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Arbeitnehmerkammern und Wirtschafts-und Sozialräte als Instrumente gesamtwirtschaftlicher Mitbestimmung | APuZ 22/1977 | bpb.de

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APuZ 22/1977 Neue Formen der Kooperation im Betrieb. Selbstbestimmung und Beteiligung der Mitarbeiter Arbeitnehmerkammern und Wirtschafts-und Sozialräte als Instrumente gesamtwirtschaftlicher Mitbestimmung Die Rolle der Sozialpartner im Entscheidungssystem der Europäischen Gemeinschaften

Arbeitnehmerkammern und Wirtschafts-und Sozialräte als Instrumente gesamtwirtschaftlicher Mitbestimmung

Reinhard Schultz

/ 21 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Arbeitnehmerkammern und Wirtschafts-und Sozialräte können als Instrumente gesamtwirtschaftlicher Arbeitnehmer-Mitbestimmung angesehen werden — einer Mitbestimmung also, die über die seit langem auf Betriebs-bzw. Unternehmensebene praktizierte Mitbestimmung hinausgeht. Arbeitnehmerkammern existieren als öffentlich-rechtliche Körperschaften mit Zwangsmitgliedschaft aller Arbeitnehmer im Saarland und in Bremen. Sie stellen eine Art Gegenstück zu den Industrie-und Handelskammern dar. Die Gründung weiterer Arbeitnehmerkammern wird vor allem von politischen Kreisen der CDU/CSU gefordert. Von Gewerkschaftsseite wird dies überwiegend abgelehnt. Die Spitzenorganisationen der Gewerkschaften sehen in den Arbeitnehmerkammern eine Konkurrenzeinrichtung zu den Gewerkschaften, wenngleich über die bestehenden Arbeitnehmerkammern nur Positives berichtet wird, und zwar auch von den örtlichen Gewerkschaftsorganisationen im Saarland und in Bremen, die dort eng mit den Arbeitnehmer-kammern Zusammenarbeiten. Statt der Gründung weiterer Arbeitnehmerkammern verlangt der DGB die Schaffung eines Systems paritätisch von Arbeitnehmer-und Arbeitgeberseite besetzter Wirtschafts-und Sozialräte auf Bundes-, Landes-und Regionalebene. Diese Konzeption hat bisher bei den politischen Parteien so gut wie keine Unterstützung gefunden. Gegen die Wirtschaftsund Sozialräte wird vor allem vorgebracht, sie könnten sich zu einem nicht dem Wählerwillen unterworfenen Nebenparlament entwickeln und wegen der Paritätsregelung unter Umständen nur wenig fruchtbare Arbeit leisten. Zudem gäbe es in der Gesellschaft nicht nur Arbeitgeber-und Arbeitnehmerinteressen. Vermutlich werden in absehbarer Zeit weder die Arbeitnehmerkammern ausgebaut noch wird ein umfassendes System von Wirtschafts-und Sozialräten eingeführt werden. Die Diskussion um die Schaffung von Wirtschafts-und Sozialräten könnte allerdings an Gewicht gewinnen, wenn sich die vor allem als Folge der anhaltenden Arbeitslosigkeit erhobenen Forderungen nach einer zentralen Lenkung der Investitionen verstärken sollten.

Seit langem wird in der Bundesrepublik die Belegschafts-Mitbestimmung über den Betriebsrat und über die Beteiligung von Arbeitnehmervertretern im Aufsichtsrat sowie — im Montanbereich — über den Arbeitsdirektor im Vorstand praktiziert, und zwar in einer für den Arbeitnehmer im großen und ganzen wohl erfolgreichen Art und Weise Dennoch werden seit einiger Zeit von ganz unterschiedlichen Stellen verstärkt Forderungen erhoben, nun auch Mitbestimmungsregelungen zu schaffen, die über die Betriebs-und Unternehmensebene hinausgehen.

Soweit diese Forderungen von ökonomischen Überlegungen ausgehen — die auch in der vorliegenden Abhandlung im Mittelpunkt stehen —, werden sie zumeist mit dem Hinweis begründet, der Aktionsspielraum der betriebs-und unternehmensbezogenen Mitbestimmung sei wegen der allgemeinen Abhängigkeit der Unternehmen vom Markt relativ eng, d. h., die Mitbestimmungsträger hätten sich bei der Wahrnehmung ihrer Mitbestimmungsfunktion letztlich immer den vom Markt vorgegebenen Daten zu fügen. Es sei im Grunde nur eine Reaktion auf das Marktgeschehen und keine Aktion zur Verhinderung unangenehmer Wirkungen des Marktes möglich. Sieht man einmal von dem Sonderfall ab, daß bestimmte Unternehmen innerhalb gewisser Grenzen durchaus selbst Marktdaten setzen können, an denen die Mitbestimmungsträger im Regelfall auch mitwirken, ist der vorstehenden Argumentation prinzipiell zuzustimmen.

Zum Teil sind die Impulse zur Schaffung von Mitbestimmungsmöglichkeiten auf überbetrieblicher oder gesamtwirtschaftlicher Ebene zweifellos auf die Arbeitslosigkeit der letzten Zeit zurückzuführen, die mit den herkömmlichen wirtschaftspolitischen Mitteln bisher nur recht unbefriedigend bekämpft werden konnten.

Die überbetrieblichen Mitbestimmungsvorstellungen sind darauf ausgerichtet, die Lenkung der Wirtschaft zu ändern bzw. erheblich zu beeinflussen, wodurch in starkem Maße Grundfragen der bestehenden Wirtschaftsund Gesellschaftsordnung berührt werden. An Instrumenten gesamtwirtschaftlicher Mitbestimmung werden vornehmlich genannt: 1. die in einigen Bundesländern vorhandenen Arbeitnehmerkammern, deren Einrichtung von bestimmten politischen Kräften auch in anderen Bundesländern verlangt wird, 2. die vom DGB geforderten Wirtschafts-und Sozialräte, 3. die Investitionslenkung, 4. die Vergesellschaftung und 5. die staatliche Preiskontrolle. Die Komplexität der überbetrieblichen Mitbestimmung läßt es nicht zu, in der vorliegenden Abhandlung auf alle genannten Instrumente einzugehen. Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich vielmehr auf die Arbeitnehmerkammern und die Wirtschafts-und Sozialräte. Der Informationsstand über diese beiden Instrumente ist in der Öffentlichkeit außerordentlich gering. Deshalb sollen die Strukturen, Funktionsweisen und grundsätzlichen Probleme der Arbeitnehmerkammern und der Wirtschafts-und Sozial-räte nachstehend aufgezeigt werden.

