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Die Cruise Missile und ihre Folgen | APuZ 13/1977 | bpb.de

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APuZ 13/1977 Strategiekritik als Sisyphusarbeit. Zur Kunst des überlebens im Abschreckungszeitalter Die Cruise Missile und ihre Folgen Britische Deutschlandpolitik vor dem Zweiten Weltkrieg. Friedensbedürfnis und gescheiterte Friedenssicherung

Die Cruise Missile und ihre Folgen

Alexander R. Vershbov

/ 18 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Langstrecken-Rakete Cruise Missile („umherkreuzende" Rakete) verfügt über geradezu revolutionierende Eigenschaften, vor allem, was ihre Präzision, ihre mit Radar fast nicht zu ortende geringe Größe und Flughöhe, ihre unterschiedlichen Reichweiten, die Vielfalt möglicher Abschußvorrichtungen und nicht zuletzt ihre geringen Kosten und relativ einfache Technik betrifft. Diese Eigenschaften drohen nun die Grundsätze zu beeinträchtigen, die bis jetzt eine erfolgreiche Vereinbarung zwischen den USA und der Sowjetunion über Rüstungsbeschränkungen im Rahmen von SALT (Strategie Arms Limitation Talks) ermöglicht hatten. Zudem könnten sich mit den Cruise Missiles schon bald wirksame und billige Waffensysteme für andere Länder anbieten, die damit ein erhebliches strategisches Potential erwerben würden. Auf diese Weise könnte die Cruise Missile zur Nemesis der Supermächte werden: Sie wären es nicht mehr allein, die mit massiver Zerstörung jenseits ihrer Grenzen oder ihres Kontinents zu drohen vermöchten.

I

Die von der Langstrecken-Rakete Cruise Missile (*) wörtlich: umherkreuzende Rakete) ausgelöste Debatte über Rüstungsbeschränkungen ist nicht weniger heftig, als es vor sieben Jahren die Auseinandersetzung über MIRV (multiple indepently targetable reentry vehicle — eine Wiedereintritts-Trägerrakete mit mehreren, unabhängig voneinander auf einzelne Ziele einzustellenden Sprengköpfen) war. Obwohl die Cruise Missile keineswegs eine „Superwaffe" ist, die den Gegner zuverlässig mit dem „first strike“ — dem ersten, vernichtenden Angriff in einem Krieg — bedroht, verfügt die neue Rakete doch über geradezu revolutionierende Eigenschaften, von denen vor allem ihre Präzision, ihre fast nicht zu ortende geringe Größe, ihre unterschiedlichen Reichweiten und die Vielfalt möglicher Abschußvorrichtungen zu erwähnen sind. Diese Eigenschaften drohen die Grundsätze zu unterlaufen, die bis jetzt eine erfolgreiche Vereinbarung zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion über Rüstungsbeschränkungen erlaubt haben. Deshalb gefährdet die Cruise Missile noch offensichtlicher als die MIRV die unmittelbare Zukunft von SALT (Strategie Arms Limitation Talks — Gespräche über die Begrenzung strategischer Waffen).

Auf lange Sicht verdüstert sich das Bild noch mehr. Schon heute verwischen die neuen Eigenschaften des Flugkörpers die ohnehin fließenden Grenzen zwischen den strategischen und taktischen Waffensystemen, zwischen nuklearen und konventionellen Waffen. Blickt man also einmal über SALT hinaus, wird die Cruise Missile es erschweren, einen neuen Rahmen für die Rüstungskontrolle zu erarbeiten. Soll Rüstungskontrolle künftig überhaupt einen Sinn haben, dann müssen die Waffensysteme nicht nur nach Mengen, sondern auch nach Wirkung begrenzbar sein, und zwar so, daß die Kontrolle auch durchführbar ist. Da die Cruise Missile nur eine von vielen Waffen im Mit ireundlicher Genehmigung von United Press International wurde dieser leicht gekürzte Aufsatz entnommen aus dem Oktober-Heft 1976 der Zeitschrift Foreign Affairs. Übersetzung: Dr. Ursula Leippe, Flensburg.

Wettlauf um die qualitativ überlegene Rüstung ist, wäre ein Verzicht auf ihre endgültige Entwicklung ein erster positiver Schritt zu umfassenderen Begrenzungen auf diesem entscheidenden Gebiet.

II.

