auch psychologische, psychoanalytische und psychotherapeutische, auch sexualwissenschaftliche) strenger als alle übrigen . technischen'Sachverständigen durch schnell greifende Haftungsbeanspruchung zu vermehrt sorgfältiger und sachlich behutsamer Erfüllung ihrer Pflichten angehalten und bei erkannter Pfuscharbeit belangt werden. Sonst ist die Verfassungsgarantie, daß die Menschenwürde unantastbar sei, auf einem sehr wichtigen Sektor des Rechtslebens mit unabsehbaren Folgen nicht nur für den geschädigten Einzelnen wertlos wie eine heuchlerische Beteuerung ohne Wahrheitsgehalt.

Das Urteil zweier Sachkenner

Im Gefolge der Aufklärung stellten sich die Menschen, wenigstens in Europa und Amerika, immer kritischer zur Rechtsprechung als Institution; sie wurde zunehmend als eine Veranstaltung erkannt, die mit allem Menschenwerk die Mängelbehaftung teilt und darüber hinaus als politisches Herrschaftsinstrument zusätzlicher Gefährdung unterworfen ist.

In diesem Rahmen haben die sog. Justizirrtümer, die Fehlurteile zumal im Strafprozeß, vielleicht deswegen besondere Faszination in der justizkritischen Literatur erlangt, weil sich, solange die Todesstrafe galt und vollstreckt wurde, hier das verletzte Gerechtigkeitsgefühl besonders intensiv empören und Sicherungen gegen offenkundig gewordene Mißstände und Leichtfertigkeiten fordern konnte.

Relativ früh spielten in diesem Zusammenhang die unsicheren Beweismittel Zeugenaussage und Sachverständigengutachten eine herausgehobene Rolle, weil sich immer von neuem zeigte, daß sie, sollte keinem Unschuldigen Unrecht geschehen, vom Gericht nicht kritisch genug gewürdigt und verwertet werden konnten. Aber erst nach dem Ersten Weltkrieg wurde von dem Italiener Altavilla der Psychologie der Gerichtssachverständigen systematisch Beachtung geschenkt. Auf den Erkenntnissen Altavillas baute u. a. Max Hirschberg auf, einer der bedeutendsten Strafverteidiger deutscher Zunge. In seinem Buch „Das Fehlurteil im Strafprozeß" sind 48 Prozesse, darunter 26 aus dem deutschen Reich und elf aus den Vereinigten Staaten, die restlichen aus Osterreich-Ungarn, Frankreich, Großbritannien, Italien und Spanien, unter dem Gesichtspunkt ausgewertet, welche Ursachen zu Fehlurteilen führen. In dem hier allein interessierenden Abschnitt „Unkritische Bewertung der Sachverständigengutachten" (S. 59— 78) finden sich die folgenden Erkenntnisse:

Die meisten Richter hätten einen schier unausrottbaren blinden Glauben an die Weisheit der Amtsärzte und anderer beamteter Sachverständiger, obwohl deren Sachkunde oft geringer als die der nichtbeamteten Gutachter sei.

Daß die Gerichte bei einem Dissens zwischen amts-und privatärztlichem Gutachten regelmäßig dem Amtsgutachten zuneigen, müsse den Amtsarzt natürlich im Glauben an seine Unfehlbarkeit fatal bestärken.

Den meisten Richtern, Staatsanwälten und Verteidigern fehle eine zureichende Schulung im moderner Kriminologie, die sie allein dazu befähigen könne, Gerichtsgutachten zutreffend zu bewerten.

Wenn Gerichte dem beamteten Gutachter, zumal dem Gerichtsarzt, eine autoritäre, ja diktatorische (!) Stellung einräumten, dürften sie sich nicht wundern, daß diese häufig zum überschreiten ihrer Befugnisse und Kenntnisse verführt würden.