Arbeitnehmerkammern gibt es bisher nur im Saarland und in Bremen. Es sind aber — wie erwähnt — Bestrebungen im Gange, auch in anderen Bundesländern diese Einrichtungen zu schaffen. Im Ausland existieren Arbeitnehmerkammern in Luxemburg und Österreich.

Die Arbeits-oder Arbeitnehmerkammern haben eine gewisse Verwandtschaft mit den Gewerkschaften. Auch sie sind Interessenvertretungen der Arbeitnehmer. Geführt werden die beiden deutschen Arbeitnehmerkammern in der Rechtsform der Körperschaft öffentlichen Rechts. Sie unterliegen damit der Staatsaufsicht — anders als die Gewerkschaften, die als nichtrechtsfähige Vereine geführt werden. Den Arbeitnehmerkammern gehören die in den betreffenden Ländern wohnenden oder beschäftigten Arbeitnehmer automatisch als Mitglieder an, d, h., es besteht eine Zwangs-mitgliedschaft, Zur Erfüllung ihrer Aufgaben erheben die Arbeitnehmerkammern von den Arbeitnehmern Beiträge. Die Arbeitgeber sind verpflichtet, die Beiträge vom Lohn bzw. Gehalt einzubehalten und an die Arbeitnehmerkammern abzuführen.

Entstanden sind die beiden deutschen Arbeitnehmerkammern in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts. Zur Entstehungsgeschichte wird auf die Untersuchung von Jürgen Peters, Arbeitnehmerkammern in der BRD? verwiesen. In der NS-Zeit wurden die Arbeitnehmer-kammern aufgelöst. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben sie ihre Arbeit wieder aufgenommen. Anders als in Bremen war die Arbeitskammer des Saarlandes ursprünglich paritätisch mit Arbeitnehmern und Arbeitgebern besetzt. Weil „die Meinungsbildung in der paritätisch besetzten alten Arbeitskammer der zwanziger Jahre außerordentlich schwierig war und die Kammerarbeit lähmte" wird sie seit dem Zweiten Weltkrieg — wie in Bremen — als reine Arbeitnehmerkammer geführt.

Zu den Aufgaben der Arbeitnehmerkammern sei beispielhaft das Gesetz Nr. 846 über die Arbeitskammer des Saarlandes vom 5. Juli 1967 zitiert. Es heißt dort in § 1: „(1) Die Arbeitskammer des Saarlandes hat die Aufgabe, als öffentlich-rechtliche Vertretu Juli 1967 zitiert. Es heißt dort in § 1: „(1) Die Arbeitskammer des Saarlandes hat die Aufgabe, als öffentlich-rechtliche Vertretung der Arbeitnehmer gemäß Artikel 59 der Verfassung des Saarlandes die allgemeinen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Interessen der Arbeitnehmer wahrzunehmen und die auf die Hebung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Lage der Arbeitnehmer abzielenden Bestrebungen zu fördern. (2) Die Arbeitskammer des Saarlandes hat durch Vorschläge, Gutachten und Berichte die Regierung des Saarlandes, Behörden, Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts und selbständige Vereinigungen von Arbeitnehmern mit sozial-oder berufspolitischer Zwecksetzung zu unterstützen sowie zu beraten und dabei das Allgemeinwohl zu berücksichtigen. (3) Die Arbeitskammer des Saarlandes kann mit Zustimmung der Aufsichtsbehörde Einrichtungen, die der Förderung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Interessen der Arbeitnehmer dienen, gründen, unterhalten und unterstützen."

Nach Zacher 4) zeichnet sich der durch die Gesetzgebung in Bremen und im Saarland geprägte herkömmliche Typ deutscher Arbeitskammern vor allem dadurch aus, daß die Arbeitskammer — alle Arbeitnehmer eines bestimmten Gebietes im Wege der Zwangsmitgliedschaft erfaßt, — vor allem die Interessen der Arbeitnehmer gegenüber dem Staat, den anderen Trägern öffentlicher Aufgaben und der Öffentlichkeit artikuliert und vertritt, aber auch durch Einrichtungen und Dienstleistungen zugunsten der Arbeitnehmer fördert, — die Arbeitnehmer weder im Bereich von Tarifordnung, Arbeitskampf und Schlichtung noch im Bereich der betrieblichen Ordnung und Mitbestimmung organisiert und repräsentiert,

— ihre Aufgaben grundsätzlich ohne Eingriffsbefugnisse erfüllt, — als Körperschaft des öffentlichen Rechts mit dem Recht der Selbstverwaltung ausgestattet ist, unter der Aufsicht des Staates steht, dienstherrnfähig ist und sich aus Beiträgen der Arbeitnehmer finanziert.

Weil „die Tätigkeit der Arbeitnehmerkammern, deren gesellschaftspolitischer Standort im DGB umstritten ist, sowohl von Kammer-mitgliedern als auch von außenstehenden Beobachtern positiv beurteilt wird" 5), gibt es immer wieder Bestrebungen, weitere Arbeitnehmerkammern einzurichten. Schon im Jahre 1911 wurden im Reichstagswahlaufruf der SPD reine Arbeiterkammern gefordert.

Nach dem von der CDU im Jahre 1968 vorgelegten Berliner Aktionsprogramm soll die überbetriebliche Mitbestimmung der Arbeitnehmer im sozial-wirtschaftlichen Bereich durch Arbeitnehmerkammern wahrgenommen werden. Auch auf ihrem Bundesparteitag in Düsseldorf 1971 hat sich die CDU auf die Schaffung von Arbeitnehmerkammern festgelegt. Gefordert wird diese Institution insbesondere von dem Arbeitnehmerflügel der CDU, den Sozialausschüssen der Christlich Demokratischen Arbeitnehmerschaft.

Ebenfalls im Jahre 1971 ist der CDU-Bundestagsabgeordnete Theodor Blank mit einem entsprechenden Gesetzentwurf an die Öffentlichkeit getreten. „Danach sollen in den Bundesländern Arbeitskammern errichtet werden, die in einem Bundesarbeitskammertag zusammengefaßt werden sollen. Diese Kammern werden, so Blank, da , die Gewerkschaften die Vertretung der Arbeitnehmerschaft im öffentlich-rechtlichen Bereich nicht allein wahrnehmen können', Landesregierungen und Parlamente, Behörden und Körperschaften beraten, sich an Planung, Planungsfragen und Bildungsaufgaben beteiligen und damit die Forderung des Deutschen Gewerkschaftsbundes ersetzen, Wirtschafts-und Sozialräte zu bilden."