Eine Cruise Missile ist eigentlich ein Düsenflugzeug ohne Piloten. Anders als der raketenmotorgetriebene ballistische Flugkörper, der die Atmosphäre mit Überschallgeschwindigkeit verläßt und in einer Art Geschoßbahn seinem Ziel entgegenschießt, wird die Cruise Missile ständig von luftatmenden Düsenmotoren vorwärtsgetrieben, fliegt langsamer als Schallgeschwindigkeit und verläßt die Atmosphäre nicht.

Cruise Missiles sind keineswegs ganz neu, sondern können bis zum Zweiten Weltkrieg, zur deutschen V-l („buzz bomb“) zurückverfolgt werden. Vorläufer der Cruise Missiles waren auch von U-Booten der US-Marine eingesetzt, aber wieder aufgegeben worden, weil sie zu plump und nicht präzise genug waren, eine zu kurze Reichweite hatten und nicht unter Wasser abgeschossen werden konnten. Die sowjetische Marine verfügt noch über viele ähnlich primitive Kurzstrecken-Flugkörper, die von bestimmten Uberwasserschiffen und U-Booten mitgeführt werden und in erster Linie für taktische Angriffe auf gegnerische Schiffe bestimmt sind. Die Luftstreitkräfte beider Mächte besitzen außerdem noch einige der älteren, großen Cruise Missiles, die für Angriffe auf kurze Entfernungen gedacht sind.

Bis vor kurzem konnten nur ballistische Flug-körper die weiten Entfernungen zurücklegen, die als „strategisch" eingestuft werden (1 000 bis 2 000 Meilen und mehr); sie erreichen ihr Ziel mit annehmbarer Genauigkeit und befördern Sprengköpfe mit schwerer Ladung. Doch die verbesserten Cruise Missiles von heute werden es dank gleichzeitigem, raschen Fortschritt auf verschiedenen Gebieten der Technologie (Lenksysteme, Präzision, Leistung des Antriebsystems, Leistung und Wirtschaftlichkeit des Treibstoffs, Verkleinerung der Sprengköpfe) mit fast allen Ergebnissen der ballistischen Flugkörper aufnehmen können, was Reichweite, Präzision, vermutlichen Zer-B Störungseffekt und Durchschlagskraft angeht, außerdem sind die Gestehungskosten pro Einheit wesentlich geringer. Und wenn die Cruise Missiles auch langsamer sind als die ballistischen Raketen, so haben sie doch den unschätzbaren Vorteil, daß man sie kaum entdecken kann.

Die aus der Luft abgefeuerte Cruise Missile der Luftwaffe (ALCM, air-launched cruise missile) und die vom Wasser aus zu startende der Marine (SLCM, sea-launched cruise missile) leisten fast das gleiche. Wenn sie auch nicht einfach austauschbar sind, können sie in der Diskussion doch als Einheit behandelt werden. Bei einer Länge von 20 feet (6, 96 m)

und einem Durchmesser von nur 6 inches (53, 34 cm) können sie ebenso aus den normalen Torpedorohren der U-Boote abgefeuert werden wie von den Abschußvorrichtungen der Bombenflugzeuge B-52 für die SRAM (short-range attack missile, Kurzstrecken-Angriffsrakete), ja sogar von den Lance-Abschußrampen der Boden-Boden-Raketen. Um eine Reichweite von 500 Seemeilen bei 400 Stundenmeilen zu erreichen, braucht die 3 000 pound (1 360, 77 kg) schwere Cruise Missile einen Turbo-Fan-Motor von ungefähr 250 pound Gewicht (113, 40 kg). Dazu kommen 500 pound (226, 80 kg) Treibstoff in dem 250 pound (272, 25 kg) schweren Flugwerk; auf diese Weise bleiben mehr als 453, 60 kg frei für Lenksystem und Sprengköpfe. Beim jetzigen Stand der Entwicklung wiegt das Lenksystem höchstens 800 pound (362, 90 kg), so daß der Flugkörper ohne weiteres einen Sprengkopf von 200 pound (90, 7 kg) befördern kann, der die Explosionswirkung von 200 Kilotons hätte (das entspricht etwa 15 Hiroshima-Bomben und der Wirkung, die von den Sprengköpfen einer mit MIRV ausgerüsteten interkontinentalen Rakete Minuteman III ausgelöst wird).

