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Die Kurden -Nation ohne Land | APuZ 26/1977 | bpb.de

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APuZ 26/1977 Artikel 1 Zwei Jahre „Demokratisches Kambodscha" Das indische Dilemma Die Kurden -Nation ohne Land

Die Kurden -Nation ohne Land

Martin Oertel

/ 32 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

„Tausende Freunde sind zu wenig, ein Feind ist zuviel — und die Kurden haben viele Feinde", sagt eines der zahlreichen kurdischen Sprichwörter. Als Minderheiten in der Türkei, in Syrien, im Irak, Iran und der Sowjetunion versucht das 16-Millionen-Volk der Kurden, das seinen Ursprung in frühgeschichtlichen Kulturen hat, seit dem Zusammenbruch des osmanischen Reiches am Ende des Ersten Weltkriegs seine sprachliche, kulturelle und nationale Identität zu erhalten. Die Bergregionen des „wilden Kurdistan" im nördlichen Irak stellten seither immer wieder die letzte Zufluchtsstätte kurdischer Freiheitskämpfer vor feindlichen Verfolgern dar. Uber ein Jahrzehnt lang tauchten in den Spalten der Weltpresse zwischen 1960 und 1975 immer wieder Berichte über den Kampf dieses Volkes ohne Land auf. Ausgehend vom irakischen Teil Kurdistans war es der inzwischen legendäre Kurdenführer Mulla Mustafa Barzani, der mit seinen „Pesh Merga" („Jene, die dem Tod ins Auge sehen") letztlich mit der Waffe in der Hand bereit war, die Rechte seines Volkes zu verteidigen. Die reichen Erdölfelder auf kurdischem Territorium im Gebiet von Kirkuk machten und machen die „kurdische Frage" im Zeichen einer unverzichtbaren Abhängigkeit der großen Industriestaaten von diesem Rohstoff nicht einfacher. Die irakischen Kurden glaubten mit dem Autonomie-Versprechen der Regierung in Bagdad von 1970 dem Ziel nach Unabhängigkeit und Eigenständigkeit einen großen Schritt nähergekommen zu sein. Als sich dies als Fehleinschätzung herausstellte, kam es zu den bisher schwersten Kämpfen mit dem Irak, die mit der völligen Niederlage der Aufständischen im April 1975 endeten. Wieder einmal waren es vermeindliche Freunde, die die Kurden im Stich ließen: Der Schah von Persien, der den Kurdenaufstand massiv unterstützt hatte, entzog in dem Augenblick die Hilfe, als der Irak den Persern Schiffahrtsrechte auf dem Schatt-al-Arab zum politischen Tausch bot. Seitdem sehen sich die Kurden im Irak erneut zunehmend Verfolgungsmaßnahmen der Regierung ausgesetzt, wenn sie sich außerhalb des Rahmens betätigen, der durch ein einseitiges Autonomiegesetz der irakischen Regierung von 1974 gesteckt wurde. Dennoch scheint der Wille zum Widerstand gegen die Unterdrückung nicht erlahmt zu sein. Der Bericht soll die wichtigsten Aspekte des kurdischen Freiheitskampfes näher beleuchten.

Als der neue US-Präsident Jimmy Carter zu Beginn seiner Amtszeit für die Weltöffentlichkeit unüberhörbar versicherte, daß die USA unter seiner Führung ihr moralisches Gewicht für die Belange nationaler Minderheiten einsetzen werde, wurde dies bei bedrängten Minoritäten in allen Teilen der Welt als hoffnungsvolles Zeichen einer neuen Politik gesehen. Auf fast allen Kontinenten der Erde wehren sich ethnische, religiöse oder rassische Minderheiten gegen den Verlust ihrer Identität, streiten Menschen mehr oder weniger demonstrativ den für Erhalt ihrer Sprache, ihres Brauchtums und/oder der materiellen Existenzgrundlage. Von den 144 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen haben heute 30 bis 40 Probleme mit Minoritäten innerhalb ihrer Landesgrenzen Blutige Bürgerkriege haben in den letzten Jahren in bedrückender Weise diese Problematik immer wieder deutlich gemacht. Wer könnte so schnell die Bilder von verhungernden, unterernährten Kindern in Biafra vergessen, wo Ende der sechziger Jahre das Volk der Ibos im Süden Nigerias in blutigen Kämpfen mit Regierungstruppen für einen eigenen Staat eintraten. Nach über dreijährigem Kampf mußten die Ibos zu Beginn des Jahres 1970 vor der Übermacht kapitulieren.

Nicht weniger blutig verliefen die Auseinandersetzungen zwischen West-und Ostpakistan ein Jahr später, die schließlich zur Schaffung des Staates Bangladesh führten. Die beiden NATO-Staaten Griechenland und Türkei drohten 1974 das nordatlantische Bündnis in eine schwere Kriese zu stürzen, als türkische Invasionstruppen einen Teil der Mittelmeerinsel Zypern besetzten, um den türkischen Bevölkerungsteil der Insel gegenüber der Mehrheit der griechischen Zyprioten zu schützen. Seitdem versuchen die NATO-Partner am Verhandlungstisch, diesen weiterhin schwelenden Unruheherd zu entschärfen. Nicht genug damit, daß die britische Regierung in London seit Jahren versucht, den Bürgerkriegsherd Nordirland zu ersticken, dem fast täglich durch Bombenterror und offenen Mord Menschen zum Opfer fallen; die Londo-ner Zentralregierung ringt nun auch noch mit den Forderungen nationalistischer Bewegungen in Schottland und Wales nach mehr Eigenständigkeit.

Diesseits des Kanals sieht es kaum anders aus: Uber eine Million Bretonen fühlen sich von der Regierung in Paris vernachlässigt. Sie machten ihrem Unmut ebenso wie die Separatisten auf Korsika durch Bombenanschläge Luft. Räumlich nicht weit entfernt sorgte die baskische ETA Separatistenbewegung 1973 mit einem Bombenanschlag auf den spanischen Ministerpräsidenten Carrero Blanco für Schlagzeilen. Neben den Schauplätzen internationaler Diplomatie, Rhodesien und Südafrika, sind fast vergessen die bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen zwischen der äthiopischen Zentralregierung in Addis Abeba und der Provinz Eritrea im Norden des Landes. Die ehemals autonome Provinz war 1962 ihrer Eigenständigkeiten „beraubt" worden. Seitdem kämpft die „Eritreische Befreiungsfront" mit der Waffe in der Hand für die Unabhängigkeit. Seit dem Abzug der Spanier vom afrikanischen Kontinent 1975 und der Aufteilung der West-Sahara zwischen Marokko und Mauretanien kämpft die Guer rilla-Organisation „Polisario“ gegen die neuen Herren und verlangt Unabhängigkeit. Erst jüngst verbreitete sie Erfolgsmeldungen über ihre militärischen Operationen vor allem im Süden des Landes.

Mit einer militärischen Invasion beantwortete Indonesien im Dezember 1975 die Ausrufung der unabhängigen Demokratischen Republik Ost-Timor, zuvor eine portugiesische Kolonie. Truppen der Unabhängigkeitsfront „Fretilin“ kämpfen mit Unterstützung der Bevölkerung bis heute gegen die Invasoren. In dem seit 1963 von Indonesien besetzten Westguinea opponieren Stammesvölker der Papuas und unterstützen die provisorische Regierung der Republik Westpapua. Schließlich wurde die Öffentlichkeit erst durch Überfälle und Geiselnahmen in den Niederlanden auf die Situation der Molukker aufmerksam. Während Zehntausende Molukker in den Niederlanden seit der Unabhängigkeit Indonesiens eine Zuflucht ge35 funden haben, operieren vor allem auf der Insel Ceram noch immer Guerillas für eine unabhängige Republik Süd-Molukken.

Als beispielhaft für das Streben nach Autonomie und Selbstbestimmung haben die Kurden im Irak trotz ihrer oft hoffnungslos erscheinenden Lage den Kampf mit der Waffe nicht aufgegeben. Exemplarisch soll im folgenden die Kurdenfrage einer näheren Betrachtung unterzogen werden.