Auch auf der 3. Fachkonferenz Arbeitskammer, die von der Akademie für Politik und Zeitgeschehen der Hanns-Seidel-Stiftung e. V., München, in Verbindung mit der Bundesarbeitsgemeinschaft Arbeitskammern Mitte 1972 veranstaltet wurde, wurden erneut Arbeitskammern für alle Bundesländer gefordert. Das „Handelsblatt" meinte, daß es in absehbarer Zeit nicht zu neuen Gründungen von Arbeitskammern kommen dürfte und führte weiter aus: „Der baden-württembergische Ministerpräsident Filbinger hatte wie der rheinland-pfälzische Regierungschef Helmut Kohl in seiner Regierungserklärung die Errichtung von Arbeitskammern angekündigt. Aufgrund des massiven Widerstandes des zuständigen DGB-Landesbezirkes will das baden-württembergische Sozialministerium jedoch auf die Einbringung eines entsprechenden Gesetzentwurfes verzichten. Auch in Rheinland-Pfalz sind die Pläne für die Gründung von Arbeitskammern auf Eis gelegt worden." Im Bayerischen Landtag gab es zeitweilig ebenfalls Überlegungen, eine Arbeitskammer zu errichten. Der im Dezember 1974 in Husum veranstaltete Landesparteitag der Schleswig-Holsteinischen CDU hat in das Landes-Wahlprogramm den Passus aufgenommen, daß die CDU die überbetriebliche Mitbestimmung im sozialwirtschaftlichen Bereich durch Arbeitnehmer-Kammern sichern werde. Ministerpräsident Stoltenberg hatte sich gegen diesen Antrag ausgesprochen. Die Annahme des Antrags wurde in Husum als „kleine Sensation" empfunden, berichtete die WELT am 16. Dezember 1974.

Die SPD und FDP haben sich — soweit ersichtlich — ebenso wie die Bundesregierung bisher nicht offiziell zur Frage der Arbeitskammern geäußert. Peters meint, daß in der Diskussion um die Errichtung von Arbeitnehmerkammern in der Bundesrepublik nicht selten der Umstand ausschlaggebend zu sein scheine, daß an sich begrüßenswerte Vorschläge von der „falschen Seite“ gemacht würden, und er fährt fort: „Dieser Verdacht drängt sich einem bei der Lektüre der Sitzungsprotokolle der DGB-Kommission zur Prüfung des Arbeitskammerproblems aus den Jahren 1970 und 1971 auf. Selten wurden die Vorzüge der Arbeitskammern plastischer dargestellt, als es in diesen Papieren geschehen ist. Um so erstaunlicher der , salto mortale', mit dem die Kommission schließlich doch zur Ablehnung der Kammern gelangt. Sie tut dies um den Preis einiger Ungereimtheiten und Widersprüchlichkeiten in der Beweisführung". G. A. Friedl äußert sich ähnlich: „Wenn man die Sitzungsprotokolle der , DGB-Kommission zur Prüfung des Arbeitskammerproblems'aus den Jahren 1970/71 nachliest, dann ist es geradezu überraschend, wieviel Positives in diesem vertraulichen DGB-Kreis über die Einrichtung öffentlich-rechtlicher Kammern als zweite Säule der ArbeitnehmerVertretung-neben den Gewerkschaften vorgebracht worden ist."

Der DGB hat auf dem 9. Ordentlichen Bundeskongreß 1972 in Berlin, als er die Forderung nach Wirtschafts-und Sozialräten erhob, die Schaffung von Arbeitnehmerkammern nachdrücklich abgelehnt. Auch in seinen Forderungen zur Bundestagswahl 1976 verlangte der DGB in seinen „Prüfsteinen" den Verzicht auf alle Initiativen zur Errichtung von Arbeitnehmerkammern. Die Gewerkschaften sehen in den Arbeitnehmerkammern im allgemeinen eine Konkurrenzeinrichtung, die nach ihrer Meinung zur Zersplitterung der Interessen-wahrnehmung und damit zur Schwächung der Gewerkschaften führen könnte.

Bei der ablehnenden Haltung werden zwei Dinge nicht genügend berücksichtigt: Erstens die Tatsache, daß die Arbeitnehmerkammern die Gewerkschaften finanziell erheblich entlasten könnten (zum Beispiel auf dem Bildungssektor) und zweitens der Sachverhalt, daß die Gewerkschaften in den bestehenden Arbeitnehmerkammern eine dominierende Rolle spielen. So heißt es beispielsweise in einer Veröffentlichung der Arbeiterkammer Bremen (in Bremen gibt es je eine Arbeiter-und Angestelltenkammer) „Obwohl nach dem Willen des Gesetzgebers die Kammer die Interessen der Arbeitnehmer unter Berücksichtigung des Allgemeinwohls wahrzunehmen und zu fördern hat, ist durch die Besetzung der Organe gewährleistet, daß der Deutsche Gewerkschaftsbund und auch die Einzelgewerkschaften ihre Vorstellungen über die Kammer verwirklichen, zumindest sie aber den entscheidenden öffentlichen Gremien übermitteln können." Dies hat auch das Bundesverfassungsgericht in seiner noch näher auszuführenden Arbeitnehmerkammer-Entscheidung vom 18. Dezember 1974 mit folgenden Worten bestätigt: „In beiden Ländern hat sich zwischen Gewerkschaften und den Arbeitnehmerkammern eine befriedigende Arbeitsteilung entwickelt; die grundsätzlich ablehnende Haltung der Spitzenorganisation hindert nicht, daß die örtlichen Gewerkschaftsorganisationen mit den Kammern ohne Anstände zusammenarbeiten; wie sie auch ihre Wiedererrichtung nach dem Kriege begrüßt und gefördert haben."