Die Cruise Missile verwendet zwei Lenksysteme: einmal ein Trägheitssystem, das die vorprogrammierten Zielinformationen der Rakete während des Fluges mit durch einen Höhenmesser gewonnenen Daten über Wetterverhältnisse und das überflogene Terrain ergänzt; dann ein Terminal-Lenksystem, dessen Kern ein Mikrowellen-Radiometer ist, der das Ziel identifiziert und den Flugkörper präzise landen läßt. Das Zusammenspiel der beiden Lenksysteme verleiht der Rakete eine Zielgenauigkeit von ca. 30 Metern aus einer Entfernung von mehr als 1 500 Meilen; weitere technische Verfeinerungen versprechen sogar eine noch größere Präzision. Da außerdem die Zielgenauigkeit von der Reichweite unabhängig ist, werden weitere Verbesserungen von

Motor und Treibstoff noch größere Strecken bei gleicher Präzision gestatten 1).

Die neue Cruise Missile kann also eine beträchtliche Explosivkraft bei unglaublich hoher Präzision entfalten, und auf kurze zwar wie auf weite Entfernung. Zwar ist sie noch langsam und, wenn erst einmal entdeckt, leicht abzuschießen durch SAMs (surface-air missiles, Boden-Luft-Raketen), aber ihre geringe Größe und ihr Tiefflug („an den Baum-wipfeln entlangstreifend") erschweren die Entdeckung durch Radar. Selbst wenn die Sowjets noch leistungsfähigere Radargeräte entwickeln sollten, wäre es für ihre Computer schwierig, eine anfliegende Cruise Missile von den Unebenheiten auf der Erdoberfläche zu unterscheiden. Außerdem werden unmittelbar bevorstehende technische Verfeinerungen der Turbo-Fan-Motoren wahrscheinlich zu noch höheren Geschwindigkeiten und größerer Beweglichkeit bei Ausweichmanövern führen.

Schließlich wird die Cruise Missile viel billiger werden als die derzeitigen strategischen Waffen; man rechnet mit 500 000 Dollar pro Einheit für eine Rakete bei voll ausgelasteter Produktion.

Wie in früheren Fällen, so wurden auch bei der Cruise Missile die operativen Fähigkeiten schneller entwickelt als der strategische Zweck, für den sie verwendet werden sollte. Ursprünglich war von einer „Sicherung künftiger Entscheidungsfreiheit“ die Rede, ebenso davon, daß man „mit einer potentiellen sowjetischen Cruise Missile gleichziehen" müsse. Doch tatsächlich stand hinter ihrer raschen Entwicklung auch die Rivalität der Waffengattungen. Die Marine suchte nach einer Waffe, die es mit der konventionellen und der nuklearen Schlagkraft der Luftwaffe aufnehmen kann, wenn es sich um taktische oder um strategische Einsätze zu Lande und zu Wasser handelt.

Die Luftwaffe wiederum hoffte, daß sie ihre strategische Bombermacht vor Überalterung schützen könne, wenn sie die Maschinen mit Cruise Missiles ausrüsten würde, die aus der Luft abgefeuert werden könnten; auf diese Weise glaubte man, die ständig verbesserte sowjetische Luftverteidigung mattsetzen und vielleicht auch ein Warnsignal geben zu können. Außerdem hoffte man, durch die niedrigen Kosten der Cruise Missile-ALCM (airlaunched cruise missile) Gelder für anderen Bedarf der Luftwaffe zu sparen. Lang anhaltende Überlegungen, die darauf abzielten, die Finanzen zu schonen und doch dabei die Schlagkraft aufrechtzuerhalten, verschleierten während der zehn Jahre, in denen die Cruise Missile entwickelt wurde, die Folgen, die sie für die Rüstungskontrolle haben mußte. Obwohl sie eine strategische Waffe ist, fällt die Cruise Missile nicht unter die geltende SALT I-Vereinbarung. SALT I bezieht sich nämlich auf eine zahlenmäßige Begrenzung der Startanlagen für strategische Waffen (und nicht etwa auf die Zahl der Raketen oder der Sprengköpfe), da nur hier eine oberste Grenze sinnvoll, für beide Seiten annehmbar und „mit nationalen technischen Mitteln“ (Satelliten-Fotoidentifizierung und elektronische Horchapparate) zu kontrollieren ist. Daß SALT I bis heute funktionierte, liegt an einer von beiden Seiten anerkannten, wenn auch etwas willkürlichen Unterscheidung zwischen strategischen und taktischen Waffen, die anhand der ihnen gestellten Aufgaben vorgenommen wird. Als die SALT-Verhandlungen begannen, genügten tatsächlich noch „nationale technische Mittel", um die Existenz von allen Waffen festzustellen, die als strategisch bezeichnet werden konnten.