Der Verteidiger dürfe nicht dulden, daß ein Sachverständiger sich als Gehilfe des Staatsanwalts geriere und einseitig gegen den Angeklagten aussage; Hirschberg bringt hierzu die lehrreiche Anekdote, daß ein kluger Verteidiger einen dreisten Gutachter dadurch in die Schranken gewiesen habe, daß er dem Gerichtsvorsitzenden auf seine Frage, ob er zu diesem Gutachten noch eine Frage habe, kühn erwiderte: „Ja, der Herr Sachverständige vergaß, sich auch gleich zum Strafmaß zu äußern!"

Die Gefährlichkeit leichtfertig abgegebener Schriftgutachten hebt Hirschberg besonders hervor.

Zu Beginn dieses Jahrzehnts hat der Tübinger Straf-und Strafprozeßrechtler Karl Peters die erstaunliche Untersuchung „Fehlerquellen im Strafprozeß" 21) vorgelegt, die auf der Durchkämmung von mehr als tausend Pr vorgelegt, die auf der Durchkämmung von mehr als tausend Prozeßakten beruht, bei denen die rechtskräftigen Urteile einer Nachprüfung im Wege des Wiederaufnahmeverfahrens unterlegen haben. Für den einschlägig Interessierten ist die Lektüre dieses umfangreichen Werkes schlechthin unersetzbar. Allein das Sachregister des 1. Bandes führt 41 Kategorien von Gerichtsgutachten auf, unter denen die psychiatrischen Gutachten zur Schuldfähigkeit des Angeklagten und die amtsärztlichen nach Zahl und Bedeutung mit Abstand hervorstechen, aber auch viele andere Lebensbereiche werden in die systematische Analyse miteinbezogen, z. B. Nahrungsmittel-und Tierarzt-Gutachten, Schießund Verkehrsgutachten, fotografische und Spurengutachten, psychologische Gutachten zum Schamgefühl, zum Reifegrad von Kindern und Jugendlichen, zur Glaubwürdigkeit von Zeugen usw. usw.

Im einzelnen wird hier beschrieben 22), was die Auswertung der Akten der wiederaufgenommenen Strafverfahren zur Rolle des Sachverständigen im gesamten Umfang zum Sachbeweis (nicht zum Personalbeweis) ergeben hat. Peters teilt als Ergebnisse mit:

Der verblüffende Erkenntnisfortschritt zumal im naturwissenschaftlichen Bereich hat das Aufkommen neuer Fehlerquellenmöglichkeiten für die richtige Urteilsfindung nicht verhindern können. Sie stellen zwar den objektiven Sachverständigenbeweis nicht grundsätzlich in Frage, machen aber deutlich, daß auch bei ihm Kontrollen erforderlich sind, damit es nicht zu ungesicherten oder falschen Schlüssen kommt.

An Gründen für Fehlgutachten oder für falsche Schlüsse aus richtigen Gutachten nennt Karl Peters:

a) Der Gutachter hat ungenügendes Material oder Tatbestandswissen und gibt sich damit zufrieden, statt nachzufordern. Er muß es klar sagen, wenn sein Material oder Wissen nicht ausreichend zur Beantwortung des Auftrags-themas ist.

b) Der Gutachter arbeitet ohne ein klares, eindeutiges Thema und mißversteht seinen Auftrag und seine begrenzte Rolle.

c) Der Gutachter unterläßt es, im Rahmen seiner Auftragsausführung notwendige weitere Feststellungen zu treffen, vor allem bei Obduktionsbefunden! d) Der Gutachter ist in Verkennung der Schwierigkeit der von ihm erwarteten Äußerung nicht zurückhaltend und vorsichtig genug.

e) Der Gutachter besitzt zur Auftragserfüllung nicht genügende Sach-und Methoden-kenntnis, überspielt diesen Mangel aber leichtfertig. f) Der Gutachter zieht voreilig unrichtige Schlüsse aus seinen Feststellungen und stellt falsche Hypothesen auf. Annahmen darf er nicht als gesicherte Erkenntnisse ausgeben, und gegensätzliche Meinungen soll er diskutieren.