Strandgut der Geschichte — Eine Fallstudie

Der Zusammenbruch des osmanischen Reiches als Folge des Ersten Weltkriegs bedeutete für die Kurden den Anbruch einer neuen zeitgeschichtlichen Epoche deren einzelne Stationen bis in unsere Tage sehr genau nach-gezeichnet werden können. Dagegen fällt es schwer, die Ursprünge der kurdischen Geschichte exakt auszumachen. Eine Kommission, die 1924 vom Völkerbund eingesetzt wurde, um die Grenzfragen zwischen der Türkei und dem Irak zu untersuchen, schildert in ihrem Bericht die Schwierigkeiten, einen sicheren Beweis für den Ursprung der Kurden zu bringen: „Wenn auch eine gewisse Verwandtschaft zwischen Kurden und Persern besteht, so fehlt doch jede Ähnlichkeit mit den Arabern und Türken.“

Der Stuttgarter Ethnologe und Antropologe Freiherr v. Eickstädt gelangte nach eingehender Untersuchung zu der Überzeugung, daß die Ostkurden zum Teil Reste einer Urbevölkerung darstellen; viel älter als das älteste bekannte Volk, die Sumerer, hätten sie nur durch die Weltabgeschiedenheit der Bergweiden Innerkurdistans wie in einem biologischen Eisschrank überleben können In den Schriftfunden werden die Kurden erstmals um 2300 v. Chr. erwähnt; hier wird bei den Sumerern von „Guti", „Qurti“ oder auch „Karda" berichtet und v. Eickstedt stellt ferner eine typologische Ähnlichkeit der Meder mit den heute noch altmedisch sprechenden Mukri-Kurden fest Auch der griechische Chronist Xenophon berichtet von einer Begegnung auf seinem Zug ans Schwarze Meer im Jahr 401 v. Chr. von den „Karduchoi“ In ihrer wechsel-und leidensvollen Geschichte wurden die Kurden in den nachchristlichen Jahrhunderten von den Mongolen, den Türken und Persern beherrscht. Das letzte kurdische Fürstentum im osmanischen Machtbereich, das der Bedir-Khaniden, verlor nach der Niederlage gegen das ottomanische Heer 1847 seine Selbständigkeit Die Zentralisierungspolitik Teherans beendete schließlich 1867 auch die Souveränität des letzten kurdischen Emirats Ardaläni

Die Beziehungen der Kurden zu den Persern waren nicht viel besser als die zum osmanischen Reich, dennoch fanden die Kurden insgesamt ein besseres Verhältnis zu den Persern als zu den Türken und Arabern Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts sah in dieser Region eine Reihe kurdischer Revolten gegen die despotischen und rücksichtslosen Steuereintreiber und Provinzverwalter des Sultans und des Schah-in-Schah. Diese unruhigen Verhältnisse haben wesentlich dazu beigetragen, daß europäische Autoren ein recht einseitiges Bild vom „wilden Kurdistan" zeichneten Ende des 19. Jahrhunderts entstanden ein nationalkurdische Organisation und eine kurdische Presse; ihr erklärtes Anliegen war, über die Grenzen des türkischen Reiches hinaus in verschiedenen europäischen Städten auf die kurdischen Wünsche und Hoffnungen aufmerksam zu machen. Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, begann der bis heute andauernde Freiheitskampf der irakischen Kurden

Siedlungsgebiet und soziale Situation Sowohl über die zahlenmäßige Stärke des kurdischen Volkes als auch über die Größe ihres Siedlungsraumes gibt es keine exakten Angaben. Die Bevölkerungszahlen schwanken zwischen 10 Millionen und 16 Millionen wobei die zuletzt genannte Zahl vermutlich am ehesten zutrifft. Kurdistan, das heißt „Land der Kurden", umfaßt im Norden und Westen einen großen Teil der östlichen Türkei und einen schmalen Streifen Millionen 13), wobei die zuletzt genannte Zahl vermutlich am ehesten zutrifft. Kurdistan, das heißt „Land der Kurden", umfaßt im Norden und Westen einen großen Teil der östlichen Türkei und einen schmalen Streifen Nord-Syriens. Die östliche Begrenzung bildet das persische Plateau mit dem Urmia-See und dem iranischen Aserbeidschan. Im Norden wird Kurdistan von den Sowjet-Republiken Armenien und Aserbeidschan begrenzt; hier lebt nur eine geringe Anzahl von Kurden.

Die westliche Begrenzung Kurdistans im Staatsgebiet des heutigen Irak verläuft am westlichen Rand der Bergkette, die sich weit hinein in den Irak und den Iran erstreckt und das gebirgige Zentrum Vorderasiens bildet. Die Auffassungen, ob die Südhänge der Zagros-Berge, die kurdische Stadt Kermanschah im Iran oder die Ufer des persischen Golfes die südlichste Spitze Kurdistans sind, gehen auseinander 14).

Mit etwa 475 000 qkm umfaßt das Siedlungsgebiet der Kurden ein Territorium, das so groß ist wie zwei Drittel Frankreichs. Da in der Türkei und in Syrien die Kurden bei Volkszählungen nicht gesondert erhoben werden 15), der Iran offenbar zu niedrige Zahlen veröffentlicht und im Irak entgegen Versprechungen der Regierung keine Volkszählung stattgefunden hat, sollen hier die von kurdischer Seite veröffentlichten Zahlen der Veranschaulichung dienen. Danach leben in der Türkei 7 637 000, im Iran 5 233 000, im Irak 2 570 000, in Syrien 576 000 und in der UdSSR 170 000 Kurden 16).

Der sozialen Situation der Kurden widmete Kurt Greussing eine eingehende Darstellung. Nach seiner Auffassung liegt in der Stammes-Organisation der Kurden der Schlüssel zum geschichtlichen Verständnis der Widerstandsbewegung dieses Volkes. „Der Stamm oder , taifa'bzw. , tira'ist die primäre politische und land-besitzende Einheit. , tira'wird auch oft im Sinne einer Untergruppe des Stammes gebraucht. Diese setzt sich aus mehreren, in der Regel 20— 30 Haushalte umfassenden , chels‘ (Sippen) zusammen und kann mehrere Dörfer umfassen. Es besteht gemeinsamer Landbesitz, wobei jede Familie üblicherweise ihr eigenes zugeteiltes Feld bearbeitet. Zum Pflügen und in der Erntezeit leihen jedoch die Bauern gegenseitig die Zugtiere und schließen sich zu kleinen kollektiven Arbeitsteams (. dschug') zusammen. Die Weidegründe gehören dem gesamten Dorf. Der politische Führer eines Stammes, , rais‘ oder , sarok', rekrutiert sich in der Regel aus einem bestimmten, zum Stamm gehörigen Clan, der die Führungsposition erblich innehat. Der , rais‘ bedarf jedoch der Zustimmung der . alten Männer'seines Stammes. Mehrere Stämme bilden schließlich die , aschiret’, die Stammeskonföderation, als die übergreifende politische Großeinheit. Die Führung der Konföderation gehorcht ähnlichen Bedingungen wie die Position des , rais‘.

Der durch Verwandtschaft hergestellten Kollektivität im Innern eines Stammes oder einer Stammeskonföderation entspricht, zur Sicherung der eigenen Interessen, die Abgrenzung zu anderen Stämmen. Mit diesen besteht jedoch eine Verbindung in der Idee mehr oder minder entfernter gleicher Abstammung (Genealogie).

Im Innern einer solchen Gesellschaft gibt es zwar politische und ökonomische Ungleichheit, doch ist diese nicht institutionalisiert. Vielmehr sind Umverteilungsmechanismen wirksam — Systeme gegenseitiger Hilfe und Loyalität, soziale Verpflichtungen der reicheren, meist führenden Familien gegenüber den ärmeren —, die definitive Klassenbildung nicht zulassen: weder Kommunismus noch Klassengesellschaft also, sondern ein eigenes Drittes: die . reguläre Anarchie'(Ch. Sigrist), die — trotz effektiver Ungleichheit — in der Tendenz auf einen Ausgleich der politischen und sozialen Beziehungen wirkt.

Das soziale System der Stammesgesellschaft bedarf dabei normierender Vorstellungen, die den politischen und wirtschaftlichen Austausch der Mitglieder einsehbar und verbindlich machen. Es sind dies meist religiös vermittelte Vorstellungen des Prestiges, das den Inhabern politischer und ökonomischer Positionen innerhalb der Verwandtschaftsstruktur zukommt."