Aber die Cruise Missile entzieht sich jeder Unterscheidung zwischen taktisch und strategisch, weil dieselbe Cruise Missile kleine oder große Sprengköpfe befördern und aus großer oder geringer Entfernung angreifen kann. Da es sehr schwierig ist, die Reichweite einer einsatzbereiten Cruise Missile festzustellen, ohne sie aus der Nähe zu prüfen und das Gewicht von Sprengkopf und Treibstoff zu kennen müßten sämtliche Cruise Missiles zu strategischen Waffen erklärt werden, wenn Höchstgrenzen für die Rüstungseinheiten festgesetzt werden; das aber würde ihren Einsatz für durchaus denkbare taktische Aufgaben verhindern. Auf jeden Fall machen ihre geringe Größe und die Möglichkeit, diese Flugkörper zu verstecken, eine Überprüfung der zahlenmäßigen Begrenzung unmöglich, es sei denn durch die eindringliche Inspektion an Ort und Stelle. Und da die Abschußvorrichtungen für Cruise Missiles — anders als für ballistische Raketen — sehr rasch nachgeladen werden können, ist auch eine zahlenmäßige Begrenzung der Abschußrampen völlig nichtssagend.

Bei der Vielfalt der Reichweiten und der außerordentlichen Präzision kann eine Cruise Missile, die mit einem konventionellen Sprengkopf ausgerüstet ist, durchaus strategi-sehe Aufgaben erfüllen, wenn sie etwa einen zementierten ICBM-Silo (intercontinental ballistic missile) zerstört. Ebenso bedeutet die Tatsache, daß ihre besondere Präzision vor willkürlicher, weitgestreuter Zerstörung schützt, daß sie mit Nuklearsprengköpfen für solche taktischen Aufgaben eingesetzt werden kann, die bisher nur mit konventionellen Sprengköpfen erfüllt werden konnten. Mit anderen Worten: Die traditionellen und auch brauchbaren Unterscheidungen zwischen strategisch und taktisch, zwischen nuklear und konventionell sind völlig ausgehöhlt worden und machen es unmöglich, die Begrenzung „strategischer" Waffen isoliert von anderen Bereichen der Rüstungskontrolle festzusetzen

Denkt man an die möglicherweise verheerende Auswirkung der Langstrecken-Cruise Missiles auf die strategische Stabilität, auf die Rüstungskontrolle und die Regeln der militärischen Theorie, dann klingt es wie Ironie, daß die Vereinigten Staaten den Flugkörper zuerst als „Tauschobjekt" bei SALT betrachteten, um sich sowjetische Zugeständnisse einzuhandeln. Doch sobald sich ihre erstaunlichen Leistungen herausstellten, erfanden die Planer im Pentagon viele überzeugende taktische und strategische Verwendungsmöglichkeiten für die aus der Luft oder vom Wasser aus abzuschießenden Flugkörper. Man ist überzeugt, daß die Cruise Missile für die künftigen Verteidigungserfordernisse entscheidend sein wird und sieht in ihr kein Tauschobjekt mehr.

III.

Es gibt zahlreiche taktische Aufgaben, bei denen die neue Cruise Missile dank ihrer Präzision, ihrer Unauffindbarkeit und ihrer beachtlichen Sprenglast die bestehenden Waffensysteme übertreffen könnte. Kurzstrecken-SLCMs wären eine unschätzbare Waffe gegen Schiffe; Kurzstrecken-ALCMs der Luftwaffe könnten den Schutz des Luftraums verstärken, Luftsperren überwinden und eine viel präzisere Ergänzung der bestehenden Kurzstrecken-Angriffs-Raketen für Luft-Boden-Einsätze bilden * Doch da ja die technischen Eigenschaften der neuen Cruise Missile jedes für taktische Zwecke hergestellte Exemplar auch zu einer strategischen Drohung über weite Strecken hin machen, ist es unmöglich, nur für eine taktische Version und gegen eine strategische zu stimmen. Wie dringend auch der Bedarf an Cruise Missiles für Kurzstrecken sein mag, so ist doch im Sinne der Rüstungskontrolle ihr strategisches Potential zu gefährlich, als daß man ihre Einführung rechtfertigen könnte. Darüber hinaus ist ein Bedarf an ausgesprochenen Langstrecken-Cruise Missiles ziemlich zweifelhaft.

