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Die Teilung Deutschlands und die Entstehung zweier deutscher Staaten | APuZ 2/1977 | bpb.de

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APuZ 2/1977 Artikel 1 Ideologietheorie und Ideologiekritik Kritischer Rationalismus und politische Praxis Die Teilung Deutschlands und die Entstehung zweier deutscher Staaten Das Mittelalter und das Lernfeld. Politik Bemerkungen zur Diskussion über Funktionen des Geschichtsunterrichts Überlegungen zur Behandlung der deutschen Geschichte im Schulunterricht

Die Teilung Deutschlands und die Entstehung zweier deutscher Staaten

Erich Kosthorst

/ 22 Minuten zu lesen

Wer sich heute über die deutsche Frage äußert, muß mit Verständigungsschwierigkeiten rechnen. So ist auch mein Versuch einer didaktischen Analyse des deutschen Teilungsund Identitätsproblems (Vorlage für den Historikertag in Braunschweig 1974) auf einige bedauerliche Mißverständnisse gestoßen, wie sich in dem jüngst erschienenen Aufsatz von Dieter Schmidt-Sinns „Mittlere Geschichte im Lernfeld Politik" (B 41/76) gezeigt hat. Ich sehe mich hier in wesentlichen Punkten fehlinterpretiert. Da in diesem Zusammenhang Repliken und Gegenrepliken nicht weiterhelfen, sei dem Leser Gelegenheit gegeben, sich anhand des Abdrucks meiner didaktischen Analyse'), die die bisher im Beiheft zu GWU 1974 veröffentlichten Überlegungen wiederaufnimmt und ergänzt, und die dadurch ermöglichte Gegenüberstellung beider Aufsätze selbst ein Urteil über den Sachverhalt zu bilden. Auf diese Weise mag der Diskussion des deutschen Identitätsproblems am ehesten gedient sein.

I. Didaktische Analyse

Vorbemerkung

Daß und in welcher Weise dem Thema „Die Teilung Deutschlands und die Entstehung zweier deutscher Staaten" im Gegenstandsbereich des historisch-politischen Unterrichts in den Schulen, speziell in den Abschlußklassen der Sekundarstufe I, ein wichtiger Platz zukommt, dazu bedarf es einer näheren Begründung. Im folgenden wird der Versuch einer solchen Begründung mit einer ausführlichen didaktischen Explikation des gegebenen (aktuellen) politisch-historischen Problems vorgelegt, wie sie einer retrospektiven historischen Analyse vorausgehen muß, die mit präzisen Fragestellungen arbeiten und sich von sachgerechten didaktischen Intentionen (Lernzielen) leiten lassen will. Identitätsfindung als politisch-historische Aufgabe a) Das deutsche Identitätsproblem Die Wiedervereinigungsforderung im Kontext der sogenannten deutschen Frage ist in zwei Jahrzehnten mehr und mehr zu einem politisch stereotypen und pädagogisch sterilen Verhaltensideal geworden. Mit dem Abschluß der Ostverträge sowie des Grundvertrages mit der DDR sind irreversible politische Entscheidungen gefallen, doch sind die daraus sich ergebenden Konsequenzen für die historisch-politische Pädagogik in der Bundesrepublik noch keineswegs geklärt. Es muß also genauer erörtert werden, welcher Art das vorliegende aktuelle Problem ist, das in historischer Retrospektive erschlossen werden soll. Es gibt in Deutschland eine jetzt mehr als 30 Jahre währende Suche nach der Identität. Die Nation hat ihre — 1945 verlorene — Identität auch gegenwärtig noch nicht wieder erlangt, das heißt, weder die Bundesrepublik noch die DDR als die beiden neuen Staaten einer alten Nation haben bisher je für sich ein geklärtes Identitätsbewußtsein gewonnen, noch hat die Nation als ganze sich zu sich'selbst in ein rationales Verhältnis zu setzen vermocht: Die Verfassungen beider Staaten enthielten bis vor kurzem ein Bekenntnis zur Einheit der Nation; die DDR hat — vom Abgrenzungstrauma getrieben — 1974 den Artikel 8 (2) ihrer Verfassung eliminiert; in der Bundesrepublik verflüchtigt sich das Wiedervereinigungsaxiom des Grundgesetzes zur irrelevanten Floskel ohne Realitätsbezug.