Der DGB-Bundesausschuß — das höchste Organ zwischen den DGB-Bundeskongressen — hat in seiner Sitzung vom 3. März 1971, in der er das Konzept der Wirtschafts-und Sozialräte aufstellte, vor allem folgende Argumente gegen die Arbeitnehmerkammern ins Feld geführt Die möglichen Aufgaben der Arbeitnehmerkammern „unterscheiden sich in nichts vom Tätigkeitsbereich der Gewerkschaften. .. Diese Aufgaben sind bisher von den Gewerkschaften durchaus befriedigend gelöst worden. .. Die Bereitwilligkeit zum demokratischen Engagement wird bedroht, wenn Arbeitnehmerkammern einen Teil der Gewerkschaftsaufgaben übernehmen. Daraus ergibt sich für die Gewerkschaften ferner die Gefahr einer Mitgliederstagnation und damit eines Beitragsrückgangs (der Kammerbeitrag ist ohnehin wesentlich geringer als der Gewerkschaftsbeitrag; dennoch ist aber der ge-werkschaftliche Organisationsgrad in Bremen und im Saarland, wo es Arbeitnehmerkammern gibt, beachtlich höher als in den übrigen Bundesländern, R. S.). Schließlich bleibt die grundsätzliche Problematik ungelöst, daß die von den Gewerkschaften erwirkten Vorteile im selben Maße wie bisher auch den Nichtorganisierten zugute kommen, die Erringung dieser Vorteile aber allein durch die ideellen und finanziellen Opfer der Organisierten ermöglicht wird... Die Arbeitnehmer-kammern sind an den machtausübenden Institutionen vorbei konstruiert. Es ist weder gewährleistet, daß Arbeitnehmerkammern gegenüber den staatlichen Institutionen wirksam werden können, noch daß der heute unkontrollierte Einfluß der Unternehmenskammern (= die ebenfalls als Körperschaften des öffentlichen Rechts geführten Industrie-und Handelskammern und Handwerkskammern, R. S.) auch nur geringfügig verringert wird. Arbeitnehmerkammern bieten keinen Ansatzpunkt für eine gesamtwirtschaftliche Mitbestimmung. Bei divergierenden Ansichten von Arbeitnehmerkammern und Gewerkschaften würde die Stellungnahme einer Arbeitnehmerkammer in der Öffentlichkeit stärker gewichtet werden, weil sie als öffentlich-rechtliche Institution wirkt. Ihre Haltung würde als objektiv, eine abweichende Haltung der Gewerkschaften als subjektiv verzerrt betrachtet werden Dies würde die auf freiwilliger Mitgliedschaft beruhenden Gewerkschaften nicht unerheblich diskriminieren. .. Die Gewerkschaften sind prinzipiell offen für alle Arbeitnehmer; sie vertreten gemäß dem Prinzip der Repräsentation die Interessen der gesamten Arbeitnehmerschaft, ausgehend von der grundsätzlich gleichen Interessenlage aller Arbeitnehmer."

Bei dem zuletzt genannten Argument, die Gewerkschaften seien die Interessenvertretung aller Arbeitnehmer, muß bedacht werden, daß es gewerkschaftliche Betrebungen gibt, die Erfolge gewerkschaftlicher Aktivität nur den Mitgliedern zukommen zu lassen, und daß lediglich knapp 39 Prozent der Arbeitnehmer in der Bundesrepublik gewerkschaftlich organisiert sind. Nicht ganz überzeugend ist auch die Behauptung, die Arbeitnehmerkammern hätten überhaupt keinen Ansatzpunkt für eine gesamtwirtschaftliche Mitbestimmung. Jedenfalls stellt sich die Frage, ob die von den Gewerkschaften anstelle der Arbeitnehmerkammern geforderten Wirtschafts-und Sozialräte effektiver wären.

Das Bundesverfassungsgericht hat am 18. Dezember 1974 entschieden, daß die Arbeitnehmerkammern in Bremen und im Saarland mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Die Arbeitnehmerkammern seien in beiden Ländern wesentliche, organisch gewachsene Bestandteile der Sozialverfassung. Das Gericht hat damit zwei Verfassungsbeschwerden zurückgewiesen, die sich gegen die landesrechtlich begründete Zwangsmitgliedschaft und den Zwangsbeitrag richteten.

Im einzelnen führte das Bundesverfassungsgericht aus: „Die Kammerarbeit ist immer auf das Ganze von Staat und Gesellschaft bezogen, nicht auf einen sozialen . Gegner'. . . Sieht man die Aufgaben der Arbeitnehmer-kammern so, dann wird ihnen trotz der auf dem Gebiet der freien Interessenwahrnehmung unzweifelhaft bestehenden Konkurrenz mit den Gewerkschaften die Daseinsberechtigung nicht völlig abgesprochen werden können." Das wichtigste Tätigkeitsfeld der Gewerkschaften, nämlich der eigentliche „Kernbereich" verfassungsrechtlich garantierter koalitionsgemäßer Tätigkeit — die Regelung der Löhne und Arbeitsbedingungen —, bleibe von einer Konkurrenz der Arbeitnehmerkammern unberührt, so daß sich schon deshalb nicht von einer Existenzgefährdung der Gewerkschaften durch die Arbeitnehmerkammern sprechen lasse.

Das Bundesverfassungsgericht hat nicht abschließend zu der Frage Stellung genommen, ob auch neue Arbeitnehmerkammern grundsätzlich erlaubt wären. Es hat diese Frage ausdrücklich offengelassen, aber hinzugefügt: „möglicherweise käme hier dem Einwand der . Überflüssigkeit'größeres Gewicht zu"

Zu Recht weist das Bundesverfassungsgericht darauf hin, daß es wohl in erster Linie wegen der ablehnenden Haltung der Gewerkschaften bisher nirgends zu gesetzlichen Maßnahmen zur Schaffung weiterer Arbeitnehmerkammern gekommen sei, und daß verfassungsrechtliche Gesichtspunkte in der Diskussion um diese Frage nur eine untergeordnete Rolle spielten. Weil sich an der ablehnenden Haltung der Gewerkschaften vermutlich in absehbarer Zeit nichts ändern wird, sind ernstere Schritte zur Einführung weiterer Arbeitnehmerkammern vorerst kaum zu erwarten. Allerdings dürften dieselben geringen Realisierungschancen auch für die vom DGB anstelle der Arbeitnehmerkammern geforderten, nunmehr zu behandelnden Wirtschaftsund Sozialräte bestehen.

