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Umweltpolitik in Osteuropa. Über ungenutzte Möglichkeiten eines Systems | APuZ 23/1977 | bpb.de

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APuZ 23/1977 Umweltpolitik in Osteuropa. Über ungenutzte Möglichkeiten eines Systems Ökologische Ignoranz als ökonomisches Prinzip. Umweltzerstörung und Umweltpolitik in Japan

Umweltpolitik in Osteuropa. Über ungenutzte Möglichkeiten eines Systems

Martin Jänicke

/ 17 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die sozialistischen Staaten verfügen gegenüber den kapitalistischen Industriegesellschaften grundsätzlich über eine Reihe ökologiepolitischer Vorteile. Diese sind teils institutioneller Art (zentrale Planung, Existenz einer politischen Mobilisierungsapparatur), teils ergeben sie sich aus dem bisherigen Modus und dem erreichten Stand der wirtschaftlichen Entwicklung (geringerer Individualkonsum, Energieverbrauch, Urbanisierungsgrad etc.). De facto werden diese umweltpolitischen Vorteile von den Industriesystemen des COMECON jedoch eher als Ausdruck einer zu überwindenden ökonomischen Rückständigkeit behandelt. Dies wird vom Verf. auf einen politischen Identitätsverlust zurückgeführt, den diese Systeme im Zuge ihrer immer weiteren Integration in den Weltmarkt erlitten haben: An die Stelle einer strukturpolitisch kreativen Planung tritt die bloße Anpassungsplanung im Hinblick auf Entwicklungen, die von den kapitalistischen Industriesystemen und ihren Technologieangeboten vorexerziert werden. Auch im eigentlichen Umweltschutz wird diese Strategie der Nachahmung erkennbar: Maßnahmen wurden — ganz im Gegensatz zu Anspruch und Möglichkeit der sozialistischen Systeme — meist später eingeleitet als in den westlichen Industriesystemen, sie wirkten sich langsamer aus, obwohl das durchschnittliche Belastungsniveau der osteuropäischen Großstädte eher höher war. Vor allem: Es wird kein grundsätzlich anderer Umweltschutz betrieben. Nach dem Import problematischer industrieller Technologien wird nun auch die industrialisierte Problemlösung eingeführt, so daß u. a.der Umweltschutz zu einem weiteren Faktor der Verschuldung gegenüber dem Westen wird. Die Möglichkeit einer vorausschauenden Struktur-und Branchenplanung unter Ausschluß umweltproblematischer und risikoreicher Technologien — als der billigsten und effektivsten Form des Umweltschutzes — bleibt also ungenutzt. Der Preis, den die COMECON-Länder für die Unterordnung von Mensch und Politik unter eine gigantische, auf die Imperative des Weltmarktes ausgerichtete Produktionsapparatur zu zahlen haben, wird weiter steigen. Es ist daher nicht auszuschließen, daß die künftige Entwicklung sie dazu drängen wird, ihre umweltpolitischen Ansprüche mit ihren systemspezifischen Möglichkeiten in Übereinstimmung zu bringen.

Von osteuropäischen Parteivertretern wird die Umweltproblematik häufig zu einer Angelegenheit des Kapitalismus erklärt, mit der man selbst nur in dem Maße befaßt sei, wie die Überreste des Kapitalismus im eigenen Lande noch nicht überwunden seien. Die These hat den Nachteil, daß sie für empirisch eingestellte Menschen nicht ohne weiteres nachvollziehbar ist. Es gibt denn auch eine modifizierte Variante dieser These. Sie besagt: Umweltbelastungen sind die notwendige Folge kapitalistischen Wirtschaftens; die Überwindung der privaten Verfügungsgewalt über die Produktionsverhältnisse ist die entscheidende Voraussetzung für ein „harmonisches Verhältnis von Mensch und Umwelt". Diese These ist einer genaueren Analyse wert. Es lassen sich in der Tat strukturelle grundsätzlich Bedingungen benennen, die einen ökologie-politischen Vorteil der östlichen gegenüber den westlichen Industriegesellschaften darstellen könnten: 1. Die zentrale Planung bietet die objektive Möglichkeit, das Prinzip der ökologischen Vorsorge walten zu lassen, statt die schädlichen Folgen eines ökonomischen Selbstlaufs immer erst nachträglich zu beseitigen. Zu diesen Möglichkeiten gehört die Planung einer ökologisch optimalen Industrie-und Branchenstruktur sowie ein bedachtsamer Einsatz technischer Hilfsmittel. Das Fehlen von einzelwirtschaftlicher Konkurrenz und von profitwirtschaftlichen Wachstumszwängen könnte eine Voraussetzung dafür sein, daß die Lebensqualität am Arbeitsplatz und in der weiteren Umgebung der Produktionsstätten Vorrang vor dem Produktionsausstoß erhält. 2. Dieser Kategorie der objektiven Möglichkeit entspricht auch die Existenz einer zentralen