Wenn die Bundesrepublik und die DDR zwei Staaten mit allen Elementen der Staatlichkeit sind — welchen Charakter hat und wie begründet sich dann die Deklaration der „besonderen Beziehungen", die u. a. keinen normalen Botschafteraustausch zuläßt? Ist die These von einer in zwei Staaten auseinandergetretenen, aber weiterhin bestehenden deutschen Nation, wie sie in den nach den Ostverträgen abgegebenen Regierungserklärungen der letzten Jahre und auch in dem den Verträgen nachgereichten „Brief zur deutschen Einheit" vertreten wurde, realitätsangemessen? Ist sie „Wille und Vorstellung''oder pädagogische Rückzugsformel einer politischen Absetzbewegung? Ist sie das erstere, dann bedürfte eine solche, auf lange Fristen hin angelegte politische Konzeption einer kritischen politischen Pädagogik. Die dafür verantwortlichen Länderkultusverwaltungen haben aber bisher kaum etwas getan, um einen pädagogischen Kommunikationsprozeß in dieser Frage in Gang zu bringen. Die allgemeine Unsicherheit in der deutschen Frage hat — im Gegenteil — statt zu einem didaktischen Diskurs zu einem pädagogischen laisser faire-laisser aller und dadurch faktisch zur Begünstigung eines irrationalen didaktischen Trends geführt. Wenn es richtig ist, daß Individuen und Kollektive ohne klares Identitätsbewußtsein auf die Dauer pathologisch gefährdet und für kompensatorische Abstützungsmechanismen (z. B. Integrationsideologien, manipulatorische Dynamisierungsmythen) anfällig sind, dann darf die deutsche Identitätskrise nicht sich selbst überlassen bleiben — in der Hoffnung etwa auf naturwüchsige Heilkräfte. Politik und Pädagogik sind nach Abschluß der Ostverträge stärker noch als bisher aufgefordert, den geistigen Prozeß voranzubringen, der zur Klärung des eigenen staatlichen und nationalen Selbstverständnisses führt — ein zentrales Lernziel speziell eines solchen Unterrichts-vorhabens. Dieser Klärungsprozeß darf jedoch nicht mit einer von oben gesetzten und wie auch immer ideologisch motivierten Identifikationsveranstaltung verwechselt werden. Er ist zu verstehen als ein rationaler Diskurs zwischen Politikern und Bürgern, zwischen Lehrern und Schülern, bei dem der geschichtlichen Aufklärung die ihr zugeschriebene identitätsstiftende Funktion (Lübbe) zukommen könnte: Wer wir sind und wo wir stehen, erfahren wir u. a. durch Vermessung des Weges, auf dem wir gegangen sind oder den man uns hat gehen heißen. Identität, das ist nun freilich kein fixierbarer Zustand spannungsloser Integration in immobilen Denkrastern, sondern ein dialektisches Spannungsverhältnis von Elementen wie Distanz und Identifikation, Kritik und Engagement. Identität heißt somit immer kritische Identität b) Leitirage und generelles Lernziel In diesem Zusammenhang sind Aufgabe und Funktion einer historisch-politischen Unterrichtsreihe „Die Teilung Deutschlands und die Entstehung zweier deutscher Staaten" bereits generell erkennbar: Als regulativer Leitfaden kann die Frage gelten, ob die Deutschen noch eine Nation sind, eine Nation sein sollten und sein wollen. Dies schließt einen hypothetischen Sinn-Vorgriff nicht aus (eine Position des Lehrenden), doch muß dieser frei sein von einer antizipierenden Konditionierungsabsicht, sei sie nun „antikommunistisch" (wie in Unterrichtskonzepten vergangener Jahre) oder „antikapitalistisch" (wie in diesen und jenen neuen Unterrichtsplänen)

Generelles Lernziel der Unterrichtsreihe, ihre zentrale Intention ist es, wie oben schon einmal bezeichnet, durch Einsicht in die Bedingungen der Möglichkeit der deutschen Teilung einen von der oben formulierten Leitfrage strukturierten Reflexionsprozeß bei den Schülern der Abschlußklassen der Sekundarstufe I in Gang zu setzen, der eine Voraussetzung für die skizzierte — den Lehrer einbeziehende — Identitätsklärung ist. Insofern ist der intendierte Reflexionsprozeß das Gegenteil eines Adaptionsprozesses von vornherein feststehender oder gesetzter Lernziele; er intendiert eine im didaktischen Kommunikationsprozeß erfolgte Selbstvergewisserung von Lehrern und Schülern durch Rezeption von Informationen (historischen Fakten und Vorgängen) und die Auseinandersetzung mit ihnen. Themen/Inhalte und Lernziele stehen zueinander im Verhältnis der Korrelation. Der Lehrende hat aufgrund seiner historisch-wissenschaftlichen und didaktischen Kompetenz die Aufgabe, günstige Rahmenbedingungen für Analyse und wertende Stellungnahme zu schaffen (u. a. durch Vorgabe und Sicherung der Einbeziehung aller wesentlichen Informationen), aber er ist nicht in der Lage eines bereits „Qualifizierten", der andere, Jüngere, zu „qualifizieren" hätte. Schon allein durch die Tatsache verschiedener Generationslagen können neuartige Erkenntniszugänge und Entscheidungshaltungen eröffnet werden. So wird hier bewußt darauf verzichtet, mit kompletten Lernzielreihen „Qualifikationen" als gewünschtes Endverhalten eines Lernprozesses zu beschreiben. Ziel des didaktischen Diskurses ist es gewiß auch, politische Handlungsfähigkeit und Handlungsbereitschaft in einem konkreten Ansatzpunkt vorzubereiten. Doch wird die pädagogische Intention hier formuliert als eine Verhaltensdisposition, die dies, indem sie sich einem konkreten politischen Gegenwartsproblem stellt, vornehmlich durch rationale Aufklärung der historischen Bedingungen der gegenwärtigen Situation versucht und in diesem Rahmen realistisch Handlungsmöglichkeiten erkundet und potentiell Handlungswillen entwickelt. Auf diese Weise werden kognitive und affektive Zielsetzungen zusammengehalten. 2. Nähere Bestimmung des politischen Problems a) Das Balanceproblem von Staatsbewußtsein und Nationalbewußtsein Wenn der Lehrende sich im skizzierten Sinne ernsthaft in einen didaktischen Diskurs einläßt und sich nicht als ein Steuermann auf einer festliegenden Lernprozeßroute versteht, so heißt das nicht, daß dieser keiner detaillierten didaktischen Planung bedürfe. Selbstverständlich muß er die möglichen Voreinstellungen der Schüler in ihrem jeweiligen Sozialfeld ebenso bedacht haben wie die Inhalts-problematik und eine auf diese beiden Gesichtspunkte bezogene Konzeption des „potentiellen Erkenntnisprozesses in seiner konkreten Gestalt, als Einheit von Inhalt und Form, als eine Verlaufskurve, auf der Lehrziele und immanente Problematik des Inhalts koinzidieren"

Die Koordinaten für den Ansatz der konkreten didaktischen Planung, die Vor-Zeichnung einer unterrichtlichen Verlaufskurve müssen demnach, über die dargelegten allgemeinen Vorüberlegungen hinaus, in einer näheren Bestandsaufnahme der gegebenen (aktuellen) politischen und -Problematik in einer Aufar des wissenschaftlichen beitung Diskussionsstandes zur Entstehungsgeschichte der beiden deutschen Staaten aufgesucht werden.