Eingeleitet wird die am 3. März 1971 vorgelegte Konzeption der paritätisch von Arbeitnehmer-und Arbeitgeberseite besetzten Wirtschafts-und Sozialräte mit den Worten: „Die gesamtwirtschaftliche Mitbestimmung soll sicherstellen, daß die Interessen der Arbeitneh-Der 9. Ordentliche DGB-Bundeskongreß im Jahre 1972 hat den DGB-Bundesvorstand beauftragt, umgehend den Entwurf eines Bundesrahmengesetzes über die Errichtung von Wirtschafts-und Sozialräten als Organe der gesamtwirtschaftlichen Mitbestimmung auszuarbeiten und an den Gesetzgeber weiterzuleiten. Diesen Auftrag hat der DGB-Bundes-vorstand bisher nicht erfüllt. Daher beziehen sich die folgenden Ausführungen auf die vom DGB-Bundesausschuß am 3. März 1971 einstimmig beschlossene Grundkonzeption zur Mitbestimmung der Arbeitnehmer im gesamtwirtschaftlichen Bereich, mit der Wirtschaftsund Sozialräte gefordert werden. Aus diesem Konzept, das bei Otto und in den „Gewerkschaftlichen Monatsheften" abgedruckt ist, wird im folgenden zitiert. Es deckt sich in wesentlichen Punkten mit den am 14. April 1950 vom DGB-Bundesausschuß beschlossenen Vorschlägen zur Neuordnung der deutschen Wirtschaft. Ansätze des überbetrieblichen Mitbestimmungskonzepts finden sich auch schon in dem von Fritz Naphtali im Jahre 1928 im Auftrage des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes herausgegebenen Buches „Wirtschaftsdemokratie". mer zum Bestandteil einer vorausschauenden und planmäßigen Wirtschaftspolitik werden." Vorgesehen sind auf Bundesebene ein Bundeswirtschafts-und Sozialrat, auf Länderebene Landeswirtschafts-und Sozialräte und auf unterer Ebene regionale Wirtschaftsund Sozialräte.

Zu den Aufgaben des 120 bis 160 Mitglieder umfassenden Bundeswirtschafts-und Sozialrates heißt es: „Der Bundeswirtschafts-und Sozialrat ist im Rahmen seiner Aufgaben und der formalen Zuständigkeitsabgrenzungen zuständig für die gesamte Wirtschafts-und Sozialpolitik, einschließlich der Finanz-, Steuer-und Verkehrspolitik... Er ist berechtigt, zu jeder Frage, die in seinen Zuständigkeitsbereich fällt, Stellungnahmen abzugeben... Bundesregierung und Bundesminister sind verpflichtet, den Bundeswirtschafts-und Sozial-rat zu informieren und ihm rechtzeitig Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben, wenn rechtliche Regelungen vorbereitet werden, deren Gegenstand in den Zuständigkeitsbereich des Bundeswirtschafts-und Sozialrates fällt".

Der Bundeswirtschafts-und Sozialrat besitzt das Recht der Gesetzesinitiative gegenüber den gesetzgebenden Körperschaften. Seine Mitglieder werden für die Dauer von vier Jahren vom Bundespräsidenten bestellt, und zwar auf Vorschlag der Spitzenorganisationen der Gewerkschaften und der Arbeitgeberverbände. Aufgaben und Struktur der 40 bis 100 Mitglieder starken Landeswirtschafts-und Sozialräte sind ähnlich denen des Bundeswirtschafts-und Sozialrates.

Die aus etwa 20 Personen bestehenden regionalen Wirtschafts-und Sozialräte sind insbesondere für die regionale Strukturplanung und Strukturpolitik (vor allem: Raumordnung, Verkehrsplanung, Siedlungs-und Wohnungsbaupolitik, Industrieansiedlung, Energiewirtschaft, Wasserversorgung, Müll-und Abwasserfragen) und für die berufliche Bildung zuständig. Sie sollen die berufliche Bildung von den bisherigen Kammern übernehmen. „Die bisherigen Unternehmenskammern (Industrie-und Handelskammern, Handwerkskammern, R. S.) verlieren ihren öffentlich-rechtlichen Status, einschließlich der Zwangsmitgliedschaft. Sie können jedoch als private Vereinigungen der Unternehmer fortbestehen. Diejenigen Aufgaben der Kammern, die im öffentlichen Interesse liegen und nicht den regionalen Wirtschafts-und Sozialräten übertragen werden, sind der öffentlichen Kommunalverwaltung zuzuweisen; damit wird zugleich eine Stärkung des Gedankens der kommunalen Selbstverwaltung erreicht. Die Kammer-aufgaben, die ausschließlich dem privaten Interesse der Wirtschaft dienen, werden künftig von den Wirtschaftsverbänden wahrgenommen. Auf diese Weise wird endlich die bei den Kammern bisher vorhandene Verquikkung von privaten Kapitalinteressen und öffentlichen Aufgaben beseitigt."

Die Finanzierung der regionalen Wirtschaftsund Sozialräte soll durch eine gestaffelte Umlage der Kosten auf die Unternehmen erfolgen. Die Landeswirtschafts-und Sozialräte und der Bundeswirtschafts-und Sozialrat erhalten die für ihre Arbeit erforderlichen Mittel aus den öffentlichen Haushalten.

Der DAG-Vorsitzende Hermann Brandt hat Anfang 1973 in einem Rundfunk-Interview vorgeschlagen, die im Stabilitätsgesetz von 1967 geregelte „Konzertierte Aktion" zu einem Wirtschafts-und Sozialrat zu erweitern. Er meinte, die Gespräche der „Konzertierten Aktion" hätten bisher darunter gelitten, daß sie nur auf die konjunkturelle Situation ausgerichtet gewesen seien. Ein Wirtschafts-und Sozialrat auf Bundesebene hätte dagegen auch alle großen Fragen der Gesellschaftspolitik aufzugreifen.

Zu dem vorstehend skizzierten System von Räten stellen sich zwei grundsätzliche Fragen: 1. Lassen sich die vorgesehenen Funktionen der Wirtschafts-und Sozialräte hinreichend von der umfassenden Kompetenz der gewählten Parlamente abgrenzen oder ist zu befürchten, daß die Räte im Laufe der Zeit einen Großteil der eigentlichen Aufgaben der Legislative übernehmen und damit Parlamente und Regierungen schwächen? Dabei ist auch zu beachten, daß solche „Nebenparla-mente" nicht dem Votum der Wähler unterlägen. Darüber hinaus ist 2. zu fragen, wie paritätisch besetzte Gremien in Pattsituationen — die bei sehr konträren und komplexen Sachgegenständen nicht auszuschließen sind — fruchtbare Arbeit leisten können. In einer vom DGB-Bundesvorstand herausgegebenen Veröffentlichung heißt es in diesem Zusammenhang: „Wenn sich die beiden Seiten nicht einigen, dann kann jede Gruppe ihre eigene Stellungnahme abgeben." Beachtenswert ist ferner die Tatsache, daß es in einer entwickelten Gesellschaft nicht nur Kapitaleignerund Arbeitnehmerinteressen gibt.

Wohl nicht ganz aus der Luft gegriffen ist die gelegentlich geäußerte Befürchtung, die Schaffung eines vielgliederigen Systems von Wirtschafts-und Sozialräten könnte immer weitere Räte nach sich ziehen und letztlich in einen längst überwunden geglaubten Stände-staat münden. Nicht zu übersehen ist auch, daß das Modell der Wirtschafts-und Sozialräte Züge eines allgemeinen Rätesystems enthält, wenngleich auch nicht in der extremen Form, wie sie beispielsweise von Andre Gorz und Ernest Mandel vertreten werden.