politischen Mobilisierungsapparatur. Sie kann es bewirken, daß Interessen der allgemeinen Wohlfahrt politische Potenz erhalten. Dies um so mehr, als materieller Egoismus, privatwirtschaftliche Konkurrenz und das Verfolgen partikularistischer Eigeninteressen auf Kosten der Gesamtheit angesichts der veränderten Eigentumsstruktur nicht mehr der zentrale Motor der gesellschaftlichen Entwicklung sind (oder besser: sein müssen). Im Gegensatz zur ökonomischen Stimulierung gesellschaftlicher Verhaltensweisen hat die politische Mobilisierung zudem den entscheidenden Vorteil, daß sie kostenlos ist. 3. Ein wesentlicher Vorteil sozialistischer Gesellschaften ist die Vollbeschäftigung, die es ausschließt, daß unsinnige Produktionen allein aus beschäftigungspolitischen Gründen konserviert werden. Der Staat hat somit grundsätzlich einen größeren strukturpolitischen Handlungsspielraum. 4. Ein weiterer Vorteil der sozialistischen Gesellschaften ist die vergleichsweise untergeordnete Rolle des privaten Güterverbrauchs,

sich ebenso der wie die geringere Bedeutung der Verpackungsindustrie günstig auf die Abfallmengen auswirkt. Eine positive Folge des geringeren privaten Luxuskonsums, der zumindest von der Ideologie tabuisiert wird, ist die geringere Zersiedelung der Landschaft durch Zweithäuser. Grundsätzlich bietet eine stärker nivellierte Einkommensstruktur auch eher die Möglichkeit, das private Einkommen auf einem bestimmten Optimalpunkt festzuschreiben (was den Ausbau des öffentlichen Konsums, z. B. in ökologisch neutralen Bereichen wie Kultur, Bildung, Gesundheit oder kommunaler „Milieuverbesserung'', nicht ausschließt). 5. Das umweltpolitische Problemzentrum des privaten Güterverbrauchs, der private Automobilismus, ist in Osteuropa ebenfalls noch wenig entwickelt. 6. Auch das Fehlen absatzfördernder Vergeudungsmechanismen ist ein grundsätzlicher Vorteil sozialistischer Volkswirtschaften. Dies äußert sich u. a. auch in einem geringeren privaten Energieverbrauch. Demgegenüber rühren die derzeitigen Energieprobleme der westlichen Länder nicht zuletzt daher, daß die Elektrizitätserzeuger — in unguter Harmonie mit einer auf Wattfraß eingestellten Elektroindustrie — einen Mengenrabatt für Energieverschwendung gewähren. 7. Ein ökologie-politischer Pluspunkt der sozialistischen Länder ist auch die langsamere und insgesamt geringere Vergroßstädterung. 8. Erwähnt sei schließlich auch die langsamere Umwandlung von Agrar-und Grünland in betonierte Nutzflächen

Faktoren wie die genannten sind gewiß gute Vorbedingungen für eine geringere Umweltbelastung in sozialistischen Industriegesellschaften. Leider ist es jedoch irreführend, wenn man die Länder des COMECON nur in Kategorien von Anspruch und Möglichkeit beschreibt. Es besteht vielmehr Anlaß zu folgenden Fragen:

1. Sind ökologisch günstige Strukturbedingungen dieser Länder wie die geringere Vergroßstädterung, Motorisierung, Energie-oder Plastikproduktion, der geringere private Ex-und -hopp-Konsum oder der noch moderate Flächenfraß tatsächlich planerisch gewollt oder aber im Gegenteil Ausdruck eines Entwicklungsstandes, den diese Systeme nach Kräften zu überwinden trachten?

2. Findet eine strukturierende Langzeitplanung überhaupt noch statt oder ist Planung im heutigen COMECON-Sozialismus nur noch Anpassungsplanung im Hinblick auf eine industrielle Entwicklung, die auf die technologischen und ökonomischen Tendenzen des Weltmarktes ausgerichtet ist?

3. Wie ist überhaupt die Umweltsituation in diesen Ländern, hält die Wirklichkeit, was Selbstverständnis und objektive Möglichkeiten versprechen?

4. Wenn nein: werden diese Länder mit vorhandenen Umweltbelastungen besser fertig als vergleichsweise entwickelte kapitalistische Länder?