Die politische Pädagogik hat, wie G. C. Behr-mann nachgewiesen hat, seit eh und je den fatalen Hang, Wünschbarkeiten zu statuieren, ohne diese über die Frage nach dem empirisch Gegebenen mit den Realitäten zu vermitteln. Daß die oben genannte didaktische Leitfrage, ob Deutschland noch eine Nation sei, eine Nation sein solle und sein wolle, nicht einer — übrigens im Grunde unpolitischen — Wünschbarkeitspädagogik entsprungen ist, zeigt sich, wenn man diese Frage alternativ weiterzuführen versucht: . . . oder haben die Deutschen ihre Identität bereits in den beiden separaten Staaten gefunden? Spricht man von den Deutschen in zwei Staaten, dann bleibt für die Staatsbürger in den beiden Staaten ein tertium comparationis, ein gemeinsamer Bezugspunkt — eben die Gemeinsamkeit des Deutschen als eine offenkundig historisch begründete Realität. Eine eindeutige Differenzierungs-oder besser: Distanzierungsmöglichkeit ist für den Österreicher oder den Deutsch-Schweizer gegenüber dem Deutschen gegeben, aber nicht oder noch nicht für den Deutschen hüben gegenüber dem Deutschen drüben und vice versa. Aber nicht nur darin (sozusagen in der Sprechsituation) ist diese Realität (der deutschen Frage als einer noch immer offenen Frage) aufgehoben. Daß das Sprechen von einer deutschen Nation keine Fiktion ist, zeigt sich noch auf einer anderen, alltäglichen Ebene. „Wenn sie Zusammentreffen, empfinden sie den einen Unterschied nicht, nämlich den, daß der andere nicht auch Deutscher sei . . . inmitten anderer Völker — im Westen wie im Osten — werden Ost-und Westdeutsche immer wieder gezwungen, ihre Gemeinsamkeiten, also das Bewußtsein, Deutsche zu sein, zu registrieren." Hier ist — wie P. C. Ludz (von dem auch das zitierte Beispiel stammt) feststellt — „eine im Psychologisch-Historischen wurzelnde Realität" gegeben Wenn dies die Signatur der deutschen Frage heute ist, dann ergibt sich daraus als didaktische Konsequenz im Rahmen der generellen Fragestellung der Unterrichtsreihe die wichtige Grundthese: Solange die neue Frage, ob angesichts der verfestigten konträren Gesellschaftsordnungen in den beiden deutschen Staaten überhaupt noch von einer Nation gesprochen werden könne, nicht mit einem glatten Nein beantwortet werden muß, solange die alte nach Sinn und gilt Frage dem den Möglichkeiten einer Wiedervereinigung noch.

Denn so wenig es ein Naturrecht auf Wiedervereinigung gibt, wie Hermann Heimpel schon 1956 dem Kuratorium Unteilbares Deutschland warnend vor Augen hielt, so wenig sind Nationen politische Augenblicksprodukte, die sich durch staatliche Teilung von selbst wieder verflüchtigen. Wenn es diese Realität einer deutschen Nation unleugbar noch gibt, dann folgt darauf freilich seit den Ostverträgen und dem Grundvertrag nicht mehr, daß es keine Identifizierung mit den beiden separaten Staaten geben darf, sondern dann ist beiden deutschen Staaten die Ausbildung einer stabilen Selbstidentifikation ausdrücklich frei-und aufgegeben. Die Unausweichlichkeit dieser Erkenntnis ist ein wichtiges Lernziel. Damit ist zugleich aber die Aufgabe einer nationalen Doppelidentifikation gestellt, die unter den gegebenen Bedingungen außerordentlich schwierig und auch, wie Lepsius schon 1968 dargelegt hat wegen des Problems der Balance für die „Teil" -Identifizierung belastend, ja gefährlich ist und als dialektisch-didaktische Aufgabe bisher nicht einmal rational durchdacht, geschweige denn praktisch in Angriff genommen worden ist. Hier sind wir im Zentrum des didaktischen Problems.

Den Versuch einer theoretischen Klärung des Balanceproblems von Gesamtnationbewußtsein und partiellem Staatsbewußtsein mit Hilfe der Begriffe „Staatsnation" und „Kulturnation" hält Ludz wegen der mit diesen beiden Begriffen verbundenen Romantizismen und Irrationalismen für verfehlt. Aber es ist noch nicht ausgemacht, ob man in der historischen Didaktik auf diese Definition verzichten kann und sollte. Von den Schatten der Geschichte kann man sich nicht durch Worttabuierung befreien. Wenn eine weiterbestehende Gemeinsamkeit die beiden deutschen Staaten umfaßt, dann ist es eine in langer gemeinsamer Geschichte (gemeinsamer Leiden und Fehler, aber auch gemeinsamer Leistungen) gewachsene Mentalität, eine sprachlich und habituell sich artikulierende Denkund Ausdrucksweise — eben eine noch immer wirksame und sich gerade in der DDR trotz der dort proklamierten Klassennationalität besonders stark in traditionellen Formen ausprägende gemeinsame Kultur.