Zu den Jahren des bewaffneten Widerstandes meint Greussing: „Die materiellen und mensch-liehen Opfer der Kriegführung, Versorgung der Soldaten, Flüchtlinge und politisch-militärischen Kader sind von bewaffneten Bauern und ihren Familien erbracht worden. Sie hätten die Möglichkeit gehabt, die Fronten zu wechseln — wie dies auch in früheren Auseinandersetzungen oft genug geschehen ist. Der Druck der Auseinandersetzungen hat Elemente traditionaler Beziehungen wiederbelebt, die in vielen Fällen nur mehr auf der Ebene des Dorfes oder seiner Segmente bestanden. Dies führte zurück zu ihrem ursprünglichen Sinngehalt: zur Absicherung von Gleichheit und Solidarität. Die Aufhebung der Beschränktheit verwandtschaftlich organisierter Gesellschaften ist die Voraussetzung für eine umfassende Gleichverteilung von Lasten und Rechten, um den Widerstandskampf bestehen zu können.“

Religion — Sprache — Literatur Als der Islam im Jahre 639 n. Chr. Kurdistan erreichte, waren die Kurden zum Teil Christen, vor allem aber Anhänger der Lehre Zarathustras. Den langen harten Kampf der zarathustrischen Kurden gegen die Religion des Propheten Mohammed bezeugen in Kurdistan bis heute die „Friedhöfe der Ungläubigen"; hier liegen jene Kurden, die im Kampf gegen den Islam sterben mußten, sowie diejenigen, die den neuen Glauben einfach nicht annehmen wollten. Durch den Druck des islamischen Steuersystems auf Andersgläubige konnten sich die kurdischen Bauern langfristig dann doch nur durch den Übertritt zum Islam auf ihrem Grund und Boden halten. Die beiden stärksten christlichen Gemeinschaften im Irak sind heute die rund 200 000 mit Rom verbundenen Chaldäer und etwa 80 000 orthodoxe „Assyrer“. Beide Kirchen gehen auf das einst blühende ost-syrische Christentum zurück, das sich durch Annahme des Nestorianismus von der römischen Reichskirche absonderte und im Mittelalter eine Ausbreitung bis nach Turkestan und China erlebte Was die 16 Millionen Kurden vor allem verbindet, ist ihre gemeinsame Sprache, das Kurmandschi; es gehört zu den iranischen Sprachen, die ihrerseits einen Teil der indogermanischen Sprachenfamilie darstellen. Der zweite Dialekt, das Sorani, ist im südlichen Irak und im Westen des Iran vorherrschend. Aus dem Kurmandschi hat sich in den letzten 50 Jahren die Schriftsprache für die gesamte kurdische Nation entwickelt

Eine regelrechte kurdische Literatur existiert seit dem 17. Jahrhundert und beginnt mit Liebesliedern und mystischen Dichtungen. Eines der bekanntesten Werke dieser Zeit ist die Liebesdichtung „Mam und Zin“ des über die Grenzen Kurdistans hinaus bekannten Dichters Ahmad-i-Chani von der eine Übersetzung ins Deutsche von Jemal Nebez existiert. Die-kurdischen Dichter und Schriftsteller der Gegenwart pflegen mit Vorliebe die literarische Form der Kurzgeschichte und vertreten sozialkritische und anti-imperialistische Anliegen.

Sowohl das kurdische Literaturschaffen als auch die kurdische Musik sind durch die Unterdrückungsmaßnahmen der Regierungen der Türkei, Syriens, des Irak und Iran ernsthaft in ihrem Bestand gefährdet.

Die Kurden — Minderheit in fünf Staaten Mit dem Zerfall des osmanischen Reiches und dem Einrücken der britischen Truppen in Mesopotamien wurden die Kurden von der Tür- kenherrschaft befreit. Mit dem Waffenstillstand von Mudros, der zwischen Türken und Engländern bei Ende des Ersten Weltkrieges geschlossen wurde, erkannten die alliierten Mächte das Recht auf Unabhängigkeit der Kurden in Übereinstimmung mit dem 14-Punkte-Programm des amerikanischen Präsidenten Wilson bei den Friedensverhandlungen im Prinzip an; auch die türkische Regierung stimmte diesem Wunsch zu Nach den Bestimmungen des Art. 62 im Abschnitt III des Vertrages von Sevres vom 10. August 1920 sollte eine von der britischen, französischen und italienischen Regierung ernannte dreiköpfige Kommission innerhalb von sechs Monaten die lokale Selbstverwaltung für das überwiegend kurdische Gebiet östlich des Euphrats, südlich der noch festzulegenden armenischen Grenze und nördlich der türkischen Grenze zu Syrien und Mesopotamien vorbereiten. Falls die kurdische Selbstverwaltung anschließend vom Völkerbund akzeptiert würde, sollte die Türkei in einem separaten Vertrag mit den Alliierten ihre Ansprüche auf das entsprechende Gebiet endgültig aufgeben. Gegen einen freiwilligen Zusammenschluß des Gebiets mit einem unabhängigen Kurdenstaat im Mossul-Wilayet (dem heutigen Irakisch-Kurdistan) wären sodann von den Siegermächten des Ersten Weltkrieges keine Einsprüche erhoben worden (Art. 64) „Bergtürken" statt Kurden Der Vertrag von Sevres war kaum unterzeichnet, als der Aufstieg Mustafa Kemal Atatürks zur Macht begann. Da sich in der Folge dieses Aufstiegs die türkische Regierung nicht an den Vertrag zu halten gedachte, setzten sich die Alliierten 1923 noch einmal mit den Türken an den Verhandlungstisch. Das Ergebnis war der Vertrag von Lausanne, in dem von der Errichtung eines kurdischen Staates nun keine Rede mehr war. Die anschließende gewalttätige Türkisierung Kurdistans provozierte eine Reihe von Aufständen, die allein bis 1930 250 000 kurdische Zivilisten das Leben kosteten. Selbst das Wort „Kurde" wurde von Atatürk per Dekret verboten; in der offiziellen türkischen Sprachregelung ist bis heute von „Bergtürken" die Rede

Unter Führung von Ihsan Nuri kam es 1930 gemäß den Beschlüssen einer 1927 am Berg Ararat tagenden kurdischen Geheimversammlung — zum Ausbruch des längsten und blutigsten Kurdenaufstandes, den die Türkei jemals gesehen hat. Erst nach zwei Jahren gelang es den türkischen Truppen, die Lage wieder unter ihre Kontrolle zu bekommen. Wie gering die türkische Regierung die Gültigkeit der elementarsten Menschenrechte für Kurden erachtete, zeigen die Äußerungen von Ismet Inönü in der Zeitung Miliyet: „Nur die türkische Nation darf völkische und rassische Rechte in diesem Land haben, kein anderer hat diese Rechte... Der Türke ist der einzige Herr, der einzige Gebieter dieses Landes; jene, die nicht rein türkisch sind, haben nur ein Recht: das Recht, Knechte zu sein, das Recht, Sklaven zu sein.“

Auch die Unterdrückung ihrer blutigen Erhebungen konnte die Hoffnung der Kurden auf eine bessere Zukunft, konnte ihre Sehnsucht nach Recht und Selbstbestimmung nicht zunichte machen. Unter Sayed Reda brach 1936/37 der letzte Aufstand der Kurden aus, der wieder zahlreiche Opfer unter der Zivilbevölkerung forderte.

Die bei den Aufständen von 1925, 1930 und 1936 entstandenen Verwüstungen legten sowohl die wirtschaftliche Versorgung als auch jegliche Weiterentwicklung sozialpolitischer Maßnahmen in dem von Kurden bewohnten Gebiet völlig lahm. Selbst nachdem wieder Ruhe in der Türkei eingekehrt war, gab sich die Regierung keine Mühe, dieses Gebiet wirtschaftlich zu sanieren. Zwölf Jahre nach der letzten Erhebung schrieb 1948 ein Redakteur in der Zeitung Son Posta: „Ich habe keinen einzigen Beweis dafür gefunden, daß wir uns um den Wiederaufbau in diesem Gebiet bemüht hätten. Es gibt dort keine Landwirtschaft, keine Industrie, keinen Handel, keine Ärzte und keine ordentlichen Straßen."

Bis heute hat sich an der Vernachlässigungspolitik der Regierung in Ankara kaum etwas geändert. Typisch für diese Haltung ist eine Stellungnahme des Militärkommandanten von Lice, Fahmettin Sezer. Gegenüber der Zeitung Cumhuriyet erklärte er am 1. Oktober 1975: „Die Kurden sind nicht wert, daß sie leben, sondern daß sie verrecken."

Daß die türkische Regelung so wenig wie möglich über die katastrophalen Verhältnisse in Ostanatolien preisgeben will, beweist die Behandlung von drei deutschen Journalisten im November 1976. Der Frankfurter Soziologe und Publizist Jürgen Roth, die Kölner Journalistin Edeltraud Remmel und der Fotograf Gernot Huber hatten vor Ort die Lage der kurdischen Bevölkerung nach dem verheerenden Erdbeben recherchieren wollen. Sie wurden bei ihrer Reise vom türkischen Geheimdienst aufgestöbert, fünf Tage lang unter Arrest gesetzt und schließlich in die Bundesrepublik abgeschoben.