Die letzten beiden Fragen sind die entscheidenden. Sie sind empirischer Natur und sollen mit empirischen Aussagen beantwortet werden. Empirisch heißt hierbei nicht nur, daß die Ebene der „Wesensmerkmale" verlassen wird, auf der man das Umweltproblem sozialistischer Industriegesellschaften so gerne rein definitorisch bewältigt. Es heißt darüber hinaus, daß auch die Ebene der Parteitagsbeschlüsse und der gesetzlichen Regelungen übersprungen wird, denn im allgemeinen sind Apologeten des Sozialismus sowjetischen Typs auffallend gesetzesgläubig, wenn es um eine Beschreibung der dortigen Wirklichkeit geht. Angesichts des allenthalben vorherrschenden Vollzugsdefizits im Umweltschutz sind jedoch gesetzliche Regelungen, zumal in Gesellschaften, in denen sie oft nur den Charakter allgemeiner Willensbekundungen haben, also nicht ohne weiteres einklagbar sind, wenig informative Belege für die vorherrschende Umweltqualität. Man muß hier schon zu den meßbaren Ergebnissen vorstoßen. (Schließlich ist der Umweltschutz einer der wenigen Politikbereiche, in denen Effekte von Maßnahmen unmittelbar meßbar sind). Das Ergebnis, soweit man bei der unklar gehaltenen Datenlage überhaupt von systematischen Ergebnissen sprechen kann, steht in einem frappanten Gegensatz zu Anpruch und Möglichkeit dieser Länder.

An der Freien Universität Berlin werden im Rahmen des Projekts „Politik und Ökologie der entwickelten Industriegesellschaften" Umwelt-Daten aus kapitalistischen wie sozialistischen Ländern gesammelt. Wir haben auch die Luftqualitäts-Werte, bezogen auf Schwefeldioxid und Staub (den beiden „prominentesten" Indikatoren der Luftbelastung), für rund 70 Großstädte der industrialisierten Welt erfaßt, darunter auch die Werte von Großstädten der DDR, der CSSR und Ungarns. Ich beschränke mich hier auf Angaben zum Belastungsniveau und zum Trend der Umweltbelastung. Anfang der siebziger Jahre sah das Bild der Schadstoffbelastung durch SO, und Staub (bzw. Rauch) in den untersuchten Großstädten folgendermaßen aus: Im Oberbereich geringster Belastung lagen die großen Städte Schwedens, Dänemarks, Norwegens und Hollands. Am unteren Ende der Skala standen nicht etwa Tokio, Chicago, Madrid oder die Städte des Ruhrgebietes, sondern Budapest, das Hallenser Industriegebiet, Zwickau und Leipzig. Die Spitzenwerte von Budapest lagen dabei doppelt so hoch wie die Spitzenwerte von Bilbao, Lissabon oder Wien. Der Jahres-durchschnitt von Leipzig, Zwickau oder Leuna so hoch wie Wer die - lag mehr doppelt te von Chicago, Düsseldorf oder Tokio. Eine höhere Luftbelastung als die genannten Städte der DDR und Ungarns wies für diesen Zeitraum nach unseren — allerdings lückenhaften — Unterlagen nur noch die Stadt Mailand auf, wo im Winter 1970/71 die Belastung durch SO und Staub wirklich katastrophale Ausmaße annahm.

Für einen etwas früheren Zeitraum liegen auch Meßergebnisse aus Moskau vor 2). Sie sind in dreifacher Hinsicht besonders bemerkenswert: 1. Sie sind einmalig hoch. Im Jahre 1956 erreichte die Luftbelastung Moskaus Werte, die noch ganz erheblich über denen der Stadt Mailand im Jahre 1970 lagen. 2. Diese außerordentlich extreme Belastung wurde aber auch in einem einmaligen Tempo reduziert: In reichlich einem Jahr wurde sie um weit mehr als die Hälfte verringert. Sie lag damit zwar noch um 100 Prozent über den heute allgemein anerkannten Höchstgrenzen. 3. Ändert dies jedoch nichts an der Tat -sache, daß hier zu einem im internationalen Vergleich einmalig frühen Zeitpunkt zu drastischen und wirksamen des Umweltschutzes gegriffen wurde. Diese bestanden vor allem in der Substitution von Kohle durch Gas und Ol bei den Groß-Emittenten der Stadt. Später kam die Verlagerung von Industriebetrieben an die Peripherie, die Anpflanzung von Grüngürteln, die Erhöhung der Schornsteine und schließlich auch der Einbau von Filteranlagen hinzu. Bis Anfang der siebziger Jahre noch eine wurde einmal erhebliche Schadstoffreduzierung erreicht. Und heute wird die Luftqualität Moskaus allgemein als gut bis sehr gut eingestuft. Auch in London wurden angesichts einer ähnlich krisenhaften Umweltbelastung bereits in den fünfziger Jahren Maßnahmen des Umweltschutzes ergriffen. Sie waren jedoch weniger drastisch und wirkten sich langsamer aus.