Ein wichtiges Element des allgemeinen Räte-gedankens kommt deutlich darin zum Ausdruck, daß nach den Vorstellungen des DGB-Bundesvorstands die Wirtschafts-und Sozialräte öffentlich tagen. Wörtlich heißt es: „Gewerkschaftsvertreter erhalten volle Informationen und diskutieren ihre Vorschläge öffentlich mit den Unternehmervertretern ... Dann ... wird deutlich, welche beiden Grund-interessen in unserer Gesellschaft vorhanden sind... Da die Arbeit öffentlich geschieht, wird zu allen wichtigen Fragen eine breite Diskussion möglich sein. Die Kollegen in den Betrieben, die Vertrauensleute, die Betriebsräte, die Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsräten können sich für die strukturpolitischen Probleme engagieren. Dann fällt es den Gewerkschaftsvertretern im Regionalen Wirtschafts-und Sozialrat leichter, Alternativvorschläge auszuarbeiten und sie den staatlichen Entscheidungsgremien vorzulegen."

Auf der 15. DGB-Bundeshandwerkstagung im Februar 1976 in Saarbrücken hat der DGB-Vorsitzende Vetter erneut darauf aufmerksam gemacht, daß die Wirtschafts-und Sozialräte lediglich Konsultations-und Initiativrechte erhalten und keine Entscheidungen treffen sollen, weshalb ein Eingriff in die Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten von Parlamenten und Regierungen nicht gegeben sei. Vetter meinte dann weiter: „Die Wirtschaftsund Sozialräte auf der Ebene der Länder und des Bundes sollen dafür sorgen, daß politische Organe im Vorfeld ihrer Entscheidungen nicht unkontrolliertem und undurchsichtigem Druck ausgesetzt sind. Die Wirtschafts-und Sozialräte sollen vielmehr die Einrichtungen sein, in denen die Grundinteressen unserer Gesellschaft in aller Öffentlichkeit aufeinandertreffen."

In den Medien wird gelegentlich die Frage gestellt, ob die Forderung des DGB nach Schaffung von Wirtschafts-und Sozialräten wirklich auf grundsätzlichen Erwägungen zur Neugestaltung der Wirtschafts-und Gesellschaftsordnung beruht oder mehr eine DGB-Abwehrhaltung gegen andere ihm unangenehme Bestrebungen darstellt. Auf dem DGB-Bundeskongreß 1969 hatte sich gezeigt, daß unter den Delegierten in der Frage einer gesamtwirtschaftlichen Mitbestimmung in Form von Wirtschafts-und Sozialräten keine Übereinstimmung herrschte. Es gab auf diesem Kongreß gewichtige Stimmen, die statt der Wirtschafts-und Sozialräte die schon in Bremen und im Saarland bestehenden Arbeitnehmerkammern ausbauen, d. h. auf andere Länder übertragen wollten. Auch die gewerkschaftlichen Mitbestimmungssachverständigen hatten im Jahre 1967 ein überbetriebliches Mitbestimmungsmodell diskutiert, das nach Otto stark vom Arbeitnehmerkammer-Gedanken geprägt war.

Der Mitte September 1974 durchgeführte Gewerkschaftstag der IG Metall hatte die Erwartung ausgesprochen, daß der DGB bis zum DGB-Bundeskongreß im Mai 1975 den Entwurf eines Bundesrahmengesetzes über die Errichtung von Wirtschafts-und Sozialräten als Organe der gesamtwirtschaftlichen Mitbestimmung ausarbeitet. Dabei hatte der IG-Metall-Gewerkschaftstag hinzugefügt: „Mit der Errichtung von Wirtschafts-und Sozialräten werden die Industrie-und Handelskammern sowie die Handwerkskammern aufgelöst." Der DGB-Bundeskongreß 1975 hat sich mit den Wirtschafts-und Sozialräten nicht näher befaßt. Der Entwurf eines Bundesrahmengesetzes lag nicht vor. Der Kongreß hat lediglich erneut die Einrichtung solcher Räte verlangt und betont, daß die Fortentwicklung des Kammerwesens zum Beispiel durch paritätische Besetzung der bestehenden Unternehmerkammern für die Gewerkschaften nicht annehmbar sei. Der DGB-Vorsitzende Vetter meinte in seinem Grundsatzreferat auf dem DGB-Bundeskongreß, die Wirtschafts-und Sozialräte könnten einen wesentlichen Beitrag zur Erfüllung der vom DGB geforderten Investitionslenkung leisten. Weiter führte er aus: „Bis jetzt aber hat der Gesetzgeber keine Initiative ergriffen, um die von uns geforderten neuen Institutionen zu errichten. So konnte eine vernünftige Möglichkeit, nämlich die der gesamtwirtschaftlichen Mitbestimmung zur Lösung von Konflikten in Wirtschaft und Gesellschaft, bisher nicht wahrgenommen werden."

In den Forderungen (Prüfsteinen) des DGB zur Bundestagswahl 1976 wurde ebenfalls die Errichtung paritätisch zusammengesetzter Wirtschafts-und Sozialräte verlangt. Gefordert wurde in den „Prüfsteinen" auch die Einführung der paritätischen Mitbestimmung der Arbeitnehmer in den Handwerkskammern, was zu den eben zitierten Ausführungen des DBG-Vorsitzenden Vetter auf dem DGB-Bundeskongreß 1975 in gewissem Widerspruch steht. Der Vorstand des DGB Hamburg hat im Dezember 1976 als ersten Schritt zur Durchsetzung der gewerkschaftlichen Forderung nach Wirtschafts-und Sozialräten vom Hamburger Landesparlament die Schaffung eines 20köpfigen paritätisch besetzten Hafenrates gefordert. Mit dieser Initiative solle ein neuer Vorstoß für die Verwirklichung der überbetrieblichen Mitbestimmung gemacht werden, hieß es in einer Pressemitteilung vom 14. Dezember 1976.