So sollte die Didaktik vor einer (kritischen) Verwendung des Terminus „Kulturnation" nicht zurückschrecken. Im offiziellen Sprachgebrauch der Regierungspolitik treten seine Elemente ohnehin auf. Den Begriff krampfhaft zurückdrängen zu wollen, hieße, die organizistisch-irrationalen Elemente, die historisch sicherlich in ihn eingeschlossen sind, erst recht zu mobilisieren. Warum sollte nicht ein unbefangener Wortgebrauch möglich sein oder möglich werden, der nicht, wie Ludz befürchtet, apodiktisch das Ganze beansprucht (wie es das begriffliche Konstrukt der „Klassennation" tut), sondern an die im Begriff „Kulturnation" ebenfalls liegenden histori-sehen Elemente einer „weltbürgerlichen Absicht" anschließt?

Dies also ist die alle anderen umfassende didaktische Intention der Unterrichtsreihe: sowohl einen klaren Begriff der vollendeten Staatlichkeit in ihrer je konkreten Ausprägung der Bundesrepublik und der DDR zu erarbeiten und ineins damit eine rational-kritische Identifikation zu ermöglichen, als auch mit dem Schlüsselbegriff „deutsche Nation" das ganze Deutschland im Auge zu behalten und den potentiellen Handlungswillen zu entwickeln, die „besonderen Beziehungen" zwischen den beiden deutschen Staaten zu erhalten und zu pflegen (die als bloße Regierungsangelegenheit schnell dem Verfall preisgegeben wären). b) Das Spektrum der Voreinstellungen In den bisherigen Ausführungen war immanent bereits mehrfach von verschiedenen möglichen Voreinstellungen die Rede, auf welche die didaktische Planung bei diesem Thema besonders sorgfältig bezogen sein muß. Auf einige bemerkenswerte Nuancen im laufenden und potentiellen Prozeß der Entideologisierung und Re-ideologisierung der deutschen Frage hat P. C. Ludz aufmerksam gemacht Gegenüber der SED mit ihrem Programm des sozialistischen Patriotismus (als eines integrierenden Bestandteils des proletarischen Internationalismus) und gegenüber ihrem Anspruch, die „besten Elemente" der deutschen Geschiche zu repräsentieren und das wahre historische Interesse der deutschen Nation zu verfolgen, haben die Parteien in der Bundesrepublik sicherlich kein in gleicher Weise eindeutiges Konzept der Nation anzubieten. Doch hält sich die SED gegenwärtig in ihrer Vorwärtsstrategie zurück, läßt aber mit „solchen Begriffsbestimmungen eine Option für eine Reaktivierung und Reideologisierung der deutschen Frage offen" In der Bundesrepublik gibt es dagegen nach wie vor ein breites Spektrum von Einstellungen, das sich in der heranwachsenden Generation einerseits spiegelt, andererseits bricht. Neben traditionellen Haltungen einer Bezogenheit auf den alten Kernstaaatsgedanken steht als offizielle und von der Mehrheit der sozialliberalen Koaliti-onsparteien getragene Regierungsentscheidung die Zurücknahme des nationalen Anspruchs der Wiedervereinigung vom ersten auf einen unteren Platz der politischen Prioritätenskala (unter Beibehaltung der dy-namischen Formel des „Rechtes auf Selbstbestimmung des ganzen deutschen Volkes"). Damit ist die Bundesrepublik nicht mehr die permanente Unruhe in der deutschen und europäischen Uhr, wie es der erste Bundesminister für Gesamtdeutsche Fragen, Jakob Kaiser, wollte; aber das — wenn auch heruntergestufte und auf die Gemeinsamkeit von Sprache, Kultur und Geschichte reduzierte — Bestehen auf der einen deutschen Nation macht ebenso wie die Ablehnung selbst dieser bescheidener gewordenen Kohäsion durch die DDR-Regierung „der Öffentlichkeit, auch der internationalen Öffentlichkeit überdeutlich klar, daß es so etwas wie die eine Nation im Bewußtsein der Deutschen geben muß"

Hier könnte der Konsens eines unproblematischen didaktischen Ansatzes kostatiert werden, wenn nicht inzwischen ein Teil vor allem der jüngeren Generation zu einer Distanzierung von alledem ansetzt. Ihr erscheinen nach Vollzug der Ostverträge und des Grund-vertrages die Geschichte der Bundesrepublik mit ihrem Wiedervereinigungsaxiom und der darauf bezogenen Nichtanerkennungspolitik gegenüber der DDR als ein Prozeß einer grandiosen Wirklichkeitsverleugnung. Abgesehen von einigen Gruppierungen, die mit dem DDR-Postulat der „Klassennation" sympathisieren, erscheint den übrigen vielfach bereits das Festhalten am Faktum und Begriff der „deutschen Nation" nicht nur als illusorisch, sondern geradezu als friedensstörend, weil von allen Nachbarn Deutschlands keineswegs wünschbar. In diesem Dilemma — einem in verschiedenen Generationsmentalitäten und Erinnerungslagen, aber auch in der Faktizität selbst begründeten Dilemma — gibt es in unserem pluralistischen Staat keinen einfachen und eindeutigen Ausweg. Angesichts dieses Befundes wird aber vollends deutlich, daß rationale Klarheit über das, was ist und politisch sein kann und sein soll, nicht ohne Einsicht in die Genese der gegenwärtigen politischen Situation erreicht werden kann. Diese Einsicht zu gewinnen und mit ihr zu erkennen, daß man auch als Angehöriger der Generation der Söhne und Töchter nicht aus der Geschichte seines Volkes aussteigen kann, ist eine weitere wesentliche Intention, im Sprachgebrauch der Bildungstheorie ein fundamentales Lernziel der Unterrichtsreihe. c) Die transnationale Dimension der deutschen Frage Die Bedeutung der deutschen Frage, in den vergangenen 25 Jahren häufig in provinziel-ler, in „germanozentrischer" Perspektive (Alfred Grosser) verengt und neuerdings im Rahmen „moderner" politik-pädagogischer Konzepte in ebenso provinzialistischer Problem-verkürzung überhaupt über Bord geworfen, ist nur richtig zu ermessen, wenn man sie in einen weiteren politischen Rahmen stellt. Denn die deutsche (nationale) Frage war und ist eingebunden in eine übernationale Problematik — in die Krise der Nationalstaaten in der Epoche transnationaler Ökonomie — und in den damit zusammenhängenden säkularen Trend zu supranationalen Integrationen. So sehr diese Tatsache in zunehmendem Maße alle Staaten berührt, so besaß sie schon für das zonengeteilte Deutschland eine spezifische Aktualität. Und sie gilt nicht minder, als sich nach 1949 zwei deutsche Staaten entwikkelten, die sich 1972/73 beiderseits als Staaten anerkannt haben. Jedoch darf man nicht nur die ökonomischen Aspekte sehen; die deutsche Teilung war und ist zugleich die Funktion einer primär machtpolitisch motivierten Polarisierung zwischen der UdSSR und den USA, nicht zuletzt aber auch für einige europäische Nationen (besonders Frankreich, aber auch England) Garant der eigenen nationalen Sicherheit. Man muß gegenüber der oben gemachten Feststellung transnationaler Zwänge hier hinzufügen, daß gleichzeitig der Wille zur Sicherung der nationalen Indentitäten weiterbesteht. Es spricht sogar manches dafür, daß die nationalen Identitäten notwendige Medien übernationaler Funktionen bleiben werden. Selbst im Konzept der in jüngster Zeit im Ostblock verstärkt diskutierten „sozialistischen Integration" (mit dem Ziel der Schaffung eines einheitlichen ökonomischen und sozialen Organismus) bleibt theoretisch und faktisch die Rolle der einzelnen Nationen/Staaten im Spiel.