Das Beispiel Moskaus zeigt, wie wirksam das den sozialistischen Industriegesellschaften verfügbare umweltpolitische Instrumentarium ist, wenn es tatsächlich eingesetzt wird. Diese Pionierleistung der fünfziger Jahre hat jedoch keineswegs in Osteuropa Schule gemacht. Und es ist wohl kein Zufall, daß sie in einer Zeit vollbracht wurde, in der betriebswirtschaftliche Rentabilitätserwägungen nicht so strukturbestimmend waren wie in den sechziger Jahren.

Ein systematischer Vergleich der umweltpolitischen Erfolge der entwickelten kapitalistischen und sozialistischen Industriegesellschaften in den siebziger Jahren führt jedenfalls zu Ergebnissen, die hinter Anspruch und Möglichkeit der sozialistischen Länder erheblich Zurückbleiben. Diese Länder wiesen insgesamt eine höhere Luitverschmutzung in Industriestädten auf, ihre Umweltschutzmaßnahmen wurden allgemein später wirksam, führten insgesamt zu einer durchschnittlich eher langsameren Emissionsverminderung und vor allem: es gibt eine Reihe von Städten, in denen Maßnahmen überhaupt nicht wirksam wurden. In sehr wenigen Großstädten der industrialisierten hat sich Welt im Laufe der siebziger Jahre die Luftsituation verschlechtert. Fälle dieser Art gibt es im peripheren Kapitalismus, nämlich in Spanien und in der Türkei (Bilbao, Madrid, Ankara). Fälle gibt zunehmender Luftverschlechterung es aber auch in den COMECON-Ländern: Von 10 Großstädten, über die wir Informationen besitzen, weisen mindestens zwei einen solchen Anstieg auf, nämlich Cottbus und vor allem Preßburg, das nach Angaben der Zeitung Nove Slovo vom 4. November 1976, „die am verschmutzte unter stärksten Luft" den europäischen Städten aufweist.

Was die Situation der Binnengewässer betrifft, so ergibt der west-östliche Vergleich kein grundlegend anderes Bild. Ein Unterschied besteht nur insofern, als die Zahl der westlichen Länder, die keine Verbesserung der Gewässersituation aufweisen, größer ist als im Falle der Luftbelastung durch SO, und Staub. Die Probleme sind hier eben insgesamt sehr viel gravierender, die zu ergreifenden Maßnahmen im allgemeinen sehr viel teurer. Deshalb wird auch das Wasserproblem, ungeachtet vieler bereits ergriffener Maßnahmen, das eigentliche Umweltproblem der Zukunft sein.

Was den Ost-West-Vergleich auf dem Gebiet der Wasserverschmutzung betrifft, so ist auch hier vor dem Operieren mit Einzelbeispielen zu warnen. Der Hinweis auf Erfolge an der Ruhr oder am Bodensee würde darüber hinwegtäuschen, daß auf dem Gebiet der Wasserreinhaltung in der Bundesrepublik (anders als bei der Luftreinhaltung) von einer nennenswerten Verbesserung keine Rede sein kann. Das gleiche gilt für Erfolgsmeldungen über die Wolga oder den Baikalsee. Hier hilft nur eine systematische Analyse der Wasser-verhältnisse des ganzen Landes. Entsprechen-de Statistiken fehlen zumeist. Eine systematische Verbesserung der Binnengewässer des gesamten Landes, wie sie Anspruch und Möglichkeit der sozialistischen Gesellschaften entsprechen würde und wie sie in Schweden, aber auch in Großbritannien und in den USA erzielt wurde, ist sehr offensichtlich in keinem COMECON-Land erreicht worden. Die offzielle Zustandsbeschreibung bedient sich Formeln wie dieser: In der DDR heißt es, man habe die „Verschlechterung der Wasser-beschaffenheit vieler Flüsse aufgehalten und in verschiedenen Flußgebieten ... eine positive Entwicklung eingeleitet" Ähnlich heißt es über die Sowjetunion: „In vielen Reservoiren und Flußabschnitten ist das Wasser sauberer geworden. In den meisten Fällen konnte die weitere Verschmutzung verhindert werden." Für Bulgarien wird gesagt: „Es zeichnet sich die Möglichkeit ab, 1980 ca. 50 % des Abwassers im Lande zu reinigen." Für Polen wurde eine Verschlechterung der Situation konstatiert Man mag das Bild insgesamt rosiger oder aber düsterer zeichnen. Eines wird man bei einer empirischen und systematischen Untersuchung (die nicht nur mit Einzelbeispielen operiert) nicht belegen können: daß nämlich die sozialistischen Länder sowjetischen Typs — China ist ein Sonderfall — systematisch bessere Umweltverhältnisse „produzieren" als die entwickelten kapitalistischen Länder. Nimmt man Anspruch und Möglichkeit dieses Typs von Industriegesellschaft ernst — und das sollte man —, so bedarf dieser Zustand der Erklärung:

Ich behaupte, daß diese Länder nicht nur keinen besseren Umweltschutz als die entwickelten kapitalistischen Länder betreiben, sondern daß sie auch keinen anderen Umweltschutz betreiben. Es dominieren die Schwerpunkt-Programme,die sich auf besonders belastete Gebiete und natürlich auf die Hauptstadt des Landes, den Sitz der Bürokratie, konzentrieren und häufig auch beschränken. Es dominiert die Entsorgung, die nachträgliche Maßnahme also. Von der vorsorgenden Planung einer ökologisch günstigen Branchenstruktur ist nirgends etwas zu hören oder zu lesen.