Die Befürworter bringen vor, daß eine Cruise Missile für Langstrecken — ob aus der Luft oder vom Wasser aus abgeschossen — billiger als eine ICBM oder eine SLBM sei, weil sie „den Bock sicherer zur Strecke bringt": Durch ihre außerordentliche Präzision, ihre Durchschlagskraft, die niedrigen Herstellungskosten und geringen Anforderungen an ihre Wartung macht sie sich viel besser bezahlt als alle vorhandenen strategischen Offensivwaffen. Doch die Einführung der Cruise Missile durch die USA würde vermutlich die sowjetischen Fortschritte bei den SAMs (Boden-Luft-Raketen) und bei der Radartechnik aus der Vogelschau beschleunigen, damit aber auch die Verwundbarkeit der Fernbomber — einschließlich des vielgerühmten B-l. Deshalb ist auf Dauer gesehen das „billige" Vernichtungspotential der Cruise Missile eine Selbsttäuschung: Die unvermeidliche Verbesserung der sowjetischen Boden-Luft-Raketen und des sowjetischen Radars wird hohe amerikanische Ausgaben für Entwicklung und Entfaltung wirksamer Gegenmittel erfordern

Die Geschichte des Rüstungswettlaufs zeigt, daß sich die Sowjets gezwungen fühlen werden, es mit der amerikanischen Langstrekken-Cruise Missile aufzunehmen, wie sie sich ja auch veranlaßt sahen, ihre eigenen MIRVs zu entwickeln, obwohl die USA (zu spät) bei SALT I ihr Interesse an einer Begrenzung dieses Waffensystems darlegten. Eine solche sowjetische Reaktion wird dann wiederum die Vereinigten Staaten zwingen, sich entweder mit einer stärkeren Angriffsdrohung abzufinden oder gewaltige Summen aufzuwenden, um ihr Radarsystem zu verbessern und ein massives SAM-Netz aufzubauen, das beim gegenwärtigen Grad der Bedrohung durch die verhältnismäßig kleinen sowjetischen Bom-benflugzeuge und Kurzstrecken-Cruise Missiles für überflüssig gehalten wird. Da nun seit 1972 der ABM-Vertrag die Verteidigung durch antiballistische Flugkörper verbietet, wäre es für beide Seiten kostensparend und sicherer, sich auf die vorhandenen, mit MIRV ausgerüsteten ICBMs und SLBMs zu beschränken, statt in ein Wettrüsten mit Cruise Missiles und Anti-Cruise Missiles einzutreten, das schließlich nur die Sicherheit beider Lager verringern würde. Die Vereinigten Staaten täten besser daran, die Genauigkeit ihrer ballistischen Raketen zu verbessern, indem sie Elemente der Technologie vom Lenksystem der Cruise Missile für sie verwendeten. Da ballistische Raketenaufstellungen überprüfbar sind, können sie auch später leichter reduziert werden und wirken dementsprechend politisch stabilisierend.

Bei SALT I haben Amerikaner und Russen schließlich das Problem gemeistert, das durch die schwer zu überprüfenden MIRVs entstanden war; sie stimmten in der Annahme überein, daß sämtliche ICBMs und SLBMs, die sich dazu eigneten, bereits mit MIRV ausgestattet seien. Für die Cruise Missile dagegen läßt sich eine ähnliche Absprache nicht leicht finden, denn die Anzahl amerikanischer und sowjetischer Flugzeuge, die als Abschußvorrichtungen dienen könnten, ist so groß, daß eine Vereinbarung, die von der ungünstigsten Schätzung ausginge, zu einer absurd hohen Höchst-zahl führen würde.

IV.

Die Entwicklung der Cruise Missile kann aber nicht nur das sowjetisch-amerikanische Rüstungsgleichgewicht belasten und womöglich auch noch andere bilaterale Bemühungen um Waffenkontrolle verhindern, sie könnte auch die „horizontale" Verbreitung von Kernwaffen beschleunigen. Daß sich bis heute nicht mehr Länder um Kernwaffen bemüht haben, liegt zum Teil an den hohen Kosten für die Entwicklung zuverlässiger Abschußsysteme. Das wirksamste Mittel, einen Atom-Sprengkopf abzufeuern — die ballistische Langstrekken-Rakete — ist für die meisten Länder unerschwinglich, während wiederum die billigere Methode der Langstreckenbomber durch präventive Luft-Boden-Attacken und Luftverteidigung viel stärker gefährdet ist. Doch mit Cruise Missiles könnten sich schon bald wirksame und billige Abschußsysteme für viele Länder anbieten. Es wäre dann möglich, auf der Grundlage bereits publizierter Informationen über das US-System die Flugkörper selbst zu bauen — andere Länder würden sie vielleicht von US-Firmen kaufen. Hier sei angemerkt, daß die Hersteller mit großen Produktionszahlen rechnen, die natürlich kostensenkend wirken würden; die Produktion sei für unsere Verbündeten, einschließlich Israels, mitberechnet