Für Deutschland ist zu konstatieren: An der Nahtstelle zweier divergenter globaler Systeme waren und sind beide deutsche Staaten einerseits Kreuzungspunkt antagonistischer wirtschaftlicher und politischer Tendenzen, andererseits stehen sie im Sog konvergenter Strömungen. Diesen Standort in einem weiträumigen Bezugssystem gilt es im Auge zu behalten. Daraus folgt als Hypothese für unser Thema: Wenn schon die großräumig-multinationale Verflechtung die Anforderungen an die nationalen politischen Institutionen nicht mindert, sondern (in scheinbarer Paradoxie) möglicherweise noch steigert, dann wäre für eine produktive Entgegnung auf die Herausforderung des jeweils opponierenden gesellschaftlich-ökonomischen Systems für Deutschland erst recht die Klärung des staat-B liehen und nationalen Selbstverständnisses unabdingbar.

Die didaktische Explikation hat mit diesem Abschnitt eine neue Dimension der Analyse der deutschen Frage eröffnet: Wenn die Unterrichtsreihe ein Beitrag zur kritischen Identitätsklärung der Bundesrepublik sein will, dann kann die DDR nicht länger als quantite negligeable oder massiver: als deutsche Negation gelten (mit dem Ziel der Negation der Negation); dann ist sie nicht nur in ihrer politischen Existenz anzuerkennen, sondern vor allem als gesellschaftspolitische Herausforderung an-und ernstzunehmen. Die deutsche Frage bleibt dann nicht eine bloß nationale Frage (mit regressiven Komponenten), sie wird zugleich zu einer sozialen und demokratischen Frage. Für die didaktische Verlaufs-kurve bedeutet dies, einen starken Akzent auf die Erörterung der Genese der disparaten ökonomisch-gesellschaftlichen Strukturen in den beiden Staaten zu legen. Wenn die Bewahrung der nationalen Identität bzw. ihre zeitgerechte Erneuerung, wie oben skizziert, trotz und wegen der tiefgreifenden ideologischen und sozioökonomischen Diskrepanzen in beiden deutschen Staaten keineswegs eine restaurative, sondern eine — im ganz unprätentiösen Sinne — progressive Aufgabe ist, dann ist in der Tat die retrospektive historische Aufschlüsselung der von der Geschichte gestellten Aufgabe von höchster Bedeutung. Und es ist offenkundig, daß nicht erst die Sekundarstufe II mit dieser Thematik zu befassen ist, sondern auch die Abschlußklasse der Sekundarstufe I, aus der der größte Teil der jungen Generation die Schule verläßt. d) Zusammenfassung Der pädagogische Ansatz der Unterrichtsreihe zielt, wie angedeutet, auf die Ermöglichung (nicht die Diktierung) einer rational-kritischen Identifikation mit der Bundesrepublik, bei der zugleich die gesamtnationalen und die supranationalen Komponenten mit im Bewußtsein bleiben. Er legt freilich mit der historischen Analyse nur die Bedingungen einer solchen Möglichkeit offen und stellt sie nicht in den Dienst einer platten Legitimierungsfunktion. Auch darf er, um die Zielsetzungen noch schärfer gegen Mißverständnisse abzugrenzen, nicht verwechselt werden mit einer pädagogischen Veranstaltung zur Herstellung einer Status quo-Loyalität, die nichts weiter wäre als die Übertragung der Anerkennung eines erfolgreichen gesellschaftlich-ökonomischen Lenkungssystems auf die staatlichen Institutionen — der Habitus des Wohlstands-oder Schönwetterdemokraten. Konkreter: Wenn hier von der identitätsstiftenden Wirkung der historisch-kritischen Beschäftigung mit der Geschichte der Spaltung der deutschen Nation, der Entstehung der beiden deutschen Staaten DDR und Bundesrepublik Deutschland mit ihren konträren ökonomisch-gesellschaftlichen Systemen gesprochen wurde, dann ist eben nicht eine bloß kopfnickende und nichts besagende und nichts bewegende Zustimmung intendiert, sondern der kritische Nachvollzug der transnationalen und nationalen Entscheidungsprozesse gefordert, welche die DDR mit der ihr verordneten Lenkungswirtschaft und die Bundesrepublik mit der ihr zugeschriebenen Marktwirtschaft konstituiert haben. Thema und Lernpotential ist also nicht nur die Bundesrepublik, sondern auch die DDR. Zu diesem Zwecke muß allerdings neben einer Unterrichtsreihe über die deutsche Teilung und die Entstehungsgeschichte der beiden deutschen Staaten als zweite Unterrichtsreihe ein Systemvergleich konzipiert werden.