Der nachträgliche Umweltschutz aber ist der teuerste. Und das Geld fehlt. Im internationalen Vergleich der Umweltschutzaufwendungen rangieren die DDR, die UdSSR und Polen jedenfalls ziemlich weit unten. Betrieben wird die westliche Form des Umweltschutzes, die darin besteht, daß man einen speziellen Industriezweig zur Produktion von Umweltqualität aufbaut. Im Gegensatz zum Kapitalismus verfügt man jedoch nicht über einen ständigen, systembedingten Kapitalüberfluß, sondern leidet an chronischem Kapitalmangel. Die kapitalistische Form der „Industrialisierung des Umweltschutzes" ist also bereits aus ökonomischen Gründen alles andere als naheliegend. Sie ist aber auch alles andere als eine sinnvolle Strategie, da sie immer nur in der Produktion von Umweltqualität, bezogen auf einen einzigen Schadstoff besteht, d. h.: jeder einzelne Schadstoff wird (profitabel) als solcher einzeln beseitigt. Dies ist durchaus eindrucksvoll, wenn man so prominente Schadstoffe wie Staub oder SO, betrachtet (deren Konzentration man heute in den meisten entwickelten Industrieländern vermindert hat). Die häufig ungleich gefährlichen weiteren Schadstoffe können aus Gründen der umweltpolitischen Effektivität wie aus Kostengründen nicht in gleicher Weise durch Maßnahmen nachträglicher Entsorgung bewältigt werden. Hier helfen nur Vorsorge, Branchen-, Struktur-und Technologieplanung, Strategien also, für die das sozialistische System doch eigentlich prädestiniert scheint. Stattdessen beginnt man dort Umweltschutz-technologien ebenso auf dem Weltmarkt zu kaufen wie die verschmutzenden Technologien zuvor. Für die großen multinationalen Konzerne der Umwelttechnik ist denn auch, wie man in diesem Frühjahr auf der Düsseldorfer ENVITEC erfahren konnte, der osteuropäische Markt, abgesehen von Ländern wie Spanien und Italien, der eigentliche „kommende" Markt. Symptomatisch für diese Si-tuation ist die Klage einer polnischen Zeitung, die die ansteigende Luftbelastung im Lebuser Land mit dem Fehlen von ausländischer Umweltschutztechnologie erklärt. Der Umweltschutz wird somit ein weiterer Faktor der Verschuldung der COMECON-Länder gegenüber den kapitalistischen Ländern

Das Grundproblem der heutigen COMECON-Gesellschaften scheint mir in einem fundamentalen politischen Identitätsverlust zu liegen. Unter Identitätsverlust verstehe ich hierbei die Zielbestimmung und Selbstbewertung eines Systems aufgrund von systemfremden Maßstäben. Der Abbau der pathologischen Superidentität des Stalinismus mit all ihren paranoiden und dogmatischen Zügen hat geradezu einen spiegelbildlichen Negativeffekt produziert. Er besteht darin, daß, vor allem im Zuge der ökonomischen Reformen der sechziger Jahre, an die Stelle einer eigenständigen politischen Zielbestimmung und Struktursetzung die industrielle Eigendynamik und mit ihr die Nachahmung der industriellen Entwicklung des Weltmarktes getreten ist. Planung degeneriert hierbei zur Planung dessen, was ohnehin geschieht — so wie der „Kleine Prinz“ Saint-Exupery's der Sonne morgens befiehlt aufzugehen und abends befiehlt unterzugehen. Dies ist eine Anpassungsplanung im doppelten Sinne: zum einen paßt man die gesamtgesellschaftliche Entwicklung an die antizipierten Entwicklungen der Industrie an, wobei der sozialistische Staat ebenso wie der kapitalistische zunehmend damit beschäftigt ist, Voraussetzungen der Industrieentwicklung zu organisieren und ihre Folgelasten zu kompensieren; zum anderen handelt es sich hier um eine Anpassungsplanung im Sinne der systematischen Übernahme westlicher Neuerungen. In diesem Sinne wurde nicht nur die westliche Industrie-struktur nachgeahmt, sondern auch der westliche Typ des industrialisierten, durch eine Spezialbranche besorgten Umweltschutzes. Man übernimmt damit den bedenklichen Zyklus von industrieller Problemproduktion und industrialisierter Problemlösung.