Der Erwerb von Cruise Missiles durch Amerikas NATO-Verbündete würde deren gegenwärtiges nominelles Abschreckungspotential in eine aktuelle strategische Macht umwandeln. Wenn jedoch die Vereinigten Staaten die Verteidigung des Westens nicht mehr als ihr eigenes Interesse betrachteten, würde die bilaterale Struktur von SALT problematisch werden. Selbst wenn es möglich wäre, SALT auf eine multilaterale Ebene auszudehnen, würden doch die Verhandlungen so schwierig, daß kaum noch sinnvolle Begrenzungen zu erreichen wären. Noch erschreckender ist die Aussicht, daß die Cruise Missile die Nuklearwaffenverbreitung erleichtern und damit die Möglichkeit erhöhen würde, daß lokale Auseinandersetzungen auf die nukleare Stufe eskalieren, womit natürlich auch ein Engagement der Supermächte als Gefahr auftaucht.

Eine weitere Gefahr liegt in der Möglichkeit, mit Cruise Missiles strategische Angriffe mit konventionellen Sprengköpfen durchzuführen. Kleine Länder könnten also auch ohne Nuklearwaffen ein strategisches Potential erwerben. Auf diese Weise könnte die Cruise Missile zur Nemesis der Supermächte werden: Sie wären nicht mehr allein imstande, massive Zerstörung jenseits der Grenzen im Feindesland anzurichten. Die Cruise Missiles könnten tatsächlich die Begriffe „strategischer" und „nuklearer" Krieg voneinander trennen und damit das Abschreckungspotential der Atommächte verringern, das immerhin, zum Guten wie zum Schlechten, mehr als dreißig Jahre hindurch das Ausbrechen eines Weltkrieges verhindert hat.

V

Ein Antrag, den die Senatoren Kennedy, Humphrey und Javits am 25. Februar 1976 im amerikanischen Senat einbrachten, enthielt einen auf den ersten Blick überzeugenden Versuch zur Kontrolle der Cruise Missiles: Amerikaner und Sowjets sollten sich zu einem Stillhalteabkommen verpflichten, das Probeflüge von Cruise Missiles mit mehr als 375 Meilen Reichweite untersagte. Die Begründung: Wenn ein Langstrecken-Cruise Missile nicht getestet werde, könne auch ihre Zuverlässigkeit nicht erprobt werden, womit ihre Herstellung entfalle. Im Rückblick habe sich gezeigt, daß die Herstellung der MIRVs durch einen ähnlichen Versuchsstopp hätte verhindert werden können; die Innehaltung eines solchen Abkommens wäre auch ohne Inspektion an Ort und Stelle zu überprüfen gewesen.

Dennoch hatte der Vergleich mit einem Versuchsstopp für die MIRV zwei schwache Stellen. Erstens ist die neue Cruise Missile so klein, daß die Satellitenerkundung nicht zuverlässig feststellen kann, ob das Verbot auch beachtet wird; immerhin darf man natürlich annehmen, daß die pure Möglichkeit, bei einigen Versuchen „erwischt" zu werden, ein genügendes Vorbeugungsmittel gegen Betrug darstellt. Entscheidend ist aber der zweite Punkt: Bei der Cruise Missile gibt die Erprobung auf kurzen Strecken zuverlässige Auskunft über ihr Verhalten auf langen Strecken, denn das Lenksystem arbeitet unabhängig von der Entfernung, und der Motor ist eigentlich nichts anderes als ein verkleinerter und besonders leistungsfähiger Düsen-motor, ähnlich dem konventioneller Flugzeuge. Wenn man erst einmal festgestellt hat, daß die Rakete ein paar hundert Meilen fliegt, weiß man auch, daß sie mehrere tausend Meilen zurücklegen kann

Doch für Verhandlungen über die Reichweite ist es ohnehin zu spät. Das amerikanische Cruise-Missile-System ist schon weit fortgeschritten, die Testprogramme laufen, und in zwei bis drei Jahren wird die Waffe voll eingesetzt werden können. Die zweifache Reichweiten-Kapazität ist bereits in das System eingebaut und kann durch Verhandeln nicht mehr aus der Welt geschafft werden. Eine Übereinkunft — wie sie die Sowjets wünschen —, die nur die Reichweite der SLCM beträfe, wäre sinnlos, weil die ALMC und die SLCM fast die gleiche Technik für Antrieb und Lenksystem verwenden. Darüber hinaus erlaubt der Modellentwurf heutiger Waffensysteme, daß Motoren für größere Reichweiten irgendwo anders erprobt und später in die Cruise Missile eingebaut werden.