Bis heute, so berichtete Roth noch während seines Aufenthalts in Ostanatolien, wurde von der Regierung in Ankara kein Versuch gemacht, die mittelalterlich feudalistischen Strukturen in diesem Gebiet aufzulösen: „Im Gegenteil: Die Regierung der Nationalen Front unterstützt die Agas (kurdische Großgrundbesitzer, d. R.) und Scheichs (kurdische religiöse Führer, d. R.), die die Garanten dafür sind, daß die feudalistischen Verhältnisse im Osten bestehen-bleiben." Roth berichtet weiter, daß es im Osten etwa 100 000 Bauern gibt, die Leibeigene von Agas und Scheichs sind. In den Provinzen Mardin, Diyarbakir, Van oder Hakkari verfügen Dutzende von Agas über zahlreiche Dörfer samt lebendem Inventar. Machmut Kebul, Aga aus Silvan und Mitglied der . Gerechtigkeitspartei', ist ein typisches Beispiel für diese Machtverhältnisse im Osten der Türkei. Ihm gehören insgesamt 15 Dörfer, in denen etwa 1 000 besitzlose Familien für ihn auf den Feldern arbeiten. Eine Familie verdient im Jahr durchschnittlich 5 000 türkische Pfund — das sind etwa 900 Deutsche Mark. Der Aga hingegen verfügt pro Jahr durch den Verkauf von Getreide, Tabak und Baumwolle über ein Einkommen von 48 Millionen türkischen Pfund, etwa sechs Millionen Deutsche Mark

Nach wie vor existieren keine kurdischen Schulen. Geht ein Kurde zum Arzt, so muß er sein Leiden auf türkisch schildern, sonst wird er nicht behandelt. Kurdische Lieder sind ebenso verboten wie kurdische Bücher

Trotz aller Repressionsmaßnahmen der Zentralregierung in Ankara scheint nun auch in Türkisch-Kurdistan der Wille zum Widerstand zu wachsen. Jürgen Roth schreibt: „Für die türkischen Kurden, die in der Türkei immerhin über eine starke linke demokratische Rückenstärkung verfügen, scheint die Zeit vorbei, wo sie gelähmt auf die Aktivitäten der irakischen Kurden schauten."

Eine Kurden-Republik im Iran scheitert Nach dem blutigen Scheitern der Kurdenaufstände zwischen den beiden Weltkriegen wurden bei Ende des Zweiten Weltkriegs erneut Forderungen nach Autonomie laut — diesmal in Iranisch-Kurdistan. Die Lage der Kurden im Iran war kaum günstiger als die in der Türkei. Eine jahrhundertelange Unterdrükkung führte 1920 zum Ausbruch eines von dem Kurdenführer Simko geleiteten erfolgreichen Aufstandes, in dessen Verlauf die Freiheitskämpfer einen Großteil des persischen Kurdistan unter ihre Kontrolle bringen und fünf Jahre gegen die persischen Truppen verteidigen konnten. Nach dem Zusammenbruch des Kampfes versuchte Simko, die Freiheitskämpfer zu reorganisieren. Im Jahre 1930 wurde er von den Persern zu Verhandlungen eingeladen und dabei heimtückisch ermordet. Wie auch in den anderen Teilen Kurdistans wurde die kurdische Sprache verboten und das Tragen kurdischer Kleidung unter Strafe gestellt. Infolge dieser Bedrängnis wurde im August 1945 in Mahabad, der Hauptstadt des persischen Kurdistan, die „Demokratische Partei Kurdistans" (DPK) gegründet, deren späterer Führer Mustafa Barzani für viele Jahre Inbegriff des kurdischen Freiheitskampfes werden sollte.

Als die persischen Truppen wenig später Kurdistan eines der wegen Konflikts mit Sowjetunion räumten, wird in Mahabad am 23. Januar 1946 die erste und letzte autonome „Republik Mahabad" ausgerufen. Ghazi Mohamed, oberster religiöser Richter in Mahabad und Vorsitzender der DPK, wird zum Präsidenten dieser Republik gewählt. Die Regierung beginnt umgehend mit den Vorbereitungen zur Errichtung eines funktionsfähigen Gesundheits- und Bildungswesens. Eine kleine, von der Sowjetunion gestiftete Rundfunkstation in Mahabad wird feierlich in Betrieb genommen. Mustafa Barzani versucht unterdessen im irakischen Kurdistan die Elementarrechte seines Volkes gegenüber der britischen Besatzung und den irakischen Truppen durchzusetzen. Doch der Gegner ist militärisch überlegen, und so flüchtet Barzani mit 1 200 ihm unterstellten Kämpfern und weiteren 1800 Mann, die anderen Stammesführern unterstellt sind, in den benachbarten Iran I» der Republik Mahabad wird er mit Jubel empfangen und zu einem der vier ost-kurdischen Armeegenerale ernannt. Der jungen Kurden-Republik war jedoch kein langes Leben vergönnt. Die Sowjets räumten die im Iran besetzten Gebiete gegen die Zusicherung, an einer gemeinsam mit dem Iran be-triebenen Erdölgesellschaft beteiligt zu werden. Das persische Parlament lehnte im Oktober 1947 das Abkommen jedoch ab. Der persischen Regierung waren durch den Abzug der Sowjets militärisch die Hände nicht mehr gebunden; sie entsandte Truppen nach Mahabad, um angeblich die im ganzen Kaiserreich stattfindenden Wahlen zu sichern. Barzani war gegen die’ Entscheidung, die Stationierung der persischen Truppen zu gestatten und verließ mit seinen Kämpfern die Stadt. Der Staatschef Ghazi Mohamed ging am 16. Dezember 1946 den anrückenden persischen Einheiten entgegen, um sie nach Landessitte zu begrüßen Schon bei dieser Begrüßung wurde er mitsamt seinen Ministern und Beamten gefangengenommen. Ein Militärgericht verurteilte ihn und seine engsten Mitarbeiter zum Tod. Am 31. März 1947 wurde die gesamte Regierung der Mahabad-Republik auf dem Platz, auf dem die Republik ausgerufen worden war, öffentlich gehenkt. General Barzani, der sich mit seiner Einheit beim Einmarsch der persischen Truppen in die Berge zurückgezogen hatte, entschloß sich — der Rückweg in den Irak war durch Regierungstruppen versperrt — zur Flucht in die Sowjetunion. Mit 500 gut bewaffneten Kriegern bewältigte er in einem vierzehntägigen Gewaltmarsch 350 Kilometer durch nahezu unpassierbares Gebirgsland unter dauerndem Druck iranischer und türkischer Truppen Noch einmal, angespornt durch den Erfolg des kurdischen Freiheitskampfes im Irak, wagte 1968 das iranische Kurdistan einen Aufstand. Seine Führer verfielen aber dem Fehler, ihre Operationen nicht mit Barzani, sondern mit der irakischen Splittergruppe der Talabanisten abzustimmen. Das Ergebnis ihres Aufstandes war dann auch nichts als ein Blutbad, dem öffentliche Hinrichtungen in den Städten der westiranischen Kurden folgten

Aktion „Arabischer Gürtel" in Syrien Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Syrien bis 1946 französisches Mandatsgebiet. In dieser Zeit durften Kurden in Syrien Zeitschriften in kurdischer Sprache herausgeben und einen Teil der Sendezeit von Radio Damaskus beanspruchen Politisch machte ihnen die Regierung jedoch genausowenig Zugeständnisse, wie das in den anderen Teilen Kurdistans der Fall war. Obwohl den Kurden, nachdem Syrien 1946 die Unabhängigkeit erlangt hatte, selbst diese minimalen Rechte wieder entzogen wurden, kam es zu keiner Erhebung, nicht einmal zur Bildung einer kurdischen Bewegung. Dadurch unterschieden sich die syrischen Kurden von allen anderen Angehörigen ihres Volkes Die Situation änderte sich nach der Bildung der „Vereinigten Arabischen Republik“ zwischen Syrien und. Ägypten im Jahre 1958. Kurden wurden ohne jeden Grund verfolgt und ohne rechtliche Handhabe verhaftet, alte kurdische Ortsnamen in arabische umgeändert. Daraufhin organisierten sich die Betroffenen und bildeten einen syrischen Flügel der „Demokratischen Partei Kurdistans". Der Zerfall der syrisch-ägyptischen Allianz 1961 brachte für die Kurden nicht die erwartete Besserung ihrer Lage. Im Gegenteil: Die am 8. März 1963 durch einen Putsch an die Macht gekommene Baath-Partei zeigte großes Talent in der Verfeinerung und Verbesserung der bis dahin praktizierten Verfolgungsmethoden Das Baath-Regime erkannte 1964 120 000 Kurden die syrische Staatsbürgerschaft ab und 1967 begann unter dem Motto „Arabischer Gürtel" ein großangelegtes Programm zur Umsiedlung der syrischen Kurden aus ihren angestammten Wohngebieten. Dabei wurden 332 Dörfer evakuiert und in Staatsfarmen umgewandelt. Zwar brachte der Machtwechsel 1970 innerhalb der Baath-Partei zugunsten von Luftmarschall Hafes Assad allgemein ein etwas freieres Klima, doch die syrischen Kurden konnten daraus keinen Vorteil ziehen Im Gegensatz zum Irak wurde in Syrien keine kurdische Partei an der „Nationalen Front“ beteiligt und auch bei den Parlamentswahlen im Mai 1973 sind die Kurden leer ausgegangen