Es ist zu hoffen, daß in der Durchführung des skizzierten didaktischen Ansatzes die Heranwachsenden nicht nur ein Informationswissen, sondern in und mit den Informationen Kategorien eines eigenen Urteils gewinnen. Durch diese sollen sie in Stand gesetzt werden, mit darüber zu entscheiden, ob das, was ist — diese gesellschaftlich-staatliche Ordnung — auch sein soll bzw. wie sie human verändert und verbessert werden kann. Die national Frage erreicht damit die oben skizzierte neue Dimension: eine Aufnahme der gesellschafts-politischen Herausforderung durch das politisch-gesellschaftliche System der DDR. Das, wovon die Jugendlichen objektiv betroffen sind, davon sollten sie auch subjektiv betroffen werden. (Die vielberedete Motivation steht in ihrem vollen Gewicht möglicherweise sogar erst am Ende der Unr terrichtsreihe.) Vielleicht gelingt so die Entfaltung eines neuen sozial und demokratisch fest gegründeten Patriotismus, den der Franzose Alfred Grosser den Bürgern der Bundesrepublik wünscht und der nicht zu verwechseln ist mit einem Neo-Nationalismus. 3.

Leitziele (generelle Lernzlele)

Die Bestandsaufnahme der aktuellen Problematik der Deutschlandfrage hat einige der ihr wesentlichen Implikationen offengelegt und in die ihnen korrespondierende didaktische Dimension zu überführen versucht. Einige Leitziele/Leitfragen/Fragestellungen/Thesen wurden dabei ausdrücklich als Lernziele formu-liert; weitere immanent in der didaktischen Explikation enthaltene könnten noch fixiert werden. Auf eine ordnende Aufreihung der breits genannten und der weiteren implizierten Ziele/Fragen wird hier verzichtet. Es sollte aber deutlich geworden sein, daß sie eine ho-rizont-und rahmenbildende Funktion haben. Sie sind implizit bereits historisch fundiert, werden aber in einer vom Lehrenden vorzunehmenden historischen Detailanalyse noch näher begründet, ergänzt, differenziert und konkretisiert werden müssen. Dies darf nicht durch Übernahme von tradierten Stereotypen wie etwa einer monolithisch-aggressiven Sowjetunion und der lediglich defensiv reagierenden USA geschehen, sondern in Rezeption und Auseinandersetzung mit der neuesten wissenschaftlichen Diskussion. Im Zusammenhang damit sind ebenfalls Korrekturen des herkömmlichen, in Handbüchern und Schulgeschichtswerken fixierten Bildes der verfassungspolitischen Genese der Bundesrepublik und des ihr zugeschriebenen Wirtschaftsund Gesellschaftssystems notwendig, ohne daß freilich einem tabula-rasa-Revisionismus Platz gegeben werden soll.

Das Ergebnis dieser im Rahmen der obigen politischen Bestandsaufnahme operierenden (und diese zugleich kontrollierenden) historischen Analyse könnte in folgende unterrichtlichen Intentionen gefaßt werden, in denen die Korrelation von Inhalten und Zielen sichtbar bleibt:

Im Bereich der historischen Analyse 1. Primärursache der deutschen Teilung ist der Aggressionskrieg des NS-Staates.

2. Der Prozeß einer — bereits in den Kriegs-konferenzen der Alliierten erwogenen — deutschen Teilung kommt durch die Auflösung der Kriegskoalition gegen das NS-Deutschland und die Entstehung eines bipolaren Mächtesystems in Gang. 7m Bereich des historischen Urteils 3. Die Teilung — eine Funktion des Antagonismus zwischen West und Ost — führt zu einer bis an die Wurzeln gehenden ideologischen, gesellschaftlichen und politischen Divergenz in zwei deutschen Staaten. 4. Der Teilungsvorgang erfolgt in den entscheidenden Phasen gegen den Willen der Deutschen, nicht jedoch ohne ihre Beteiligung (Mitverantwortung). 5. Das im Zusammenhang mit der Teilung Deutschlands sich herausbildende Mächtesystem wird die Grundstruktur des europäischen Kontinents für eine überschaubare Zukunft bestimmen.

Im Bereich der historisch-politischen " Wertung und Stellungnahme Folgerungen/Forderungen, die sich für die im Zentrum des Spannungsherdes stehenden Deutschen ergeben:

6. auf einen Zustand der Entspannung und des Friedens — nicht zuletzt zwischen den beiden deutschen Staaten — hinzuarbeiten;

7. das Bewußtsein der in der Gemeinsamkeit von Geschichte, Sprache und Kultur begründeten Einheit der Nation erhalten, bis ein Zustand des Friedens erreicht ist, der eine Selbstbestimmung in Freiheit auch für Deutschland ermöglicht;

8. sich weder mit „antikommunistischen" noch mit „antikapitalistischen" Parolen und Affekten zu begnügen und die Anstrengung einer rational begründeten Stellungnahme zu den konkreten Problemen und Aufgaben einer sozialen und demokratischen Politik auf sich zu nehmen.