Es hieß, Präsident Ford sei geneigt gewesen, die Cruise Missile zu opfern, um die SALT II-Vereinbarungen noch vor der Präsidentenwahl unter Dach und Fach zu bekommen Doch im Pentagon ist der Widerstand gegen einen solchen Kurs groß, und größere Aussicht hat wohl die Möglichkeit, die Cruise Missile einfach aus einem SALT-II-Abkommen auszuklammern, das sich an die ursprünglichen Grenzen von Wladiwostok hält. Sollte das der Fall sein, wird die Neigung, die Cruise Missile 1978 oder 1979 in den Vereinigten Staaten einzuführen, unvermindert anhalten. Doch wenn eine strategische Waffe unkontrolliert 'bleibt oder für unkontrollierbar gehalten wird, verliert ein Erfolg bei SALT natürlich viel von seiner Bedeutung. Immer niedrigere Höchstgrenzen für interkontinentale ballistische Raketen, für vom Boden gestartete ballistische Raketen und strategische Bomber sind einigermaßen zweifelhaft, wenn beide Seiten sie durch Hunderte von billigen und fast ebenso wirksamen Cruise Missiles ausgleichen können. SALT wird dann den Rüstungswettlauf nicht verlangsamt, sondern ihn nur von den Mengen auf die Qualität abgelenkt haben.

Soll die Rüstungskontrolle künftig Sinn haben, muß SALT durch ein neues Rahmenwerk ersetzt werden, denn mit SALT kann die qualitative Verbesserung der Waffensysteme nicht wirksam erfaßt werden. Eine unilaterale amerikanische Entscheidung, die Entwicklung aufzuhalten oder auf die Einführung der Langstrecken-Cruise Missiles zu verzichten, könnte einem Wettlauf vorbeugen, der auf lange Sicht nur die amerikanische wie die sowjetische Sicherheit unterhöhlen müßte. Doch die Cruise Missile ist nur Vorbote einer revolutionären Richtung in der Waffentechnologie: Ihre ungewöhnlichen Fähigkeiten werden unvermeidlich übernommen (und vielleicht dabei übertroffen) werden von den künftigen Generationen der jetzigen Waffensysteme. Deshalb würde der unilaterale Verzicht auf die Cruise Missile im besten Fall nur die bevorstehende Krise in der Rüstungskontrolle hinausschieben. Die völlige Verwischung der Begriffe strategisch und taktisch, nuklear und konventionell ist nicht mehr aufzuhalten, es sei denn, man könnte den Wettlauf um die Qualität im Rüstungswesen sofort und wirksam beenden.

Doch das Problem wird kaum durch eine bilaterale sowjetisch-amerikanische Vereinbarung zu lösen sein, falls sie nicht gründliche Inspektionen an Ort und Stelle einschließt — mit denen sich Moskau niemals einverstanden erklärt, falls nicht ein grundsätzlicher Wandel des sowjetischen Systems eintreten sollte

Aber beide Seiten sollten ein Gefühl für die Folgen entwickeln, die ihre technologischen Fortschritte für die Rüstungskontrolle mit sich bringen. Die Vereinigten Staaten, allzuoft der Initiator neuer, noch tödlicher wirkender Technologien, müssen dabei den Anfang machen.

Ein erster Schritt zu unilateraler Beschränkung wäre die Einbeziehung von Rüstungskontrolleuren in die militärischen Planungsund Forschungsbürokratien. Schon auf den ersten Forschungsstufen einer neu konzipierten Waffentechnologie sollte eine Rüstungskontroll-Belastungs-Erklärung" abgegeben werden, genau so, wie man heute für neue Industrieprojekte eine Erklärung über die Umweltbelastung abzugeben hat. Auf diese Weise kann die Entscheidung, ob Forschung und Entwicklung eines neuen Systems fortgeführt werden sollen, nicht nur unter den Gesichtspunkten „Ist es technisch möglich?" und „Wird es militärisch nützlich sein?" getroffen werden. Als weitere wichtige Fragen stellen sich: „Wird das neue System die Stabilität des strategischen Abschreckungsgleichgewichts verbessern?" und „Wird es kontrollierbar sein auf der Grundlage realistischer, nämlich gegenseitig annehmbarer Voraussetzungen der Rüstungskontrollen?"