Volle Bürgerrechte in der UdSSR Nach einem 1813 zwischen Persien und dem zaristischen Rußland geschlossenen Abkommen geriet ein Teil Kurdistans unter russische Oberhoheit. Im Jahre 1921 erhielt der zur Armenischen Sowjetrepublik gehörige sowjetische Teil von Kurdistan seine heutige Gestalt, nachdem einige vormals russische Gebiete an die Türkei abgetreten worden waren. Die Sowjetunion ist das einzige Land, in die Kurden im vollen Besitz Bürgerrechte ihrer sind. Sie haben eigene Schulen, dürfen ihre Tradition pflegen und kurdische Druckerzeugnisse lesen Ein 13jähriger Krieg im Irak Nach wiederholten bewaffneten Aufständen zwischen den Jahren 1918— 1943 herrschte zunächst eine Zeit relativer Ruhe im Irak. Die Ereignisse von 1958 — General Kassem putschte sich an die Macht und beseitigte die Haschemiten-Monarchie, König Feisal II. und sein Ministerpräsident Nuri es-Said wurden ermordet — beeinflußten die weitere Entwicklung. Kassem kündigte zunächst umwälzende Maßnahmen in der Wirtschafts-und Bildungspolitik an und reichte den Kurden die Hand zu Versöhnung. General Mulla Mustafa Barzani kehrte daraufhin nach zwölfjährigem Exil aus der Sowjetunion zurück und wurde im Irak als Nationalheld gefeiert. Als Kassem jedoch eine Reihe früherer Mitstreiter beseitigt und seine Macht gefestigt hatte, nahm Bagdad die den Kurden gemachten Zugeständnisse zurück. Im März 1960 wird das Zentralorgan der Demokratischen Partei Kurdistans „Khebat“ verboten, kurz darauf das Bagdader Hauptquartier der Partei besetzt und versiegelt, eine zehnprozentige Steuer auf die Ernte kurdischer Bauern erhoben, kurdische Straßennamen durch arabische ersetzt und eine Reihe von kurdischen Führern verhaftet. Unruhen und Proteste in den kurdischen Provinzen beantwortete Kassem am 9. September 1961 mit massiven Bombenangriffen auf kurdische Dörfer und Städte. Der kurdische Freiheitskrieg im Irak, der mit kurzen Unterbrechungen 131/2 Jahre dauern sollte, hatte begonnen. Im Sommer 1962 kontrollierten Barzanis „Pesh Merga" (Jene, die dem Tod ins Auge sehen) einen Großteil des irakischen Kurdistan. Die allgemeine Unzufriedenheit mit der Diktatur Kassems führte schließlich zu einem Sturz am 8. Februar 1963 durch die Baath-Partei und zu seiner Hinrichtung.

Das Muster der Auseinandersetzungen der Kurden mit dem Kassem-Regime lag auch den folgenden Konflikten im Irak zugrunde. Ob zum Amtsantritt von Oberst Aref (1963), General Aref (1966) oder General Hassan al-Bakr (1968) — immer fanden anfangs Autonomie-Verhandlungen statt, anschließend aber Zwangsumsiedlungen, Angriffe der irakischen Luftwaffe und kriegerische Auseinandersetzungen Den Verhandlungen mit dem sozialistischen Baath-Regime unter al-Bakr folgten schon ein Jahr später, im März 1969, Kämpfe von ungewöhnlicher Grausamkeit: 60 000 irakische Soldaten fielen in Kurdistan ein, die Luftwaffe bombardierte Dörfer mit von der DDR gelieferten Napalm-und Phosphor-bomben. Im August 1969 verbrannten irakische Einheiten 37 Kinder, 28 Frauen und ei-43) nen 90jährigen Greis in einer Höhle bei lebendigem Leibe Als im Januar 1970 eine Offiziersverschwörung gegen Staatschef alBakr aufgedeckt und zerschlagen wurde und die irakischen Regierungstruppen keine durchschlagenden militärischen Erfolge in Kurdistan erzielen konnten, bat die Regierung General Barzani, die Kampfhandlungen einzustellen; sie bot als Gegenleistung die Zusicherung von Autonomie an. Als Ergebnis der Autonomie-Verhandlungen wurde am 11. März 1970 ein 15-Punkte-Vertrag abgeschlossen und von Staatspräsident al-Bakr an diesem Tag über Rundfunk und Fernsehen verkündet. Im ganzen Land brachen daraufhin die Menschen in einen Freudentaumel aus. In dem Vertrag wurde die Teilung des Irak in zwei Nationen — Araber und Kurden — verabredet. In den von Kurden bewohnten Gebieten sollte Kurdisch neben der arabischen Sprache gleichberechtigte Amts-und Unterrichtssprache sein, Kurden sollten bei der Besetzung höherer Staatsämter nicht benachteiligt werden. Maßnahmen zur Beseitigung des kulturellen Rückstandes in kurdischen Gebieten sollten ergriffen werden. Alle durch Kriegseinwirkungen entstandene Schäden sollten ersetzt werden und ein ministerielles Komitee sollte sich der wirtschaftlichen Erschließung Kurdistans widmen. Eine wichtige Bestimmung des Vertrages sah auch die Rücksiedlung von Kurden in ihre Heimatdörfer vor, in denen während des Krieges Araber angesiedelt worden waren. Der Vereinigung der kurdischen Provinzen, ihrer Selbstverwaltung durch ausschließlich kurdische Beamte und einer der Bevölkerungszahl entsprechende Vertretung „der Kurden in den gesetzgebenden Organen galten weitere Vertragsbestimmungen: „Nach Verwirklichung dieses Abkommens sollen Rundfunkstationen und schwere Waffen wieder der Regierung übergeben werden", heißt es unter Punkt 11 des Autonomie-Vertrages Für die Verwirklichung des Vertrages vereinbarten beide Seiten eine Frist von vier Jahren.

Ein „Komitee für die Erfüllung des Kurden-Manifestes vom 11. März 1970" unter der Leitung des stellvertretenden Vorsitzenden des irakischen Revolutionsrates, Saddam Hussein, beschloß auf einer Sitzung im Juni 1970 jedoch lediglich die Entwaffnung kurdischer Söldner, die im Auftrag der Regierung gegen ihre Landsleute gekämpft hatten, sowie die Zahlung von kleinen Renten an ehemalige kurdische Freiheitskämpfer bzw.deren Wit-wen und Waisen Ein mißlungener Bombenanschlag auf Barzani in dessen Hauptquartier am 30. September 1971 trug nachhaltig zur Verschlechterung des Klimas zur Bagdader Zentralregierung bei. Die Verstaatlichung der , Iraq Petroleum Company“ im Mai 1972, deren bedeutendste Förderanlagen auf kurdischem Gebiet in der Gegend von Kirkuk liegen, wurde von den Kurden zwar grundsätzlich begrüßt; zum Stein des Anstoßes geriet jedoch die Tatsache, daß die Kurden in dieser wichtigen Frage nicht konsultiert worden waren. Ein weiteres Attentat auf die Verhandlungsdelegation Barzanis im Juni 1972 in Bagdad, ein Zusammenstoß zwischen blutiger Kurden und Regierungseinheiten im Gebiet von Kirkuk im Oktober 1972, ein mysteriöser Autounfall, bei dem der kurdische Landwirtschaftsminister Calal im Juli 1972 getötet wurde, fortschreitenden Arabisierungsmaßnahmen im kurdischen Erdölgebiet um Kirkuk sowie Verhaftungen, Verschleppungen, Folterungen und Ermordungen kurdischer Patrioten hatten ein Absinken der Beziehungen und der Regierung Barzani in Bagdad unter den Gefrierpunkt zur Folge. Staatspräsident al-Bakr stellte nun den seiner Kurden in Mai-Rede 1973 als neuen Termin für der kurdischen Verwirklichgung Autonomie den März 1974 in Aussicht Auf den Tag vier Jahre nach Unterzeichnung des von Autonomie-Abkommens 1970 verkündete die Bagdader Regierung am 11. März 1974 ein „Gesetz über die Autonomie der kurdischen Region", das in wesentlichen Teilen nicht auf die ursprüngliche Vereinbarung mit Barzani eingeht. Ende Bereits seit 1973 hatte die Baath-Regierung damit begonnen, mit modernen, für den Einsatz Armee in den Gebirgsregionen von Irakisch-Kurdistan geeigneten Waffen auszurüsten. Wesentlicher Kritikpunkt der Demokratischen Partei Kurdistans am Autonomie-Gesetz war die Tatsache, daß ölreiche Provinz die Kirkuk von der inneren Autonomie ausgenommen wurde, obwohl sie von einer Kurdenmehrheit besiedelt ist. Eine 1970 zugesagte -Volkszäh lung hatte zu -die Regierung verhindern ge wußt, hingegen die Arabisierung der Provinz ständig Kirkuk weiterbetrieben.