Dem „internationalen Trend" folgt auch die PKW-Entwicklung, wenn auch mit gewissen Unterschieden in einzelnen COMECON-Ländern. In der DDR stellt man sich „planmäßig" auf eine Entwicklung ein, die bis zum Jahre 2000 — nach anderen Prognosen 2020 — das „Optimum" von einem PKW pro Familie ergibt Die letzten Elektrobusse werden aus Kostengründen abgeschafft. Das Schienennetz wurde von 1960 bis 1975 um 2 124 km verringert. In der Sowjetunion hat die PKW-Produktion vor allem seit 1971 stark zugenommen, mit einer Verdoppelung in nur drei Jahren! Immerhin soll auch der Elektro-Busverkehr weiter ausgebaut werden, wobei man ferner — wie neuerdings in Japan — die Benutzung von Elektro-und Flüssiggas-Autos fördern will

Wie beim Automobilismus, so soll auch der „Rückstand" in der Urbanisierung „planmäßig" aufgeholt werden. Während westliche Metropolen bereits eine rückläufige Bevölkerungsentwicklung aufweisen, heißt es hierzu in einem neueren sowjetischen Lehrbuch: „Das schnelle Wachstum der Großstädte ist... eine gesetzmäßige Erscheinung" (als Beispiele einer solchermaßen „fortschrittlichen" Entwicklung werden ausgerechnet Hamburg und Paris angeführt!) Die Konsequenz eines solchen Kultes der Ballungsräume kann nur eine tendenzielle Unterentwicklung der ländlichen Regionen sein, was wiederum die Abwanderungstendenzen fördern muß — vielleicht nicht so brutal wie im Westen, aber grundsätzlich nicht anders. Daß im Sozialismus auf eine derartige Hypertrophie der Ballungsräume verzichtet werden kann, erlebt man in China, wo — bisher — die systematische Entwicklung der ländlichen Räume einer strikten Begrenzung des großstädtischen Wachstums gegenübersteht. Dort fehlt allerdings auch der Mythos der arbeitsteilig zentralisierten Großtechnologie, deren großbetriebliche Rentabilitätserwägungen industrielle Ballungsräume nun einmal ökonomisch nahelegen.

Der heutige COMECON-Sozialismus macht den Eindruck eines Systems, das den Glauben an seine gesellschaftliche Gestaltungskraft iaktisch verloren hat. Zwar verbreiten alle Lautsprecher die Devisen des Sozialismus, aber die industrielle Wirklichkeit folgt der Devise des „ex occidente lux". Wie sehr sich diese Systeme anstelle einer eigenen autono-men Strukturbestimmung den Imperativen des Weltmarktes unterwerfen, läßt sich am Entstehen von Devisenläden ebenso aufzeigen wie am Umweltschutz. Da plädiert ein DDR-Autor für schärfere Abgasbestimmungen in der DDR, nicht etwa im Interesse der Bevölkerung, sondern „um dem ... Kraftfahrzeug eine gesicherte Handelsposition auf dem internationalen Markt zu geben" (Der jugoslawische Umweltrat hatte den „Wartburg" beanstandet wegen seiner hohen Abgasentwicklung). Ähnlich plädiert ein sowjetischer Autor für die systematische Einführung von Kreislauf-Technologien mit dem Argument: „In nicht allzu ferner Zukunft werden sowohl auf den Binnen-als auch besonders auf den Außenmärkten nur solche Maschinen und Anlagen abgesetzt werden können, die den Forderungen nach schadloser und unfallfreier Produktion entsprechen. Deshalb (!) muß man vorausschauen."

Wenn die „Vorausschau" der strukturelle Vorteil planwirtschaftlicher Systeme ist, dann ist eine solche Argumentation höchst blamabel. Selbst wenn sie nur taktisch gemeint ist, beweist sie doch, daß die Ökonomie den Vorrang vor dem Allgemeininteresse hat — eine Priorität, die die westliche Ökologie-Bewegung am Kapitalismus kritisiert. Die gleiche ungute Rangfolge scheint in Osteuropa die Effektivität ergriffener Maßnahmen zu beeinträchtigen. So heißt es in einer neueren Broschüre aus Bulgarien: „Die existierenden materiellen und moralischen Stimuli für die Erfüllung des Produktionsprogrammes sind weitaus stärker als die für die Reinhaltung des Wassers, der Luft und des Bodens, was einer der Hauptgründe für die unzufriedenstellende Erfüllung der auf dem Gebiet des Umweltschutzes geplanten Maßnahmen ist."