Auf seifen der Gerichte sieht Peters bei der Gutachtenverwertung folgende Mängel belegt: a) Persönlichkeit und Sachkunde des Sachverständigen sind dem Gericht nicht hinlänglich bekannt und werden infolgedessen falsch eingeschätzt oder überschätzt. b) Ungenügende Gutachten tragen, wenn die erforderlichen Untersuchungen fehlen und nicht mehr nachgeholt werden können, keine Beweisführung, die diesen Namen verdient. c) (übereinstimmend mit Hirschberg!) Das Gericht kann nur bei solider und umfassender Bildung, vor allem kriminologischer, zutreffend prüfen, ob das Gutachten sachlich überzeugt, als direktes Beweismittel oder Indiz taugt und die Streitfrage, bei der es dem Gericht an eigener zureichender Sachkunde fehlte, gemäß dem erteilten Auftrag zulänglich klärt.

d) Das Gericht mißversteht die Aussageabsicht des Gutachtens durch Unachtsamkeit oder ungenügendes Vertrautsein mit der von der juristischen Sprache verschiedenen Fachsprache des Gutachters.

So ist die oft bemühte „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit" -Wertung des Gutachters nicht von selbst in die zur Urteilsfällung notwendige „innere Gewißheit und Überzeugung" des Gerichts übertragbar! e) Das Gericht setzt sich mit sich widersprechenden Gutachten nicht gründlich und geduldig genug auseinander. f) Das Gericht prüft nicht, warum ein Gutachter mit seiner Schlußaussage im Prozeß wechselt, womöglich hin-und herwechselt! g) Das Gericht erkennt nicht, daß die Situation der Begutachtung zu ungesichert war, etwa daß der Gutachter mit seiner subjektiven Überzeugung Mängel der objektiven Datenermittlung überspielt und überbrückt. h) Das Gericht wertet ein richtiges Gutachten unrichtig aus! Etwa so, daß Widersprüche zwischen dem Gutachten und den sonstigen Beweismitteln durch Umdeuten der Aussage des Gutachtens unzulässig „behoben" werden oder daß es ein im Gutachten nur erbrachtes Indiz als überführendes Beweismittel überhöht.

Peters gibt unumwunden zu, daß es ihn bedrückt zu erkennen, daß seine Untersuchung im Grunde nur bekanntes Altes, wenn auch in komprimierter und eindringlicher Form, bringen konnte, die Juristen gleichwohl von den beklagenswerten Tatsachen so wenig und nur lustlos Kenntnis genommen haben und nehmen wollen. Er mahnt, daß die Bestrebung, den Rechtsstaat und die Rechtssicherheit zu befestigen, nicht den Blick für die Tatsache trüben dürfe, daß fehlerhafte Sachverhalts-feststellungen und -bewertungen beide sehr gefährden.

Mag die Bibelaufforderung, das Richten Gott zu überlassen unpraktikabel erscheinen: die Verheißung, daß jedem Richter mit seinem eigenen Maß vergolten werden wird, sollte eigentlich doch ein bißchen mehr dazu anregen, das Gutachter-und Richtergeschäft gewissenhafter, „in Furcht und Zittern" zu betreiben!

Fussnoten

Fußnoten

  1. Im Jahre 1974 vergab allein das Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung Hunderte von Aufträgen für Gutachten und Studien im Einzelbetrag bis zu 282 000 DM und im Gesamtbetrag von 95 Millionen DM, deren vollständige sinnvolle Verarbeitung und Umsetzung schon aus Zeitgründen kaum möglich sein wird. Meldung des Kölner Stadtanzeigers vom 21. Jan. 1976.

  2. So geschehen in Duisburg nach mündlicher Mitteilung eines Kölner Psychiaters.

  3. Auf psychiatrischer Seite etwa: Dr. Gottschick, Sachverständige und ihre Auftraggeber, in: Der med. Sachverständige, Berlin (1967), Nr. 63, S. 154 bis 162. Auf juristischer Seite Theo Rasehorn (Xaver Berra), Im Paragraphenturm, Neuwied und Berlin 1966, bes. S. 134 ff.