Es scheint daher verständlich, daß die Kurden auf ein 14tägiges Ultimatum der irakischen Regierung zur Annahme des Autonomie-Gesetzes nicht eingingen. Die irakische Armee begann daraufhin Ende März 1974 mit einer großangelegten Offensive gegen die kurdischen Provinzen. Bevor jedoch die Kampfhandlungen mit voller Schärfe ausbrachen, kam es noch einmal zu Verhandlungen zwischen Barzani-Vertretern und der Regierung. Auch der sowjetische Verteidigungsminister Gretschko reiste in den Irak und überbrachte Staatschef al-Bakr eine Botschaft des sowjetischen Parteichefs Breschnjew General Barzani antwortete auf das Bagdader Ultimatum seinerseits mit einem Gegenultimatum: Bagdad solle bis zum 25. März auch das Olgebiet von Kirkuk unter kurdische Autonomie stellen und das autonome Gebiet geographisch genau festlegen

Am 29. März lautete eine Meldung der Deutschen Presse Agentur (dpa): „Irakische Armee rückt gegen Kurdengebiete vor.“ Die Armee habe jedoch die Anweisung, vorerst bewaffnete Zusammenstöße mit den kurdischen Verbänden zu vermeiden, hieß es in dieser Meldung weiter. Am 6. April meldet dpa unter Berufung auf kurdische Quellen von Einsätzen der irakischen Luftwaffe gegen kurdische Truppen in den Bergen des Nordirak. Ein neuer, heftiger Kampf entbrannte, bei dem sich rund 000 gut bewaffnete Soldaten der kurdischen „Freiheitsarmee" und annähernd ebenso viele Regierungssoldaten gegenüberstanden. Die Demokratische Partei Kurdistans berichtete, daß etwa 100 000 Menschen ihre Städte verlassen hätten und in das befreite Gebiet gezogen seien: „Sie zogen die Mühsal und die Leiden des Krieges dem Leben unter der Vormundschaft und Folter der Baathisten vor. Ihr hauptsächliches Motiv war der Patriotismus." 50) Innerhalb eines Monats meldeten die Kurden die Zerstörung den Ab von 50 Tanks und 30 Panzerwagen, -schuß von vier Flugzeugen und vier -gepan zerten Hubschraubern, sowie die Erbeutung großer Mengen von Waffen Unter den schweren Bombardements von Städten und Dörfern im Kurdengebiet mußten auch in diesem Krieg wieder Zivilisten die die größten Opfer an Menschenleben und den Verlust von Hab und Gut bringen. „Die finanziellen Erlöse aus dem Erdöl, die normalerweise zur Anhebung des Lebensstandards der verarmten Massen Irakisch-Kurdistans verwendet werden sollten, kommen jetzt den Kurden zugute — aber in Form von Napalm“, schreibt Emir Kamuran A. Bedir-Khan, Enkel des letzten regierenden kurdischen Fürsten, in einem „Appell an alle Menschen guten Willens“ im Dezember 1974. General Barzani selbst beschrieb die Kriegslage wie folgt: „Wir befinden uns in einem Haus, bei dem alle vier Wände brennen. Ein Fenster führt zum Meer — aber da sind die Haie. Ich würde die Haie vorziehen, bevor ich verbrenne.“ Womit Barzani nicht gerechnet hatte: Am Rande der OPEC-Konferenz in Algier verständigten sich der Iran und der Irak am 6. März 1975 auf eine Abmachung, die von den Kurden als „Dolchstoß des Schah“ bezeichnet wird. Der persische Herrscher und der irakische Vizepräsident Saddam Hussein machten ein Geschäft: Danach schließt der Iran die Grenzen für den kurdischen Nachschub im Norden und erhält dafür Schiffahrtsrechte auf dem Schatt-el-Arab. Bis zum Ablauf einer Amnestie-Frist der iranischen Regierung am 31. März steigt die Zahl der kurdischen Flüchtlinge im Iran auf 250 000 Soldaten von Barzanis Pesh-Merga-Armee, die die Grenze nach Persien überqueren wollen, müssen ihre Waffen abliefern. Barzani und seine Familie gehen nach Teheran ins Exil.

Wie es zu dieser Situation kommen konnte, geht aus den Geheimberichten des amerikanischen „House of Representatives" über Geheimdiensttätigkeiten, dem „Pike-Report", hervor: „Die Empfänger der US-Waffen waren eine aufständische ethnische Gruppe (die Kurden), die für eine Autonomie in einem Land kämpften, welches an unseren Alliierten (Iran) grenzte. Das angrenzende Land (Irak) und unser Alliierter waren lange erbitterte Feinde gewesen. Sie unterschieden sich beträchtlich in Hinblick auf ihre ideologischen Orientierungen sowie in ihren Beziehungen zu den Vereinigten Staaten." Vom Ausschuß gesammeltes Beweismaterial deute darauf hin, daß die US-Unterstützung für die Kurden primär initiiert wurde, um dem Iran einen Gefallen zu tun, der mit US-Geheimdiensten kooperierte und sich von seinem Nachbarn Irak bedroht fühle. Da die iranische Hilfe für die Aufständischen das Hilfspaket der USA in den Schatten stelle, sei die amerikanische Hilfe weitestgehend symbolischer Natur gewesen. An einer anderen Stelle des Berichts heißt es:

„Dokumente im Besitz des Komitees zeigen deutlich, daß der Präsident, Dr. Kissinger und das ausländische Staatsoberhaupt (der Schah) hofften, daß unsere Klienten (die Kurden) nicht siegen würden.“ Aus einem JA-Memorandum vom 22. März 1974 geht in diesem Zusammenhang klar hervor, das die Unterstützung der Kurden durch den Iran und die USA letztlich nur die Schwächung des Iraks zum Ziele hatte. Daß Barzani und die restliche Führung der Demokratischen Partei Kurdistans die Situation völlig verkannten, geht schließlich aus einem anderen Teil des US-Geheim-berichts hervor: „Das Ausmaß der Einflußnahme des Iran auf die US-Politik war derart, daß man sich offenbar nicht einmal die Mühe machte, seine amerikanischen Partner darüber zu informieren, daß das Ende der Hilfsmaßnahmen für die Kurden nahe war. Die Aufständischen wurden eindeutig ebenso überrascht." Eine Botschaft aus dem Hauptquartier Barzanis an die CIA vom 10. März 1975 lautet: „Es gibt Konfusion und Bestürzung unter unserem Volk und unseren Streitkräften. Das Schicksal unseres Volkes ist in nie dagewesener Gefahr. Völlige Vernichtung hängt über unseren Köpfen. Keine Erklärung für all dies. Wir appellieren an Sie und die US-Regierung, ihren Versprechungen gemäß zu intervenieren und die Alliierten nicht fallenzulassen und die Würde unserer Familien zu retten, um eine ehrenhafte Lösung für das (kurdische) Problem zu finden." Eine Antwort trifft in Barzanis Hauptquartier nicht ein, denn längst haben sich die Freunde von gestern (Iran) mit den Feinden der Kurden geeinigt.