Dies ist die östliche Variante des sog. „Zielkonfliktes zwischen Wachstum und Umweltschutz". Produktion und Ökonomie haben Vorfahrt. Chancen hat am ehesten ein Umweltschutz, der in das industrielle System des Produktivismus integrierbar ist.

Das Ergebnis unserer Betrachtung ist also höchst paradox: — Die COMECON-Länder verfügen über beachtliche strukturelle Startvorteile einer sinnvollen Umweltpolitik (weniger Automobilismus, Urbanisierung, Energieverbrauch, Individualkonsum usw.). Aber das System des industriell-bürokratischen Produktivismus behandelt diese Startvorteile faktisch als Formen ökonomischer Rückständigkeit. — Die COMECON-Länder verfügen über ein beachtliches Instrumentarium vorausschauender Planung und politischer Mobilisierung von Allgemeininteressen. Aber die zentrale Planung ist zur Anpassungplanung degeneriert, die auf eine autonome Gesellschaftsgestaltung verzichtet und den ökonomischen wie technologischen „Sachzwängen" des kapitalistischen Weltmarktes folgt. Die politische Mobilisierungsapparatur ist Bestandteil und Instrument des Produktivismus, dazu bestimmt, Trägheitsmomente einer insgesamt immer noch unzureichenden Produktions-Stimulierung zu kompensieren. — Die COMECON-Länder haben die private Konkurrenz auf der Betriebsebene aufgehoben. Aber sie konkurrieren nunmehr als nationale Volkswirtschaften auf dem Weltmarkt — mit ähnlichen gesellschaftlichen Folgewirkungen wie im Privatkapitalismus. — Die COMECON-Länder wollen den Kapitalismus überwinden. Aber sie wetteifern mit ihm zu seinen Bedingungen. Mehr noch: Dies ist ein Wettbewerb durch Nachahmung, bei dem der Nachgeahmte naturgemäß Vorteile besitzt. Er konnte bisher nicht gewonnen werden, aber sein Preis steigt: Von der internen Arbeitsintensivierung (mit der Folge eines Rückgangs der Lebenserwartung!) bis zur Verschuldung im Außenhandel. Dieser Wettbewerb auf der Ebene der Produktionsquantitäten ist Ausdruck eines politischen Identitätsverlusts des Systems. Er stellt darüberhinaus eine Verschleuderung von Legitimitätsressourcen im Bereich der Lebensqualität dar. Im Hinblick auf die politischen, ideologischen, ökonomischen und ökologischen „Ko-3 sten" ist der Wettbewerb mit dem Kapitalismus also wahrhaft ruinös.

Die Integration in das internationale Industriesystem ist nicht einmal aus Gründen der Rohstoffversorgung nötig. Die Achillesferse des COMECON liegt einzig im Bereich der Technologie. Der Begriff der technologischen Rückständigkeit folgt jedoch den Definitionskriterien des Weltmarktes. Wer ihn akzeptiert, akzeptiert die Bewertungsmaßstäbe und Erfolgskriterien der multinationalen Konzerne.

Daß die COMECON-Länder dieser Mißerfolgs-Definition aufsitzen, hat tieferliegende Gründe: Der Marxismus hat zwar Alternativen zur Eigentums-und Machtstruktur des kapitalistischen Systems entworfen, das Industriesystem des Kapitalismus und seine Technologie hat man hingegen nicht verworfen, sondern im Gegenteil zum Maßstab des eigenen Fortschritts gemacht. Hieraus resultiert der Schluß: Nur wer Alternativen zum international etablierten Industriesystem und seinen arbeitsteiligen Großtechnologien entwickelt, überwindet die Hindernisse für wirklich alternative Gesellschaltsentwicklungen. Sozialisti sche Revolutionen, die dieses Industriesystem aussparen, werden immer die Erfahrung machen müssen, daß dieses Industriesystem ein integraler Bestandteil des Kapitalismus ist und seine höchste Effektivität nur dann erreicht, wenn es nach dessen Spielregeln produziert. Der Preis einer nur halben Transformation ist die Unterordnung von Mensch und Politik unter eine gigantische, insgesamt aber immer relativ ineffektive Produktionsapparatur, ist der Verlust an eigenständiger technologischer Kreativität, an Autonomie, politischer Identität und Legitimität.

Wer aus dieser Diagnose die frohe Botschaft von der Überlegenheit des westlichen Industriesystems heraushört, möge sich einmal vorstellen, was geschehen könnte, wenn der COMECON diesen Preis nicht mehr zu zahlen in der Lage oder bereit ist wenn er den einfacheren Weg beschreitet und seine Ansprüche mit seinen Möglichkeiten in Überein-stimmung bringt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. In der DDR hat die landwirtschaftlich genutzte Fläche von 1970— 1975 sogar leicht zugenommen; dies ist allerdings das Ergebnis der Wiedergewinnung von Böden, die durch die Förderung von Braunkohle im Tagebau verlorengingen.