Sieht man einmal von dem Beschluß des Landesparteitages der Schleswig-Holsteinischen SPD im September 1975 ab, Wirtschafts-und Sozialräte zur Durchführung der Investitionslenkung einzurichten, so hat die gewerkschaftliche Forderung nach Schaffung von Wirtschafts-und Sozialräten bei den im Bundestag vertretenen Parteien bisher praktisch keine Resonanz gefunden. Das von der SPD 1972 vorgelegte „Langzeitprogramm Orientierungs-Rahmen ‘ 85" geht auf die Arbeitnehmermitbestimmung im gesamtwirtschaftlichen Bereich mit folgenden Worten ein: „Die Arbeitnehmer bestimmen über ihre Organisationen auch im gesamtwirtschaftlichen Bereich mit: Die Koalitionen normieren durch Tarifverträge die Arbeitsbedingungen. Weitere Beratungs-und Einflußmöglichkeiten können nützlich sein, so im Bereich der Berufsausbildung. Ansätze zu einer Kooperation zwischen Staatsorganisation und Koalitionen (Konzertierte Aktion) könnten weiterentwikkelt, Entscheidungsprozeß und Informationsaustausch verbessert werden. Die Entscheidungsbefugnisse der Parlamente dürfen jedoch nicht berührt werden." In dem Anfang Januar 1975 vorgelegten zweiten (überarbeiteten) Entwurf des Orientierungsrahmens fehlt der Hinweis, daß die Entscheidungsbefugnisse der Parlamente nicht berührt werden dürfen. Hinzu gefügt worden ist der Satz, daß die bestehenden Wirtschaftskammern durch paritätische Besetzung umzugestalten sind, womit offensichtlich die Industrie-und Handelskammern und die Handwerkskammern gemeint sind. In dem auf dem SPD-Bundesparteitag im November 1975 in Mannheim endgültig verabschiedeten Orientierungsrahmen sind die eben zitierten Ausführungen des ersten und zweiten Entwurfs nicht mehr enthalten.

Einen Vorläufer hatte der vom DGB geforderte Bundeswirtschafts-und Sozialrat in dem Reichswirtschaftsrat der Weimarer Zeit (Art. 165 der Reichsverfassung), der im wesentlichen die Funktion einer Gutachterkammer und eines Interessenausgleichs hatte. Vorgesehen war auch die Errichtung von Bezirkswirtschaftsräten, deren Realisierung jedoch ausblieb. Im Reichswirtschaftsrat sollten alle wichtigen Berufsgruppen entsprechend ihrer wirtschaftlichen und sozialen Bedeutung vertreten sein. Ursprünglich hatte man an eine Mitgliederzahl von 80 bis 100 Personen gedacht. „Da es (aber, R. S.) kaum eine gesellschaftliche Gruppe gab, die sich angemessen vertreten glaubte, wurde die Mitgliederzahl schließlich auf 326 ausgeweitet." Zur Effizienz dieses Organs meint Otto „Eine kritische Beurteilung . . . macht deutlich, daß sich dieses Gremium als mehrhundertköpfiges wirtschaftspolitisches Ausspracheforum und Beratungsorgan nicht besonders bewährt hat. Die positive Tätigkeit der Ausschüsse ist hingegen unbestritten." Auch Hans Schäffer, ein maßgeblicher Beamter in dem erst 1917 geschaffenen Reichswirtschaftsministerium und Fürsprecher des Gedankens des Reichswirtschaftsrats und anderer Selbstverwaltungseinrichtungen, mußte die geringe Wirkung des Reichswirtschaftsrats zugeben. Seiner Ansicht nach war der Grundgedanke des Reichswirtschaftsrats — der Interessenausgleich — den extremen Parteien beider Flügel von vornherein zuwider, „weil ein solcher Ausgleich geeignet wäre, die Parteiparolen (Herr-im-Haus-Standpunkt, Freie Wirtschaft, hemmungsloser Klassenkampf) in ihrer Durchschlagskraft zu beeinträchtigen" Zu den übrigen damals realisierten Selbstverwaltungseinrichtungen, wie Reichskohlerat und Reichskalirat, meinte er die Gruppenegoismen hätten nicht eingedämmt werden können. In den gemeinwirtschaftlichen Organen seien im Gegenteil immer wieder Versuche unternommen worden, die vereinten Kräfte der Unternehmer und der Arbeiterschaft des betreffenden Wirtschaftszweiges zum Nachteil nachgelagerter Wirtschaftsstufen und damit der Allgemeinheit einzusetzen.

Die Vielzahl der mit solchen Räten verbundenen grundsätzlichen Probleme und Bedenken hat die Enquete-Kommission Verfassungsreform der 7. Wahlperiode des Deutschen Bundestages veranlaßt, sich in ihrem Schlußbericht vom 2. 12. 1976 einstimmig gegen die Einführung eines Bundeswirtschafts-und Sozial-rats auszusprechen. Die Kommission ist zu der Überzeugung gelangt, daß Wirtschafts-und Sozialräte die in sie gesetzten Erwartungen nur schwerlich zu erfüllen vermögen. Statt des erhofften Nutzens sei weit mehr zu befürchten, daß die Einschaltung eines Wirtschafts-und Sozialrats in den politischen Prozeß, insbesondere den Gesetzgebungsprozeß, zu einer Verlangsamung, Verteuerung und Komplizierung staatlichen Handelns sowie vor allem zu einer Schwächung der politischen Entscheidungsfähigkeit der demokratisch-repräsentativen Organe führen würde.

Nach einem Artikel im „Handelsblatt" (1. 2. 77, S. 2) soll die Prognos AG in einem im Auftrage des Bundeskanzleramtes, der Niedersächsischen Staatskanzlei und des Hauptvorstandes der IG Chemie erstellten Gutachten empfohlen haben, den staatlichen Stellen auf Bundes-, Landes-und Regionalebene Wirtschafts-und Sozialräte anzugliedern. Laut „Handelsblatt" meint die Prognos, die Vorteile einer Institutionalisierung von solchen Räten könnten deren mögliche Nachteile ausgleichen und überkompensieren, solange beide Sozial-partner grundsätzlich weniger auf eine ständige Konfrontation als vielmehr auf eine Zusammenarbeit miteinander und mit den staatlichen Stellen ausgerichtet seien. Das Gutachten, das den Titel trägt „Politische, soziale sowie wirtschaftliche Risiken und Chancen unterschiedlicher Steuerungsinstrumente zur Lösung der Probleme von Strukturkrisen und längerfristiger Arbeitslosigkeit", ist nach schriftlicher Auskunft des Chefs des Bundeskanzleramtes vom 2. 3. 1977 für den internen Gebrauch der Auftraggeber bestimmt und noch nicht zur Veröffentlichung freigegeben

Bernd Otto schließt seine Abhandlung über die gewerkschaftlichen Vorstellungen einer gesamtwirtschaftlichen Mitbestimmung mit der folgenden Feststellung, der zuzustimmen ist: „Die Gewerkschaften werden sich darüber im klaren sein müssen, daß die Ausweitung der überbetrieblichen Mitbestimmung zwar bestimmte Einflußmöglichkeiten auf die Wirtschaft eröffnet, auf der anderen Seite aber eine Einschränkung des autonomen Entscheidungsraumes der Gewerkschaften zur Folge haben kann. Die Verwirklichung der überbetrieblichen Mitbestimmung wird Stellung und Funktion der Gewerkschaften in unserer Gesellschaft tiefgreifend beeinflussen." Dies dürfte auch für eine umfassende Beteiligung der Gewerkschaften an der Mitbestimmung in den Unternehmensorganen und für die vom DGB geforderte gesetzliche Regelung einer Vermögensbildung in Form der überbetrieblichen Ertragsbeteiligung (Fondsbildung) gelten

Fussnoten

Fußnoten

  1. Diese Mitbestimmung habe ich ausführlich problemorientiert behandelt in: Arbeitnehmer in der Marktwirtschaft, München 1976 (Goldmann-Sachbuch 11 128).