über die Entwicklung der Kurdenfrage im Irak nach Beendigung des Krieges gibt es zwei Versionen. Verläßt man sich auf die Darstellung von offizieller Regierungsseite in Bagdad, so stellt sich die Lage wie folgt dar: „Innerhalb des Rahmens des irakischen Staates genießen unsere Kurden, was man als erste Selbstverwaltung im Nahen Osten bezeichnen könnte. Ohne die Tatsache aus den Augen zu verlieren, daß der Irak einen integrierten Teil der Arabischen Nation darstellt, hat die führende Partei den Entschluß gefaßt, den Irak als ein Modell des harmonischen Zusammenlebens von Nationalitäten zu schaffen. Das Autonomiegesetz ist für das kurdische Volk mit einem derartigen Erfolg angewandt worden, wovon die Aufrichtigkeit, Hingabe und Entschlossenheit des kurdischen Volkes Zeugnis gibt. Der Irak gehört all seinen Bürgern, egal welcher Rasse, Religion oder Sprache. Diese Gleichheit wird von der Revolutionären Führung unter allen Umständen geschützt, während sie gleichzeitig ihren Bereich erweitert, ihre Bedeutung vertieft und ihre Anwendung ausdehnt. Das Autonomiegesetz für unser kurdisches Volk ist ein großer Sprung vorwärts.“

Anders schildert die „Internationale Liga für Menschenrechte* die Ereignisse nach dem Zusammenbruch des Aufstandes. Auf der Grundlage zur Verfügung stehender Beweise faßte die Liga die massiven Menschenrechtsverletzungen im Irak in einem Bericht zusammen, den sie am 14. Januar 1977 UNO-Generalsekretär Waldheim mit der Aufforderung übergab, zugunsten der Rechte der Kurden einzugreifen. In dem Bericht heißt es: „Seit März 1975 sind mehr als 227 Kurden in den Gefängnissen von Mossul, Kirkuk und Bagdad für ihr Engagement in der kurdischen Bewegung für größere Autonomie im Irak hingerichtet worden. Alle 227 wurden nach dem Waffenstillstand und in direkter Verletzung des . Irakischen Amnestie-Gesetzes'hingerichtet, das ihren Schutz garantierte. Seit Oktober 1975 werden 200 bis 300 Kurden in Haft gehalten, wahrscheinlich wegen ihres Engagements in Aktivitäten und Organisationen, die von der irakischen Regierung verboten sind. Es wird berichtet, daß sie gefoltert wurden. Ungefähr 25 000 bis 30 000 Kurden, frühere Angehörige der Pesh Merga, die in den Irak aus iranischen Flüchtlingslagern zurückgekehrt waren, werden in Konzentrationslagern in Diwaniya im Südirak festgehalten, wo sie Schlägen und Folter ausgesetzt sind. Bis heute wurden etwa 300 000 kurdische Männer, Frauen und Kinder, von denen die meisten an dem kürzlichen Aufstand nicht teilgenommen hatten, zwangsweise von den Behörden aus ihren Heimatorten in den Gebieten von Badinan, Kirkuk, Sinjar, Shekhan, Barzan, Khanaquin, Bamu usw.deportiert. Ohne Kompensation wurde ihr Eigentum konfisziert. Während des Transports starben etwa 300 Kinder und alte Leute. Trotz Regierungsdekrets vom 6. Juli 1976, das einen Stopp der Kurdendeportationen aus ihren nördlichen Heimatgebieten in die südlichen Steppen verspricht, wurden inzwischen weitere 50 Dörfer in den Distrikten von Amadiya und Zakcho evakuiert, ihre Insassen auf Militärlastwagen geladen und nach Dihok gebracht, wo man sie ohne angemessenen Schutz und Nahrung ließ."

Auch die sprachliche und kulturelle Eigenständigkeit der irakischen Kurden wird nach dem Bericht der Menschenrechts-Liga massiv von der Bagdader Regierung bekämpft: „Im Gebiet der Distrikte Badinan, Kirkuk und Khanaquin ist die kurdische Sprache in den Volksschulen verboten. 70 kurdische Mitglieder der Fakultäten der Sulaiman-Universität wurden in den Südirak transferiert und ihre Positionen von Arabern eingenommen. Die Fakultät für kurdische Studien an der Universität wurde abgeschafft. Drei kurdische Wochen-zeitungen (Beeri Niwe, Birayati und Bayan) wurden von den Behörden eingestellt." Der Zerschlagung der kurdischen Familien soll nach Auffassung der Liga für Menschenrechte eine administrative Verfügung der Regierung dienen, nach der jeder Araber, der eine Kur-din zur Frau nimmt, 500 Dinar (rund 3 600 DM) erhält.

Diese Darstellung der Situation wies der irakische Staatsminister (kurdischer Nationalität) und Vorsitzender des Exekutivrates der „Autonomen Region", Hassan Hashim Akrawi, auf einer Pressekonferenz in Bonn am 20. Januar 1977 mit Entschiedenheit zurück. Die Umsiedlungsaktionen sind nach seinen Angaben eine „Flurbereinigung“, bei der kleinere Dörfer unter 5 000 Einwohnern zusammengelegt werden, um eine nützlichere Infrastruktur zu schaffen. Auch Hinrichtungen von Kurden aufgrund ihrer nationalen Zugehörigkeit bestritt der Minister. Doch gebe es die Todesstrafe für andere Delikte. Auch in Bonn leugnete Akrawi die Existenz von politischen Gefangenen im Irak. Vertretern von Amnesty International wurde nach eigenen Angaben verweigert, irakische Gefängnisse zu besuchen. Bei seiner Bonn-Visite forderte Akrawi Journalisten und Vertreter der Gefangenen-hilfsorganisation auf, Vertreter ins Autonomiegebiet zu schicken, die sich davon überzeugen könnten, daß die erhobenen Anschuldigungen falsch seien.

Daß es mittlerweile nicht nur für irakische Armee-Einheiten, sondern auch für Regierungsbeamte aus Bagdad ein tödliches Risiko geworden ist, bestimmte Gebiete im Norden des Irak zu betreten, erwähnte Minister Akrawi mit keinem Wort 57a).

Die kurdischen Freiheitskämpfer der Pesh Merga (Akrawi in Bonn: „Es gibt keine Pesh Merga'mehr") haben ihren „Kampf zur Verteidigung des kurdischen Volkes im gesamten irakischen Kurdistan wiederaufgenommen" Einige Beispiele dafür: In der Nacht des 25. November 1976 rücken irakische Spezialeinheiten aus dem Lager Ranwandaz in Richtung des Dorfes Bingiridan aus und werden von einer Gruppe Pesh Merga angegriffen. Nach einem 21/2stündigen Gefecht treten die irakischen Streitkräfte den Rückzug an; sie lassen 60 Tote zurück, unter ihnen einen Offizier.

Anfang November befreien City-Pesh Merga den kurdischen Patrioten Tote zurück, unter ihnen einen Offizier.

Anfang November befreien City-Pesh Merga den kurdischen Patrioten Nuraddin Abdulla aus dem Abu Ghreib-Gefängnis in der Nähe von Bagdad, wo er seit 1972 eine 20jährige Gefängnisstrafe verbüßte 59).

Am 21. Dezember wird ein Anschlag auf den des von verübt. Gouverneurs Sulaimania Pesh Merga töten dabei den Leibwächter Hamza Agha und den Fahrer des Wagens. Der Gouverneur Amin Shambi wird leicht verletzt. Der Gouverneur ist ein Kurde und Anhänger des Bagdader Regimes.

Am 26. Dezember 1976 gelingt den Pesh Merga die Zerstörung von drei Hubschraubern der irakischen Armee. In einem Gefecht sterben 143 Regierungssoldaten 60).

Mitte Dezember 1976 werden in der Provinz Sulaimania vier polnische Ingenieure von den Pesh Merga als Geiseln festgenommen. Die Aufständischen knüpften an die Freilassung der Geiseln die Bedingung, die kurdischen Familien, die in den Südirak deportiert worden waren, insbesondere die Frauen und Kinder von Pesh Mergas, die in Internierungslagern gefangengehalten werden, in ihre Dörfer zurückkehren zu lassen. Die Geiseln sind inzwischen wieder frei, weil die Kurden nach erneuten Angriffen der Regierungstruppen für das Leben der Polen nicht mehr garantieren konnten. Auch zwei Franzosen und ein Algerier, die von den Aufständischen am 28. Februar 1977 gefangengenommen worden waren, sind freigelassen worden. Sie wurden, ebenso wie die Polen, gebeten, bei ihren Regierungen für eine Beendigung der Massaker an der kurdischen Zivilbevölkerung durch die irakische Armee zu intervenieren.