  2. Nach sowjetischen Angaben bei der WHO. F. Singleton (Ed.), Environmental Misuse in the Soviel Union, New York etc. 1976, S. 11. Die Werte betrugen in den Moskauer Industrie-und Wohngebieten 1956: 665 Mikrogramm SO 2 und 840 Mikrogramm Staub pro m 3 (im Industriegebiet fast 1 0001). Im Vergleich hierzu Mailand 1970: 600 SO 2 und 260 Staub. Vgl. Stichting Concave: Forschungsbericht Nr. 4/1976.

  3. STADT UND GEMEINDE Nr. 8/9, 1974. Vgl. DIE WIRTSCHAFT, Nr. 17 v. 20. 8. 1975. Ein Sprecher des DDR-Umweltministeriums bezeichnete die Beschaffenheit der fließenden Gewässer Anfang 1976 als „nahezu konstant“ (IWE-Tagesdienst v.

  4. W. Tschudnow, UdSSR-Umweltschutz, Moskau 1975, S. 37; M. Dakov, Umweltschutz in der VR Bulgarien, o. O. u. J. (Sofia 1975?); W. Brzezinski, Ochrona prawna naturalnego srodowiska szowieka, Warschau 1975, S. 160.

  5. Vgl. M. Jänicke, Umweltpolitik, in: China in: UMWELT, Nr. 6/1975.

  6. Vgl. J. Gerau, Zur Politischen Ökologie der Industrialisierung des Umweltschutzes, in: Forschungsbericht Nr. 8/1976 des Projekts „Politik und Ökologie der entwickelten Industriegesellschaften" an der FU Berlin.

  7. Polnische Sorgen um den Umweltschutz, in: OSTEUROPA, Nr. 3/1977, S. 159.

  8. Vgl. Th. Weymar, Das Auto-Statussymbol auch im Sozialismus, in: Deutschland-Archiv Nr. 3/1977, S. 283.

  9. In: Neues aus Japan, Nr. 237, März 1977.

  10. N. S. Burenin, Rule of Exhaust Gases in Urban Air Pollution, in: N. E. Berlyand (Ed.), Air Pollution and Atmospheric Diffusion, Bd. 2, New York u. Toronto, o. J., S. 226 f.

  11. Mensch, Gesellschaft und Umwelt, Berlin (Ost) 1976, S. 282.

  12. V. Schärmann u. D. Bergmann, Betrachtungen zur Schadstoffemission von Kraftfahrzeugen unter Beachtung von Aspekten des Umweltschutzes, in: DIE TECHNIK, Nr. 12/1974.

  13. A. Arakeljan, Rückstandslose Produktion, sparsam und umweltfreundlich, in: DIE WIRTSCHAFT v. 24. 2. 1977.

  14. M. Dakov a. a. O., (Anm. 4), S. 21.

  15. Die UdSSR, die DDR, Polen, die CSSR und Rumänien weisen bei den Männern eine deutlich rückläufige Lebenserwartung auf. In der DDR mit ihrer ungewöhnlich hohen Frauenbeschäftigung ist auch die Lebenserwartung der Frauen rückläufig. 1967/68 betrug sie bei fünfjährigen Jungen 66, 12 Jahre, bei fünfjährigen Mädchen 71, 01 Jahre; 1971/1972: 65, 06 (Jungen) und 69, 99 (Mädchen); vgl. Statistisches Jahrbuch der DDR, Jahrg. 1975 und 1976, Berlin (Ost) 1975 und 1976; vgl. Demographie Yearbook 1974, New York 1975.

  16. Ein Indiz für diese Möglichkeit ist — neben halboffiziellen wachstumskritischen Stimmen — die derzeitige Reduzierung des Wachstums der sowjetischen PKW-Produktion auf 3 Prozent.

Weitere Inhalte

Martin Jänicke, geb. 1937 in Buckow; Professor am Fachbereich Politische Wissenschaft der Freien Universität Berlin seit 1971 mit dem Spezalgebiet „Vergleichende Analyse Politischer Systeme"; Leiter des von der Stiftung Volkswagenwerk finanzierten Projektes „Politik und Ökologie der entwickelten Industriegesellschaften". Veröffentlichungen u. a.: Der dritte Weg. Die antistalinistische Opposition gegen Ulbricht seit 1953, Köln 1974; Totalitäre Herrschaft, Berlin 1971; als Herausgeber: Herrschaft und Krise, Opladen 1973; Politische Systemkrisen, Köln 1973; gemeinsam mit H. Elsenhans: Innere Systemkrisen der Gegenwart, Reinbek 1975.