  2. Jürgen Peters, Arbeitnehmerkammern in der BRD?, München 1973.

  3. Arbeitskammer des Saarlandes (Hrsg.), Die Arbeitskammer des Saarlandes. Aufgabe und Tätigkeit, Saarbrücken 1969, S. 5.

  4. Bernd Otto, Gewerkschaftliche Konzeptionen überbetrieblicher Mitbestimmung, Köln 1971, S. 128.

  5. Handelsblatt, 2/3. 7. 1971, S. 2.

  6. Vom 29. 10. 1973, S. 2.

  7. Jürgen Peters, a. a. O., S. 94.

  8. Die Zeit v. 20. 4. 1973, S. 41.

  9. Auszugsweise abgedruckt in Arbeitskammer des Saarlandes (Hrsg.), a. a. O., S. 37.

  10. Gewerkschaftliche Monatshefte, 22. Jg. (1971), S. 570 f. Die Konzeption ist auch abgedruckt bei Bernd Otto, a. a. O.

  11. Diese Befürchtung des DGB hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Arbeitnehmerkammer-Entscheidung vom 18. 12. 1974 mit folgenden Worten bestätigt: „Es liegt auf der Hand, daß der Wert eines Gutachtens oder Berichts steigt, wenn er sich auf das Votum von Organen stützen kann, in denen mutmaßlich die Anschauungen aller Arbeitnehmer zu Wort gekommen und gegeneinander abgewogen worden sind. Die Notwendigkeit, um freiwillige Mitglieder zu werben, brächte stets die Gefahr mit sich, daß die Interessen einzelner besonders aktiver Gruppen sich ungebührlich in den Vordergrund drängten und der unbefangene gleichmäßige Überblick über die Bedürfnisse aller Arbeitnehmerschichten verloren ginge."

  12. Eine Auseinandersetzung mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bringen Michael Kittner: Bundesverfassungsgericht und Koalitionsfreiheit, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, 27. Jg. (1976), S. 154 ff., und Hans Peter Bull, Arbeitnehmerkammer und Gewerkschaften — Konkurrenz oder Ergänzung?, in: Arbeit und Recht, 23. Jg. (1975), S. 271 ff.: s. a. S. 284 ff.

  13. Bernd Otto, a. a. O.

  14. 1971, S. 569 ff.

  15. Man versteht in der Öffentlichkeit unter „Konzertierter Aktion" ein Treffen von Vertretern maßgebender Verbände und Gewerkschaften beim Bundesminister für Wirtschaft. Zweck der Zusammenkünfte ist die wechselseitige Information sowie die Beratung über ihr zukünftiges Verhalten. Nach § 3 des Stabilitätsgesetzes stellt die Bundesregierung im Falle einer Gefährdung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts (Preisstabilität, hoher Beschäftigungsstand und außenwirtschaftliches Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wirtschaftswachstum) Orientierungsdaten für ein gleichzeitiges aufeinander abgestimmtes Verhalten der Gebietskörperschaften, Gewerkschaften und Unternehmensverbände auf. Die Orientierungsdaten enthalten insbesondere eine Darstellung der gesamtwirtschaftlichen Zusammenhänge im Hinblick auf die gegebene Situation.

  16. DGB-B-undesvorstand, Mitbestimmung jetzt — und keine halben Sachen. Referentenmaterial zur Mitbestimmung, Düsseldorf o. J. (Ende 1973), S. 52.

  17. Ebenda, S. 52 f., 56.

  18. Kritisch setzt sich mit den Wirtschafts-und Sozialräten auseinander: Günter Triesch, Keine wirtschaftsdemokratische Sekundärverfassung, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, 22. Jq. (1971) S. 535 ff.

  19. Bernd Otto, a. a. O., S. 149.

  20. Ebenda, S. 71.

  21. Ebenda, S. 73.

  22. Eckhard Wandel, Hans Schäffer. Steuermann in wirtschaftlichen und politischen Krisen, Stuttgart 1974, S. 48.

  23. Ebenda, S. 42.

  24. Bundestagsdrucksache 7/5924, S. 114, 119. In dem Gutachten wird auch über die nicht sehr erfolgreichen Erfahrungen berichtet, die andere Länder mit einem dem Bundeswirtschafts-und Sozialrat vergleichbaren Gremium gemacht haben.

  25. Mit dem Gutachten beschäftigt sich Walter Hamm in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 16. 3. 1977, S. 13 f. unter dem Titel: „Für mehr staatliche Investitionssteuerung".

  26. Bernd Otto, a. a. O., S. 205.

  27. Die Grundfragen der Vermögensbildung, insbesondere der überbetrieblichen Ertragsbeteiligung, sowie die Gewinnbeteiligung der Belegschaft und die Beteiligung der Arbeitnehmer am Kapital des arbeitgebenden Unternehmens habe ich ausführlich dargelegt in: Arbeitnehmer in der Marktwirtschaft, München 1976 (Goldmann-Sachbuch 11 128).

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A Reinhard Schultz, Dr. rer. pol., geb. 1932; Dozent für Betriebswirtschaftslehre (insbesondere Personalwirtschaft) an der Hochschule für Wirtschaft und Politik in Hamburg; Studium der Wirtschafts-und Sozialwissenschaften über den zweiten Bildungsweg an der Hamburger Akademie für Gemeinwirtschaft (heute Hochschule für Wirtschaft und Politik); Studium der Betriebswirtschaftslehre an der Universität Hamburg und an der Freien Universiät Berlin. Buchveröffentlichungen: Kreditwürdigkeit und Unternehmensform, 1967; Genossenschaftswesen, 1970; Arbeitnehmer in der Marktwirtschaft, 1976. Zahlreiche Aufsätze in Zeitschriften und Handwörterbüchern.