Am 27. Dezember 1976, einen Tag nach den schweren Gefechten und der Zerstörung der drei Hubschrauber, kommen die irakischen Streitkräfte zurück und befehlen den Einwohnern des Dorfes Sharistan, die Toten wegzuschaffen. Nachdem dies getan ist, werden die wehrlosen Zivilisten aufgefordert, sich im Kreis aufzustellen. Irakische Soldaten erschießen 32 Dorfbewohner, Frauen, Kinder und Greise.

Mitte Januar 1977 ermordeten Pesh Merga das Dorfoberhaupt von Binkir, das ein örtlicher bezahlter Agent der Regierung gewesen sein soll

In den Monaten Oktober 1976 bis Januar 1977 töteten die Pesh Merga bei Gefechten mit Regierungseinheiten rund 700 Soldaten, über 100 wurden nach kurdischen Angaben verletzt, 16 gefangengenommen. Zahlreiche und Waffen Munition wurden von den Kurden erbeutet. Unbestätigt sind bisher Nachrichten, nach denen Syrien den neuen Kurdenaufstand mit Waffenlieferungen unterstützt, um das Bagdader Baath-Regime in Bedrängnis zu bringen. Der Irak hat darauf selbst Hinweise gegeben, indem es die Baath-Regierung des Nachbar-staates für die Unruhen Mitte Februar im Gebiet von Najef verantwortlich macht.

Es ist das besondere Dilemma der Kurden, daß ihr Gebiet zu einem Feld vielfältiger, einander widersprechender und überlagernder Interessen geworden ist. Nationale und wirtschaftliche Ansprüche der herrschenden Staaten, ihre außenpolitischen Konflikte, labile Bündniskonstellationen herrschender Klassen und Schichten, Kooperation und Konkurrenz der Supermächte machten diesen Teil der Landkarte zu einem Bereich, dessen strategische Bedeutung nicht erst seit den Verträgen von Sevres offenkundig ist

Während die kurdischen Freiheitskämpfer im Irak wieder zu den Waffen gegriffen haben, äußerte sich nach Monaten des Schweigens auch der „große alte Mann der kurdischen Revolution", Mulla Mustafa Barzani, der sich zur Zeit in den USA einer Krebsbehandlung unterzieht: „Ich mache die gegenwärtige Administration nicht für die Tragödie verantwortlich, aber ich glaube, Amerika sollte die Verantwortlichkeit übernehmen, und ich werde versuchen, die Carter-Administration zu überzeugen, ihren Einfluß zu gebrauchen, um den Irak zu veranlassen, die vertriebenen Kurden in ihre Heimat zurückkehren zu lassen.“

Fussnoten

Fußnoten

  1. Klaus Bering, Unterdrückung und kein Ende, in: Bonner General-Anzeiqer vom 12. /13. Februar 1977.

  2. Erlendur Haraldsson, Land im Aufstand — Kurdistan, Hamburg 1966, S. 32.

  3. Zit. bei Hans Hauser, Kurdistan — Schicksal eines Volkes, München 1975, S. 56.

  4. Hauser, a. a. O., S. 58.

  5. Zit. bei Hauser, a. a. O., S. 54.

  6. Heinz Gstein, Volk ohne Anwalt — Die Kurdenfrage im Mittleren Osten, Freiburg Schweiz, 1974, S. 10.

  7. Handschr. Lebenslauf von Emir Kamuran Ali Bedir-Khan im Besitz des Verfassers.

  8. Gstein, a. a. O., S. 12.

  9. Haroldsson, a. a. O., S. 32.

  10. Gstein, a. a. O., S. 12.

  11. Haraldsson, a. a. O., S. 32.

  12. Gstein, a. a. O., S. 57.

  13. Gumo Akif Kerimli, Kurdistan, Informationen über den türkischen Teil Kurdistans — Dokumentation der letzten Ereignsse. Broschüre, Hrsg, von d. Ev. Studentengemeinde Darmstadt, März 1974 (Tabellen).

  14. Gumo Akif Kerimli, a. a. O.

  15. Kurt Greussing, Die Kurden — Störfaktor der . Friedenspolitik’ — Soziale und historische Determinanten des kurdischen Widerstandes, in Sammelband: „Von denen keiner spricht", hrsg. von Tilman Zülch, rororo-aktuell Nr. 1879, Okt. 1975, S. 86 f.

  16. Greussing, a. a. O., S. 93.

  17. Gstein, a. a. O., S. 64.

  18. Gstein, a. a. O., S. 57.

  19. Publikation der National-Union kurdischer Studenten in Europa (NUKSE), München 1972. weitere Titel aus der kurdischen Literatur siehe bei Jemal Nebes, Kurdistan und seine Revolution, München 1972.

  20. Haraldsson, a. a. O., S. 43. f.

  21. Liebermann, a. a. O., S. 7.

  22. Ebd„ S. 8.

  23. „Miliyet" Nr. 1636 vom 31. Aug. 1930 und Nr. 1655 vom 19. Sept. 1930.

  24. Die Kurden — Volk ohne Staat, Selbstverlag des Kurdischen Studentenvereins Österreich, Wien 1972, S. 14.

  25. Jürgen Roth, Wo mit Folter und Mord die Kurden . zivilisiert'werden, in: Frankfurter Rundschau vom 10. Nov. 1976.

  26. Ebd.

  27. Ebd.

  28. „Stern" Nr. 51, 9. — 15. Dez. 1976.

  29. Roth, a. a. O.

  30. Haraldsson, a. a. O., S. 100.

  31. Ebd., S. 104.

  32. Liebermann, a. a. O., S. 9.

  33. Gstein, a. a. O„ S. 50.

  34. Die Kurden — Volk ohne Staat, a. a. O., S. 24.

  35. Gstein, a. a. O„ S. 51.

  36. Die Kurden — Volk ohne Staat, a. a. O., S. 24.

  37. Ebd., S. 25.

  38. Gstein, a. a. O., S. 52.

  39. Ebd.

  40. Die Kurden — Volk ohne Staat, a. a. O., S. 27.

  41. Liebermann, a. a. O., S. 9.

  42. Pogrom Nr. 29/30, 5. Jahrg. 1974: „Chronologie 1834— 1970“, S. 14.

  43. Die Kurden — Volk ohne Staat, a. a. 0, S. 23.

  44. Stein, a. a. O„ S. 86.

  45. Ebd. S. 94.

  46. Deutsche Presse Agentur (dpa) 086 al vom 24. 3. 74.

  47. Ebd.

  48. Pogrom, a. a. O., DKP zum neuen Kurdenkrieg, S. 52 f.

  49. Ebd.

  50. Hermes Reso, Wie konnte ein Kuß für die Kurden so mörderisch sein? in: Pogrom Nr. 41, 7. Jahrg., S. 23.

  51. Veröffentlicht in Auszügen in der britischen Zeitung Christian Science Monitor, 3. 11. 1975.

  52. Auszüge aus dem Geheimbericht des Untersuchungsausschusses des amerikansichen „House of Representatives" über Geheimdienstaktivitäten des CIA, veröffentlicht in: Pogrom Nr. 41, 7. Jhg. vom Juni 1976, S. 26 f.

  53. Erklärung der Presseabteilung der irakischen Botschaft in Bonn vom 9. März 1977.

  54. Erklärung der „Internationalen Liga für Menschenrechte", New York, am 14. 1. 1977, veröffentlicht in: Vierte Welt aktuell Nr. 4, März 1977, hrsg. von der Gesellschaft für bedrohte Völker, Hamburg. Die Qualität dieser Quelle ist auch durch Recherchen von Amnesty International belegt, die sie mit vielen namentlichen Nennungen stützen kann.

  55. Ebd.

  56. Presseerklärung der Kurdischen Demokratischen Partei, Bonn 20. 1. 1977.

  57. Communique Nr. 8 vom 26. Jan. 1977.der Kurdischen Demokratischen Partei, Provisorische Führung.

  58. Communique Nr. 9 der Kurdischen Demokratischen Partei, Provisorische Führung, vom 15. März 1977.

  59. Liebermann, a. a. O., S. 11.

  60. In: Vierte Welt aktuell, Nr. 5, Sonderausgabe, a. a. O.

Weitere Inhalte

Martin Oertel, geb. 1950 in Plauen/Vogtland; 1972— 1975 Tageszeitungsredakteur in Wiesbaden; seit 1975 Studium der Humanmedizin in Bonn und während dieser Zeit Mitarbeit beim Bonner „General-Anzeiger“.