II. Unterrichtsorganisation

Die Unterrichtsreihe wird in drei Arbeitsphasen zu je 2— 4 Unterrichtsstunden (mit insgesamt 18 Stunden) gegliedert. Die Planung ist nicht auf Einzelstunden, sondern auf Teilstük-ke von 2— 4 Stunden bezogen, so daß „StoffVerteilung und Akzentsetzung variabel bleibt. Die im folgenden aufgeführten Leitund Einzelthemen gelten dafür als Anhaltspunkte.

Erste Arbeitsphase: Die „deutsche Frage“ (Problematisierung und Motivation)

— Die Ostpolitik der Regierung der sozialliberalen und die nationale Frage

— Die Position der DDR: Die nationale Frage in der Verflechtung mit der sozialistischen Integrations-wie mit der Koexistenzproblematik (2 Stunden) Zweite Arbeitsphase:

Der Prozeß der Teilung Deutschlands 1. Abschnitt:

Das Auseinanderbrechen der Kriegskoalition der Alliierten als Ansatz zur Spaltung Deutschlands 1945— 1947 1. Ausgangslage: Die gemeinsame Deutschlandplanung der Siegermächte auf der Potsdamer Konferenz 2. Russische Sicherheitsund Reparationspolitik a) in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) in Deutschland b) Ostmittelund Südosteuropa 3. Das Auslaufen der amerikanischen Destruktionspolitik in Deutschland 4. Die Sonderpolitik Frankreichs (4 Stunden) 2. Abschnitt:

Die Funktion der Teilung Deutschlands und die Wiederbelebung Westdeutschlands im Prozeß der Umpolung der amerikanischen Europapolitik (1947— 1949)

1. Die Containment-Politik und das Eintreten in den „Kalten Krieg": Truman-Doktrin und Marshall-Plan 2. Die Restitution der westdeutschen Wirtschaft (1948): „Soziale Marktwirtschaft"

3. Die Reaktion der UdSSR: Forcierung der Umstrukturierung der SBZ: „Zentrale Verwaltungswirtschaft" (3 Stunden) 3. Abschnitt:

Die Verlassungskonstruktionen für zwei getrennte deutsche Staaten 1. Die Begründung der Bundesrepublik Deutschland (Parlamentarische Demokratie nach westlichem Muster)

2. Die Begründung der Deutschen Demokratischen Republik (Volksdemokratie nach östlichem Muster)

(3 Stunden) 4. Abschnitt:

Der Weg der Bundesrepublik vom Besatzungsstatut zur Souveränität im Dilemma zwischen Westintegration und Wiedervereinigung (1949— 1955) 1. Europarat, Montanunion, Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG)

2. Koreakrieg und Wiederbewaffnung (EVG, Pariser Verträge 1955)

3. Regierungsparteien und Opposition in der Zielantinomie von Westintegration und Wiedervereinigung (3 Stunden)

Dritte Arbeitsphase:

Auswertung und Stellungnahme Vor-Sprung in die gegenwärtige Situation (zugleich Rekurs auf die Fragestellungen der Anlaufphase). Von den vergangenen Möglichkeiten einer deutschen Politik zu den gegenwärtigen Aufgaben und künftigen Perspektiven: Vom Gegeneinander über ein Nebeneinander zum Miteinander eines gesellschaftspolitischen Wettbewerbs — ohne Euphorie und Illusionen, im Wissen um die Integrationsrealitäten, in der Erkenntnis der Notwendigkeit der eigenen Standfestigkeit und sozialen Erneuerungsfähigkeit. (3 Stunden)

Es folgen in der UR ausführliche und konkrete Vorschläge zur Durchführung des Unterrichts im einzelnen. Im folgenden wird — zur Illustration der Arbeitsweise — lediglich ein Auszug aus den Vorschlägen zur Durchführung der Schlußphase der Dritten Arbeitsphase, abgedruckt: , Dritte Arbeitsphase (Auswertung und Stellungnahme)

Zur Unterrichtsgestaltung a) Anstoß für ein Planungsgespräch b) Konfrontierung mit der Zweistaaten-Konzeption Bedeutet nun aber die realistische Hinnahme dessen, was ist (so und nicht anders geworden ist), die Anerkennung des Status quo für immer und alle Zeit, d. h. im gegebenen Fall: das endgültige Sich-Abfinden der Deutschen mit der Teilung ihres Landes in zwei Staaten, die füreinander Ausland sind? Mit dieser Frage könnte der Lehrer das Gespräch auf die Frage nach dem „Stellenwert" des „Briefes zur deutschen Einheit" (den Schülern aus der I. Arbeitsphase bekannt) lenken und damit den Diskurs an die — offengebliebene — Frage der L Arbeitsphase wieder anbinden.

Dabei darf der politische Hintergrund der Frage nicht verschleiert werden: Kaum ein Staat (außer China) ist an einer deutschen Wiedervereinigung interessiert. Nach den Erfahrungen der beiden letzten Weltkriege halten im Gegenteil die weitaus meisten Länder die Teilung Deutschlands in zwei Staaten mit je verschiedenen Gesellschaftsordnungen und jeweiliger Einbindung in verschiedene supranationale Blocksysteme für das kleinere Übel, weil sie das wirtschaftliche und militärische Potential sowie die politische Dynamik eines wiedervereinigten Deutschland mit rd. 80 Millionen Menschen fürchten. Ein Beispiel für diese Einstellung ist der Leitartikel in der französischen Tageseitung „Le Monde" aus Anlaß des Besuches des französischen Staats-präsidenten Giscard d'Estaing in Auschwitz Mitte Juni 1975: „Man begreift auch, daß die Nachbarn Deutschlands — besonders die im Osten, in denen Hitler nur ein Sklavenreservoir sah — sich über die künftige Entwicklung dieser starken Nation befragen. Heute ist sie geteilt. Aber man kann von ihr behaupten, daß ihre wahre Natur besser zu erklären ist durch das Wort , werden" als durch das Wort , sein". Wie könnte man diese Entwicklung besser stabilisieren als durch Einfügung in einander ergänzende, kontinentweite Gemeinschaften. Dort kann sie sich entfalten, ohne der Versuchung, Vorherrschaft auszuüben, ausgesetzt zu sein."