Darüber hinaus sollte man sich unilateral Beschränkungen auferlegen, wenn es um die militärische Einführung der neuen Technologien geht. Neue Systeme sollten nicht mehr als Tauschobjekte entwickelt werden, die dann, wenn die Rüstungskontroll-Verhandlungen zum Stillstand kommen oder zusammenbrechen, nicht mehr rückgängig gemacht werden können oder, noch schlimmer, vielleicht die Sicherheit dadurch beeinträchtigen, daß jeder flüchtige Vorsprung der einen Seite sofort von der anderen Seite ausgeglichen wird, bis unter hohen finanziellen Kosten eine allgemein strategische Unsicherheit entstanden ist. Eine stillschweigend akzeptierte Politik des „keine erste Einführung!" neuer Technologien ist vielleicht der einzige Weg, dem Wettrüsten mit gesteigerter Leistungsfähigkeit ein Ende zu machen. Und der technologisch Führende sollte auch der erste sein, diese Absicht zu demonstrieren.

Während also militärische und finanzielle Gründe für die Cruise Missile sprechen mögen, kann es aus der Sicht der Rüstungskontrolle keine Rechtfertigung für ihre Entwicklung geben. Unter diesem Gesichtswinkel müssen die Vereinigten Staaten erstens die Entwicklung der Cruise Missile einstellen und zweitens ihre Entschlossenheit verkünden, niemals diesen Geist aus der Flasche zu entlassen, so lange nicht die Sowjets mit der Einführung einer eigenen Langstrecken-Cruise Missile vorangehen. Schließlich sollte Washington eine Politik der unilateralen Beschränkung bei weiteren Entwicklungen neuer Waffentechnologie deklarieren, und es sollte versuchen, die Sowjets zu einem ebenso vernünftigen Vorgehen zu veranlassen. Man kann unmöglich beides haben wollen — Rüstungskontrolle und Wettrüsten durch gesteigerte Qualität.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Die physikalischen Eigenschaften und Möglichkeiten der Cruise Missile werden im einzelnen erörtert in Kosta Tsipsis, The Long-Range Cruise Missile, in: Bulletin of the Atomic Scientists, April 1975, S. 15— 26.

  2. Abschnitt V greift noch einmal die Frage der Entfernungsbegrenzungen für Cruise Missile und deren Tests auf.

  3. Richard Burt weist auf die Notwendigkeit hin, SALT und MBFR zu verbinden angesichts der durch die Cruise Missiles verursachten vollständigen Verwirrung der Begriffe. Siehe: The Cruise Missile and Arms Control, in: Survival, Januar/Februar 1976.

  4. Siehe: Aviation Week and Space Technology, 27. 1. 1975, S. 101 ff.; 24. 2. 1975, S. 19/20; 21. 4. 1975, S. 9 ff.; 25. 8. 1975, S. 14— 15; 15. 9. 1975, S. 52 ff.; hier finden sich Beispiele dieser Überlegungen.

  5. Siehe Tsipis, a. a. O., eine ausgezeichnete Darstellung der realen langfristig gesehenen Kosten über die Entwicklung und Anschaffung der Cruise Missile hinaus.

  6. Die Anforderungen an den Etat zur Entwicklung der Cruise Missile gründeten sich auf eine Kosten-schätzung, die entsprechende Exportverkäufe voraussetzte. Siehe: Aviation Week and Space Technology, 7. 7. 1975, S. 41.

  7. Das wurde am 27. 2. 1976 auf einer Pressekonferenz vorgebracht, die Fred Ikle, Leiter der Waffen-kontroll-und Abrüstungsagentur, abhielt, als der Kennedy-Humphrey-Javits-Antrag eingebracht wurde, den dann übrigens die heftige Opposition der Regierung zu Fall brachte.

  8. Der Ford-Plan hätte die Cruise Missile in die Höchstgrenze von Wladiwostok einbezogen, ohne die Zahl der Backfires zu begrenzen. Das einzige Zugeständnis, das Washington dann vielleicht verlangt hätte, wäre die Herabsetzung des Limits von 2 400 auf 2 300 oder gar 2 200 Startrampen gewesen. Washington Post, 9. 8. 1976, S. 23.

  9. Daß die Sowjets an Ort und Stelle vorgenommene Beobachtungen von friedlichen Kernexplosionen hingenommen haben — in dem vor kurzem unterzeichneten Treshold Test Ban Treaty —, darf nicht so verstanden werden, als zeige sich darin eine Änderung der sowjetischen Einstellung zu an Ort und Stelle vorgenommenen Inspektionen strategischer Programme.

Weitere Inhalte

Alexander R. Vershbow, Absolvent der Columbia University School of International Affairs und des Russian Institute; Mitarbeiter der Zeitschrift Foreign Affairs.