  4. Vorbildliche „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit", vornehmlich im Versorgungswesen, enthält die gleichnamige Schrift von Ernst Goetz und Heinz-Harro Rauschelbach, beide Beamte im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Ausgabe 1973, S. 43— 64, besonders die Punkte 30: Notwendige Voraussetzungen für die Tätigkeit eines Gutachters 32: Befunderhebung 35: Beurteilungskriterien und 40: Überprüfung von Gutachten (institutioneile Kontrolle! G. W.) Wenn nur in der Praxis allgemein danach verfahren würde ...

  5. Niederschmetternd entlarvend ist das Buch von Frank Arnau, Die Strafunrechtspflege in der Bundesrepublik, München 1967. Darin wird z. B.der Herausgeber des Lehrbuchs der Gerichtlichen Medizin (Stuttgart 19572), Prof. Dr. Albert Ponsold, der in seinem Standardwerk (S. 703— 708) Normen für die Abfassung von Gutachten aufgestellt hat, mit dem Ausspruch (in der Mordsache Hetzel) zitiert: „Ich habe mich noch nie geirrt!" (S. 11). Mir antwortete er auf die Frage, warum er sich in seiner Praxis als Institutsdirektor nicht an seine eigenen Direktiven halte, voller Empörung: „Sie wollen wohl meine guten Beziehungen zur Staatsanwaltschaft kaputtmachen?"

  6. Persönliche Mitteilung des jetzt verstorbenen Dr. Frank Arnau dem Verfasser gegenüber; zur Nennung von Namen und Ort konnte ich ihn leider nicht bewegen.

  7. Hinterlassen von einem am 30. 4. 1968 in Münster verstorbenen Landgerichtsrat, der mit 1, 45 %o Blutalkohol wegen Trunkenheit am Steuer angeklagt worden war.

  8. In seiner Urteilsbegründung meint der BGH, der Kläger habe seinen Anspruch „im Interesse der Rechtssicherheit und der Unabhängigkeit der Gerichtssachverständigen aufzuopfern". Ob er glaubt, daß schreiendes Unrecht — hingenommen bzw. sanktioniert — beides fördern kann?

  9. Alle Zitate nach dem in Basel erscheinenden SCHWEIZERISCHEN BEOBACHTER, vom 15. 9. 1958, 15. 9. 1965 und 1. 2. 1967.

  10. Vgl. Neue Zürcher Zeitung Nr. 90 vom 23. 2. 1973, S. 27. „Ein Gutachten über einen Gutachter/Die Expertentätigkeit von Dr. Max Frei-Sulzer".

  11. Karl Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß, Band I, Karlsruhe 1970, S. 134 ff.

  12. Max Hirschberg, Das Fehlurteil im Strafprozeß, Stuttgart 1960, hier zit. aus Lizenzausgabe Fischer-Taschenbuch Nr. 492, Frankfurt 1962, S. 124.

  13. s. Fußnote 12.

  14. Nach dem Protokoll zum Strafverfahren 8 KMs 1/64 StA Münster.

  15. In: Ethik, Berlin 19493, Nr. 3 S. 232.

  16. s. Fußnote 13.

  17. s. Fußnote 12.

  18. Vgl. Matthäus, Kap. 7, Vers 1— 6

Weitere Inhalte

Günter Weigand, Dr. rer. pol., geb. 1924 in Allenstein; zunächst Praktikant und Postinspektor; dann ab 1953 Studium der Philosophie, Psychologie, Sozialwissenschaften und Publizistik in Münster; 1958 Diplomvolkswirt, 1959 promoviert. Einblicke in die Arbeit von Verlagen, Banken, Redaktionen, Verbänden, Instituten und Krankenhäusern. Seit 1962 Sozialanwalt, engagierte Gratishilfe für benachteiligte Mitbürger. Derzeit Sachbearbeiter bei einem Wohlfahrtsverband. Verschiedene Aufsätze zu gesellschafts-und justizkritischen Themen.