Ist vor diesem Hintergrund die Aussage des „Briefes zur deutschen Einheit" in ihrer politischen Brisanz voll sichtbar geworden, empfiehlt es sich, die zentrale Frage jetzt in methodischer Umkehrung erneut zu stellen: Wäre es politisch nicht am vernünftigsten, wenn auch wir Deutsche den Status quo, so wie ihn unsere Nachbarn erhalten wissen wollen, endgültig akzeptieren, auf unser Selbstbestimmungsrecht verzichten und die Präambel unseres Grundgesetzes aufgeben?

(Zweistaaten-Konzeption) c) Für oder gegen die Wiedervereinigung (Sammlung und Gewichtung von Argumenten) Diese so scharf formulierte Frage soll als starker Denkreiz dazu dienen, unmittelbare — sei es bejahende, sei es verneinende — Reaktionen herauszufordern, in denen wahrscheinlich noch unreflektierte Emotionen mitschwingen. In den folgenden Schritten muß der Unterricht die hier gegebenen Antworten rational zu klären versuchen. Zu diesem Zwecke müssen die Argumente für oder gegen die Beibehaltung des Wiedervereinigungsgebotes gesammelt und gewichtet werden. Im Vollzug dieses Denkprozesses muß den Schülern deutlich werden, daß die Qption für die eine oder für die andere Alternative unmittelbare praktisch-politische Bedeutung und Konsequenzen für das politische Verhalten und Sichentscheiden jedes einzelnen hat. Diese Phase verlangt von den Schülern eine Zusammenfassung ihrer Kenntnisse, ihrer konkreten historischen Sachurteile und der durch sie zu begründenden politischen Stellungnahmen. Dieser schwierige Denkprozeß wird am ehesten in einem vom Lehrer geleiteten Klassengespräch zu vollziehen sein. Es ist aber auch denkbar, daß Schüler-Arbeitsgruppen die eine oder die andere Position durchdenken, begründen und in einer Diskussion zu verteidigen bzw. zu korrigieren versuchen. — Als Argumente für eine Entscheidung, hin-fort zwei deutsche Staaten als Ergebnis der Geschichte der letzten dreißig Jahre anzuerkennen, könnten diskutiert werden: das Sicherheitsbedürfnis und die Interessenlage der anderen Staaten; das Vermeiden schwieriger Auseinandersetzungen und Probleme innerhalb Deutschlands selbst; der Hinweis darauf, daß die Bundesrepublik wirtschaftlich und politisch auch ohne eine Verbindung mit der DDR ein großes Gewicht erlangt hat und der DDR auch weiterhin nicht bedarf.

Die Argumente, die gegen das Aufgeben des Wiedervereinigungsgebotes sprechen, liegen in einer tieferen und schwieriger zugänglichen Schicht und bedürfen deswegen einer ausführlicheren Darstellung als die eben skizzierte Argumentenreihe, die sich wesentlich leichter erschließt und sich deswegen schnell in den Vordergrund drängt. Die folgende Darlegung hat daher eine Balance-Funktion und darf nicht als abschließender Versuch einer „Konditionierung" mißverstanden werden, der dem eingangs skizzierten didaktischen Konzept widersprechen würde. — Diese tiefere Schicht kann aufgedeckt werden, wenn den Schülern vor Augen geführt wird, daß die zuerst genannten Argumente alle eine bestimmte Zeitgebundenheit und Vorläufigkeit besitzen. Hier ist das Gegenargument der Geschichte und der „Langen Dauer" ins Spiel zu bringen: Eine Nation ist eine historische Größe. Sie zu annullieren hieße, eine Entscheidung zu fällen, die die politische Existenz der kommenden Generationen präjudiziert, indem sie diese von der nationalen Geschichte abschneidet. Es gilt hier die Frage zu erörtern, ob es denkbar, ob es verantwortbar ist, daß eine Generation innerhalb einer Kette von Generationen leichthin auf eine in langer Dauer gewordene, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einschließende historische Form verzichtet.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vorabdruck aus dem Einleitungsteil der demnächst im Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn, erscheinenden Unterrichtsreihe von Erich Kosthorst/Karl Teppe, Die Teilung Deutschlands und die Entstehung zweier deutscher Staaten (mit Lehrerheft, Schülerarbeitsheft und Quellenheft).

  2. S. dazu Karl Teppe, Das deutsche Identitätsproblem. Eine historisch-politische Provokation, in:

  3. Mögliche politische Arbeitshypothesen werden in den Vorschlägen zur Gestaltung der III. Arbeitsphase vorgestellt.

  4. W. Geiger, Lernziele und politischer Unterricht. Uber die Grenzen der Lernzielorientierung, in: Gegenwartskunde, H 1 (1974), S. 33.

  5. Peter Christian Ludz, Deutschlands doppelte Zukunft. Bundesrepublik und DDR in der Welt von morgen, München 1974, S. 100.

  6. In; Hochland, August/September 1968, S. 566.

  7. Peter Christian Ludz, a. a. O., S. 102 bis 144.

  8. Ebenda, S. 111.

  9. Ebenda, S. 98.

  10. Die Erarbeitung der Genese der deutschen Teilung wird zu einer Gegenüberstellung der gegensätzlichen sozioökonomischen Systeme in beiden deutschen Staaten führen, ohne daß jedoch in dieser Unterrichtsreihe schon ein grundsätzlicher Vergleich möglich wäre. Zum Zweck eines System-vergleichs ist eine eigene Stundenreihe erforderlich.

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